Akute und chronische Rückenschmerzen;
Diagnostik und Therapie
Hendra Wibisono
Dr. med. Ulrich Hülsmann Fachärzte für Neurochirurgie Spezielle Schmerztherapie
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Historie:
• Die erste Beschreibung von
Wirbelsäulenbeschwerden stammt von Hippokrates (460-377 v. Chr.) und Galenus von Pergamon (129-199 n. Chr.). Beide haben die Beschwerden auf eine
ausschweifende Lebensweise zurückgeführt
• Andreas Vesalius hat 1543 zum ersten Mal die Bandscheibe anatomisch und als Ursache für Rückenschmerzen beschrieben
• Die erste Bandscheibenoperation wurde 1934 von Mixter und Barr durchgeführt
Epidemiologie:
• Rückenschmerzen sind der zweithäufigste Grund für einen
Arztbesuch und in ca. 15% der Grund für eine Arbeitsunfähigkeit
• 1/3 der Bevölkerung leidet an Rückenschmerzen
• In 5-10% entwickeln sich chronische Schmerzen
• Im Jahr 2002 wurden in den USA eine Millionen Operationen an der
Wirbelsäule durchgeführt
Kosten:
• Ca. 90 Milliarden $ für die direkte
Behandlung von Rückenschmerzen (1998)
• 13.000 - 19.000 $ für die jährlichen direkten und indirekten Kosten nach erfolgloser Wirbelsäulenoperation pro Patient (1997)
Differentialdiagnose akuter Rückenschmerzen:
• diskogen
• traumatogen
• spinaler Tumor
• spinale Infektion
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Diskogene Rückenschmerzen:
• Reizung der Nozizeptoren des hinteren Längsbandes durch plötzliche
Vorwölbung der Bandscheibe (Lumbago, „Hexenschuß“)
• in 90% der Fälle sind akute diskogene Rückenschmerzen spontan rückläufig
• häufig erstes Zeichen einer
degenerativen Wibelsäulenerkrankung bzw. Vorstufe eines
Bandscheibenvorfalls
Traumatogene Rückenschmerzen:
• Wirbelsäulenverletzung:
– Stabil: Distorsionen (z.B. „Schleudertrauma“) – Instabil: ligamentäre, diskogene und ossäre
Zerreißungen
Tumorbedingte Rückenschmerzen:
• Extradural (55%)
• Metastasen: Lymphom, Lunge, Mamma, Prostata
• Plasmozytom
• Intradural extramedullär (40%)
• Meningeom, Neurofibrom
• Intramedullär (5%)
• Astrozytom, Ependymom
Infektiös bedingte Rückenschmerzen:
• Formen:
• spinaler epiduraler Abszeß
• Osteomyelitis
• Diszitis
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Frakturbedingte Rückenschmerzen:
• spontan bei Osteoporose
• pathologisch bei Wirbelkörpermetastasen
Vaskulär-intraabdominell bedingte Rückenschmerzen:
plötzlich auftretender extremster Schmerz bei
• Bauchaortendissektion (Fußpulse!!)
• Mesenterialinfarkt
Weitere mögliche abdominelle Ursachen:
• z.B. Cholezystitis
Inflammatorisch bedingte Rückenschmerzen:
• Sakroiliitis:
– z.B. als Frühform der ankylosierenden Spondylitis (M. Bechterew); HLA-B27 Antigen-Nachweis
– Symptome:
• morgendliche Rückensteifigkeit
• Hüftschmerz und Gelenkschwellung infolge der Arthritis
• Schmerzabnahme bei Bewegung
Blutungsbedingte Rückenschmerzen:
• Ursache:
– Spinale Gefäßmißbildung
• Intradurale arteriovenöse Malformation (AVM)
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Chronische Rückenschmerzen:
• Definition: Rückenschmerzen > 3 Monate
• Inzidenz: 5% der Patienten nach akuten RS
• nur in ca. 50% der Fälle wird ein pathologisches Korrelat gefunden
Differentialdiagnose
chronischer Rückenscherzen:
- chronisch - degenerative
Veränderungen der Wirbelsäule:
- Degenerative Spondylolisthesis - Osteochondrose
- „Facettensyndrom“
- Spinalkanalstenose
- Stenose des lateralen Recessus
Differentialdiagnose
chronischer Rückenscherzen:
• Somatisierungsstörung
bei psychischer Überlagerung/
sekundärem Krankheitsgewinn (Renten- und Versicherungsanspruch)
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Diagnostik:
• klinischer Befund
• bildgebende Diagnostik
• Elekrophysiologie
Klinische Untersuchung:
• Unterscheidung zwischen
– monoradikulärer Symptomatik – polyradikulär, diffus, degenerativ – entzündlich, Tumor
Bildgebende Diagnostik:
Röntgennativdiagnostik:
– Seitlich und anterior-posterior
– Ante- und Retroflexion (Funktionsdiagnostik)
– Informationen über:
• Stellung der Wirbelkörper zueinander
• Instabilität
• Skoliosen
• Degenerative Veränderungen (Spondylarthrosen)
• Traumatogene Veränderungen
• Osteolysen
Bildgebende Diagnostik:
• Computertomographie
• Kernspintomographie
• Myelographie
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Indikation zur
Kernspintomographie (mit Kontrastmittel):
• Demaskierung eines
Bandscheibenrezidivs der LWS
• Darstellung der HWS und BWS:
– Auffälligkeiten des Myelons:
• Myelopathie
• Tumor
• Entzündliche Veränderungen
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Indikation zur Myelographie:
• Höhenlokalisation bei multisegmentalen degenerative Veränderungen im CT/ MRT
• Darstellung von funktionellen Engen
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Elektrophysiologie:
indiziert bei nicht eindeutigem klinischem Befund NLG/EMG
• zum differentialdiagnostischen Ausschluß einer
Polyneuropathie oder eines peripheren Nervenschaden
• EMG in den ersten 14 Tagen „stumm“
SEP/MEP
• zum differentialdiagnostischen Ausschluß einer myelogenen Läsion
Stufendiagnostik bei bandscheibenbedingten
Erkrankungen der Lendenwirbelsäule
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Behandlung von akuten Rückenschmerzen:
• primär konservativ
• absolute OP-Indikation bei
• Cauda-Syndrom (Reithosenanästhesie, Inkontinenz)
• progredientem neurologischem Defizit (Paresen)
• Tumor mit drohender Querschnittsymptomatik
• Instabilität bei Fraktur
• relative Op-Indikation bei starken, therapieresistenten Schmerzen
Konservative Behandlung von akuten Rückenschmerzen:
• Ruhigstellung; ggf. Stufenbett
• Physikalische Maßnahmen:
• Wärme
• Manuelle Therapie
• Medikamentös:
• NSAR: z.B. Diclofenac
• Muskelrelaxans: z.B. Tetrazepam
• Leichte Opioide: z.B. Tramadol
• Injektionstherapie:
• Facettenblockade
• (CT-gesteuerte periradikuläre Infiltration)
Facettenblockade:
• Ausschalten nozizeptiver Strukturen in der
foraminoartikulären Region
• mittels einer 0,5%-igen Scandicainlösung und 10 mg Triamcinolon
Warnsignale bei akuten Rückenschmerzen:
• Erkrankung:
– Tumor oder Entzündung
• Hinweis:
– Alter > 50 und < 20 Jahre – Tumor in der Anamnese – plötzlicher Gewichtsverlust – Immunsuppression
– HWI, i.v. Drogen, Fieber – ruheunabhängige Schmerzen
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Therapie chronischer Rückenschmerzen:
• Rückenschule, Fango, Massage
• Verhaltenstherapie
• psychosomatische Therapie
• TENS
• Akupunktur
• Facettenblockade, PRT, sacrale Blockaden
• Medikamentös nach WHO- Stufenschema
• Ko-Analgetica:
• Antidepressiva, Antikonvulsiva, Myotonolytika, Kortikosteroide
• intrathekale Morphinpumpe
• SCS bei neuropathischen Schmerzen
Operative Behandlung von chronischen
Rückenschmerzen:
• bei morphologisch eindeutigem Korrelat zur Schmerzsymptomatik/Radikulopathie (nur in 50% der Fälle!!)
• Fehlschlagen intensiver konservativer Therapieversuche
Beispiele operativer Therapieformen an der
Wirbelsäule:
• Bandscheibenvorfall Sequestero- und Nucleotomie
• Ganglionzyste Operative Entfernung
• Spinalkanalstenose Dekompression (+Fixateur?)
• Protrusion DISC Nucleoplasty
• Foramenstenose intraspinöser Platzhalter: z.B.
DIAM
• Spondylolisthesis Dekompression + Fixateur
• Diszitis mit epiduralem Abszeß Dekompression
• Osteoporotische Wirbelkörperfraktur Vertebroplastie
• Osteochondrose Wirbelkörperprothese
Symptomatik beim lumbalen
Bandscheibenvorfall:
• Rückenschmerzen mit dermatombezogener Ausstrahlung ins Bein („Ischiasschmerz“)
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Lumbaler Bandscheibenvorfall:
MRT beim lumbalen
Bandscheibenvorfall:
Massenvorfall:
Offene
Bandscheibenoperation in mikrochirurgischer Technik:
• 1977 wurde zuerst von Loew und Caspar das Mikroskop beim Operieren des lumbalen Bandscheibenvorfalls eingeführt:
• Zugang über eine Teilhemilaminektomie und Flavektomie
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Markieren der zu operierende Etage in seitlicher Durchleuchtung:
Intraoperative
Kontrolldurchleuchtung:
Einsatz eines Spekulums:
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intraoperativer Situs:
Ergebnisse in der Literatur nach lumbaler
Bandscheibenoperation:
• In 75-90% sehr gute bis befriedigende Ergebnisse
• In ca. 10% mäßige bis unbefriedigende Ergebnisse
• Rezidivhäufigkeit bis 10%
Synovial- oder Ganglionzyste:
• ausgehend von den lumbalen Facettengelenken
• klinisch erstmals beschrieben 1968 von Kao als Einklemmung von Synovia durch die Facettengelenkkapsel
• mögliche Schmerzexacerbation durch Einblutung in die Zyste
• Diagnostik der Wahl: MRT
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Lumbale Spinalkanalstenose:
• Mono- oder polysegmentale osteogene Einengungen des Spinalkanals bzw. der Recessus laterales und der Foramina intervertebralia
• primär seit den 1970er-Jahren durch dekomprimierende Operationen versorgt
• zunehmend in den 1990er-Jahren auch durch Einbeziehung von Fusionsopertionen
erweitert, um einer ursächlichen segmentalen Instabilität entgegenzuwirken
Symptomatik:
belastungsabhängige
dermatombezogene Beinschmerzen mit Verkürzung der Gehstrecke verminderte Schmerzen bei Flexion Pathogenese:
Osteochondrose
Gefügelockerung der Wirbelgelenke Arthrose der Wirbelgelenke
Segmentale Instabilität Pseudospondylolisthesis Mechanische Einengung des Spinalkanals, Recessus und Neuroforamen
Operative Therapie der Lumbalkanalstenose:
• alleinige Dekompression über
Teilhemilaminektomie; ggf. Undercutting zur Gegenseite
• bei zusätzlicher Instabilität ggf.
instrumentelle Stabilisierung durch
• Translaminäre, transartikuläre Verschraubung
• Transpedikuläre Fixation
- PLIF, TLIF, ALIF (posterior-, transforaminl-, anterior lumbar interbody fusion)
DISC Nucleoplasty
• Minimalinvasive perkutane Operationsmethode zur Bandscheibendekompression bei Protrusion
• Wirkung:
– mit bipolarer Radiofrequenzenergie wird Gewebe mittels
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Distraktion der Dornfortsätze zur Behandlung der
Neuroforamenstenose
• alternativ zur Dekompressionsoperation
• Indikation:
• Nachweis einer foraminalen Enge im CT/MRT und Ausschluß einer Listhesis (Grad>1) und Instabilität
• Radikuläre Symptomatik unter Belastung, die sich bei Flexion bessert
• Sitzen 50 Minuten ohne Schmerzen möglich
• Mindestalter > 50 Jahre
Foramenstenose L4/5 und L5/S1
Foramen- stenose
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Spondylolisthesis:
• Definition: Gleiten eines Wirbels in sagittaler Richtung
• Ursachen:
• Defekt der „Pars interarticularis“ des Wirbelbogens (Slondylolyse)
• Hypermobilität bei degenerativen Veränderungen (Pseudospondylolisthesis)
• Erworben oder angeboren
• Einteilung des Schweregrades nach Meyerding
Grundzüge der operativen Behandlung bei symptomatischer
Spondylolisthesis:
Zugangswege:
• ventral („ALIF“; anterior lumbar interbody fusion)
• posterior („PLIF“; posterior ...)
• posterior-transforaminal („TLIF“; transforaminal
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Funktionsaufnahmen Spondylolisthesis L4/5
MRT: Spondylolisthesis L4/5
Postoperativ mit Pedikelschrauben L4-L5
Postoperativ mit
spongiosagefülltem Cage +
Pedikelschrauben
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Spondylolisthesis L4/5:
Fixateur von L4 auf L5 mit trikortikalem
Knochenspaninterponat:
Spondylodiszitis:
• Primär konsevative Behandlung:
• Immobilisation
• Antibiotische Behandlung: z.B. Clindamycin i.v.
• Indikation zur operativen Behandlung:
• Neurologisches Defizit
• Wirbelkörperdestruktion mit Gefahr der Instabilität
– Dekompression mit Abszeßentleerung und ggf.
Stabilisierung
Diszitis mit erosiven Veränderungen des
Wirbelkörpers
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MRT: Diszitis mit spinalem Abszeß
Vertebroplastie/Kyphoplastie:
• Indikation: Schmerztherapie und Stabilität bei
– osteoporotische Fraktur – pathologische Fraktur – traumatische Fraktur
• sofern keine Instabilität der
Wirbelkörperhinterkante besteht oder
Hinterkantenfragmente den Spinalkanal verlegen und neurologische Defizite bestehen
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Vertebroplastie BWK12 und LWK1
Lumbale
Bandscheibenprothese:
• Ziel: Erhalt der segmentalen Beweglichkeit
(Vgl.: „künstliches Hüftgelenk“ bei Coxarthrose)
• Indikation: degenerativ-diskogener Wirbelsäulenschmerz;
Osteochondrose Typ MODIC I und II
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Fallbeispiel:
discogene Rückenschmerzen Osteochondrose Typ MODIC I bei L5/S1
segmentaler Mikroinstabilität
postoperativ:
Wirbelkörpermetastasen:
• Therapieoptionen:
• Radiatio und Operation
• Indikation zur Operation:
• Neurologische Ausfälle
• Instabilität
• Schmerzen
• Verlust der Selbstständigkeit
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Zusammenfassung:
Es gibt eine Vielzahl von konservativen und operativen Therapiemöglichkeiten bei akuten und chronischen
Rückenschmerzen
• Jede/r Patient/in muss individuell beraten werden
• die richtige Indikationsstellung entscheidet über den Erfolg der durchgeführten Maßnahme