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Starke Mütter starke Töchter

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Academic year: 2022

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LUITGARDIS PAR A SIE UND JOS T WE T TER-PAR A SIE

Starke Mütter – starke Töchter

Wie sie das Beste aus

ihrer Beziehung machen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Agentur 3Kreativ, Essen, unter Verwendung eines Bildes von © Shutterstock kikovic

Lektorat: Rahel Dyck, Bonn

DTP: Magdalene Krumbeck, Wuppertal Verwendete Schrift: Scala

Gesamtherstellung: Finidr, s.r.o.

Printed in Czech Republic ISBN 978-3-7615-6412-7 Print ISBN 978-3-7615-6413-4 E-Book

www.neukirchener-verlage.de

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Inhalt

Vorbemerkung und Dank ... 7

Einleitung ... 9

Mütter haben eine Geschichte ... 15

Die andere Schwester ... 15

Wenn Gefühle Luxus sind ... 23

Eine verlassene Frau? – Die Perspektive wechseln ... 25

Mut zur Wahrheit ... 28

Die Tragik im Leben der Mutter erkennen ... 29

Meine Mutter, die Terroristin ... 32

Verbunden oder verunsichert ... 37

„Mutter ist halt wie eine Mutter“ ... 37

Sicher gebunden ... 39

So nah und so fern ... 42

Herausfinden, was mir Rückhalt gibt ... 46

Starke Mütter – starke Töchter ... 51

Vom Mother-Blaming zur Supermama? ... 51

Mama, wehr dich! ... 56

Wie Neurosen uns motivieren können ... 59

Maria, die Mutter aller Mütter ... 69

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Mut zum Spießigsein:

Mütter und Mädchen in der Pubertät ... 75

Pubertät – Mädchen dürfen ihre Geheimnisse haben . 75 Let’s talk about Sex: Wie Aufklärung gelingt ... 82

Geheime Sehnsüchte ... 85

Sex mit 14? – Eigene Werte entwickeln ... 88

Wer ist die Schönste? Konflikte erkennen und benennen .. 93

Wenn die Mutter eifersüchtig ist ... 93

Die Tür nicht durch Kritik verschließen ... 98

Ich verachte meine Mutter ... 100

Liebe braucht Grenzen ... 103

Wenn die Tochter einen Zaun zieht: Magersucht und Bulimie ... 103

Sei Königin in deinem Reich ... 114

Mutter als Spaßverderberin? ... 116

Kontakt erzwingen? ... 118

Wenn Mütter alt und pflegebedürftig werden ... 120

Zerrissen zwischen eigener Familie und Mutter ... 123

Da gehöre ich hin ... 127

Wie eine Mutter und ihre Tochter heil werden ... 128

Frieden schließen ... 135

Wie eine Freundin ... 135

Verzeihen mit Vorsicht ... 137

Und wenn sie es nicht einsieht? ... 139

Wie ich mit meiner Mutter Frieden schloss ... 141

„Eine Möhre weniger hätte es auch getan“ ... 145

Brita und Nora Parasie über ihre Erziehung ... 145

Quellenverzeichnis ... 153

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Vorbemerkung und Dank

Dieses Buch haben wir zu zweit geschrieben: Luitgardis Parasie als Pastorin, systemische Familientherapeutin und Mutter von zwei Töchtern sowie Dr. Jost Wetter-Parasie als Arzt und Psychotherapeut.

Danken möchten wir:

Pastorin Ruth Stieber und der Kinder- und Jugendpsychi- aterin und Psychotherapeutin Dr. Eileen von Lehmden für die kritische Lektüre des Manuskripts und wertvolle Tipps.

Unseren Töchtern Nora und Brita für ihre Ideen und ihre ganz spezielle Mitarbeit an diesem Buch.

Allen Töchtern und Müttern, die uns erlaubt haben, ihre Geschichte zu veröffentlichen. Die in diesem Buch darge- stellten Fallbeispiele haben wir bewusst verfremdet. Namen, Alter und äußere Umstände wurden so verändert, dass niemand erkennbar ist und die ärztliche und seelsorgerliche Schweigepflicht nicht verletzt werden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

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Einleitung

I

hr wollt ein Buch über Mütter und Töchter schreiben?“, sagt unsere jüngste Tochter Nora, „dann müsst ihr unbedingt die Gilmore Girls gucken. Das haben wir im Studium immer gesehen und letztes Jahr gab es nach neunjähriger Pause eine Fortsetzung.“

Die Gilmore Girls also, eine amerikanische Soap-Opera mit Kultstatus unter jungen Frauen. Da ist Großmutter Emily, reich, traditionsbewusst und spießig. Ihre Tochter Lorelai hat mit 16 ein Kind bekommen. Sie schlägt sich als alleinerzie- hende Mutter der inzwischen 16-jährigen Rory durch, die eine Eliteschule besucht.

Wir haben Noras Rat befolgt und mehrere Sendungen an- geschaut. Und fragten uns danach: Was fasziniert junge Frau- en an dieser Serie?

Lorelai ist liebenswert und chaotisch, sie hat wechselnde Män- nerbeziehungen und ein angespanntes Verhältnis zu ihren El- tern. Sie ist rebellisch, desorientiert und irgendwie immer auf der Suche. Eine flippige Mutter, mehr Freundin als Erziehe- rin, mehr Anti-Heldin als Vorbild. Eigentlich erzieht sie ihre

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EINLEITUNG

Tochter Rory nicht, sondern behandelt sie wie eine enge Ver- traute. Verhaltens- und Erziehungstipps richtet eher Rory an Lorelai als umgekehrt. Mit dieser Konstellation aber sind Kin- der und Jugendliche in der Regel überfordert. Rory ist denn auch im Prinzip viel zu vernünftig für ein Mädchen mitten in der Pubertät, sie ist frühreif und ein bisschen altklug. Rorys Pubertätsausreißer kommen erst sehr spät, als sie schon die Schule beendet hat. Zum Beispiel betrügt sie ihren langjäh- rigen Freund irgendwann und ist dann mit einem anderen zusammen, doch auch diese Beziehung hält nicht lange. Wie bei Lorelai sind Rorys Beziehungen zu Männern instabil. Sie hat One-Night-Stands oder ihre Partner sind verheiratet. Mit Großmutter Emily kommt Rory gut aus und hat das richtige Händchen für den Umgang mit ihr. Auch hier zeigt Rory ein viel besonneneres Verhalten als ihre Mutter.

Nora meint: „Ich glaube, die enge Beziehung zwischen Mutter und Tochter beeindruckt die Zuschauerin. Sie sind wie beste Freundinnen und immer wieder auch ähnlich verrückt. Sie teilen Leidenschaften wie unvernünftig viel Kaffee trinken, nächtelang irgendwelche Fernsehsendungen ansehen, sich chinesisches Essen bestellen. Außerdem haben sie einen ähn- lichen Humor und in vielem die gleichen Ansichten. Sie ma- chen sich über viele Gegebenheiten in ihrem kleinen Ort Stars Hollow lustig und sie können beide gleich schnell sprechen.“

Ist Rory das Leitbild junger Frauen von heute? In der Tat sind die ja oft strukturierter als ihre Mütter, die vielfach von der 68er-Generation geprägt waren. Hieß es damals etwa: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establish- ment“, so steht Treue heute unter Jugendlichen wieder hoch im

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Kurs.1 Und viele junge Frauen heute haben in der Tat eine viel engere Beziehung zu ihrer Mutter als diese zu ihren Müttern hatten. Auch darin sind die Gilmore Girls ein Spiegel unserer Zeit. Entwicklungspsychologen sagen allerdings, es brauche ein Mindestmaß an Rebellion, um erwachsen zu werden. Eine durchgehend kumpelhafte freundschaftliche Beziehung zwi- schen Mutter und Tochter ist also aus psychologischer Sicht nicht unbedingt ratsam. Denn diese führt dazu, dass viele junge Frauen zwischen 20 und 30 Jahren „sowohl emotional als auch finanziell noch stark von den Eltern abhängig“ sind.2 Die neue Staffel der Gilmore Girls im Jahr 2016 endet da- mit, dass Rory, inzwischen 32, ihrer Mutter eröffnet: „Ich bin schwanger.“ Von wem, bleibt offen, denn es kommen zwei Vä- ter infrage. Aber Rory wird es schaffen, irgendwie, da kann die Zuschauerin sicher sein. Denn auch ihre Mutter hat es geschafft, sie ist zwar chaotisch und manchmal unvernünf- tig, aber auch zielstrebig: Sie hat sich in ihrem Job hochge- arbeitet und schließlich ein eigenes Hotel eröffnet. Und bei allem Chaos und allen erzieherischen Defiziten hat sie ihrer Tochter doch ein stabiles Fundament mitgegeben, nämlich das Gefühl: Ich finde dich großartig und bin an deiner Seite, was auch passiert. Auch wenn du Mist baust, stehe ich zu dir.

Ist es das, was junge Frauen ersehnen? Eins hat Rory ja mit allen Frauen gemein: Keine hat eine perfekte Mutter, denn die gibt es nicht. Wie können Mütter-Töchter-Beziehungen gelin-

1 Laut der neuesten Shell-Jugendstudie ist 71 % der männlichen Jugend- lichen und 83 % der weiblichen Jugendlichen Treue in der Beziehung wichtig: Albrecht/Hurrelmann (Hg.) 2015, S. 63.

2 Feuerbach 2017.

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EINLEITUNG

gen, obwohl Mütter so viele Fehler machen? Und wie können Töchter trotzdem von schwierigen Müttern profitieren? Die Serie Gilmore Girls thematisiert das auf unterhaltsame Weise.

Frauen haben heute so viele Wahlmöglichkeiten wie wohl nie zuvor. Sie können selbst entscheiden, welchen Beruf sie erler- nen, wen oder ob sie heiraten, wie viele Kinder sie bekommen, ob sie Karriere machen oder sich um ihre Familie kümmern.

Das war vor 50 Jahren noch ganz anders. Bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts etwa mussten Pastorinnen aus ih- rem Beruf ausscheiden, wenn sie heirateten.

Nur eins können Frauen trotz aller Genderentwicklung bis heute nicht selbst bestimmen: Sie bleiben immer Tochter ei- ner Mutter.

Die Mutter-Tochter-Beziehung ist oft kompliziert und nicht gelassen und entspannt. „Aber wie auch immer die Gefühle zwischen Mutter und Tochter aussehen mögen, beide Frauen sind zutiefst miteinander verbunden, wissen aber nicht im- mer, wie sie sich gegenseitig erreichen, wie sie ihrer Verbin- dung eine Form geben können, die beiden guttut und jeder die Freiheit lässt.“3

Von manchen Frauen wird die Mutter auf einen Sockel ge- stellt. „Ich liebe meine Mutter abgöttisch“, sagte mir mal eine Frau. Aber die Mutter zu idealisieren hilft nur begrenzt dabei, zu einer eigenen Identität als Frau zu finden. Ohne Ablösung funktioniert es nicht. Das Urbild der Mutter ist übrigens für viele Frauen Maria. Deshalb hat unser Freund, der Jesuitenpa-

3 Bisig-Theiler 2013, S. 27.

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ter Manfred Hösl, ein Kapitel über diese „Mutter aller Mütter“

für unser Buch beigesteuert.

Andere Frauen bekamen viel aufgebürdet. Ja, es gibt schreckliche Mütter. Die „böse Stiefmutter“ war denn auch in der ursprünglichen Fassung mancher Märchen die böse Mutter, das wurde erst später entschärft. Manche Frauen sind richtige Drachen. Aber – Drachenblut macht in der Sage auch unverwundbar!

Ob Sie nun eine unbeschwerte Mutter-Tochter-Beziehung ha- ben oder eine problematische, eine sehr enge oder eine distan- zierte, die Herausforderung ist die gleiche: Wie nutze ich das, was ich mitbekommen habe, und wie mache ich das Beste da- raus? Wir sind überzeugt: Auch an schwierigen Müttern kön- nen Frauen stark werden. Denn „die Kindheit sagt viel über die Vergangenheit und die Gegenwart eines Menschen aus, aber nichts über seine Zukunft“4.

4 Umek 2011, S. 58.

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Mütter haben eine Geschichte

Die andere Schwester

A

ch, wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass meine Mut- ter offen mit mir über unsere komplizierte Familiengeschich- te gesprochen hätte. Aber Informationen kamen immer nur häppchenweise und bruchstückhaft. Wenn ich nachfragte, hieß es: „Lass doch diese alten Geschichten.“

Ich bin die älteste von drei Schwestern und bekam früh viel Verantwortung aufgedrückt. Meine Mutter war berufstätig und so musste ich meine jüngste Schwester zur Sehschule und zum Logopäden begleiten. Als ich 14 war, fuhren meine Eltern drei Wochen zur Kur. Ich musste mit meiner kleins- ten Schwester zu Hause bleiben und auf sie aufpassen. Nachts hatte ich schreckliche Angst, wenn im Haus irgendwas knack- te. Wir beide allein zu Hause, das ging auch sonst nicht be- sonders gut, denn meine Schwester war sehr eigensinnig. Aus Verzweiflung sperrte ich sie irgendwann ins Klo ein, aber sie trat die Tür ein. Bis zur Rückkehr meiner Eltern war ab da meine größte Sorge: Welche harmlose Geschichte erfinde ich

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MüTTER hABEN EINE GESchIchTE

für meine Mutter, um die kaputte Tür zu erklären? Ich fürch- tete mich vor ihrem Zorn.

Dem Maß an Verantwortung entsprach in keiner Weise die Freiheit, eigene Entscheidungen treffen zu dürfen. Einerseits musste ich früh Erwachsenenaufgaben übernehmen, ande- rerseits wurde ich bis zu meinem Auszug aus dem Elternhaus wie ein Kleinkind behandelt. Meine Mutter übte eine rigorose Zwangsherrschaft aus und da gab es null Verhandlungsspiel- raum. Kleider mussten stets das Knie bedecken – in Zeiten des Minirocks! Hosen für Mädchen: verboten. Tanzkurs ge- strichen, Disco und Partys kamen schon gar nicht infrage. Ich bin sofort nach dem Abitur ausgezogen. Was für eine Erleich- terung, ab jetzt selbst bestimmen zu dürfen.

Ja, sie hat es sicher gut gemeint. Wollte alles richtig machen und war zeitweise auch überfordert mit Vollzeitjob, drei Töch- tern und einem zunehmend pflegebedürftigen Mann. Heute denke ich, sie hatte einfach sehr viel Angst, auch aufgrund ih- rer eigenen Geschichte. Und die war in der Tat abenteuerlich.

Eines Tages lag meine Mutter mit Grippe im Bett. Ich brach- te ihr das Essen, damals war ich 17, und setzte mich zu ihr.

Beiläufig sagte sie irgendwann: „Du hast eine Schwester, die heißt auch Luitgardis.“ Ich fiel aus allen Wolken. „Wie bitte?“

Noch eine Luitgardis? Wo kam die auf einmal her? Ich wusste von drei Halbgeschwistern aus der ersten Ehe meines Vaters.

Keine hieß Luitgardis. Mit wachsendem Erstaunen erfuhr ich nun, dass mein Vater neben dieser Ehe ein Verhältnis mit sei- ner Sekretärin gehabt und mit dieser zwischen 1946 und 1952 weitere vier Kinder gezeugt hatte. „Diese Adriana hat er wohl sehr geliebt“, sagte meine Mutter, „aber sie hat ihn verlassen und ist wieder in ihre Heimat, nach Belgien, gegangen.“ Ich

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fragte: „Aber wie konntest du zulassen, dass ich auch Luitgar- dis genannt wurde?“ – „Bei deiner Geburt wusste ich das noch nicht“, sagte meine Mutter, „ich hab es erst später erfahren und es war ein ganz schöner Schock für mich.“

So schnell kann sich die Familie erweitern – auf einmal be- kam ich vier Halbgeschwister zusätzlich beschert, der jüngste nur zwei Jahre älter als ich. Leider kam so ein Moment der Offenheit nie wieder. Meine Mutter wollte nicht mehr über Adriana reden und meinen Vater traute ich mich damals nicht darauf anzusprechen.

Warum wird eigentlich in Familien so viel unter den Tep- pich gekehrt und totgeschwiegen? Die Bibel tut das nicht.

Offen wird von Abrahams oder Davids Frauengeschichten be- richtet. Man erfährt, dass der Priester Eli ein miserabler Vater war und Absalom ein missratener Sohn. Über Mutter-Toch- ter-Beziehungen allerdings schweigt sich die Bibel ziemlich aus.

Meine Mutter war eine gläubige Christin. Als jedoch mein Mann und ich das erste Mal meine älteste Halbschwester Hilde in Brügge besuchten und von ihr viel über das frühere Leben meines Vaters erfuhren, schrieb meine Mutter Hilde ei- nen Brief, in dem sie ihr verbot, über unseren Vater „schlecht zu reden“. Dabei war Hilde drei Jahre älter als meine Mutter und völlig befremdet darüber, dass die sich anmaßte, ihr Vor- schriften zu machen! In der Bibel steht übrigens nirgends, dass man die Vergangenheit verschweigen und beschönigen sollte. „Die Wahrheit wird euch frei machen“, sagt Jesus, und das kann man durchaus auch auf die eigene Familie bezie- hen. Lügen und Geheimnisse sind nämlich oft sehr mächtig, binden Kräfte und Fantasien, wirken zerstörerisch. In der

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MüTTER hABEN EINE GESchIchTE

Regel ist es besser, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Dann kann man entscheiden, wie man damit umgehen möchte. Die Herausforderung dabei ist, die Mütter (und Väter) zu ehren, obwohl sie fehlerhafte und manchmal schwer schuldbeladene Menschen sind.

Als Kind habe ich den Namen Luitgardis gehasst. Jedem Leh- rer musste ich ihn buchstabieren und die Mitschüler lachten.

Luitgardis ist die Schutzpatronin der Flamen, hatte mir mein Vater erklärt: Luit ist das flämische Wort für Leute und gardis leitet sich ab von garder, beschützen. Leutebeschützerin also, nun ja. Nomen est omen? Mein Vater hätte sich jedenfalls nie träumen lassen, dass ich mal Pastorin werde, denn mit der Kirche hatte er nichts am Hut. Das Herz von Firmin-Peter Pa- rasie schlug für Flandern, nicht für Gott. 1897 in Gent, Bel- gien, geboren, wurde er von flämischen Lehrern geprägt und hielt nichts vom belgischen Staat, der im Norden von Nieder- ländisch sprechenden Flamen und im Süden von Französisch sprechenden Wallonen bewohnt wird. Das Miteinander war seit der Staatsgründung 1830 nicht reibungslos verlaufen, die Flamen, obschon die Mehrheit, fühlten sich von den regieren- den Wallonen unterdrückt. Als Firmin-Peter studierte, spitzte sich der flämisch-wallonische Konflikt für ihn persönlich zu:

1916 schrieb er sich an der Universität Gent ein – voller Enthu- siasmus, denn gerade war sie von einer wallonischen in eine flämische Universität umgewandelt worden. Zwei Jahre später jedoch folgte die Katastrophe für die Flamen: Alle seit 1916 eingeschriebenen Studenten wurden zwangsexmatrikuliert und ein Studienverbot über sie verhängt. Die Uni Gent wurde wieder wallonisch.

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Kein Wunder, dass die Ex-Gandavenses, wie sich die Exma- trikulierten nannten, die schärfsten Kritiker der belgischen Regierung wurden. Mein Vater wurde Journalist, arbeitete für die Rheinisch-Westfälische Zeitung und das Deutsche Nach- richtenbüro und gründete 1930 sein eigenes flämisches Blatt, die 14-tägig erscheinende Zeitschrift Reinaert (Fuchs). Darin griff er die belgische Politik mit beißendem Sarkasmus an.

Von alledem hatte ich als Kind nur vage Ahnungen. Vieles weiß ich bis heute nicht. Mein Vater starb 1976, da war ich 22, ich kann ihn leider nicht mehr fragen. Und meine Mutter? Ich glaube, vieles wollte sie gar nicht so genau wissen. Denn mit ihrer übereilten Eheschließung hatte sie sich in etwas hinein- gestürzt, dessen Ausmaße sie nicht im Entferntesten ahnte.

Sie lernte meinen Vater im April 1953 kennen, drei Monate später heiratete sie den 27 Jahre Älteren. Sie wusste damals:

Er war aus Belgien geflohen, am Ende des 2. Weltkriegs. Zu- erst nach Prag, dann nach München. Alles hatte er zurück- lassen müssen, seine Bücher und, das Schmerzlichste für den passionierten Klavierspieler, seine Noten. In Prag hatte er promoviert über „Die Presse in Belgien“. In sein geliebtes Flandern konnte er nie mehr zurück: Der belgische Staat hatte ein Todesurteil über ihn und andere politisch Gleichgesinnte verhängt. Dabei hatte er sich doch immer nur mit Leib und Seele für die Flamen eingesetzt. Nun arbeitete er in Deutsch- land als Lehrer für Latein, Französisch und Gemeinschafts- kunde. – So stellte es sich der 28-jährigen Ruth dar. Der Mann faszinierte sie und seine tragische Geschichte erschütterte sie. Er umwarb sie stürmisch, sie hatte jedoch zwei Probleme mit seinem Heiratsantrag: Firmin-Peter war von seiner ers- ten Frau geschieden, sie lebte in Gent. Einen geschiedenen

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MüTTER hABEN EINE GESchIchTE

Mann zu heiraten, kam für Ruth nicht infrage. Doch eines Tages kam eine Postkarte. Ein Freund schrieb Firmin-Peter, die erste Frau sei gestorben. Was für ein überaus passender Zeitpunkt. Ruth jedoch wurde nicht misstrauisch oder wollte es nicht werden.

Aber es gab noch ein zweites Problem: Peter war aus der ka- tholischen Kirche ausgetreten. Für den Glauben hatte er nur Spott übrig. Sie hingegen stammte aus einer christlichen Fa- milie. Die Eltern waren nie in der NSDAP gewesen, die sechs Kinder nicht in den Nazi-Jugendorganisationen HJ und BdM.

Sie waren in der Schule vielen Schmähungen ausgesetzt ge- wesen, durch Klassenkameraden wie auch nazitreue Lehrer.

Ruths Vater, der sich offen zu jüdischen Mitbürgern bekann- te, schrammte immer an der Grenze zur Verhaftung entlang.

Ruth hatte wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ nicht ihren Traumberuf Lehrerin erlernen dürfen. Nach dem Krieg grün- dete sie mit ihrer älteren Schwester ein Taxiunternehmen. Mit ihrem Verdienst fütterten sie die Mutter und die vier jüngeren Geschwister durch, denn der Vater war 1947 gestorben. Ruth teilte den Glauben ihrer Eltern. Ein ungläubiger Ehepartner war keine Option. Sie hatte schon einen anderen Freund des- wegen abgelehnt. Was also tun mit dem Heiratsantrag dieses interessanten, aber irgendwie auch gebrochenen Bewerbers?

Ruth fragte ihren Pastor. Der sagte: „Ach, ein so verbitterter Mann, dem muss man doch helfen.“ Ehe als Seelentherapie, das klang doch wirklich christlich. Ruth war sofort überzeugt.

„Der braucht mich“  – das fühlte sich richtig an. Es würde schon gut gehen. Ein Jahr später wurde ich geboren, bald ka- men noch zwei jüngere Schwestern dazu.

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Aber es ging nicht alles gut. Ruth hatte die Altlasten ihres Mannes vollkommen unterschätzt. Bald stellte sich heraus, dass seine erste Frau noch lebte, tatsächlich starb sie sogar erst zwei Jahre nach ihm. Sie hoffte bis an ihr Lebensende, dass Firmin-Peter zu ihr zurückkehren würde. So sagt es jedenfalls Hilde, meine 95-jährige Halbschwester in Brügge. Sie ist nicht gut auf unseren Vater zu sprechen, fand ihn tyrannisch und jähzornig. Und sie hat ihm nie verziehen, dass er damals ihre Mutter mit seiner Sekretärin betrogen hat.

Der Jähzorn war geblieben. „Das ging gleich im ersten Ehejahr los“, erinnert sich meine Tante, „da flog schon mal die Bratpfanne durchs Treppenhaus“. Als Kinder haben wir erlebt, wie unser Vater, laut auf Flämisch fluchend, Tische und Stühle im Wohnzimmer umwarf und meine Mutter an den Haaren riss. Sie flüchtete sich weinend ins Schlafzim- mer, wir rannten verängstigt hinterher und baten: „Mutti, lass dich doch scheiden.“ Bei einem dieser Wutanfälle ging mein Vater mit dem Brotmesser auf mich los. Ich floh in eine Ecke, hielt schützend den Arm über den Kopf, er schlug zu – die Narbe an meinem Ellenbogen sah man über Jahre. Mei- ne Mutter sagt, sie hätte das nicht gewusst. Sie konnte mich nicht schützen. Eher war es so, dass ich oft das Gefühl hatte, ich müsse sie schützen und mich um sie kümmern. Denn oft ging es ihr schlecht, dann nahm sie Valium, um über die Runden zu kommen.

Meine Mutter war allerdings auch nicht gerade ein Muster an Diplomatie, sie stand meinem Vater nicht viel nach in puncto Eigensinn. Als er älter wurde, kränker, mehr von ihr abhän- gig, wurde es besser. Ihr Lehrerinnen-Gehalt bildete bald den Grundstock des Familieneinkommens. Sie sah es als Fügung:

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MüTTER hABEN EINE GESchIchTE

Was die Nazis ihr verwehrt hatten, machte Gott möglich. Ih- ren Wunschberuf Lehrerin konnte sie mit 40 Jahren doch noch erlernen und bis zu ihrer Pensionierung ausüben. Da gab es dann mehr und mehr friedliche Zeiten, Fürsorge, ja auch Zärtlichkeit. Man konnte sich mit ihm über so vieles un- terhalten, Politik, Musik. Opernmelodien spielte er auswendig auf dem Klavier und gab uns Klavierstunden. Er besaß und kannte alle Shakespeare-Dramen, die klassische und die ein- schlägige modernere Literatur, Fallada, Ibsen, George Bern- hard Shaw. Und er trauerte oft darüber, dass er in dem Dorf in der Lüneburger Heide, wo wir lebten, so wenig Zugang hatte zu Opern, Konzerten, Theater. Wir machten Urlaub in Hol- land, da konnte er niederländisch sprechen. Und in Südfrank- reich jedes Frühjahr – auch französisch sprach er gerne, selt- sam eigentlich, wo er doch früher so gegen die französische Vorherrschaft in Belgien gekämpft hatte.

Ich weiß nicht, ob meine Mutter je den wahren Grund für das Todesurteil über meinen Vater erfahren hat. Und falls ja, wie hat sie, die von den Nazis Benachteiligte, das verkraftet? Ich selbst fand es erst heraus, als ich nach ihrem Tod die Papiere meiner Eltern sortierte: Kollaboration mit den Nationalsozia- listen, las ich da. Mein Vater hatte wohl darauf gesetzt, dass sie die flämische Sache unterstützen würden. Aber, noch schlim- mer: 1941 hatte er für die SS als Übersetzer gearbeitet. Ein Münchener Gericht erklärte das belgische Urteil 1953 für in Deutschland nicht rechtskräftig: Es sei gefällt worden, ohne die Verurteilten anzuhören, und habe nicht berücksichtigt, dass sie zu ihrer Tätigkeit gezwungen worden waren. Acht Jahre hatte mein Vater bis dahin als Illegaler unter falschem Namen in München gelebt. Nun konnte er das Versteckspiel

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endlich aufgeben und sich eine bürgerliche Existenz aufbau- en. Nach Belgien zu reisen wagte er jedoch bis an sein Le- bensende nicht mehr.

Leider ist meine Namens- und Halbschwester Luitgardis 2012 gestorben. Ich habe sie nie kennengelernt. Doch im Sommer 2012 habe ich mit meinem Mann

zum ersten Mal einen Halbbru- der in Gent besucht, der wie jene andere Luitgardis ein Kind von

Adriana ist. Da bin ich noch einmal tief eingestiegen in die Schicksale meiner Halbgeschwister und ihrer Mütter. Ich war erschüttert und bedrückt. Doch am Morgen, bevor wir den Halbbruder besuchten, lasen wir die Losung: „Unser Gott wandte den Fluch in Segen.“5 Das traf den Nagel auf den Kopf, ging mir direkt ins Herz. Gott kann Schuld und schlimme Verstrickungen in Segen verwandeln. Und das gilt auch für schwierige Mutter-Tochter-Beziehungen. Für mich änderte dieser Bibelvers die Perspektive. Ich frage mich jetzt: Wo sind Gottes Spuren in der Geschichte mit meiner Mutter? Und was ist Gottes Aufgabe für mich, um diese Geschichte vielleicht anders und besser fortzuführen?

Wenn Gefühle Luxus sind

„Meine Mutter ist Ende 80 und seit einigen Jahren verwitwet“, sagt Katja. „Sie wohnt 300 km entfernt. Mein ganzes Leben

5 Nehemia 13,2, Luther 1984.

Wo sind Gottes Spuren in der Geschichte mit meiner Mutter?

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MüTTER hABEN EINE GESchIchTE

lang hat sie mich kritisiert. Ich kann ihr nichts recht machen.

Egal, wie oft ich sie anrufe oder besuche, immer wirft sie mir vor, dass ich mich zu wenig um sie kümmere. Sie ist eine Meisterin darin, mir ein schlechtes Gewissen zu machen.“

Ja, Mütter geben ihren Töchtern viel. So viel, wie sie ih- nen nie zurückgeben können. Deshalb ist es auch so leicht, den Töchtern ein schlechtes Gewissen zu machen. Und damit können Mütter ihren Töchtern das Leben ganz schön schwer machen.

Frauen, die jetzt 87 Jahre alt sind, sind um 1930 geboren.

Als der Zweite Weltkrieg begann, waren sie neun, als er ende- te, 15 Jahre. Ihre Kindheit und Jugend fiel in diese furchtbare Zeit. Da konnte oft nicht viel Rücksicht auf die Bedürfnisse von Kindern genommen werden. Die Kinder mussten sich durchkämpfen. Es ging ums Überleben. Gefühle waren Lu- xus, Anerkennung Mangelware. „Nicht geschimpft ist gelobt genug“, hieß die Devise. Manche mussten in der Nachkriegs- zeit sofort Geld verdienen, um mit für den Lebensunterhalt ihrer Familie zu sorgen. Denn die meisten Väter waren im Krieg geblieben und fielen als Verdiener aus. Daran sind viele Frauen stark geworden, aber manchmal auch hart. Jedenfalls nach außen.

Es ist ähnlich wie bei einem Igel. Wenn er sich bei Gefah- ren schützen will, rollt er sich zusammen und zeigt nur noch seine Stacheln. Die weiche Bauchseite wird versteckt. Die Stacheln machen den Igel unangreifbar. Wer ihm zu nahe kommt, wird verletzt.

Manche Mütter sind aufgrund ihrer Geschichte „stache- lig“ geworden. Sie haben viel geleistet und erwarten nun auch viel von ihren Töchtern. Die Lösung kann jedoch nicht darin bestehen, dass die Tochter sich von ihrem schlechten Gewis-

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sen hin- und herschieben lässt.

Sie darf vielmehr die Handeln- de werden und aktiv die Regeln bestimmen, klare Vereinbarun-

gen treffen. Katja könnte ihrer Mutter beispielsweise sagen:

„Einmal in der Woche rufe ich dich an. Und einmal im Monat komme ich dich besuchen. Ich unterstütze dich auch gerne dabei, Hilfe vor Ort zu organisieren.“ – Möglicherweise kann auch die Mutter mit solchen verlässlichen Absprachen besser leben. Und vielleicht könnte Katja bei diesen Besuchen auch mal nach früher fragen, nach Mutters eigener Kindheit. Man- che alte Menschen erzählen gerne davon. Es könnte Katjas Verständnis dafür vergrößern, warum ihre Mutter in man- chem so hart und unbeugsam geworden ist. Und vielleicht be- kommt Katja dann irgendwann statt der Stacheln das weiche Fell des Bauches gezeigt.

Eine verlassene Frau? – Die Perspektive wechseln

Eine andere Geschichte schleppt Ute mit sich herum. Ihr ge- schiedener Mann hat sie vor 20 Jahren wegen ihrer besten Freundin verlassen und ist jetzt mit dieser verheiratet. Ute kann den beiden nicht vergeben. Das belastet auch ihre Toch- ter, die bei der Trennung 21 war. Die Verbitterung ihrer Mutter ist für sie schwer auszuhalten. Immer wieder muss sie sich die alten Geschichten anhören. Über den Mann, der ihr Vater ist und an den sie auch gute Erinnerungen hat. Beim Vaterunser lässt Ute die Bitte „Wie wir vergeben unsern Schuldigern“ im- mer aus.

Manche Mütter sind aufgrund ihrer Geschichte „stachelig“

geworden.

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MüTTER hABEN EINE GESchIchTE

Ute ist eine gewissenhafte Frau. Darum ist es schwer für sie, wenn andere sich scheinbar locker über Grenzen hin- wegsetzen. Ihre Freundin hat ihr den Mann ausgespannt. Seit 20 Jahren trägt sie den beiden das nach.

Nach-tragen: Wenn man das wörtlich nimmt, wer trägt denn da die Last? Es ist so, als ob Ute einen schweren Stein hinter ihrem früheren Mann und seiner Frau herschleppt, ih- nen den nachträgt. Die merken davon gar nichts. Ute selbst quält sich und müht sich ab mit der Last, wird krumm und gebeugt. Und auch die Tochter kriegt ihren Teil davon ab. Sie hat einerseits ständig Schuldgefühle und den Eindruck: Ich kümmere mich nicht genug darum, dass es Mutter besser geht. Und andererseits empfindet sie Wut und ärgert sich, dass ihre Mutter es sich so schlecht gehen lässt und alle Auf- munterungsversuche nicht helfen.

Wie wir vergeben unsern Schuldigern – Vergeben würde be- deuten, den Stein wegzuschmeißen, der auf Utes Seele lastet und sie bitter macht. Sich von dem Stein befreien geht leichter, wenn Ute an die schönen Seiten in ihrem Leben denkt. An alles, was gut lief und wofür sie dankbar sein kann: zwei ge- sunde Enkelkinder, einen Beruf, der ihr Freude macht, nette Nachbarn und Freunde. Es ist nicht Schicksal, sondern Utes Entscheidung, aus welchem Blickwinkel sie ihre Geschichte erzählt.

Ich denke an eine vor Kurzem verstorbene 87-Jährige, die bereits im zweiten Ehejahr mit gerade geborenem Kind von ihrem Mann verlassen wurde. Sie hat nie wieder geheiratet und bis zu ihrem Tod über sich gesagt: „Ich bin eine verlas- sene Frau.“ Was für eine niederschmetternde Selbstwahrneh-

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mung. Und was macht das mit der Tochter, wenn ihre Mutter sich nur aus dieser Perspektive sieht? Es gäbe über diese Frau und auch über Ute sicher mehr und Wertschätzenderes zu be- richten. „Ich bin eine gute Mutter. Eine liebevolle Oma. Eine beliebte Nachbarin. Eine zuverlässige Kollegin und Freundin.

Ich habe ein erfülltes Leben, auch ohne Mann.“

Sicher, es ist beeindruckend, wie gewissenhaft Ute mit dem Vaterunser umgeht. Aber hilft das, so ein amputiertes Vater- unser? Wie fühlt es sich an, wenn man es betet und diesen Satz auslässt: „Wie wir vergeben unsern Schuldigern“? Da hegt und pflegt man doch die Verbitterung bei jedem Gebet.

So kann sie munter weitergedeihen und ihr Gift ins Gemüt träufeln lassen.

Auch wenn Utes Seele anfangs noch nicht hinterherkommt:

Vielleicht sollte sie probieren, das Vaterunser wieder vollstän- dig zu beten. Manchmal stellt man dann fest, dass man da hi- neinwächst, nach und nach. Die

Wirkung dieses Gebets würde nicht nur Ute, sondern auch ihre Tochter von einer schweren Last befreien. Sie beide könnten selbst-

bewusster und mit geradem Rücken durch die Welt gehen. Und die Tochter muss nicht Mutters Jammern seufzend ertragen und dagegen ankämpfen, sondern sie wird stolz auf ihre Mutter sein. Denn ihr wurde zwar übel mitgespielt, aber sie hat sich nicht unterkriegen lassen. Sie ist gelassen und großmütig und macht das Beste aus ihrem Leben. Und eines Tages, vielleicht bei der Hochzeit des Enkelkindes, kann Ute mit ihrem frühe- ren Mann und dessen Frau auf das junge Paar anstoßen.

Vergeben befreit von einer schweren Last und macht selbst­

bewusst.

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MüTTER hABEN EINE GESchIchTE

Mut zur Wahrheit

Stefanie ist glücklich verheiratet und hat mit ihrem Mann zwei Söhne. Aus einer früheren Beziehung hat sie eine Toch- ter. Der Vater zahlt Unterhalt für sein Kind, es gibt aber keinen Kontakt. Die Kleine ist inzwischen sieben und sagt Papa zu ih- rem Stiefvater. Der behandelt sie wie seine eigenen Kinder. Sie weiß nichts von ihrem leiblichen Vater. Stefanie will das nicht, denn er hat sie damals im Stich gelassen, als sie schwanger wurde, und nie nach seinem Kind gefragt. Außerdem fürchtet sie, dass ihre Tochter mit den komplizierten Familienbezie- hungen überfordert wäre. Aber manchmal fragt sie sich, ob sie das Richtige tut.

Ja, es klingt nach heiler Welt: Vater, Mutter, Kind. Alles läuft rund. Und doch meldet Stefanies Gefühl eine Unebenheit.

Denn eine wichtige Person wird ausgeblendet: Der leibliche Vater. Immerhin entzieht er sich den Unterhaltszahlungen nicht. Wäre es nicht fair, ihm den Kontakt zu seinem Kind zu ermöglichen, sofern er es möchte? – Aber abgesehen von seinen Wünschen oder Rechten: Irgendwann wird Stefanies Tochter doch von ihm erfahren müssen. Es sind ihre Wurzeln, es ist ihre und ihrer Mutter Geschichte. Sie hat seine Gene, sieht ihm vielleicht auch ähnlich. Egal, wie er sich verhält, er ist und bleibt wichtig für sie, denn von ihm stammt sie ab.

Außerdem haben Kinder sehr feine Sensoren, sie spüren oft instinktiv, wenn etwas nicht stimmt. Zur Wahrheit gibt es also keine Alternative.

Stefanies Tochter ist jetzt sieben Jahre alt, es ist allerhöchste Zeit, dass Stefanie ihr sagt, was Sache ist, und ihre Herkunft

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offenlegt. Denn je länger Stefanie es hinauszögert, desto mehr wird ihre Tochter sich verraten fühlen, wenn sie es schließlich erfährt. Ich kenne eine Frau, deren Eltern ihr erst mit 10 sag- ten, dass sie adoptiert wurde. Sie sagte mir: „Ich fühlte mich so belogen. Im Nachhinein stand meine ganze Kindheit im Licht von Falschheit. Alle um mich herum wussten es, die Verwand- ten, die Freunde, die Nachbarn – nur ich als Hauptbetroffene nicht. Mein Vertrauen zu meinen Adoptiveltern war schlag- artig zerstört. Und es dauerte lange, bis es wieder wuchs.“

Was könnte denn passieren, wenn Stefanies Tochter die Wahr- heit erfährt und ihren Vater treffen möchte? Im schlimmsten Fall will er nichts von ihr wissen. Das tut weh, aber sie wird damit klarkommen, denn Stefanie und ihr Mann kümmern sich ja um sie. Im besten Fall bekommt sie jedoch Kontakt zu ihrem Vater, womöglich auch zu den Großeltern väterlicher- seits. Dann hätte sie eine weitere Anlaufstelle, wo Menschen Interesse an ihr zeigen. Und von solchen Beziehungen kann man doch eigentlich nie genug haben.

Die Tragik im Leben der Mutter erkennen

Dass sie adoptiert war, war für Jennifer Teege von Anfang an offensichtlich. Schließlich waren ihre beiden Brüder weiß, sie aber hatte eine dunkle Haut. Sie war aus einer Affäre ihrer leib- lichen deutschen Mutter mit einem Nigerianer hervorgegan- gen. Die Mutter hatte sie mit vier Wochen in ein Kinderheim gegeben, im Alter von drei Jahren kam Jennifer in eine Pflege- familie und wurde mit sieben Jahren von ihnen adoptiert. Das

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wusste Jennifer, sie kannte auch den Namen ihrer leiblichen Mutter und ihr Geburtsdatum, es ging aus ihren Adoptions- unterlagen hervor. Dennoch lag ein schreckliches Geheimnis über ihrer Herkunft, von dem Jennifer nichts ahnte. Sie hatte jedoch schon früh das Gefühl: Mit mir stimmt was nicht. Als junge Frau leidet sie unter Depressionen, weiß jedoch nicht, warum. Sie studiert fünf Jahre in Israel, hat jüdische Freunde.

Mit 38 Jahren macht sie eine entsetzliche Entdeckung: Sie ist die Enkelin des brutalen Krakauer KZ-Kommandanten Amon Göth, der für die Ermordung Tausender Juden verantwortlich war. Er ist bekannt aus dem Film „Schindlers Liste“.

Diese Entdeckung zeigt ihr einerseits: Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen. Da war noch etwas offen, unerledigt, ein düs- teres Geheimnis in ihrer Geschichte, das danach schrie, auf-

gedeckt und gelöst zu werden.

Andererseits fragt sie sich:

„Warum hat meine Mutter mir nie etwas gesagt? Bin ich ihr so wenig wert, immer noch? ... War- um hat mir keiner die Wahrheit gesagt?“6 Später, Monate nach dem großen Schock, kann Jennifer mehr Verständnis für ihre Mutter Monika entwickeln. „Wenn ich jetzt ihre Geschichte betrachte, kann ich besser verstehen, warum sie sich nicht in der Lage sah, mich aufzuziehen ... Ich sehe sie nicht mehr nur als Mutter, die ihr Kind verließ, sondern als Tochter von Amon Göth. Dieser Vater ist ihr Lebensthema ... Etwas, das sie so

6 Sellmair/Teege 2013, S. 11.

Düstere Geheimnisse schreien danach, aufgedeckt und gelöst zu werden.

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ausgefüllt hat, dass vielleicht kein Raum mehr war für andere Menschen, für die Mutterrolle, für mich.“7

Amon Göth wurde 1946 gehängt. Da war seine Tochter Monika 10 Monate alt. Monikas Mutter Irene zog sie mit lauter Lügen über ihren Vater auf. Später nahm sich Irene das Leben.

Monika brauchte ein halbes Leben, um die Wahrheit über ih- ren Vater herauszufinden und sich ihr zu stellen.

Jennifer trifft sich mit ihrer Mutter. Monika redet immer noch über Amon Göth, als sei es erst gestern gewesen, dass er

im Konzentrationslager Kommandant war. Sie lebt mit den Toten. Wie viele Nazi-Nachkommen der zweiten Generation hat sie ein Leben lang unter ihrer Familiengeschichte gelit- ten und ist noch ganz davon bestimmt. Viele dieser Menschen denken, sie müssten für die Schuld der Vorfahren Buße tun, sich dafür bestrafen. Das stimmt nicht, denn Schuld vererbt sich nicht. Jeder ist für sich allein verantwortlich. Die Kinder haben nichts zu tun mit dem, was Väter und Mütter verbro- chen haben. Aber viele Nachfahren tragen trotzdem schwer an Schuldgefühlen. Bis an ihr Lebensende kommen sie nicht davon los. Tragisch. Jennifer ist erschüttert, ihre Mutter so zu sehen. Sie erkennt: „Meine Mutter gab mich nicht fort, weil an mir etwas falsch war – sondern weil sie genug mit sich selbst zu tun hatte ... Zum Abschied nehmen wir uns kurz in den Arm. Ich habe jetzt eine Mutter.“8

7 Ebd., S. 128.

8 Ebd., S. 176/187.

Schuld vererbt sich nicht. Jeder ist für sich allein verantwortlich.

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Trotz dieses hoffnungsvollen Beginns schafft Monika es auf die Dauer nicht, eine liebevolle Beziehung zu ihrer erwach- senen Tochter aufzubauen. Es kommt noch zu einigen Be- gegnungen, dann bricht sie den Kontakt ab. Jennifer hat ihre Mutter gefunden und doch wieder verloren. Dennoch haben die Treffen etwas verändert. Jennifer hat die Tragik im Leben ihrer Mutter erkannt. Das hat ihr die Bitterkeit genommen. Sie hat auch festgestellt: Sie ist viel freier im Kopf als ihre Mutter.

Sie kann liebevoll an ihre Großmutter denken und trotzdem Amon Göth und ihr Leben mit ihm verurteilen. Und so gelingt es Jennifer, sich aktiv und kons- truktiv mit ihrer Familie ausein- anderzusetzen. Sie fährt nach Krakau, befasst sich intensiv mit der Geschichte ihrer Großeltern. Später führt sie israelische Schüler durch das ehemalige Konzentrationslager. Sie erzählt ihnen davon, wie es ist, die Enkelin eines KZ-Kommandanten zu sein. Auch mit ihren eigenen Kindern redet Jen nifer offen über den Großvater und seine Verbrechen. Mit der Entdeckung des Familiengeheimnisses ist ihren Depressionen die Grund- lage entzogen, sie ist geheilt. Die Wahrheit hat sie schockiert, aber auch befreit. Sie blickt nach vorn, setzt sich ein für Versöh- nung. Das letzte Wort ihres Buches lautet Hoffnung.

Meine Mutter, die Terroristin

Auch Bettina Röhls Lebensthema ist bestimmt durch ihre Mutter: die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof. Dabei hatte alles ganz undramatisch begonnen. Bettina und ihre Zwillings- Die Wahrheit schockiert

und befreit.

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schwester wurden 1962 in Hamburg geboren. Der Vater Klaus Rainer Röhl war Herausgeber der linken Zeitschrift konkret, bei dem die Mutter Ulrike als Chefredakteurin arbeitete. Ein linksintellektuelles, aber doch bürgerliches Milieu in Ham- burg-Lurup. Die Zwillinge wurden von Anfang an von ver- schiedenen Bezugspersonen mitbetreut. Ulrike Meinhof war eine zwanghafte analytische Intellektuelle, Klaus Rainer Röhl dagegen lebenslustig und spontan. Die beiden stritten häu- fig, hatten aber auch viele angeregte Diskussionen über ihre Artikel, es gab unbeschwerte Familienurlaube und Partys. Ei- nen dramatischen Zerbruch erlitt die Familie, als Klaus Röhl eine Liebesbeziehung mit einer anderen Frau einging. Ulri- ke trennte sich 1968 von ihm und zog mit den Kindern nach Berlin. Dort schloss sie sich extrem linken Kreisen an. 1970 beteiligte sie sich daran, den Gefängnisausbruch des Terro- risten Andreas Baader zu organisieren. Danach lebte sie als Illegale. Sie war an mehreren terroristischen Überfällen und Sprengstoffanschlägen beteiligt, bei denen Menschen getötet wurden, auch zwei Polizisten. „Auf Bullen darf geschossen werden!“, propagierte Ulrike Meinhof. Die Töchter ließ sie mit- hilfe der terroristischen Vereinigung RAF 1970 in ein Flücht- lingslager nach Sizilien verschleppen. Erst vier Monate spä- ter konnten die beiden Achtjährigen dort befreit werden und lebten fortan beim Vater in Hamburg. Im Juni 1972 wurde Ulrike Meinhof verhaftet. Viermal besuchten ihre Töchter sie im Gefängnis, bis die Mutter 1974 den Kontakt abbrach. Am 9. Mai 1976 beging Ulrike Meinhof in Stuttgart-Stammheim Selbstmord, ohne ihre Kinder noch einmal gesehen zu haben.

Wie geht man damit um, dass die Mutter eine staatsbekann- te verurteilte Terroristin war, die mehrere Menschen auf dem

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Gewissen hatte und für viel Leid und Unglück verantwortlich war? Deren verblendete radikale Ideologien ihr schließlich wichtiger wurden als die eigenen Kinder und die diese Kin- der wildfremden Menschen und größten Gefahren ausgesetzt hat?

Bettina Röhl hat ein Buch über ihre Mutter geschrieben, es ist 677 Seiten dick und eine kritische Gesellschaftsanalyse jener Zeit.9 Sie deckt in ihrem Buch viele politische Verstrickungen und Intrigen auf und denkt sich tief hinein in das, was ihre Mutter umgetrieben hat. Man entgeht so einer Mutter ja nicht und so hat Bettina Röhl die Flucht nach vorne angetreten und sich aktiv mit ihrer Biografie und den politisch-gesellschaft- lichen Umständen jener Zeit auseinandergesetzt. Es ist ent- larvend, was man da zu lesen bekommt. So wurde z. B. die Zeitschrift konkret von der SED, der Sozialistischen Einheits- partei in der früheren DDR, mitfinanziert und mitbeeinflusst.

Von wegen freie Presse! Bettina Röhls Fazit: „Was den Kom- munismus anbelangt, hat die Geschichte nach 100 Jahren entschieden, dass diese naturgewaltige Kraft aufgrund vieler immanenter Irrtümer, aber noch viel mehr aufgrund miss- bräuchlicher Anwendung, zu Ende ist. Die soziale Frage, die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit [...], ist und bleibt das eigentliche Anliegen, dem die Autorin dieses Buch widmet.“10 Und so grenzt Bettina Röhl sich einerseits deutlich von ihrer Mutter ab: Kommunismus ist out, er ist gescheitert, und ter- roristische Handlungen sind Verbrechen. In ihrem Buch und

9 Röhl 2006.

10 Ebd., S. 641.

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auch in vielen ihrer Artikel setzt die Journalistin sich kritisch und kämpferisch mit linken Ideolo- gien auseinander. Andererseits

aber widmet sie ihr Buch dem, was ihre Mutter im tiefsten In- neren umtrieb: der sozialen Frage und der Vision von einer ge- rechteren Welt. So gelingt es Bettina Röhl, das desaströse Erbe ihrer Mutter für sich in konstruktive Aufgaben zu wenden.

Das desaströse Erbe kann in eine konstruktive Aufgabe verwandelt werden.

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