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onkrete Zahlen zu Inzidenz und Prävalenz des Diabetes mellitus fehlen in Deutschland. Schätzun- gen variieren von vier bis acht Mil- lionen Erkrankten, die Realität ist je- doch unklar. Der Vorstand der Deut- schen Diabetes-Gesellschaft hat des- halb bei ihrer Jahrestagung in Leip- zig beschlossen, eine nationale Da- tenbank aufzubauen. „Wir brauchen verlässliche Zahlen“, betonte Kon- gresspräsident Prof. Dr. Wieland Kiess (Universitätsklinik für Kinder und Ju- gendliche, Leipzig). Bereits bestehen- de Strukturen – wie das Diabetesre- gister für Kinder in Baden-Würt- temberg und in Sachsen, das Diabetes- register in Düsseldorf sowie das „Natio- nale Aktionsforum Diabetes mellitus“(NAFDEM) – sollen mit eingebunden werden.
Regionale Fehlversorgung
Sieht man von den fehlenden epidemio- logischen Daten ab, ist die Situation der Diabetologie in Deutschland jedoch bes- ser als ihr Ruf. „Wir brauchen uns im in- ternationalen Vergleich keineswegs zu verstecken“, sagte Kiess. Daten der Kin- derdiabetologen zeigten beispielsweise, dass die HbA1c-Werte und auch die Rate an Hypoglykämien sehr gut sind. Auch bei Typ-2-Diabetikern gebe es klare Hin- weise auf eine gute Versorgungslage in Deutschland. „Das schließt regionale Fehlversorgungen jedoch nicht aus“, räumte Kiess ein. Vor allem die Behand- lung von Diabetikern mit Folgeerkran- kungen sei in ländlichen Gebieten nicht immer optimal. Dafür gebe es in man- chen Städten eine Überversorgung.
Wie wichtig gute Daten zur Epide- miologie sind, machte der Diabetologe
am Beispiel der „Akzelerator-Hypo- these“ deutlich. Seit Jahren wird be- obachtet, dass der Typ-1-Diabetes im Kindesalter zunimmt. „Betrachtet man die Krankheitszahlen, stimmt das für das gesamte Bundesgebiet“, erklärte Kiess. Aber: Parallel dazu nimmt die Zahl der Erwachsenen, die an einem Typ-1-Diabetes erkranken, merklich ab. Führt man die Daten zusammen, zeigt sich ein interessantes Phänomen:
Es erkranken keineswegs mehr Men- schen an einem Typ-1-Diabetes, die Erkrankung tritt lediglich in früheren Jahren auf.
Die Ursachen des Phänomens könn- ten ähnlich gelagert sein wie beim Typ-2-Diabetes. Es besteht auch beim Typ-1-Diabetes eine genetische Prä- disposition. Ist die betreffende Per- son schlank, scheint sich der Diabetes erst in späteren Jahren zu manife- stieren.
Anders ist die Situation bei Kindern, die rasch gewachsen sind und ein ver- gleichsweise hohes Gewicht haben. Sie brauchen mehr Insulin und entspre- chend der Akzelerator-Hypothese ge- hen die Betazellen des Pankreas ra- scher zugrunde, der Diabetes mani- festiert sich deutlich früher. „Das passt zu Beobachtungen, wonach viele Kin- der einen Wachstumsschub erlebt ha- ben, kurz bevor der Typ-1-Diabetes auf- trat“, sagt Kiess.
Doch nicht nur die genetische Dispo- sition scheint eine Rolle zu spielen, en- ge Assoziationen bestehen auch zum Ge- burtsgewicht („fetale programming“).
Die weitere Erforschung der Zusam- menhänge könnte nach Kiess zu einem völlig neuen Verständnis der Pathophy- siologie des Diabetes führen.
Mit der Wirkstoffgruppe der Glipti- ne steht eine deutliche Erweiterung der
Therapieoptionen ins Haus. Die neuen Antidiabetika machen sich die phy- siologische Blutzuckerregulation über das im Darm gebildete Glucagon-like- Peptide-1 (GLP-1) zunutze. GLP-1 ge- hört zu den Inkretinhormonen und sorgt nach der Nahrungsaufnahme für eine rasche Freisetzung von Insulin aus den Betazellen des Pankreas. Die Hor- monwirkung ist bei Typ-2-Diabetikern eingeschränkt, was erklärt, warum bei ihnen der frühe Insulin-Peak fehlt. We- gen seiner sehr kurzen Halbwertszeit ist laut Prof. Dr. Michael Sturmvoll (Leipzig) eine direkte Behandlung mit GLP-1 nicht möglich. Mit zwei ver- schiedenen Strategien lässt sich die GLP-1-Wirkung dennoch nutzen.
Pumpen mit kontinuierlicher Glucosemessung
Mit einer Substanz, die GLP-1 sehr ähnlich ist, versucht man, die Wirkung im Organismus nachzuahmen. Ein ent- sprechender Wirkstoff, der ursprüng- lich im Speichel der amerikanischen Krustenechse entdeckt wurde, ist in den USA bereits im Handel und steht in Europa zur Zulassung an. Eine zwei- te Strategie besteht darin, die GLP-1- abbauenden Enzyme zu hemmen und so die Wirkung zu erhalten. Mit der Entwicklung der Dipeptidyl-Peptida- se-4-Inhibitoren (DPP-4) wird diese Strategie genutzt. Von den Gliptinen erhoffen sich Wissenschaftler zugleich die Möglichkeit, direkt in das Krank- heitsgeschehen eingreifen zu können.
Es gibt Hinweise darauf, dass sie den weiteren Untergang der Betazellen im Pankreas stoppen und sogar die Zellre- generation anregen.
Auch die Technik bietet Neuerun- gen. „Die Insulin-Pumpensysteme sind mittlerweile so ausgereift, dass sogar Kleinkinder damit eingestellt werden können“, berichtete Kiess. Inzwischen seien auch erste Systeme mit kontinu- ierlicher Glucosemessung im Einsatz:
„Das ist ein Quantensprung in der Versorgung der Patienten.“ Die Deut- sche Diabetes-Gesellschaft hat die aktuelle Entwicklung mit der Grün- dung der neuen Arbeitsgemeinschaft
„Insulinpumpen und Technologie“ be- antwortet. Christine Vetter M E D I Z I N R E P O R T
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A1652 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 24⏐⏐16. Juni 2006