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Für Auge und Ohr: Musik als Film

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Frank & Timme

Für Auge und Ohr: Musik als Film

oder die Verwandlung von Kompositionen ins Licht-Spiel

Hans Emons

K u n s t- , M u s i K - u n d t h e At e r - w i s s e n s c h A F t

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Hans Emons Für Auge und Ohr: Musik als Film

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Kunst-, Musik- und Theaterwissenschaft, Band 12

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Hans Emons

Für Auge und Ohr: Musik als Film

oder die Verwandlung von Kompositionen ins Licht-Spiel

Verlag für wissenschaftliche Literatur

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2. komplett überarbeitete und erweiterte Auflage (1. AuÀ. ISBN 978-3-86596-019-1)

ISBN 978-3-86596-416-8 ISSN 1862-6114

© Frank & Timme GmbH Verlag für wissenschaftliche Literatur Berlin 2012. Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts- gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro ver¿lmungen und die Einspeicherung und Ver arbeitung in elektronischen Systemen.

Herstellung durch das atelier eilenberger, Taucha bei Leipzig.

Printed in Germany.

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier.

www.frank-timme.de

Umschlagabbildung: Vier Stills aus dem Film Symphonie Diagonale (1924) von Viking Eggeling (Ausschnitt aus einem Plakatentwurf von Susann Becker und Magdalena Pitt zum Projekt Der absolute Film, TU Berlin, 2011).

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Inhalt

Vorwort 7

Zur Neuauflage 11

1. Der Musikfilm: Zur Ästhetik und Geschichte eines Genres 12 2. Visuelle Sinfonien, Malerei mit Zeit, Tönende Ornamente:

Musik als Bezugsgröße für Film und Bühne der Zwanziger Jahre 36 2.1 Impressionistische Avantgarde: Germaine Dulac 36 2.2 „Malerei mit Zeit“: Kandinskys Bühnenkomposition

„Bilder einer Ausstellung“ 42

2.3 Tanzende Linien und Lichtkonzerte: Oskar Fischinger 53

2.4 Mahler-Hologramme in der Philharmonie 63

3. Musikalische Bildphantasien 70

3.1 Von der Augenmusik zur Bildphantasie: Walter Ruttmann 70 3.2 Glasmenagerie mit Tastenlöwen: „Les Cinéphonies“ 74 3.3 Lokomotive für Gütereilzüge und großer, figurierter Choral:

Jean Mitrys Film nach Arthur Honeggers „Pacific 231“ 81 4. Von Mäusen und Menschen: Klassische Musik

im Zeichentrickfilm und in der Computeranimation 90 4.1 Walt Disneys „Fantasia“, Bruno Bozzettos „Allegro non troppo“ und

Zbigniew Rybczynskis „Orchester“ 90

4.2 Quasi una Fantasia: Anmerkungen zu einem Erfolg und dem Versuch

seiner Wiederholung 111

5. Bildschirm – Konzerte: Dokumentation – Interpretation 120 6. „Put the blame on VTR …“: Exkurs über den Videoclip 134

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7. Interpretation – Imagination: neue Präsentationsformen

alter Musik 154

7.1 Zehn Stilübungen, ein Thema: ARIA 154

7.2 Räume des Geheimnisses und der Einsamkeit: Bill Violas „Déserts“,

Peter Mussbachs „Kain ist Kain“, Hugo Niebelings „Klage der Ariadne“ 163 7.3 „Auf Flügeln der Musik“? Georges Gachots „Gezeiten“,

Klaus Kirschners „Adagio“ und Helmut Rosts „Der Park“ 174 7.4 Kunst-Kreuzungen: Yo-Yo Ma, inspired by Bach 177 7.5 Klassik und Clip-Ästhetik: Zbigniew Rybczynskis „Caprice Nr. 24“,

Jaap Drupsteens „Celli“ und die „Classic Cuts“ 184 7.6 „Musik zum Sehen”: audiovisuelle Experimente der Robert-Schumann-

Musikhochschule Düsseldorf und der Medienhochschule Köln 191 7.7 Vom Zwang der Bilder: „Musical Journeys“, „Entre quatre-z-yeux“,

„One Night. One Life“, „A Story of Red and Blue“ und

neuere DVD-Reihen 196

8. Verfremdung um jeden Preis? Adrian Marthalers Bilderwelt 210 9. Verzeichnis der verfilmten Kompositionen 234

10. Bildnachweise 245

11. Personenregister 246

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Vorwort

Eigentlich ist eine Arbeit wie diese der vollendete Anachronismus. Statt zwi- schen zwei Buchdeckeln wäre ihr Thema in einem Text und Filmsequenzen elektronisch verbindenden Medium am besten aufgehoben. Es gehört zu den Pa- radoxien der Informationsgesellschaft, daß Daten nahezu jeder Art und Herkunft der privaten Nutzung weitgehend unentgeltlich offen stehen, während das öf- fentliche – und sei’s auch sachlich zwingend gebotene – Zitieren audiovisueller Dokumente zum ökonomischen Abenteuer entarten kann. So bleibt die Buch- form ein Behelf, freilich ein mittlerweile vielleicht auch notwendiger: eine zu- sammenhängende Darstellung des Musikfilms steht – trotz einer inzwischen et- wa 75 Jahre währenden Produktion – bis heute aus.

Anders als Filmmusik ist der Musikfilm der öffentlichen Wahrnehmung weitge- hend entzogen. Daß ungleich mehr über filmbegleitende Musik als über musik- begleitende Filme geschrieben wurde, hängt auch mit dem Nischencharakter ei- nes Genres zusammen, dessen frühe Produktionen heute schwer oder kaum noch auffindbar sind. Andererseits hat das Genre Musikfilm durchaus Werke hervor- gebracht, denen beträchtliche Resonanz (Fischinger), ja sogar Popularität (Dis- ney) beschieden war, und es besteht Grund genug zu der Annahme, daß sich das Medienpotential der Gegenwart der so leicht verfügbaren Ware Musik in zu- nehmendem Maße bedienen wird. Die Selbstverständlichkeit von Konzertüber- tragungen im Fernsehen schließlich hat unsere Wahrnehmung bereits so geprägt, daß wir vergessen, daß jede Präsentation dieser Art auch eine mehr oder weniger individuelle Regiearbeit darstellt, bei der über die Art und den Grad der filmi- schen Inszenierung von Musik jeweils neu entschieden werden muß.

Die folgenden Kapitel verstehen sich als Versuch einer Bilanz, die zwar nicht al- len Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Buchführung (vor allem nicht dem der Vollständigkeit) genügen kann, die aber einerseits eine Bestandsaufnahme und eine mehr oder minder ausführliche Kommentierung der wichtigsten, nur selten unmittelbar zugänglichen Zeugnisse des Musikfilms vornimmt und andererseits auf ästhetische Probleme, Entwicklungen und Traditionszusammenhänge eines Genres aufmerksam macht, das dank der von ihm gesetzten Standards in verän- derter, oder auch nur wiederverwertender Weise Kunst und Alltagskultur der Gegenwart – von der digitalen Übersetzungsästhetik und der ars electronica über die bildliche Präsentation von Konzertereignissen in den Medien bis hin zum kommerziellen Videoclip und der Clubszene – zumindest mitbestimmt.

Die Fülle der möglichen Gegenstände verlangt nach deutlich gezogenen Grenzen.

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Filme von Busby Berkeley oder Stanley Donen wird man in diesem Zusammen- hang so wenig erwarten dürfen wie Detlef Siercks (Douglas Sirks) SCHLUSS- AKKORD, Ken Russells MAHLER, Carlos Sauras CARMEN oder Godfrey Reggios KOYAANISQATSI. Der Zusatz „Musik als Film“ soll daran erinnern, daß es ausschließlich um die inzwischen zahlreichen Versuche geht, ein Stück autonomer – und das heißt im weitesten Sinn „klassischer“ – Musik in einen an- deren künstlerischen Kontext hinüberzuretten und sich mit den Mitteln des Films auf Struktur und Ausdruck des musikalischen Gegenstandes um seiner selbst willen einzulassen.

Damit bliebe, auch wenn die Vokabel „Musikfilm“ andere Konnotationen zuläßt und einschließt, die Verwendung von Bildungsmusik in Werbespots, Trailern, Soundies und Interpretenportraits ebenso ausgeblendet wie die Verwendung von Musikstücken oder -szenen innerhalb des Funktionsgefüges von Spielfilmen.

Ausgeblendet bliebe aber auch die Verfilmung von Opern, Balletten und – auf reale oder imaginäre Handlungen gegründeten – Liedzyklen, da hier in der Re- gel die visuelle Fantasie durch Dramaturgie und Szene zuungunsten der musika- lischen Struktur absorbiert wird. Die Auswahl nähert sich also – übrigens in weitgehender Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Angebot – der ästheti- schen Kategorie einer „absoluten“ Musik, in die mit guten Gründen auch die Vokalmusik und die Sinfonische Dichtung aufgenommen werden können. Da andererseits die gegenwärtige Inszenierung von Musik sich auch an den visuel- len Erfahrungen von 25 Jahren Videokunst orientiert, wird sich ein längerer Ex- kurs auch mit maßstabsetzenden Videoclips beschäftigen, was zugleich den an

„Bildungsmusik“ primär weniger Interessierten ansprechen dürfte.

Gleichwohl bleiben Probleme der Grenzbestimmung. Eine strikte Trennung vi- sualisierter Musik von einem nur musikbegleiteten Film kann in Einzelfällen schwierig sein; auch die Hinweise auf Kompositionen oder ein scheinbar ein- deutiger Titel sind nicht immer brauchbare Kriterien. Bruce Conners A MOVIE (1958) verwendet nur einen 12minütigen Auszug aus Respighis „Pini di Roma“

für seine Katastrophencollage, Charles und Ray Eames kommen mit wenigen der 30 Goldberg-Variationen aus (BLACK TOP, 1952), Walt Disney verspricht Beethovens Fünfte, begnügt sich aber de facto mit dem auch noch um die Durchführung gekürzten ersten Satz (FANTASIA 2000); auch kann die Länge der Verfilmung die der musikalischen Vorlage durchaus überschreiten (Jean Mi- trys PACIFIC 231).

Als einigermaßen verläßliche Kriterien können so nur die weitgehend unmani- pulierte Präsenz des musikalischen Originals im Film und, vor allem, die Nach- weisbarkeit von wie auch immer gearteten Beziehungen zwischen der visuellen und der musikalischen Ebene gelten. Zu deren Voraussetzungen gehört die

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weitgehende Konstanz des musikalischen Gebildes. Verfahren, die auf eine Zu- fallsoperationen einbeziehende Musik ihrerseits mit aleatorischen Prinzipien re- agieren – wie Maria Blondeels Aktion „Helpt U alles te verwesenlijken“ (1992), in der die Aufführung von John Cages HPSCHD mit einer in ihrer Abfolge aus- würfelbaren Serie von Dias begleitet wird – gehören darum in einen anderen als den hier erläuterten Zusammenhang.

Wenn, trotz des unglücklichen Begriffs, im Kontext dieser Darstellung oft von

„visualisierter“ Musik die Rede ist, dann gilt stets das konkrete musikalische Ar- tefakt als entscheidende Bezugsgröße. Es erscheint im Musikfilm in gleichsam doppelter Gegenständlichkeit: in der „Muttersprache“ des erklingenden musika- lischen Originals und in seiner „Übersetzung“ in eine fremde, ihm aber nicht wesensferne Sprache des bewegten Bildes.

Damit unterscheidet sich der Musikfilm einerseits deutlich von Versuchen, mu- sikalische Ordnungsvorstellungen auf reale Handlungsabläufe zu projizieren, wie sie – unbeschadet ihrer stilistischen Differenzen – Walter Ruttmann (BER- LIN. SINFONIE EINER GROSSTADT), Joris Ivens (DE BRUG, REGEN) und Dziga Vertov (DER MANN MIT DER KAMERA) unternahmen, andererseits aber auch von einer Tradition des Abstrakten Films, der seine Kreationen oft als

„sichtbare Musik“ verstanden wissen wollte. Die Geschichte dieser vorsätzlich stummen und mit einem mehr oder minder metaphorischen Musikbegriff operie- renden Filme reicht von Eggelings DIAGONALSINFONIE aus dem Jahre 1924 über die zwischen 1940 und 1949 entstandenen COMPOSITIONS von Dwinell Grant bis zu den Filmen von Stan Brakhage (etwa STELLAR, BLACK ICE und die CHARTRES SERIES) aus den 90er Jahren, in denen die Zusammenarbeit zwischen dem Grafiker (Sam Bush) und dem Regisseur als die zwischen dem

„visual musician“ und dem „composer“, Filmemachen mithin als ein Komponie- ren mit nichtklingenden Materialien verstanden wird.

Auszukoppeln sind auch jene ganz seltenen Fälle, bei denen Komponist und Filmemacher quasi in Personalunion zusammenarbeiten: das gilt bedingt für Jaap Drupsteen und seine INTERLUDES sowie für die in Zusammenarbeit mit Henning Lohner entstandenen Filme von John Cage (ONE11 AND 103), es gilt unbedingt für Mauricio Kagels Filme und die Videoarbeiten von Nam June Paik; zu beiden liegen kompetente Darstellungen seit längerer Zeit vor.

Die Anmerkungen zum Musikclip konzentrieren sich auf herausragende Arbei- ten vorwiegend der 90er Jahre und bleiben so ein notwendiger, aber auch not- wendig unvollständiger Exkurs. Auch die entsprechend dem Rahmen dieser Ar-

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beit vorgenommene Auflistung der verfilmten Kompositionen aus der Zeit zwi- schen 1928 und 2006 erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.

Nicht zuletzt versteht sich die vorliegende Schrift auch als Appell an die Ver- antwortlichen in den – öffentlich-rechtlichen oder privaten – Medienzentralen, zumindest diejenigen Filme, die für die Geschichte des Genres Musikfilm von besonderer Bedeutung sind, aus der Gruft der Archive zu befreien. Die wenigs- ten dieser Filme brauchen das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen; die Öffent- lichkeit, andererseits, hätte ein Anrecht auf sie.

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Zur Neuauflage

Visualisierung von Musik ist in der Regel von drei ineinandergreifenden Fakto- ren bestimmt: von Dokumentation, Imagination und Interpretation.

Dokumentarisch ist jede Visualisierung – auch dort, wo sie darauf verzichtet, den Interpreten ins Bild zu setzen, auch dort, wo sie sich einer abstrakten Bild- sprache bedient oder sich gänzlich privaten Bildfantasien überläßt – a priori schon dadurch, daß ihr eine ganz bestimmte individuelle Einspielung der betref- fenden Musik zugrunde liegt.

Interpretation ist sie in einem doppelten Sinne: im Sinne der Musikreproduktion, die stets eine persönliche Aneignung des im Notentext codierten Dokuments darstellt, vor allem aber in der Sinndeutung, die jede Imagination am künstleri- schen Objekt ihrer Begierde vornimmt. Imagination im Wortsinne der Bildfin- dung – naturgemäß der problematischste Aspekt jeder Visualisierung, da sie Bil- der findet oder erfindet für etwas, das per se nicht des Bildes bedarf – kann auf unterschiedlichste Weise verfahren. Sie kann, indem sie etwa den Gedanken Eduard Hanslicks von der Musik als Spiel tönend bewegter Formen à la lettre nimmt, ihren Ablauf ins gegliederte Ornament zu bannen versuchen; sie kann sich illustrativer, narrativer oder gestischer Verfahren bedienen oder den Kon- text ihres Sujets verändern bzw. aktualisieren: zu den Kriterien ihres Gelingens gehört, will sie nicht zum bloßen Kulissenzauber entarten, daß sie an der analy- tisch, historisch oder biografisch begründbaren Eigenart und Bedeutung ihres Gegenstandes nicht völlig vorbeizielt und ihm im besten Fall neue Sinn-Facetten abringt. Verkürzt gesagt: über die Sinnhaftigkeit der Imagination entscheidet der Reichtum an Interpretationsaspekten, die sie ihrem Kunstdokument abnötigt.

Insofern sind Dokumentation, Imagination und Interpretation, schematisch ver- einfacht, als Teile eines Beziehungsdreiecks darstellbar, in dessen Fläche sich nahezu jede Art von visualisierter Musik relativ genau verorten läßt.

Diese Konzeption wird auch in der Neuauflage unverändert beibehalten. Ver- bessert wurden – neben typographischen Details – trotz mehrfacher Korrektur immer noch übersehene Schreib- und Flüchtigkeitsfehler; auch mußte eine in der ersten Auflage noch vertretene, mittlerweile aber nicht mehr haltbare Position zum frühen Musikfilm geräumt werden. Erweitert wurde der Text um exempla- rische Musikverfilmungen aus Geschichte und Gegenwart, um Anmerkungen zum Genre des dokumentarischen Musikerporträts, um Ergänzungen durch neue fachwissenschaftliche Beiträge, um den Ausblick auf neuere DVD-Serien und um ein (nur Mehrfachnennungen berücksichtigendes) Namensregister.

November 2011

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Eine organische Verbindung der „reinen Musik“

mit dem Film kann ich mir trotzdem noch vorstellen … Daß nicht die Musik Begleitung zu den Bildern wäre, sondern die Bilder als Begleitung zu der Musik erscheinen würden. Die Vorstellungen, die ein Musikstück während des Zuhörens weckt, die Phantasien, die wie ein Wolkentreiben an uns vorbeiziehen. Musik wäre die Realität. Die Bilder das unterbewußt Mitschwingende. Nicht vertonter Film, sondern verfilmter Ton.

Béla Balázs1

1. Der Musikfilm: Zur Ästhetik und Geschichte eines Genres

Was Béla Balázs 1930 in der ungeschützten, wohl auch von keiner konkreten Anschauung beeinträchtigten Form des Gedankenexperiments zum Musikfilm formulierte, scheint bereits nur drei Tonfilmjahre später derart gründlich von der Wirklichkeit des Genres heimgesucht worden zu sein, daß ihm nur noch mit blankem Sarkasmus beizukommen war. Unter dem Eindruck eines von Erich Kleiber dirigierten Strauss-Walzers aus der Filmreihe „Das Weltkonzert“ – von den Lichtspielhäusern gern als steuersparender Kulturhappen im Beiprogramm serviert – notierte der junge Rudolf Arnheim 1933 in einer der letzten Nummern der „Weltbühne“2: „Ein Musikstück ist, im Gegensatz zum Tonpart eines echten Tonfilms, ein in sich geschlossenes Werk, das durch optische Zutaten nur zer- pflückt wird, falls sie nicht aus dem Charakter der Musik erfunden sind, wie ein Tanz oder das Lichtspiel der Fischinger – Würmer.“ Es folgt der mit dem eher- nen Griffel einer klassizistischen Kunstanschauung geschriebene Satz: „Ge- schlossene Tonwerke ertragen keine Bilder, geschlossene Bildwerke ertragen keinen Ton“.

Ein triftiger Einwand gegen dieses apodiktische Urteil ist schwer vorstellbar.

Gegenüber dem „geschlossenen Tonwerk“ – der Begriff kommt dem der Abso- luten Musik als einer in nichts als sich selbst gründenden Klangkonstruktion am nächsten – muß jede zusätzliche Information beliebig, äußerlich und zumindest unnötig erscheinen.

Noch die sachlichste filmische Dokumentation leidet, so betrachtet, unter dem Makel des Überflüssigen: als im Wortsinne konservatives Medium reduziert sie ihr musikalisches Sujet auf die Ausschließlichkeit des einen historischen Au- genblicks und stellt ihre Dienste weniger der Musik als ihren Interpreten zur

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Verfügung. Und wo sie sich auf vermeintlich objektive Daten wie den Notentext einläßt – selbst schon eine genuine Visualisierung von Musik, deren sich das Massenmedium Film aus nachvollziehbaren Gründen nur in Ausnahmefällen bedient hat –, überlagert sie das Primäre mit Bildern des Sekundären, lenkt sie die Aufmerksamkeit des Rezipienten statt auf die Musik auf deren Chiffrierung.

Ein deutlich weitergehender, wenngleich noch den nachprüfbaren Zusammen- hängen des musikalischen Sujets verpflichteter Anspruch ist den Versuchen ei- gen, den Bewegungs- und Strukturverlauf eines Musikstückes zum eigentlichen Thema der filmischen Visualisierung zu machen. Das Verknüpfen der musikali- schen Zeit mit bewegten Bildern impliziert dabei zwei voneinander abhängige Vorentscheidungen: die über die Bildinhalte und die über den Grad ihrer Anpas- sung an die Bewegungsart der Musik. Die Entscheidung für – sei’s auch noch so stilisierte – Abbilder der äußeren Wirklichkeit kollidiert indessen notwendiger- weise mit dem abbildfreien Wesen musikalischer Konstruktionen und läßt die konkreten Bildfindungen als weitgehend beliebig erscheinen – ein unauflösbarer Widerspruch, der den Musikfilm seit den frühen Experimenten der impressio- nistischen Avantgarde begleitet. Wenn darüber hinaus auch Rhythmus und Me- trum der Musik als wesentliche Stimulantien der filmischen Vorgänge angesehen werden sollen, gerät die natürliche Bewegungsform des Wirklichen unter das Diktat einer ganz und gar artifiziellen. Fischinger STUDIEN versuchten, diesem Dilemma durch die Entscheidung für ein Repertoire geometrisch-abstrakter Zei- chen zu entkommen. Freilich bleibt auch sein dienstbarer Respekt vor der Ab- bildlosigkeit der Musik insofern problematisch, als bereits die Wahl eines spezi- fischen Ikons aus der Musik selbst heraus nicht zu begründen ist.

Wenn schließlich Stimmung und Atmosphäre, schwer zu leugnende Phänomene, als Bilderwelten kaum objektivierbar sind und in den Bereich nur noch privater Assoziationen führen, eine erzählende Struktur sich aber andererseits von selbst verbietet, dann scheint in der Tat jede Symbiose absoluter Musik mit dem be- wegten Bild als unnötig im Sinne strikter künstlerischer Ökonomie. Geschlosse- ne Tonwerke brauchen keine Bilder – aber ertragen sie sie auch nicht?

Dem Begriff des geschlossenen Kunstwerks haftet auch etwas Apologetisches an. Seine Abstinenz gegenüber Geschichte und Rezeptionsgeschichte klammert all das aus, was der Strom der Kulturtradition an die „absoluten“ Gebilde an- gelagert hat. Die Zugehörigkeit eines Werkes zu einem bestimmten Stil oder Genre, der Kontext seiner Epoche, selbst seine spezielle Instrumentierung lie- fern Momente, an denen sich filmische Fantasie entzünden und zur Erfindung von Bildwelten führen kann, die vom Kunstwerk durchaus „ertragen“ werden, wenn sie seine klangliche Substanz nicht antasten und die Option offen halten, daß eine kreative Inszenierung ihren Gegenstand dem zweiten Blick aussetzt

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und Facetten an ihm freilegt, die sich bislang der Wahrnehmung entzogen ha- ben. Die Neubewertung vertrauter Verlaufsmodelle, die Neujustierung der Prä- sentationsstandards angesichts veränderter Technologien und Sehgewohnheiten, aber auch der kritische Blick auf den Warencharakter von Musik und ihre Ver- wertungszusammenhänge, auf den zirzensischen Charakter zumal der Solokon- zerte, auf die Verklärungsinstanz Kunst oder auf den ideologischen Hintergrund ihrer Epoche erweitern den Bezugsrahmen, in dem jedes Kunstwerk unvermeid- licherweise steckt, und sind ihm womöglich angemessener als die vermutlich il- lusionäre Hoffnung, ein Stück Musik in ein für allemal gültige visuelle Äquiva- lente übersetzen zu können.

Die filmische Aneignung von Musik bedient sich dabei im Wesentlichen dreier Verfahren, die im Folgenden aus methodologischen Gründen getrennt darge- stellt werden, obwohl sie in der Praxis des Musikfilms oft eng zusammenwirken.

Die „dokumentarische Konstante“

Das Neugierverhalten und der Geschäftssinn der Pioniere sowie die Unbefan- genheit des noch jungen Mediums Film gegenüber den etablierten Künsten las- sen die Anfänge des Musikfilms bis weit in die Stummfilmzeit zurückreichen.

Bereits 1903 begann die Dekade der „Tonbilder“, die Oskar Messters „Biophon“

über die Grenzen Europas hinaus bekannt machten. Die synchrone Kopplung von Grammophon und Stummfilm gestattete die Wiedergabe zunächst kleinerer Szenen aus den Repertoires von Sprechbühne und Musiktheater. Die vorab von prominenten Darstellern gedoubelten, in einer festen Kameraeinstellung aus der Publikumsperspektive gefilmten Szenen werden bei der Aufführung vom Gram- mophon begleitet, etwa der „Bajazzo“-Prolog, „La Donna e mobile“ aus „Rigo- letto“, später, nach der Verschaltung mehrerer Grammophone mit dem Projek- tor, auch ganze Akte (beispielsweise aus der „Fledermaus“). Bemerkenswert ist dabei die Unverfrorenheit, mit der alles, was gut und teuer war, miteinander ver- kuppelt wurde. In Hansjürgen Willes Henny-Porten-Biographie wird anschaulich geschildert, wie die junge Schauspielerin und ihr Vater Duette zu den Stimmen von Geraldine Farrar bzw. Emmy Destinn und Enrico Caruso mimen. Die erfolg- versprechende Kreuzung des Schaubühnenstars mit der prominenten Stimm- konserve läßt so Phantome der Oper entstehen, vollsynthetische Geschöpfe, die offenbar zum Apriori der Illusionsmaschine Film gehören. Bedeutsamer für unseren Zusammenhang sind allerdings die Live-Auftritte Joseph Giam- pietros, Guido Thielschers und Fritzi Massarys in diesen „Tonbildern“, vor al- lem aber Oskar Messters „Dirigentenfilme“, die nach seinen Worten das Erleb-

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nis vermitteln wollten „zu sehen, wie sich ein großes Orchester der Stabführung eines ‚projizierten Dirigenten’ unterordnete“3. Für den Auftritt von Pultstars wie Nikisch, Weingartner, von Schuch, aber auch von Opern- und Operettenkompo- nisten wie Emil Nikolaus von Reznicek und Paul Linke, der seine „Glühwürm- chen-Idylle“ dirigierte, erfand Messter eigens ein heute etwas gespenstisch an- mutendes Playbackverfahren, bei dem ein Schattenwesen ein lebendiges Or- chester dirigiert. An die Stelle des leibhaftigen Kapellmeisters trat sein Bild,

„das kinematographisch an die gleiche Stelle projiziert wurde, an der er in Kon- zerten zu stehen pflegte. Er wandte also auch im Bild dem Publikum den Rük- ken zu und den Musikern sein Antlitz. So wurde erreicht, daß das Orchester, das natürlich in gleicher Verteilung sitzen mußte wie bei der Aufnahme, durch das Bild ebenso geleitet wurde, wie das bei der Aufnahme durch den lebenden Dirigenten geschah. Bei der Herstellung der Bilder mußte der Dirigent während des Dirigierens seiner Kapelle zu diesem Zweck gleichzeitig einmal von vorn und einmal von hinten aufgenommen werden. Es geschah das mit Hilfe eines bestimmten Spiegelsystems unter Verwendung einer einzigen Kamera.

Im Konzertsaal sah das Publikum die Musiker wie üblich auf dem Podium. Das Dirigentenpult trug eine kleine halbreisförmige Projektionsleinwand, auf der man das Bild des Dirigenten in natürlicher Größe sah: er trat an das Pult heran, verneigte sich, dreht sich dann seinem Orchester zu und dirigierte es wie üblich.

Die Musiker dagegen sahen an der Rückseite der Brüstung, für die Zuhörer un- sichtbar, das Projektionsbild des Dirigenten von vorn, also an der Stelle, wo sie ihn sonst in natura zu sehen gewohnt waren“4.

Das Ende der bis dato etwa 15000 „Tonbilder“ um 1913 fällt mit der zunehmen- den Professionalität der Kinoorchester zusammen, gegen deren Dynamik und Tonqualität Messters Biophon bald nichts mehr ins Feld zu führen hatte. Ihre unter dokumentarischem Aspekt durchaus zweifelhaften Verfahren bleiben für eine Geschichte des Musikfilms auch dann von Bedeutung, wenn sie zum Ver- ständnis der Musik selbst nichts oder wenig beitragen: die medienspezifische Fixierung auf den Star initiiert mit dem Interesse an Musikausübung und Spiel- praxis eine Konstante des Musikfilms, die in unterschiedlichen Ausprägungen bis in die Gegenwart hinein wirksam ist.

Vereinzelt schon in den 10er Jahren, vermehrt aber erst seit 1926 gewinnt die technische Konservierung maßstabsetzender Interpretationen an Boden: das Spiel Mischa Elmans (Dvořáks „Humoreske“) und Fritz Kreislers („Liebesleid“) im Jahre 1926, Elmans Tschaikowsky-Konzert in der Hollywood Bowl 1932, Thi- bauds Granados-Interpretationen von 1937, die Hollywood-Auftritte von Joseph Szigeti (1944) und Yehudi Menuhin (1947), die Einspielung der Chopin-Etüden

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op.10.1, op.25.5 und op. 25.9 durch die drei Konkurrenten Arthur Rubinstein, Alfred Cortot und Wilhelm Backhaus (1928), Sergej Rachmaninow mit seinem dritten Klavierkonzert in einer Aufnahme von 1940 mit dem Philadelphia Or- chestra unter Eugene Ormandy – das sind nur einige Titel aus der zunehmenden Flut von Produktionen; der Ton der frühen Jahre wurde teils auf Schallplatten, teils (ab 1926) auf den großen Schellackscheiben des Vitaphon-Nadeltonsystems und erst ab 1930 auf der Lichttonspur des Filmmaterials gespeichert.

Ein besonderes Publikumsinteresse galt von Anfang an den Stars der Stimme.

Was im goldenen Zeitalter der Klaviervirtuosen eher die Ausnahmen war – Ig- naz Paderewskis Rolle als Pianist und Hauptdarsteller in Lothar Mendes’

„Moonlight Sonata“(1938) –, wird seit Enrico Carusos Auftritt in „My Italian Cousin“ (1919) nahezu selbstverständlich: der Spielfilm (Richard Tauber in „Li- lac Time“1933, Fjodor Schaljapin in G.W. Pabsts „Don Quichotte“ aus dem gleichen Jahr, Lauritz Melchior in Richard Whorfs „Luxury Liner“1948) und der sogenannte Musikfilm (Lawrence Tibbett in Boleslawskis „Metropolitan“

1935, Kirsten Flagstad und Ezio Pinza in den Mitchell-Leisen-Filmen „The big broadcast“, 1938, bzw. „Tonight we sing“,1953) versichern sich der derzeit prominentesten Kehlen. Hinzu kommen Screen Tests (Rosa Ponselle 1936 bei MGM mit der Habanera aus „Carmen“) und die von Warners Vitaphone ab 1926 vorwiegend als Vorfilme konzipierten Aufnahmen mit Giuseppe de Luca und, vor allem, Giovanni Martinelli.

So unlösbar der voyeuristische Blick auf den Genius als dokumentarische Kon- stante mit dem Musikfilm verknüpft ist, so wenig dürfen diese Produktionen (und die ihnen später im Fernsehzeitalter folgenden Musikerporträts5)als visuelle Interpretationen von Musik gelten. Die Sublimierung dokumentarischen Materi- als zum eigentlichen Musikfilm gelang, wohl zum ersten Mal, dem ehrgeizigen Projekt der „Cinéphonies“. Die „Compagnie des grands artistes internationaux“, die der Geiger Jacques Thibaud und der Musikkritiker und Musikschriftsteller Emile Vuillermoz 1935 ins Leben riefen, hatte nicht nur den Vorteil des tech- nisch ausgereiften Filmtons auf ihrer Seite: zumindest bei den Studioversionen wurde das Spiel der Solisten unmittelbar von der Tonspur der Kamera auf- gezeichnet, die Synchronie von Licht-Bild und Licht-Ton garantierte die größt- mögliche Authentizität der Einspielung. Wie weit sich andererseits die „Ciné- phonies“ vom Genre des bloß Dokumentarischen emanzipieren, zeigt etwa die entfesselte, aber in jedem Detail musikalisch stimmig geführte Kamera bei Ale- xander Brailowskys Einspielung von Chopins Valse brillante As-Dur op. 34.1 (Regie: Max Ophüls). Darüber hinaus gehört die geglückte Integration der do- kumentarischen Passagen in einen Deutungsrahmen – etwa die Kinderstuben-

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welt der „Trois Tableaux de ‚Children`s Corner’“ – nachgerade zum Markenzei- chen der „Cinéphonies“. Entscheidend für den qualitativen Sprung, den sie in der Geschichte des Musikfilms darstellen, dürfte der Umstand gewesen sein, daß die gesamte Produktion und damit auch die Auswahl der Regisseure in den Händen der beiden künstlerisch und theoretisch hochbegabten Musiker lag; erst dadurch wurde die Voraussetzung für jene Intensität erreicht, mit der sich die jeweilige Regie in Struktur und Bedeutung der Musik selbst vertiefte. Nur aus heutiger Sicht scheint es nahezu selbstverständlich, daß sich Schnittrhythmus, Sequenzenbildung, formale Proportionen und die Synchronisation szenischer De- tails nicht nur streng am „Wortlaut“ ihrer Vorlage orientieren, sondern daß sogar das Kunststück gelingt, die eigentlich unvereinbaren musikalisch-reversiblen und die erzählend-irreversiblen Zeitvorstellungen miteinander zu verknüpfen. Daß in- nerhalb der mit der dokumentarischen Ebene raffiniert verwobenen narrativen Passagen – legitimierbar durch inhaltliche Vorgaben (Szymanowski), Text (Fau- ré) oder Titel (Debussy), mitunter aber den Objekten auch aufgezwungen („Dr.

Gradus ad Parnassum“) – Musik und Wirklichkeit nicht allzu hart miteinander kollidieren, verhindert die verordnete Flucht in die künstlichen Paradiese von My- thos und idealer Kindheit – inszenierte Scheinwelten, die der filmischen Artikula- tion der Musik keinen ernsthaften Widerstand entgegensetzen.

Filmästhetisch deutlich unterhalb des Niveaus der Cinéphonies bewegt sich ein kinematographisches Ereignis, dessen Premiere am 8. Oktober in San Francisco stattfand. Freilich ging es hier auch nicht um die Verknüpfung von Interpreten- porträt und musikinterpretierenden Handlungselementen, sondern um ein quasi authentisches, filmisches Abbild eines Konzerts mit ausschließlich klassischer Musik, in dessen Mittelpunkt der große Geiger Yehudi Menuhin stand.

Angestoßen hatte das Projekt CONCERT MAGIC (so der Originaltitel) 1947 der musikbegeisterte Regisseur Paul Gordon. Seine Idee, bedeutende Ereignisse des Konzertlebens per Film auch dem abgelegensten Winkel der Provinz zu- gänglich zu machen, traf sich mit dem kulturpädagogischen Engagement Yehudi Menuhins, stieß freilich bei den Chefs der großen Hollywood-Studios, die einen reinen Konzertfilm ohne jede grafische Animation – Disneys FANTASIA war gerade sieben Jahre alt geworden – für schieres Kassengift halten mußten, auf taube Ohren. Gedreht wurde schließlich – bei chronischer Unterfinanzierung trotz zahlreicher privater Sponsoren, ohne Playback und Postproduktion, dafür mit viel Improvisationstalent am Set – in den Studios von Charlie Chaplin.

Das Ergebnis ist nicht nur der erste abendfüllende Konzertfilm Hollywoods und zugleich der Filmgeschichte, sondern auch ein Kuriosum: CONCERT MAGIC ist weniger ein Film als eine Zelluloid-Matinee, die neben der bloßen Aufzeich- nung des Programms auch die Aura des bürgerlichen Konzertrituals für den Zu-

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schauer retten möchte. Ein Vorhang gibt zu Beginn die Leinwand frei, schließt sich nach dem ersten Teil für die Dauer einer veritablen Konzertpause und öff- net sich nach dem Schluß noch einmal für verschiedene Zugaben, die vom je- weiligen Filmvorführer nach Maßgabe des Begeisterungspegels im Publikum ausgewählt werden konnten.

Statt auf einer nüchternen Studiobühne präsentieren sich der Star und sein Be- gleiter am Flügel (Adolph Baller) in einem mit viel Chippendale ausgestatteten Interieur; lediglich die orchesterbegleiteten Programmteile (Bachs Air aus der D-Dur-Suite, Mendelssohns Violinkonzert op. 64, Bachs „Erbarme dich“-Arie aus der Matthäuspassion mit der ebenso jungen wie großartigen Eula Beal), aus- geführt vom Hollywood Symphony Orchestra unter der Leitung von Antal Do- rati, zeigen das übliche Tonstudio-Ambiente.

Wie die Kamera auf die Durchschnittsperspektive des Zuschauers fixiert ist, so scheint die Programmauswahl den Bedürfnissen des Durchschnittszuhörers ent- gegenzukommen. Es überwiegen für jeden Programmteil feste Einstellungen mittig vom Auditorium auf Solist und Begleiter, modifiziert durch behutsame close ups, bei den orchesterbegleiteten Teilen der Wechsel von Totale, Halbnah und Nah; Schwenks oder ungewöhnliche Perspektiven bleiben weitgehend – bis auf die Rückenansicht des Solisten über den Flügel hinweg bei Sarasates Haba- ñera – ausgeklammert.

Die Programmfolge 1.Teil

Brahms, Ungarischer Tanz Nr. 5 Brahms, Ungarischer Tanz Nr. 4 Wieniawski, Scherzo Tarantella op. 16 Bach, Air aus der Suite D-Dur

Bach, „Erbarme dich“-Arie aus der Matthäuspassion 2.Teil

Paganini, Perpetual Motion op. 11 Schubert, Ave Maria

Bach, Präludium aus der Solosuite BWV 1006 Paganini, Capriccio 24 aus op. 1

de Sarasate, Habañera op. 21 Mendelssohn, Violinkonzert op. 64 Zugaben

Antonio Bazzini, Calabrese-Walzer op. 34

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orientiert sich im wesentlichen am Prinzip der Abwechslung und nimmt dabei in Kauf, daß das ganz und gar Verinnerlichte und die nur virtuose Pièce, daß Erha- benes und nahezu Triviales, daß die konzertante Großform und die artistische Miniatur ebenso unverbunden wie unmotiviert nebeneinander stehen und allen- falls durch die gemeinsame Klammer einer „populären Klassik“ einen mehr oder minder fragwürdigen Rahmen erhalten.

Die Uraufführung von CONCERT MAGIC fand übrigens ohne Mendelssohn statt (Menuhins Vater Moshe hatte, als unnachsichtiger Finanzverwalter der Ge- schäfte seines Sohnes, das Violinkonzert aus dem Programm des vermeintlich ausbeuterischen Regisseurs Paul Gordon entfernen lassen), aber auch ohne den anderweitig verpflichteten Yehudi Menuhin: er hat den fertigen und später in den USA durchaus erfolgreichen Film erst 50 Jahre später kennengelernt.

Was bei den „Cinéphonies“ und bei CONCERT MAGIC das Ergebnis einer bemerkenswerten Privatinitiative war, wurde seit der Etablierung des Fernse- hens vor allem dort, wo es sich als öffentlich-rechtliches Medium konstituierte, zu einer der Allgemeinheit verpflichteten Kulturarbeit der Länder. Mag auch die Behauptung polemisch überspitzt sein, Musik gebe es im deutschen Fernsehen erst seit der Einrichtung des Zweiten und vor allem der Dritten Programme6 , so ist daran doch richtig, daß erst in den 60er Jahren die weitgehend ambitionslose Archivierung bedeutender Konzertereignisse – etwa die Beethoven- und Respighi- Interpretation der lebenden Legende Arturo Toscanini mit dem NBC Symphony Orchestra in der Carnegie Hall 1952 – von eigenständigen Regiekonzepten ab- gelöst wurde. Vor allem die Zusammenarbeit zwischen Herbert von Karajan – der mit der Cosmotel auch seine eigene Produktionsfirma gegründet hatte – und Henri-Georges Clouzot Mitte der 60er Jahre, aber auch mit Hugo Niebeling (1967) hat die Maßstäbe der bis dato gültigen Praxis ähnlich verändert wie die brillante Montage, die Farbdramaturgie, die Beweglichkeit der Kamera und die dadurch erweiterten Perspektiven in den Arbeiten Klaus Lindemanns aus den 70er Jahren. Gleichwohl bilden diese Namen und die mit ihnen verbundenen kreativen Impulse innerhalb eines grundsätzlich dokumentarischen Genres eher die Ausnahme von einem fast schon zur Regel erstarrten und weitgehend stan- dardisierten Regiestil, der sich seit den 80er Jahren vor allem am Passepartout- Konzept Humphrey Burtons orientierte.

Gegen diesen zurückhaltend gleichförmigen, gleichsam von Risiken und Ne- benwirkungen gereinigten Inszenierungsstil begehren die 90er Jahre in unter- schiedlicher Weise auf: etwa durch die Technik des Screen Splitting, die aus der Gleichzeitigkeit alles musikalisch Erklingenden die visuellen Konsequenzen zieht, oder durch die Applikation der Schnitt-, Manipulations- und Nachbearbei-

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tungspraktiken einer inzwischen erwachsenen Videokultur auf den Mitschnitt von Konzertereignissen.

Entschiedener haben sich, schon seit den späten 70er Jahren, Regisseure wie Adrian Marthaler und Jaap Drupsteen vom Ritual des Bildschirmkonzerts verab- schiedet. Marthalers Filme entfliehen der vertrauten Konzertsaalatmosphäre durch Reisen an ungewohnte Aufführungsorte, in Räume des grell Grotesken oder des fantastisch Überraschenden, aber sie halten unbeirrt – von den frühe- sten Arbeiten bis in die späten 90er Jahre – am Zentrum des Musizierens und Konzertierens fest. Selbst wenn dieser Nukleus der musikalischen Kommunika- tion zwischen Ensemble, Solist und Dirigent oft genug mit den psychologischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen der Musikausübung konfrontiert wird, bleibt er doch die dokumentarisch konkrete Basis für jeglichen Überbau, wenn er nicht gar – als lebendiges Porträt aller am musikalischen Prozeß Beteiligten – zum alleinigen Gegenstand der Inszenierung wird wie im „Siegfried-Idyll“, in Mozarts Klavierkonzert KV 467 oder in der „Kleinen Nachtmusik“.

Auch Jaap Drupsteen, der schon 1979 mit der Inszenierung von Banchieris Ma- drigalkomödie „La Barca“ das Kölner Collegium Vocale in ein ganz und gar synthetisches, aus Commedia dell’arte-Elementen, holländischem Grachtenwas- ser und kolorierten Venedig-Fotos virtuos montiertes Oberitalien schickte, hält gewissenhaft Spiel und Gestik der sechs Cellisten der Kölner Philharmonie im Bilde fest, auch wenn „Celli“ (1990) auf jede Mitschnitt-Simulation verzichtet und das Fernsehkonzert als rein mediales Ereignis konzipiert. Daß er sich dabei aller Möglichkeiten der elektronischen Bildmanipulation bedient, wie sie vorzugs- weise im Videoclip ausgestellt werden, um sie dann freilich anderen Zwecken als dort zuzuführen, ist umso weniger verwunderlich, als auch das Musikvideo – man möchte sagen: zunehmend gegen seinen Willen – auf einen dokumentari- schen Rest angewiesen ist, der als Star- oder Gruppenporträt in die Performance oder die Promotion eingeht. Wenn andererseits die Videoästhetik zum ersten Mal nachhaltig an den Grenzzäunen zwischen Kunst und Kommerzialität, Avantgarde und Massenkultur, ja zwischen den Künsten selbst rüttelte, dann ge- hört sie auch zu den Voraussetzungen der Versuche Yo-Yo Mas, die Dokumen- tation seiner Einspielung der Cello-Solosuiten Bachs mit den Kunstfertigkeiten auch musikfremder Disziplinen zu verbinden.

Schließlich haben auch die „Classic Cuts“ des ZDF – legitime Kinder der „Ciné- phonies“ und des Musikclips – selbst dort, wo sie mit dem Dokument ein frivol illusionistisches Spiel treiben, am Prinzip der dokumentarischen Konstante teil, nicht anders als alle Produktionen, die eine künstlerische Persönlichkeit und ihre Werkinterpretation in den Mittelpunkt der filmischen Visualisierung stellen.

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So gehört die filmische Reproduktion der künstlerischen Arbeit – und sei’s auch nur als im Studio simulierte – als verläßliche Konstante zur Geschichte des Mu- sikfilms. Da sich mit ihr allein zwar dem Musizieren, kaum aber der Musik bei- kommen läßt, hat sie sich fast immer, bis in die scheinbar neutral beobachtende Konzertübertragung hinein, bewährter Strategien bedient, mit denen sie etwas vom strukturellen Gefüge und der expressiven Kraft des jeweiligen Werkes in die Welt der Bilder hinüberretten konnte – unbeschadet dessen, daß es auch eine künstlerische Entscheidung sein kann, angesichts der grundsätzlichen ikonischen Unerreichbarkeit von Musik auf alle Künste der Bildregie zu verzichten und, wie Klaus Lindemann in den späten 70er Jahren, mit nur einer Kamera und ge- legentlich nur einer einzigen Einstellung auszukommen, oder, wie Adrian Mar- thaler, darauf zu vertrauen, daß sich der Gestus der Musik auf den Gesichtern der Ausführenden spiegele.

Interpretation, Paraphrase, Revision

Von einer Visualisierung kann erst dort gesprochen werden, wo sich der Musik- film über die bloße Dokumentation der musikalischen Interpretation hinaus auf Sinn und Bedeutung eines Musikwerkes einläßt. Das hatten bereits die „Ciné- phonies“ auf ihre Weise versucht, indem sie gelegentlich das Spiel der Solisten auf eine Rahmenfunktion reduzierten oder erzählende Konstruktionen einer Mu- sik aufsetzten, die für dergleichen nicht stets geeignet war, immer aber die filmi- sche Artikulation der Inszenierung an der musikalischen Struktur orientierten.

Diese Tradition hat sich überall dort erhalten, wo die dokumentarische Konstan- te am Werk ist, auch in der sachlichen Augen- und Ohrenzeugenschaft des Fern- sehkonzerts, das selten darauf verzichtet, thematische oder klangfarbliche Ereig- nisse visuell hervorzuheben oder dem unterschiedlichen Ausdrucksprofil der einzelnen Sätze durch Licht- oder Farbregie entgegenzukommen.

Indessen gab es bereits lange vor den „Cinéphonies“ unterschiedliche Ansätze zu einer ganz anderen Konzeption des Musikfilms, deren Gemeinsamkeiten dar- in liegen, Musik selbst als ein Dokument zu betrachten, auf dessen Geheimnisse mit filmischen Mitteln zu reagieren wäre – verkürzt gesagt: nicht mehr die In- terpretation von Musik zu dokumentieren, sondern ein ästhetisches Dokument visuell zu interpretieren. Diese Ansätze gehen zurück auf das Jahr 1928 – es ist, kaum zufällig, das Jahr des „Manifests zum Tonfilm“, in dem Eisenstein, Pu- dowkin und Alexandrow eine an der Montagetheorie Eisensteins orientierte Neuordnung der Beziehungen zwischen Bild und Ton einforderten – und finden sich in den verschiedenen Genres der Filmavantgarde (Trickzeichnung, Real-

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film, filmische Abstraktion) ebenso wie in den filmaffinen Experimenten der Bauhausbühne. Die einander polar zugeordneten Begriffe Interpretation und Pa- raphrase umreißen dabei den Grad der filmischen Aneignung von Musik.

Von Interpretation ließe sich dort sprechen, wo es gelingt, die Fülle der musika- lischen Erscheinungen auf einen einheitlichen „visuellen Begriff“ zu bringen, während die Paraphrase eher nachzeichnete und verdeutlichend umschriebe, was in der Musik bereits zutage liegt. Gewiß haftet am Begriff der Paraphrase etwas Inferiores, das Odium des wortreich nur Wiederholenden und letztlich Überflüs- sigen. Damit benennt er zwar präzise die Tatsache, daß die Notwendigkeit eines visuellen Additums zur Musik schlechterdings nicht zu begründen ist, degradiert dadurch aber die Bilderwelt des entstehenden Gesamtkunstwerks a priori zur Nebensächlichkeit. Wenn an ihm dennoch festgehalten wird, dann deswegen, weil er, als „poetisierende Paraphrase“ in der Musikkritik des 19. Jahrhunderts, für die Fundierung des ästhetischen Urteils einst das leistete, was im 20. Jahr- hundert die musikalische Analyse übernahm7.

Die filmische Aneignung musikalischer Kunstwerke sieht sich damit ästheti- schen Problemen ausgesetzt, die dem nur dokumentierenden Blick auf die musi- kalische Interpretation noch fremd waren: wie läßt sich mit den Mitteln des – wenn auch bewegten – Bildes und mit aus Bildwelten montierten Erzählkon- strukten auf eine Kunst reagieren, die ihrerseits – wenn auch bewegt und bewe- gend – weder abbildet, noch über eine logisch zwingende Kontinuität verfügt und sich darüber hinaus nicht eben selten dem linearen Zeitverlauf widersetzt?

Einige dieser Probleme schienen in der Welt der Abstraktion lösbar zu sein. Als Wassily Kandinsky 1928 mit seiner Bühnenkomposition „Bilder einer Ausstel- lung“ die von Modest Mussorgsky in Klangszenen verwandelten Aquarelle und Zeichnungen Victor Hartmanns in allein mit Form, Farbe, Licht und Bewegung operierende Prospekte gleichsam rückübersetzte, stand dieser innovatorische Augenblick bereits in einer dreifachen Tradition: der mit dem Film sympathisie- renden Licht-Spiele des Bauhauses, der von allen theatralischen Illusionen ge- reinigten Experimente der Bauhausbühne und einer von Walter Ruttmann um 1920 als Vorgriff auf den abstrakten Film formulierten „Malerei mit Zeit“. Über die synästhetischen Versuche des Bauhauses – etwa die Reflektorischen Licht- spiele von Ludwig Hirschfeld-Mack und Kurt Schwerdtfeger – geht Kandinskys Experiment insofern hinaus, als hier ein bereits etabliertes Kunstwerk (eben Mussorgskys Zyklus) in die Welt bewegter Bilder überführt wird. Kandinsky verzichtete weitgehend auf konkrete, etwa von den einzelnen Titeln Mus- sorgskys ausgehende Bildassoziationen zugunsten meist gegenstandsloser Zei- chen, die sich auf die tektonischen und formalen Zusammenhänge der Musik

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(Symmetriebildungen, Bewegungseinheiten, Strophigkeit, thematische Zentren) beziehen lassen, die aber zugleich als eigenständige Gebilde wie musikalische Motive vielfältigen Veränderungsprozessen unterworfen werden.

Einzelne Tableaus gehen dabei über das Nachzeichnen von Bewegungskon- trasten und atmosphärischen Stimmungen weit hinaus, wenn sie – wie in der

„Hütte der Baba Yaga“ – die unterschiedlichen Erfahrungen musikalischer Zeit bildnerisch reflektieren oder das „Große Tor von Kiew“ als musiktheatralisches Finale interpretieren.

Stand Kandinskys Bühnenkomposition noch in einem dem Film nur affinen Be- reich zwischen Theaterexperiment und abstrakter Malerei, so war Oskar Fi- schinger der erste und einzige, der die nichtgegenständliche Visualisierung von Musik auf den – gezeichneten – Film übertrug.

Sein meist geometrisch bestimmtes, stets aber von jeder Abbildlichkeit befreites Zeichen- und Formenarsenal, bereits mit „R-1. Ein Formspiel“ (1927) weitge- hend entwickelt und bis zu den Arbeiten in der Emigration stetig in Richtung Farbtiefe, Räumlichkeit und Komplexität der Bewegungsvorgänge ausdifferen- ziert, hat ein in sich abgeschlossenes Universum der Musikanimation hervorge- bracht, dessen visueller Reichtum einen kaum zu überschätzenden Einfluß auf die Filmavantgarde vor allem der amerikanischen West Coast ausgeübt hat, das aber trotz seiner Spuren in der Werbeanimation und im Videoclip der Gegen- wart für die weitere künstlerische Entwicklung des Musikfilms seltsam folgen- los geblieben ist.

Der Grund dafür mag darin zu suchen sein, daß Fischingers 14 „Studien“, aber auch spätere Arbeiten wie „An Optical Poem“ (1937) – synchronisiert auf Schlager und meist kürzere Stücke populärer Klassik – ausschließlich auf einen bestimmten Musiktypus, nämlich den der tänzerisch-gestischen Musik, zuge- schnitten sind und an ihm einen Stil perfektionieren, der musikalische Ober- flächenphänomene wie Periodizität der Struktur und metrisch-rhythmisches Be- wegungsspiel auf einzigartige Weise paraphrasiert, aber zum einen jedem expressiven Moment aus dem Wege geht und zum anderen jedes Musikwerk, unabhängig von Zeit, Stil und kompositorischem Rang, mit einer prinzipiell ähn- lichen Physiognomie ausstattet.

So bleibt innerhalb der Geschichte des Musikfilms die abstrakte Animation eine vornehmlich auf die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts beschränkte Epi- sode. Etwaige Ähnlichkeiten mit neueren Arbeiten der Videoszene, etwa „Do While“ von Oval (1995) wären insofern zufällig, als dort die geometrischen Mu- ster nicht dem Widerstand einer bereits vor ihnen existierenden Musik abge- wonnen werden, sondern – aus dem gleichen Equipment wie die synthetischen Klänge bezogen – nur deren technische Metamorphose darstellen.

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Das Jahr 1928 kann noch aus einem anderen Grunde als das Geburtsjahr des Musikfilms (in der hier untersuchten Bedeutung des Wortes) verstanden werden.

„Disque 957“ von Germaine Dulac mit der Visualisierung zweier Chopin- Préludes aus der Sammlung op.28 dürfte der erste Film sein, der mit der Mon- tage von Wirklichkeitsabbildern autonome Musik zu interpretieren versucht.

Kaum oder nur schwer noch auszumachen ist, ob eine nur imaginäre Ver- knüpfung von Musik und Filmbild oder die reale Zuspielung der Préludes per Grammophon beabsichtigt war: die optischen Insignien der rotierenden Schel- lackplatte („Disque No. 957“), des Nadelträgers, aber auch die „Reste“ der do- kumentarischen Tradition (der mehrfache Blick auf die Hände des Pianisten Al- fred Guichard) legen zwar die zweite Möglichkeit nahe, die realen Dauern sprechen allerdings dagegen. Wichtiger scheint, daß Dulacs von Natur- und Zi- vilisationsobjekten abgelöste Filmbilder in erster Linie als Metaphern eingesetzt sind, deren Summe das sechste Prélude in h-moll als Allegorie der Vergänglich- keit deutet. Damit gerät zumindest dieser Teil von „Disque 957“ in einen gewis- sen Widerspruch zu Dulacs eigener Filmtheorie; auch deshalb wohl hat Germai- ne Dulac die Idee des Musikfilms nur über einen kurzen Zeitraum verfolgt und bereits mit „Arabesque“ einen anderen, aus heutiger Sicht freilich weniger über- zeugenden Weg der filmischen Auseinandersetzung mit Musik eingeschlagen.

Das Erbe von „Disque 957“ – speziell der filmischen Aneignung des 6. Préludes – tritt drei Jahre später Walter Ruttmann mit seinem einzigen Musikfilm an: ei- ner „musikalischen Bildphantasie“ zu Robert Schumanns Klavierstück „In der Nacht“ aus den „Fantasiestücken“ op.12. Auch hier bleibt ein dokumentarischer Rest (das Spiel der Pianistin Nina Hamson), auch hier wird die Natur zum Liefe- ranten von visuellen Metaphern. Die entscheidende Neuerung gegenüber Ger- maine Dulacs noch stummem Film liegt in dem durch den Lichtton ungemein erleichterten Reagieren der Kamera auf das thematische und strukturelle Ge- schehen der Musik. Ruttmanns suggestiver, aber etwas uneinheitlich geratener Film – dort, wo die Metapher zum Klischee degeneriert, verblaßt auch der inter- pretatorische Anspruch zur visuellen Paraphrase wechselnder Stimmungen – ist im Schaffen des Regisseurs nur eine Episode geblieben; aber nicht allein des- halb erinnert er an Dulacs Chopin-Studie. Es ist der Unterschied zwischen dem Filmbild als Metapher und dem Filmbild als Rahmen und Fenster zur Welt des Wirklichen, der die Musikfilme Dulacs und Ruttmanns von den Arbeiten Jean Mitrys trennt.

Vor allem „Pacific 231“ ist in einem derart prononcierten Sinne Wirklichkeit, daß noch der Bautyp der von Mitry eingesetzten Lok (2 vordere Laufräder, 3 Treibräder, 1 hinteres Laufrad) Honeggers Vorgabe entspricht, ist zugleich aber,

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wie jede Filmwirklichkeit, ein ästhetisches Konstrukt. So wenig Honeggers Komposition auf die futuristische Emanzipation des bruit sonore und auf die mathematische Beschleunigung des Rhythmus’ reduziert werden kann, so wenig ist Mitrys Film mit dem Ablauf des äußeren Geschehens gleichzusetzen.

Vielmehr setzt die Flut bis zur Unidentifizierbarkeit kurzgeschnittener Einstel- lungen vor allem im letzten Drittel des Films ein Pathos der Naturbeherrschung frei, das sich mit einer Partitur eins weiß, die ihrerseits den Choral in die Hymne des technischen Fortschritts verwandelte.

Mit Mitrys „Pacific 231“ endet vorerst die Allianz von Musik und Realfilm, be- vor sie noch recht begonnen hat. Fast eine Generation lang – von 1950 bis etwa 1980 – findet sich kaum ein Film, der den von Germaine Dulac, Walter Rutt- mann, Michail Zechanowski und Jean Mitry beschrittenen Weg weiterginge.

Mitrys Probe aufs Exempel eines „realistischen“ Musikfilms konnte gelingen, weil Inhalt und Ablauf des Geschehens in Honeggers „Mouvement symphoni- que“ – der Begriff „Sinfonische Dichtung“ schien zu anachronistisch – konkret vorgezeichnet waren und zur filmischen Übersetzung gleichsam einluden; ein Modell für die visuelle Interpretation autonomer Musik konnte sie nicht liefern.

Über die Hintergründe dieser Generationenlücke läßt sich nur spekulieren; es scheint aber, als habe sich während der dreißigjährigen Abstinenz des Realfilms von musikalischen Sujets auch der Glaube an die visuelle Interpretierbarkeit von Musik verflüchtigt. Schon in den „Cinéphonies“ der 30er Jahre waren manche narrativen Deutungen von Musik – sofern sie sich nicht auf programmatische Vorgaben stützen konnte – eine eher humorvolle Option ohne verbindlichen An- spruch. Darin ähneln sie – trotz aller stilistischen Unterschiede – manchen Film- erzählungen Adrian Marthalers, der in der „Rhapsody in Blue“(1981) nicht Gershwins Musik, sondern das erotische Soziogramm eines räumlich in die Ho- telbar verlegten und zeitlich in die Ära des Paul-Whiteman-Orchesters rückda- tierten Ensembles interpretiert.

Beim „Concerto in F“ etikettiert Marthaler den zweiten und dritten Satz unbe- kümmert mit den Titeln „A Fallen Star“ bzw. „Comeback“ und inszeniert diese sehr persönliche Lesart des Konzerts als Geschichte einer Boxerkarriere in der Prohibitions- und Depressionszeit der frühen 30er Jahre, wie immer durchsetzt mit sarkastischen Attacken gegen Musikvermarktung und Sponsoreneitelkeiten.

Eine Variante solcher Erzählkonstruktionen ist die revidierte, die umgeschriebe- ne Erzählung.

Der Ablauf von Ives’ „Central Park in the Dark“ wird von Helmut Rost in dem Sinne verkehrt, wie man Filmmaterial behandelt: per Positivkopie oder Farbum- kehr – eine ironische Paraphrase des Originals, die das Dunkle dem Tageslicht

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