Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 107|
Heft 23|
11. Juni 2010 415M E D I Z I N
DISKUSSION
Nephrotoxische Chemotherapie
Thomas et al. berichten über die Wertigkeit der früh- zeitig erfassten Nierenfunktionseinschränkung. Deut- lich wird aus diesem exzellenten Artikel, dass die chronische Niereninsuffizienz (cN) häufig unter- schätzt wird, deren frühzeitige Erkennung mittels Se- rum-Kreatinin-Bestimmung wenig sensitiv ist, aber es in gut behandelbaren Stadien bedeutsam ist, sie zu er- fassen. Die Autoren verweisen auf die wesentlichen Ursachen von cN, Bluthochdruck und Diabetes melli- tus. Wir möchten die Wertigkeit der cN-Erkennung auch bei Tumorpatienten unterstreichen, die aufgrund der Applikation nephrotoxischer Chemotherapien frühzeitig identifiziert werden muss. Aufgrund unse- rer steigenden Lebenserwartung stellen Tumorpatien- ten eine wichtige und wachsende Patientenklientel dar.
Wir haben die Nierenfunktion an 167 hämatolo- gisch/onkologischen Patienten mittels Serum-Kreati- nin, Cystatin-C und glomerulärer Filtrationsmarker (eGFR nach Cockcroft-Gauld-[CG] und MDRD [“modification of diet in renal disease“]-Formel) un- tersucht. Dabei zeigte sich eine milde Niereninsuffi- zienz (eGFR < 90mL/min/1,73m2) bei 52 % und CKD-Stadien 3 bis 5 bei 22 % der Patienten. Zudem war die MDRD- gegenüber der CG-Formel valider, bestätigend, dass die MDRD-Formel bei Nierenfunk- tionseinschränkungen Vorteile aufweist. Die Cysta- tin-Messung bot zur eGFR-ermittelten Nierenfunkti- onsbestimmung keinen zusätzlichen Gewinn. Bei Nierenfunktionseinschränkung zeigten sich außer- dem zusätzliche Nebendiagnosenund kardiovasku - läre Risiken (1). Diese Ergebnisse wurden an 198 Patienten mit multiplem Myelom verifiziert, bei de- nen sich eine milde, moderate (eGFR < 60 mL/
min/1,73m2) und schwere Niereninsuffizienz (CKD- Stadien 4 und 5) in 58 %, 29 % und 12 % zeigte. Die Zunahme der Nierenfunktionseinschränkung war ein- drücklich mit einem verminderten Progressions- und Gesamtüberleben assoziiert. Auch multivariat bestä- tigte sich die eGFR, die unter Einbezug des β2-Mi- kroglobulins (β2-MG) mit 0, einem oder zwei bis drei Risikofaktoren signifikant differierende Gesamtüber- lebensraten von 71, 48 und 24 Monaten offenbarte (2). Diese Ergebnisse wurden an 127 und nachfol- gend 466 konsekutiv-behandelten Myelompatienten überprüft, die die Relevanz der eGFR-Bestimmung und des eGFR-ß2-MG-Scores bestätigen (3).
Unsere Daten bekräftigen und ergänzen die Rele- vanz der eGFR-ermittelten Nierenfunktion und haben dazu geführt, dass wir die 24h-Kreatinin-Clearance- und Cystatin-C-Bestimmungen zugunsten der Serum- Kreatinin- und eGFRMDRD-Messung aufgegeben ha- ben.
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0415a LITERATUR
1. Kleber M, Cybulla M, Bauchmüller K, Ihorst G, Koch B, Engelhardt M: Monitoring of renal function in cancer patients: an ongoing challenge for clinical practice. Ann Oncol 2007; 18: 950–8.
2. Kleber M, Ihorst G, Deschler B, et al.: Detection of renal impair- ment as one specific comorbidity factor in multiple myeloma: mul- ticenter study in 198 consecutive patients. Eur J Haematol 2009;
Jul 14. [Epub ahead of print.]
3. Terhorst M, Kleber M, Ihorst G, De Pasquale D, Engelhardt M:
Comparison of 4 previously established, but highly different co- morbidity scores (Kaplan Feinstein Index [KF], Charlson-Comorbi- dity Index [CCI], Satariano Index [SI], Hematopoietic cell transplan- tation-specific comorbidity index [HCT-CI]) identifies the KF and HCT-CI as most relevant, but use of an easily applied 3-risk-factor (Kleber)-score suggests to even more effectively predict progres- sion-free- and overall-survival differences in multiple myeloma (MM) patients (pts). Blood 2009; 114: 1797.
4. Thomas C, Thomas L: Renal failure-measuring the glomerular filtration rate [Niereninsuffizienz – Bestimmung der glomerulären Funktion]. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(51–52): 849–54.
Prof. Dr. med. Monika Engelhardt Dr. med. Martina Kleber Universitätsklinik Freiburg Hämatologie & Onkologie Hugstetterstraße 55 79106 Freiburg
E-Mail: monika.engelhardt@uniklinik-freiburg.de
Für ältere Personen spärliche Datenlage Der Artikel enthält unserer Meinung nach einige Un- genauigkeiten.
Es werden sowohl Verfahren der gemessenen als auch der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (GFR) behandelt. Bezüglich der GFR-Messmetho- den vermissen wir eine etwas ausführlichere Darstel- lung der unterschiedlichen Verfahren, zumindest aber die Angabe eines aktuellen Reviews (1). Hin- sichtlich der estimierten GFR fehlt die Angabe der sogenann ten CKD-Epi-Formel, die seit Mai 2009 veröffentlicht ist (2). Sie ist im Vergleich zur MDRD-Formel präzi ser und wird mittlerweile von vielen Laboren angeboten.
Auch können wir den Referenzbereichen der GFR aus Tabelle 2 nicht zustimmen. Insbesondere für die Einschätzung der Nierenfunktion bei älteren Personen ab 60 Jahre gibt es bisher eine nur sehr spärliche Da- tenlage, vor allem aber keine einzige validierte eGFR- Formel. Sowohl die Cockcroft-Gault- als auch die MDRD-Formel unterschätzen die Nierenfunktion in dieser Altersklasse, bei der Erstellung der CKD-Epi- Formel war die Anzahl älterer Menschen zu gering, um eine tatsächliche Aussage treffen zu können. Insofern zu dem Beitrag
Niereninsuffizienz – Bestimmung der glomerulären Funktion
von Dr. med. Christian Thomas, Prof. Dr. med. Lothar Thomas in Heft 51–52/2009
416 Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 107|
Heft 23|
11. Juni 2010M E D I Z I N
ist auch die Angabe einer „altersspezifischen“ GFR bei älteren Menschen schwierig beziehungsweise aktuell unmöglich. Dies ist ein angesichts der demografischen Entwicklung umso bedeutenderes Thema. Die Nieren- funktion im höheren Alter soll in den kommenden zwei Jahren im Rahmen der Berliner-Initiative-Studie untersucht werden, einer populationsbasierten Alters- studie zur Niereninsuffizienz ab 70 Jahren.
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0415b LITERATUR
1. Stevens LA, Levey AS: Measured GFR as a confirmatory test for estimated GFR. J Am Soc Nephrol 2009; 20: 2305–13.
2. Levey AS, Stevens LA, Schmid CH, et al.: A new equation to esti- mate glomerular filtration rate. Ann Intern Med 2009; 150:
604–12.
3. Thomas C, Thomas L: Renal failure-measuring the glomerular filtration rate [Niereninsuffizienz – Bestimmung der glomerulären Funktion]. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(51–52): 849–54.
PD Dr. med. Elke Schäffner, MS Prof. Dr. med. Ralf Schindler
Universitätsmedizin Charité, Campus Virchow Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Nephrologie und Internistische Intensivmedizin
Augustenburger Platz 1 13353 Berlin
E-Mail: Elke.Schaeffner@charite.de
Schlusswort
Den Ausführungen der Kolleginnen Engelhardt und Kleber stimmen wir gerne zu. Die Anwendung der MDRD-Formel hat sich in der Routinediagnostik be- währt. Die Bestimmung von Cystatin C zur Schät- zung der glomerulären Filtartionsrate (GFR) nutzen wir in der klinischen Routinediagnostik bei Tumor - patienten zur Verlaufsbeurteilung der Nierenfunktion unter der Behandlung mit Cisplatin, da die Cysta- tin-C-basierte eGFR nach unserer Erfahrung bei die- sen Patienten früher eine Einschränkung der GFR an- zeigt. Nicht vergessen werden sollte, dass bei den in Kasten 3 genannten Personen und Patientengruppen bei Verdacht auf eine eingeschränkte Nierenfunktion nur die gemessene GFR zuverlässig ist.
Die Ausführungen der Kollegen Schäffner und Schindler haben wir mit Interesse entgegengenom- men und kommentieren:
●
Der vorgeschlagene aktuelle Review wurde erst im November 2009 veröffentlicht, eine Würdi- gung war nicht möglich, da unser Beitrag kurz vor der Veröffentlichung stand. Eine aktuelle Übersicht aus 2009 zu den Unterschieden der gemessenen und geschätzten GFR gibt Litera- turstelle 13 an.●
Die CKD-Epi-Formel haben wir nicht aufge- führt, weil im Gegensatz der von uns genannten MDRD-Formel bisher nur wenige Erfahrungen von Anwendern vorliegen und sie in Deutsch- land noch nicht häufig angewendet wird.●
Der schwachen Datenlage über altersbezogene Referenzbereiche der GFR sind wir uns be- wusst. Leider wäre es zu umfangreich gewesen, alle Publikationen zu nennen, aus denen die GFR-Referenzbereiche ausgewählt wurden. Wir halten die angegebenen Bereiche für valide und hätten uns gefreut, wenn im Leserbrief alternati- ve Angaben gemacht worden wären. Es ist löb- lich, dass Schäffner und Schindler eine solche Studie beginnen werden, leider nützt das zur Zeit dem Leser des Deutschen Ärzteblatts we- nig.DOI: 10.3238/arztebl.2010.0416
LITERATUR
1. Thomas C, Thomas L: Renal failure-measuring the glomerular filtration rate [Niereninsuffizienz – Bestimmung der glomerulären Funktion]. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(51–52): 849–54.
Prof. Dr. med. Lothar Thomas Laboratoriumsmedizin Krankenhaus Nordwest Steinbacher Hohl 2–26 60488 Frankfurt
E-Mail: th-books@t-online.de
Interessenkonflikt
Die Autoren aller Diskussionsbeiträge erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.Berichtigung
Berichtigung
In dem Beitrag „Niereninsuffizienz – Bestimmung der glomerulären Funktion“ von Christian Thomas und Lothar Thomas im Deutschen Ärzteblatt Heft 51–52/2009 entfällt im Kasten 2 in der Formel nach Hoek et al.
die hochgestellte Zahl –1,68. MWR