DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
S
eit der Erstbeschrei- bung durch Huckabee (1961) gilt die Lactat- azidose (LA) als ernste Komplikation bei Pa- tienten mit Schocksyndrom oder be- stimmten Intoxikationen (zum Bei- spiel Methanol, Salicylat, früher Phenformin) Neuere Erkenntnisse über die Pathogenese der LA weisen der Bestimmung der Lactatkonzen- tration bei Intensivpatienten jedoch auch prognostische und therapiewei- sende Bedeutung zu.Lactat Ein
wertvoller Indikator in der Intensivmedizin
Wolfgang Clasen und Heinz-Günter Sieberth
Pathogenese
Lactat ist Endprodukt des an- aeroben Stoffwechsels der Glukose und wird physiologischerweise durch Oxydation im Krebszyklus (Lactat- Pyruvat-CO 2 + H2O) oder durch Glukoneogenese im Corizyklus sauerstoffabhängig weiterverwertet.
Anhäufungen dieses „Bindegliedes zwischen aerobem und anaerobem Stoffwechsel" kommen somit bei in- adäquat hohem Anfall oder gestör- ter Utilisation des Lactats vor.
Für klinisch-praktische Zwecke hat sich eine Unterteilung der LA in Zustände mit gestörter Gewebeper- fusion (Lactatazidose Typ A), etwa durch septischen Schock, Ileus, Myokardinfarkt und in LA bei Into- xikationen mit bestimmten Pharma- ka, hämatologischen Neoplasien und anderen Zuständen mit augen- scheinlich i - ,takter Organoxygena- tion (LA Typ B) bewährt.
Bestimmungsmethoden
Zur Lactatbestimmung in Zen- trallaboratorien stehen heute auto- matisierte, enzymatische Laborme- thoden zur Verfügung, die binnen 15 Minuten hinreichend genaue Werte liefern. Sogenannte bedsideanalyzer auf Intensivstationen bewähren sich wegen der zeitraubenden Notwen- digkeit zur Kalibrierung nur bei per- manentem Betrieb durch geschultes Personal. Auf die früher notwendige Enteiweißung und sofortige Küh- lung der Proben kann durch Ver- wendung von konfektionierten Pro- benröhrchen, die einen Glykolyse- hemmer (Natriumfluorid) enthalten, verzichtet werden.
Die Lactatazidose wirft beim Schock und anderen Erkran- kungen diagnostische Proble- me auf, die leicht übersehen werden. Auch in der Praxis kann mindestens eine hinhal- tende Behandlung bis zur Ein- weisung auf eine Intensivstation durchgeführt werden. Wir ha- ben deshalb einen der besten Kenner, Professor Sieberth, mit Dr. Clasen, gebeten, in einfa- cher und klarer Form die we- sentlichen Probleme der Lac- tatazidose in Klinik und Praxis darzustellen. Rudolf Gross
Diagnose
Lactatkonzentrationen < 2 mmo1/1 gelten als normal, schließen jedoch eine regionale Minderdurch- blutung eines Organs nicht aus. Hy- perlactatämien > 2 bis 5 mmo1/1 oh- ne Azidose werden häufig bei hyper- metabolen Zuständen wie Verbren- nungen oder Sepsis durch vermehrte katecholamininduzierte Glykolyse beobachtet. Dabei korreliert die Höhe des Serumlactats mit der Schwere des Hypermetabolismus und kann somit als ein Maßstab für die Substrat- und Proteinzufuhr bei diesen kritisch Kranken dienen.
Sinkt der Blut-pH-Wert unter 7,35 und übersteigt die Serumlactatkon- zentration 5 mmol/l, liegt defini- tionsgemäß eine Lactatazidose vor.
Bei der Bewertung einer Hyper- lactatämie muß die Leberfunktion berücksichtigt werden. Patienten mit eingeschränkter Leberfunktion
haben zwar normale basale Lactat- spiegel, jedoch eine deutlich vermin- derte Lactatclearance.
Therapie
Die Diagnose einer Lactatazido- se erfordert immer die unverzüg- liche Klärung ihrer Ursache und nach Möglichkeit die Beseitigung des Auslösers (wie Herdsanierung bei Sepsis oder Entgiftung bei Into- xikationen). Beim älteren Patienten mit abdomineller, häufig uncharak- teristischer Symptomatik weist eine LA auf eine mesenteriale Durchblu- tungsstörung hin und sollte Anlaß zur sofortigen Angiographie und Operation sein. Insofern kann eine symptomatische Alkalibehandlung bei schweren Azidosen lediglich Zeitgewinn für die definitive Thera- pie der Grundkrankheit darstellen.
Gegen eine zu rasche und hoch- dosierte Bikarbonatgabe, wie sie prinzipiell bei diesen schweren Azi- dosezuständen notwendig wäre, be- stehen erhebliche Bedenken, da Hy- perosmolarität und Hypernatriämie, Hypokaliämie und paradoxe Liquor- azidose durch vorzeitige CO 2-Diffu- sion in den Zerebrospinalraum auf- treten können. Bei plötzlicher Stei- gerung des Blut-pH kann durch er- höhte Sauerstoffaffinität des Hä- moglobins (Linksverschiebung der Bohrkurve) eine weitere Ver- schlechterung der Gewebeoxygenie- rung eintreten. Daher sollte kein vollständiger Azidoseausgleich, son- dern ein allmähliches Anheben des Serum-pH auf Werte um 7,25 bezie- hungsweise Bikarbonatkonzentra- tion > 10 mmo1/1 angestrebt werden.
Trispuffergaben bieten gegen- über Bikarbonat keinen prinzipiel- Dt. Ärztebl. 85, Heft 24, 16. Juni 1988 (59) A-1823
Tabelle 2: Therapie der Lactatazidose
1. Behandlung des Grundleidens 2.
a) Alkalitherapie
mit Natrium-Bikarbonat
therapeutisches Ziel:
pH > 7,25
Bikarbonat > 10 mmo1/1 cave: Hypernatriämie!
b) Bikarbonat-Hämodialyse bei Hypernatriämie, akutem Nierenversagen, Methanol- und
Salicylatvergiftung c) bikarbonatgepufferte bei schlechten Kreislauf-
kontinuierliche Hämofiltration verhältnissen, zum schonenden Volumenentzug
len Vorteil, kommen jedoch bei Pa- tienten mit vorbestehender Hyper- natriämie als alternative Therapie in Frage.
Die Indikation zu Hämodialyse oder Hämofiltration besteht nur un- ter bestimmten Bedingungen:
1. bei akutem Nierenversagen, 2. bei Hypervolämie,
3. bei Hypernatriämie,
4. bei Vergiftungen, zum Beispiel durch Methanol oder Salicylate (Hä- modialyse). Dialyseverfahren der ersten Wahl ist dabei die bikarbo- natgepufferte Hämodialyse. Lactat- gepufferte Dialysate sind aus ver- ständlichen Gründen kontraindi- ziert. Acetatgepuffertes Dialysat be- sitzt gegenüber Bikarbonat den Nachteil einer vasodilatatorischen Eigenschaft.
Wenn die Indikation zur extra- korporalen Entgiftung beziehungs- weise zum Volumen- und Natri- umentzug gestellt werden muß und gleichzeitig noch kritische Kreislauf- verhältnisse bestehen (Schock, kar- diale Dekompensation), stellt heute die kontinuierliche pumpenunter- stützte venovenöse Hämofiltration (CVVH) das Verfahren der ersten Wahl dar.
Der Einsatz dieses kreislauf- schonenden, kontinuierlichen Filtra- tionsverfahrens war bei Lactatazido- sen bislang nicht zu empfehlen, da alle handelsüblichen Substituatlö- sungen Lactatpuffer in Konzentra- tionen zwischen 30 und 45 mmo1/1 enthielten. Nach eigenen, ersten Er-
Tabelle 1:
Diagnose der Lactatazidose Hyperlactatämie:
Lactat > 2,5 bis 5 mmo1/1 Lactatazidose:
pH < 7,35
Lactat > 5 mmol/1
fahrungen (bislang nicht publiziert) mit einem bikarbonatgepufferten Substituat zur Hämofiltration (zur Zeit in klinischer Testung) kann die- ses für kritische Kreislaufverhältnis- se vorteilhafte Filtrationsverfahren auch bei Patienten mit Lactatazidose erfolgreich eingesetzt werden.
Andere Verfahren zur Behand- lung der Lactatazidose, wie die Ga- be von Glukose und Insulin, Methy- lenblau oder Dichloracetat, haben derzeit keinen gesicherten Stellen- wert.
Prognose
Mehrfache Versuche, die Lac- tatspitzenspiegel bei Intensivpatien- ten unmittelbar mit der Letalitätsra- te zu korrelieren, scheiterten an der Abhängigkeit der Lactatspitzenspie- gel vom Typ des Schockzustandes, vom Ernährungszustand der Patien- ten und von dem Vorbestehen einer chronischen Lebererkrankung. So zeigten Patienten mit septischem Schock durchschnittlich niedrigere
Lactatspiegel als Patienten mit hä- morrhagischem Schock, wahrschein- lich durch die bessere Leberperfu- sion bei septischem Schock. Patien- ten mit chronischer Lebererkran- kung haben eine reduzierte Lactat- clearance, so daß unabhängig vom Auslöser der Lactatazidose bei die- sen Patienten höhere Serumlactat- spiegel zu erwarten sind.
Das Auftreten einer Lactatazi- dose bei kritisch Kranken bedeutet eine schlechte Prognose quo •d vi- tam (Letalität > 50 Prozent). Die Unterteilung in Lactatazidosen mit gestörter Gewebeperfusion (Typ A) und in solche mit augenscheinlich normaler Organoxygenation (Typ B) hat sich klinisch bewährt. Thera- peutisch steht die Beseitigung des Auslösers der Lactatazidose ganz im Vordergrund. Die Alkalitherapie mit Natrium-Bikarbonat hat sym- ptomatischen Charakter und ge- währt einen Zeitgewinn zur Behand- lung der Grundkrankheit. Muß die Indikation zur maschinellen Entgif- tung beziehungsweise zum Volu- menentzug gestellt werden, so kön- nen zukünftig auch kreislaufinstabile Patienten mit bikarbonatgepufferter kontinuierlicher Hämofiltration vor- teilhaft behandelt werden.
Literatur
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Anschrift der Verfasser:
Dr. med. Wolfgang Clasen Professor Dr. med.
Heinz-Günter Sieberth Abteilung Innere Medizin II der RWTH Aachen
Pauwelsstraße • 5100 Aachen A-1824 (60) Dt. Ärztebl. 85, Heft 24, 16. Juni 1988