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Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 5, 2. Februar 1996 (1) enn man der Interpreta-
tion der Exponenten der Gesundheitspolitik der Bonner Regierungskoalition Glauben schenken darf, sind die Grundvoraussetzungen für einen Wettbewerb innerhalb der Kran- kenversicherung bereits in der zweiten Etappe zur Strukturre- form gelegt worden: Die in diesem Jahr mögliche (partielle) Kassen- wahlfreiheit der Versicherten und die ab 1997 für alle Versicherten geltende Wahlfreiheit seien zu- sammen mit dem Risikostruktur- ausgleich gleichsam ein „konstitu- tives Element“ für mehr Wettbe- werb in dem sonst als „Nicht- Markt“ bezeichneten Gesund- heitswesen. Diese beiden Elemen- te seien mithin die Grundvoraus- setzung für gleiche Start- und Wettbewerbsbedingungen unter den Krankenkassen, das heißt – nach der Lesart der Erfinder die- ser Gesetzesregelungen – wesent- liche Voraussetzung dafür, daß die drei noch verbleibenden Wettbe- werbsparameter für die Kranken- kassen aktiviert werden können:
nämlich der Beitragssatz, um ei- nen möglichst kostengünstigen Versicherungsschutz anbieten zu können; die Ausgestaltung des Leistungskatalogs zumindest im
Rand- und Satzungsbereich sowie die Gestaltung der Versorgungs- strukturen.
Erwartet werden vom Wett- bewerb: Entfachung eines heilsa- men Druckes in Richtung auf eine sparsame und wirtschaftliche Mit- telverwendung durch die Kran- kenkassen und eine darauf abge- stellte Vertragsgestaltung mit den Leistungsträgern. Die allgemeinen Parameter einer Wettbewerbs- wirtschaft wie „Kundenorientie- rung“ und „Service“ müßten so hinter dem Oberziel einer Bei- tragssatzstabilisierung und einer möglichst kostengünstigen Dar- bietung des „Produktes“ zurück- treten. Zugleich sei ein mehr wett- bewerbliches Gesundheitswesen ein Garant gegen ein Abdriften in eine Art Billig- und Zweiklassen- medizin – zu Lasten der Versicher- ten und der Direktbetroffenen.
Allerdings gibt es auch kriti- sche Stimmen, die den Wettbe- werb als nur begrenzt durchsetz- bar, zum Teil sogar als ordnungs- politisch kontraproduktiv ein- schätzen. Der Wettbewerb darf nicht so weit getrieben werden, daß knappe Ressourcen für pseu- domedizinische Werbeangebote, reine Marketing-Aktionen oder zweifelhafte Leistungen vergeudet
werden. Es muß den Krankenkas- sen ein Riegel vorgeschoben wer- den, wenn sie ausschließlich quan- titatives Wachstum anstreben und den Versicherungsbestand weitge- hend durch die Akquisition guter Risiken oder durch Selektion schlechter Risiken zu erhöhen ver- suchen. Modellvorhaben müssen auf freiwilliger Basis durchgeführt werden, dürfen nicht die solida- risch finanzierte Versicherung be- lasten. Durch Öffnungsklauseln und Modellversuche darf das Prin- zip der überschaubaren und ein- heitlichen Leistungserbringung nicht über Bord geworfen werden.
Einkaufsmodelle oder Versor- gungssysteme à la HMO (in den USA) mögen zwar Ausdruck des Wettbewerbs sein, hierzulande würden sie aber ein Gestrüpp un- terschiedlicher Versorgungs- und Vergütungsstrukturen provozie- ren, einen Flickenteppich, der kaum in der Lage ist, die medizini- sche Versorgung zu verbessern und die Sozialbindung der Kran- kenkassen zu verstärken. Eine sol- che Entwicklung wäre allenfalls geeignet, durch Marketing-Strate- gien eine Kasse von der anderen abzugrenzen und ihr nur zeitweili- ge (marginale) Vorteile zu ver-
schaffen. HC
W
Zauberformel
Gesundheitsstrukturreform
ehr als 80 Prozent der Pflegebedürftigen, die zu Hause leben, werden von Familienangehörigen oder Bekann- ten betreut. Dementsprechend do- miniert als Leistungsart das Pflege- geld, das 81 Prozent der Versicher- ten beantragen. Mit der Schwere der Pflegebedürftigkeit werden je- doch verstärkt ambulante Pflege- dienste in die Betreuung eingebun- den. Rund 40 Prozent der Pflegebe- dürftigen der Pflegestufe III neh- men Sachleistungen in Anspruch.
Das sind Ergebnisse des ersten Pfle-
geberichts, den der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDK) Mitte De- zember 1995 in Bonn vorgelegt hat.
Der Bericht enthält differen- zierte Angaben über Alter und Geschlecht der Pflegebedürftigen.
So sind rund 75 Prozent der Pflege- bedürftigen 65 Jahre und älter, 25 Prozent sind jünger als 64 Jahre und rund 5 Prozent jünger als 19 Jahre. 75 Prozent aller Pflege- bedürftigen sind Frauen, die in den höheren Altersklassen zahlen- mäßig stärker vertreten sind.
Dem Bericht zufolge wurden von den begutachteten Pflegebe- dürftigen rund 31 Prozent in die Pflegestufe I, rund 26 Prozent in die Pflegestufe II und rund 12 Pro- zent in die Pflegestufe III einge- stuft. 29 Prozent der Anträge wur- den abgelehnt. Zu den häufigsten Diagnosen des MDK zählen Krankheiten der inneren Organe, der Haut sowie hirnorganische und psychische Erkrankungen.
Die häufigste Einzeldiagnose in allen Pflegestufen ist die Demenz-
erkrankung. EB