• Keine Ergebnisse gefunden

27. September 2014: "Auf Vergangenheit bauen – Zukunft gestalten!"

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "27. September 2014: "Auf Vergangenheit bauen – Zukunft gestalten!""

Copied!
12
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Wilhelm Krull

„AUF VERGANGENHEIT BAUEN –ZUKUNFT GESTALTEN!“

Festvortrag am 27. September 2014 beim Johanniterrittertag in Schloss Herren- hausen, Hannover

Königliche Hoheit, lieber Herr von Elsner,

sehr geehrter Herr Pfarrer Weber, verehrte Festgäste,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

kein Tag ist wie der andere – doch was macht einen Tag besonders? Genauer ge- fragt: Was zeichnet diesen heutigen Samstag, den 27. September 2014, aus?

Schauen wir zunächst einmal in die Vergangenheit, und zwar in die neuere deutsche Literatur:

Im Jahr 1960 forderte die Moskauer Zeitung Iswestija Schriftstellerinnen und Schrift- steller weltweit dazu auf, einen Tag in jenem Jahr genauer zu beschreiben, und zwar den 27. September. Viele Autorinnen und Autoren kamen dieser Aufforderung nach und verfassten mehr oder minder inspirierende Texte über diesen Tag. Auch die be- kannte Schriftstellerin Christa Wolf war darunter. Neben politischen Reflektionen und Alltagsbetrachtungen schildert sie, so z. B. am 27. September 1989, u. a. die Abend- stimmung wie folgt: „Nach diesem strahlenden Tag noch einmal ein spektakulärer Sonnenuntergang, in den Farben, die es nur im Norden gibt, die aber schon herbst- lich gebrochen sind.“ (Ein Tag im Jahr, Frankfurt am Main 2008, S. 483.) Insgesamt machte Christa Wolf daraus sogar eine Art Daueraufgabe und schrieb auf insgesamt 675 Druckseiten über 40 Jahre lang ihre Erlebnisse am 27. September des jeweili- gen Jahres auf. Sie zeigte sich geradezu fasziniert von der „Bedeutung, die ein durchschnittlicher Tag bekommt, wenn man wahrnimmt, wie viele Lebenslinien in ihm zusammenlaufen“.

Ganz anders reagierte der Schriftsteller Thomas Brasch auf den Aufruf der Iswestija.

Er griff 20 Jahre später diese Anregung der Moskauer Zeitung noch einmal auf und

(2)

veröffentlichte 1980 einen Lyrikband mit dem Titel „Der schöne 27. September“. Das gleichnamige Gedicht lautet:

Ich habe keine Zeitung gelesen.

Ich habe keiner Frau nachgesehn.

Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.

Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht.

Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.

Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen und mit keinem über neue Zeiten.

Ich habe nicht über mich nachgedacht.

Ich habe keine Zeile geschrieben.

Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.

In seiner Ereignislosigkeit ist dieser 27. September für Thomas Brasch wohl nur im Protest gegen die ansonsten im realen Sozialismus übliche Heuchelei ein besonde- rer Tag gewesen.

Wir sehen also: Mal ist der 27. September ein gewöhnlicher, mal – wenn wir etwa auf den heutigen Anlass unseres Zusammentreffens schauen – ein ganz außergewöhn- licher Tag. Denn für Sie alle, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist er in die- sem Jahr hoffentlich ein wunderbarer, in vielfacher Hinsicht erinnerungswürdiger Festtag: Indem Sie das 150-jährige Jubiläum der Errichtung der „Genossenschaft des Johanniter-Ordens im Königreich Hannover“ durch den Herrenmeister Prinz Friedrich Carl Alexander von Preußen im November 1864 feiern, eröffnen Sie zu- gleich einen Raum für vielfältige Wiederbegegnungen, den intensiven Austausch un- ter Ihnen und nicht zuletzt führen uns alle heute – ganz im Sinne von Christa Wolf – viele Entwicklungspfade und Lebenslinien hier zusammen. Ich bin zugleich über- zeugt davon, dass der Genius Loci von Herrenhausen, Gottfried Wilhelm Leibniz, seine Freude an unserer heutigen Abendgesellschaft hätte; zumal er dereinst 1680 mit Blick auf die Förderung der Wissenschaft, auf die ich später noch eingehen wer- de, festgestellt hat: „Es gibt so viele fähige Menschen, von denen man viel erwarten könnte, wenn sie das Ernsthafte mit dem Angenehmen verbinden würden.“ (Regeln zur Förderung der Wissenschaft, 1680)

Trotz vielfältiger Strukturbrüche, partieller Auflösungserscheinungen und Wiederauf- nahmen ist der Johanniterorden in seiner mittlerweile über 900 Jahre währenden

(3)

Geschichte mit seinem vielfältigen karitativen Engagement im Bereich der Alten- und Krankenpflege sowie der Unfall- und Katastrophenhilfe zu einer Instanz geworden, die aus unserem sozialen Zusammenleben nicht mehr wegzudenken ist. Dement- sprechend erweist sich ein Zitat des ersten bekannten Meisters des Johanniteror- dens, Meister Gerardus vom Hospital zu Jerusalem (gestorben ca. 1120), als gera- dezu prophetische Aussage:

„Unsere Bruderschaft wird unvergänglich sein, weil der Boden, auf dem diese Pflan- ze wurzelt, das Elend der Welt ist, und weil, so Gott will, es immer Menschen geben wird, die daran arbeiten wollen, dieses Leid geringer, dieses Elend erträglicher zu machen.“

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Johanniter mit ihrem Leitspruch

„Aus Liebe zum Leben“ geradezu paradigmatisch das oben zitierte Leibnizsche Mot- to umsetzen und mit ihrem gemeinnützigen Engagement zu einem unverzichtbaren Teil unserer Welt geworden sind. Indem Sie ihre Tradition hochhalten, also – wie es im Titel dieses Vortrags heißt – auf Vergangenheit bauen und in der Gegenwart hilf- reich wirken, tragen Sie zugleich dazu bei, auf verantwortliche Weise die Zukunftsfä- higkeit unserer Gesellschaft zu sichern. Dafür gebührt Ihnen unser aller Dank und ein herzlicher Glückwunsch zum Jubiläum!

I. Kontinuität und Wandel

Damit klingt zugleich das Thema meines Vortrags an, das freilich aus der Perspekti- ve eines Wissenschaftsförderers durchaus so seine Tücken hat. Denn wer mit weni- gen Sätzen ganze Jahrhunderte durchstreifen will oder nur mit ein paar Federstri- chen komplexe Zusammenhänge skizziert, der steht immer in der Gefahr, wegen mangelnder Genauigkeit kritisiert zu werden. Dabei tröste ich mich für heute Abend freilich damit, dass es auch in der Wissenschaft – je nach Disziplin! – jeweils ein höchst unterschiedliches Verständnis des erforderlichen Präzisionsgrades von Aus- sagen gibt, wie der folgende Witz verdeutlicht:

Ein Soziologe, ein Philosoph und ein Mathematiker fahren gemeinsam mit dem Zug durch die schottischen Highlands. Ohne heute Abend auf die Volksabstimmung in Schottland anspielen zu wollen, geht es um ein schwarzes Schaf. Dieses nämlich entdecken die drei unter einer Reihe weißer Schafe aus dem Zugfenster heraus. Der Soziologe ruft zugleich: „Es gibt also auch in Schottland schwarze Schafe.“ Sofort

(4)

korrigiert ihn der Philosoph dahingehend, dass es höchstens erlaubt sei, festzustel- len, dass es in einem Tal in Schottland ein schwarzes Schaf gebe. Der Mathematiker ist auch mit der Genauigkeit dieser Aussage keineswegs einverstanden und ruft laut aus: „Man kann lediglich behaupten, dass es in einem Tal der schottischen High- lands ein Schaf gibt, dass von einer Seite schwarz aussieht.“

Ziel allen wissenschaftlichen Forschens ist es, neue Erkenntnisse über den jeweili- gen Gegenstandsbereich zu gewinnen. Dabei wird zunächst das vorhandene Wissen skeptisch geprüft, neue Hypothesen werden getestet und schließlich ein neues Ver- stehen ermöglicht. Insbesondere für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften geht es dabei in starkem Maße um eine Betrachtung der historischen Entwicklungsli- nien und ihrer Auswirkungen auf die Gegenwart. Das hat ihnen von naturwissen- schaftlicher Seite schon häufig den Vorwurf eingehandelt, sie würden sich zu sehr mit der Asche der Vergangenheit befassen, anstatt das Feuer der Zukunft voranzu- tragen. Wer so denkt, der verkennt die eminent wichtige Aufgabe der historisch- philologischen Geistes- und Kulturwissenschaften. Denn es kommt für unser aller Positionsbestimmung zunächst einmal darauf an, die geradezu klassische Funktion der Memoria, also des kulturellen Gedächtnisses zu unterstreichen, nämlich unser kulturelles Erbe zu erschließen, zu bewahren und immer wieder neu zu vermitteln.

Sie gilt es mit einer mindestens ebenso wichtigen Funktion zu verknüpfen, nämlich nicht zuletzt durch vorbeugendes Nachdenken dazu beizutragen, unser Reflexions- potenzial für die Gegenwart zu erhöhen und damit letztlich auch unsere Hand- lungsoptionen für die Zukunft klarer herauszuarbeiten. Indem die Geisteswissen- schaften über Zeiten und Grenzen hinweg neue Sichtachsen schaffen, können sie insbesondere in einer Phase hoher Veränderungsdynamik und großer Verunsiche- rung dazu beitragen, eine bessere Standfestigkeit zu gewinnen. Der weithin vorherr- schenden Geschichtsvergessenheit ebenso wie dem hemmungslosen Fortschritts- glauben können wir letztlich nur erfolgreich entgegenwirken, wenn wir bereit sind, das Spannungsfeld zwischen Innovation und Tradition immer wieder neu auszu- leuchten. Um es mit den Worten von André Malraux zu sagen: „Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern.“

Wenn wir in der Vergangenheit blättern, dann stoßen wir unweigerlich auf eine Fülle von Dingen, die durch vielfältige Perioden des Vergessens, Verschwindens, Wieder- entdeckens, Verfehlens, des verzerrten Aneignens (z. B. im Nationalsozialismus), des produktiven Anverwandelns (vgl. Jean Anouilhs „Antigone“), der politischen An-

(5)

fechtungen (Nietzsche, Heidegger et al.) und des erneuten Vergessens. Aus der Fül- le solcher Phänomene seien hier nur zwei Beispiele genannt: Als erstes die berühm- ten Merseburger Zaubersprüche, die über Jahrhunderte in der Bibliothek des Merse- burger Domkapitels verschüttet waren und deren Wiederentdeckung seinerzeit von Jacob Grimm als außerordentliche Leistung gepriesen wurde mit den Worten: „Gele- gen zwischen Leipzig, Halle, Jena ist die reichhaltige Bibliothek des Domcapitels zu Merseburg von Gelehrten oft besucht und genutzt worden. Alle sind an einem Codex vorübergegangen, der ihnen, falls sie ihn näher zur Hand nahmen, nur bekannte kirchliche Stücke zu gewähren schien, jetzt aber, nach seinem ganzen Inhalt gewür- digt, ein Kleinod bilden wird, welchem die berühmtesten Bibliotheken nichts an die Seite zu setzen haben.“

Als zweites Beispiel sei auf das gigantische musikalische Werk Georg Friedrich Hän- dels hingewiesen, dessen Neuentdeckung zu Beginn des 20. Jahrhunderts – vor al- lem durch die Göttinger Händelfestspiele seit 1920! – es erst ermöglicht haben, seine Musik erneut zu feiern und insbesondere die dabei entwickelte historische Auffüh- rungspraxis zu einem eigenen musikalischen Zweig der Gegenwart zu machen. Ge- rade auf diesem Feld müssen wir uns also immer wieder neu auf den Weg machen, um die für uns wichtigen Spuren der Vergangenheit für die Gegenwart sichtbar und verständlich zu machen.

In gewisser Weise ist auch dieses Schloss ein Beispiel für die wechselvollen Wege der Geschichte. Aber dazu später mehr!

II. Effizienz versus Kreativität

Es sind vor allem zwei Pole – das Streben nach immer größerer Effizienz einerseits und die Notwendigkeit, Freiräume für die Entfaltung von Kreativität zu schaffen ande- rerseits –, die unseren Alltag prägen.

Unsere Gegenwart wird – dieses Eindrucks kann man sich kaum erwehren –vor al- lem bestimmt durch immer größeren Zeitdruck und weiter zunehmende Beschleuni- gung sowie allgegenwärtiges, bisweilen absurde Blüten treibendes Effizienzdenken.

Anschaulich illustriert wird dies durch folgende Anekdote:

„Der Generaldirektor eines Großunternehms erhielt eine Gratis-Eintrittskarte für das Konzert von Schuberts Unvollendeter Symphonie. Er konnte das Konzert nicht selbst

(6)

besuchen und schenkte deshalb die Karte einem befreundeten Unternehmensbera- ter.

Nach zwei Tagen erhielt der Unternehmer von seinem Berater ein Memo mit folgen- den Kommentaren:

1. Während längerer Zeit waren vier Flötisten nicht beschäftigt. Die Zahl der Bläser sollte deshalb reduziert und die Arbeit auf die übrigen Musiker verteilt werden, um damit eine gerechtere Auslastung zu gewährleisten.

2. Alle zwölf Geiger spielten identische Noten. Dies stellt eine überflüssige Doppel- spurigkeit dar. Die Zahl der Geigenspieler sollte deshalb ebenfalls drastisch gekürzt und für intensivere Passagen könnte ein elektronischer Verstärker eingesetzt wer- den.

3. Es wurde zu viel Mühe zum Spielen von Halbtonschritten aufgebracht. Nur noch Ganztonschritte spielen! Dadurch können billige Angelernte und Lehrlinge eingesetzt werden.

4. Es hat keinen Sinn, mit Hörnern die gleiche Passage zu wiederholen, die bereits mit Trompeten gespielt worden ist. Empfehlung: Falls alle diese überflüssigen Passagen eliminiert würden, könnte das Konzert von zwei Stunden auf 20 Minuten gekürzt werden.

Hätte Schubert sich an diese Empfehlungen gehalten, hätte seine Symphonie wahr- scheinlich vollendet werden können.“1

Dass ein solches Effizienzdenken sämtliche Kreativität lähmt, liegt auf der Hand.

Denn wer die Räume und Landschaften des Noch-Nicht-Wissens erkunden will, der muss offen sein für das Unerwartete, bislang noch nicht Erdachte. Er muss zugleich entschlossen sein, die kühne Forschungsidee in gewagte Explorationen umzusetzen.

Solche Vorhaben sind in der Regel schwer planbar. Sie können meist nicht mit kon- kreten Zeitangaben und Ressourcenanforderungen unterlegt werden. Sie bereiten bisweilen den sie tragenden Institutionen ebenso wie möglichen Forschungsförde- rern großes Kopfzerbrechen. Dennoch ist es immer wieder notwendig, sich genau auf diese Randbedingungen einzulassen, damit transformatives, d. h. radikal neues Wissen uns bereichern kann. Dafür gilt es, auf möglichst fantasievolle Weise die ent-

1 Aus: Martin Hilb: Integriertes Personalmanagement. Luchterhand, München 1995.

(7)

sprechenden Freiräume zu schaffen, damit sich die Kreativitätspotenziale entfalten können.

In diesem Kontext – wie auch sonst im Leben – kommt es dabei auf die richtige Mi- schung an. Ist etwa eine Forschungseinrichtung zu klein und fachlich zu homogen angelegt, fehlt es an fremddisziplinärem Anregungspotenzial. Wird auf der anderen Seite die Einrichtung zu groß und zu heterogen, ergibt sich kaum noch die Gelegen- heit zum persönlichen Austausch. Fachliche Enge schlägt so häufig in Monotonie um; allzu große Breite transformiert ein erwünschtes Maß an Diversität in unproduk- tive Heterogenität. In beiden Extremfällen erlahmt schließlich die intellektuelle Kreati- vität und auch das Hervorbringen von grundlegend neuem Wissen. Explorativ-

experimentelles Forschen bedarf daher eines kommunikativ verdichteten Nährbo- dens, um sich angemessen entfalten zu können.

Gerade aus der solchermaßen begünstigten kreativen, explorativ-experimentellen Forschung resultieren zahlreiche Innovationen, mittels derer es uns gelingt, das Un- sichtbare sichtbar zu machen (z. B. mittels NMR-, PET-, STED-Technologien) und gewissermaßen „das Unerhörte“ (auf der Erde wie aus dem All) hörbar.

Wirklich bahnbrechende Einsichten kommen häufig erst nach einem längeren, schier ausweglos erscheinenden, bisweilen gar verzweifelten Suchprozess zustande. Dies gilt umso mehr, wenn mit der auf neuem Sehen und Verstehen beruhenden Erkennt- nisleistung und dem auf diese Weise generierten Wissen weitere kreative Prozesse, wie etwa das Konstruieren neuer wissenschaftlicher Geräte, verknüpft sind; in einer Sphäre, in der die sensible Wahrnehmung und das genaue Begreifen der realen Be- gebenheiten sich unmittelbar mit kreativ-gestalterischer Imaginationskraft und schließlich auch mit Realitätsveränderung verbinden. Umgekehrt können wir be- obachten, wie bereits die ersten Schritte hin zu neuen Erkenntnissen keineswegs nur in der Sphäre des abstrakt-logischen Denkens zu verorten sind, sondern häufig von Versuchen begleitet werden, einen revolutionären Gedanken zunächst in Form einer Zeichnung – und sei sie auch noch so skizzenhaft – sichtbar zu machen.

Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat am Beispiel so überragender Denker wie Galilei, Hobbes, Leibniz und Darwin gezeigt, dass sie ihre bahnbrechenden Erkennt- nisse genau so aus der zeichnerischen Vergegenwärtigung des neu Gedachten wie aus theoretischer Analyse und begrifflicher Definition erarbeiteten. Erst indem Auge und Hand mitdenken, gewinnt die neue Erkenntnis jene Klarheit und Präzision, ohne

(8)

die kein wissenschaftlicher Durchbruch möglich ist. Dies gilt selbst für einen zeichne- risch eher unbegabten Forscher wie Charles Darwin, vor allem als er seinerzeit im Begriff war, sich zugunsten eines korallenartigen Evolutionsmodells von der bis dahin verwendeten Baummetapher zu verabschieden: „Die beiden Skizzen wirken künstle- risch wertlos, und Darwin hat zeit seines Lebens bedauert, dass er im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter wie etwa Hooker kein zeichnerisches Talent besaß. Dass er seinen epochalen Einschnitt dennoch visualisiert hat, beeindruckt umso mehr. Die Zeichnungen bezeugen, dass Darwins vielleicht riskanteste Idee im gleichsam tas- tenden Wechselspiel zwischen Notizen und Skizzen entstand, die trotz ihrer unge- künstelten Gestalt eine bezwingende Evidenz besaßen.“

Innovations- und Risikobereitschaft, gepaart mit dem Mut, unbekanntes Terrain zu erkunden, dem Vertrauen in die jeweiligen Kräfte und Kompetenzen sowie große Hartnäckigkeit im Verfolgen der einmal gesetzten Erkenntnis- und Entwurfsziele bil- den die wichtigsten Erfolgsvoraussetzungen für das Erreichen von wissenschaftli- chen und gestalterischen Durchbrüchen. Letztere in weitaus höherem Maß zu er- möglichen als bisher stellt die größte Herausforderung für Wissenschaft und For- schung im 21. Jahrhundert dar. Ähnliches gilt selbstverständlich auch für Kunst und Musik. Dabei sollten wir stets des Satzes von Ludwig Wittgenstein eingedenk sein, der einmal mit Blick auf den besonderen genialen Moment festgestellt hat: „Wir wis- sen bisweilen nicht, wonach wir suchen, bis wir es schließlich gefunden haben.“ – Ich denke, im Alltag dürften wir dies alle schon einmal, wenngleich wohl eher praktisch, erfahren haben.

III. Das Engagement der VolkswagenStiftung für Wissenschaft und Technik in Forschung und Lehre

Forscherinnen und Forscher dabei zu unterstützen, Grenzen zu überschreiten, Neu- land zu erschließen und Außergewöhnliches zu erproben, gehört zu den wichtigsten Signaturen der Fördertätigkeit der VolkswagenStiftung. Anders als die großen, öffent- lich finanzierten Forschungsorganisationen (wie etwa DFG und MPG) kommt dabei der Förderung der Geistes- und Sozialwissenschaften eine überproportional hohe Bedeutung zu (ca. 30 bis 40 Prozent statt ansonsten etwa 15 Prozent). Neben indivi- duellen Fördermöglichkeiten, die sich in Initiativen wie den Freigeist-Fellowships, den Lichtenberg-Professuren, aber auch in den Freistellungen von Professorinnen und

(9)

Professoren im Rahmen von „opus magnum“ manifestieren, verfügt die Stiftung auch über breit angelegte Initiativen projektförmiger Förderung. Im Bereich von Wissen- schaft und Kunst sind dies beispielsweise „Forschung in Museen“ und verschiedene andere Aktivitäten, so beispielsweise schon in der übernächsten Woche ein Work- shop zu „Kunst und Wissenschaft in Bewegung“.

Anders als ihr Name vermuten lässt, ist die VolkswagenStiftung keine Unterneh- mensstiftung. Sie ist die bei weitem größte deutsche wissenschaftsfördernde Stiftung mit einem jährlichen Fördervolumen von etwa 160 Mio. Euro und mit einem Stif- tungsvermögen, das zum einen aus 3 Milliarden Euro, die wir selbst anzulegen ha- ben, und zum anderen aus einem Anteil von rund 30 Mio. Aktien an Volkswagen be- steht (für die das Land die Stimmrechte ausübt und die Stiftung die Dividende erhält), kann sie autonom und autark die Wissenschaft fördern und damit zugleich sicherstel- len, dass sowohl im Rahmen des „Niedersächsischen Vorab“ als auch in der „Allge- meinen Förderung“ herausragende Forscherinnen und Forscher eine wichtige För- derinstitution zur Verfügung haben.

Ein ganz zentraler Baustein der Fördertätigkeit der Stiftung ist das Programm „Sym- posien und Sommerschulen“, mit dem auch schon vor der Fertigstellung von Schloss Herrenhausen die Stiftung etwa 60 bis 70 Veranstaltungen im Jahr – seinerzeit frei- lich verteilt über ganz Deutschland – gefördert hat und weiterhin fördert.

IV. Tradition und Innovation: Der Wiederaufbau von Schloss Herrenhausen

Schloss Herrenhausen wurde in der Zeit der Personalunion 1820/21 von Georg Friedrich Laves im klassizistischen Stil umgebaut, damit Georg IV. den Sommer am Stammsitz seiner Vorfahren verbringen konnte. Im Oktober 1943 wurde es durch ei- nen Bombenangriff zerstört. Noch bis in die 1960er Jahre bildete es ein Trümmerfeld inmitten der Herrenhäuser Gärten.

Pläne, das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Schloss Herrenhausen wiederaufzubauen, hat es seit Kriegsende immer wieder gegeben. Dass sich die 2007 geborene Idee, das Schloss als wissenschaftliches Tagungszentrum und Museum wieder zu errich- ten, tatsächlich umsetzen ließ, ist vielen Akteuren zu verdanken: u. a. dem Rat und dem damaligen Oberbürgermeister der Stadt Hannover, aber auch dem Kuratorium der VolkswagenStiftung, das im November 2007 einen entsprechenden Grundsatz- beschluss fasste. Die Umsetzung dieses Beschlusses erfolgte in einem für ein so

(10)

großes Vorhaben raschen Tempo. Als Meilensteine seien im Telegrammstil genannt:

die europaweite Ausschreibung der Grundstücksvergabe durch die Stadt Hannover im Oktober 2008; die Entscheidung des Rats über den Zuschlag im Vergabeverfah- ren im Juni 2009; die Ausschreibung des Architektenwettbewerbs im Winter 2009;

der Beginn der Bauarbeiten im Frühjahr 2011 und schließlich die Eröffnungsfeier am 18. Januar 2013.

Die Rekonstruktion im Kriege zerstörter Bauten stößt in Öffentlichkeit und Fachkrei- sen nicht überall auf einhellige Zustimmung (bisweilen ist gar vom „wilden Rekon- struktistan“ die Rede). Beim Wiederaufbau von Schloss Herrenhausen ging es je- doch nicht allein darum, eine schöne Fassade wieder zu errichten. Mit dem Schloss wurde nicht nur den berühmten Herrenhäuser Gärten ihr zentraler architektonischer Bezugspunkt zurückgegeben. Mit der Wiedererrichtung als wissenschaftliches Ta- gungszentrum und Museum sollte das Schloss vor allem zu einem Ort werden, an dem der so oft beschworene „Geist von Herrenhausen“ erlebt und neu belebt werden kann, indem wir an die Tradition der gelehrten Kommunikation um 1700 anknüpfen sowie Innovation und Internationalität vorantreiben.

Durch die Ausstellungen in den beiden Museumsflügeln wird die große Tradition die- ses Ortes – verkörpert durch Kurfürstin Sophie und nicht zuletzt durch den Univer- salgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz – gewürdigt, durch die wissenschaftlichen Konferenzen, Symposien und Workshops im Tagungszentrum wird sie für Gegen- wart und Zukunft lebendig gehalten.

Seit der Wiedereröffnung des Schlosses 2013 führt die Stiftung hier an jährlich gut 100 Tagen Veranstaltungen durch, die international führende Forscherinnen und Forscher zu kreativem wissenschaftlichem Diskurs inspirieren und auch ‒ zumeist in Abendveranstaltungen ‒ die interessierte Öffentlichkeit für aktuelle wissenschaftliche Fragestellungen und das Bewältigen neuer gesellschaftlicher Herausforderungen begeistern.

Bei den wissenschaftlichen Veranstaltungen handelt es sich zum einen um Konfe- renzen und Symposien, die ohnehin von der Stiftung gefördert werden und nun nicht mehr über die Bundesrepublik verstreut, sondern in Hannover stattfinden. Zum ande- ren hat die Stiftung die sogenannten „Herrenhäuser Konferenzen“ in ihr Veranstal- tungsportfolio aufgenommen, mit denen international vielfach beachtete Impulse für

(11)

neue Forschungsthemen und -richtungen gesetzt werden sollen. Diese Konferenzen sollen künftig in einem Ideenwettbewerb ausgelobt werden.

Doch das Tagungszentrum in Schloss Herrenhausen dient nicht nur dem Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sondern auch zwischen Bür- gerinnen und Bürgern und der Wissenschaft. Gerade weil sich heute alles so schnell verändert, ist es unverzichtbar, möglichst viele Bürger an den Prozessen und Resul- taten moderner Forschung und Entwicklung teilhaben zu lassen. Andernfalls läuft man Gefahr, dass Angst und Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnis- fortschritten die Oberhand gewinnen. Mit den „Herrenhäuser Gesprächen“ und den

„Herrenhäuser Foren“ ermöglichen wir den frühzeitigen Dialog zwischen Wissen- schaft und Öffentlichkeit. Bei diesen Veranstaltungen können durch vorbeugendes Nachdenken Risiken und Gefahren in einer sich rasant wandelnden Wissenschafts- gesellschaft und neue Gestaltungsoptionen erörtert werden.

Die philosophische Aura und geistige Tradition von Herrenhausen wird sich, so hof- fen wir, bei den Veranstaltungen im neuen Tagungszentrum auf anregende Weise mit einer zukunftsorientierten, intellektuell anspruchsvollen Diskurskultur verbinden, die ihre Strahlkraft weit über Niedersachsen hinaus zu entfalten vermag. Kurzum: Wir wollen hier auf die Vergangenheit bauen, um die Zukunft zu gestalten.

V. Schlussbetrachtungen

Für jeden, der sich daran beteiligen will, aktiv die Zukunft zu gestalten, gehören der Blick zurück und der Blick nach vorn untrennbar zusammen. Der weithin vorherr- schenden Geschichtsvergessenheit ebenso wie dem hemmungslosen Fortschritts- glauben können wir letztlich nur erfolgreich entgegenwirken, wenn wir bereit sind, das Spannungsfeld zwischen Innovation und Tradition immer wieder neu auszu- leuchten und neue Sichtachsen zu schaffen. Dazu gehört insbesondere auch das inter- und transdisziplinäre Agieren in der Forschung. Dass dies noch keineswegs selbstverständlich geworden ist, sondern meistens nur reklamiert wird, zeigt sich im- mer wieder, wenn es gilt, eine integrative Perspektive zu entwickeln. Auch das fol- gende Beispiel einer Radwandergruppe verdeutlicht, dass nur allzu oft das Heil in der Anwendung der jeweils eigenen Methoden gesucht wird.

Dabei können bisweilen durchaus die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften den anderen Disziplinen einiges voraushaben: Eine wahrhaft interdisziplinär zusammen-

(12)

gesetzte Radwandergruppe, die einen Mathematiker, einen Experimentalphysiker und einen Geisteswissenschaftler dabei hat, kommt in einen Ort, in dessen Mittel- punkt – wie das meistens so ist – eine Kirche steht. Sie geraten in einen Disput dar- über, wie hoch wohl der Kirchturm sei. Da sich dies – ohne heutige Internetrecherche qua Smartphone – nicht so einfach entscheiden lässt, versucht jeder auf seine Weise herauszufinden, wer Recht hat. Der Mathematiker entfernt sich 20 Meter weit, misst den Winkel und errechnet anschließend die Höhe. Der Experimentalphysiker – of- fenbar der sportlichste von allen – klettert bis zur Spitze des Kirchturms hoch, lässt einen Stein herunterfallen und misst die Zeit, die der Stein unterwegs gewesen ist, um daraus die Höhe zu errechnen (ob mit oder ohne Taschenrechner ist nicht über- liefert). Da wundert es vermutlich kaum noch jemanden, dass der Geisteswissen- schaftler als erster die Lösung präsentiert. Nur wie hat er das geschafft? Nun, letzt- lich ganz einfach durch ein Experteninterview. Er hat nämlich beim nahe gelegenen Pfarrhaus geklingelt und den Pfarrer gefragt hat.

Kommunikation kann also nicht nur – im Sinne von Christa Wolf – Lebenslinien mit- einander verbinden, sondern vor allem auch neue Erkenntnisse bringen. Damit dies heute Abend nicht länger im klassischen Sender-Empfänger-Modell fortgesetzt wer- den muss, sondern in fröhliche Interaktion übergehen kann, komme ich jetzt zum Schluss und wünsche Ihnen weiterhin vergnügliche, die Verbindungen zwischen Ihnen vertiefende Gespräche und gratuliere Ihnen noch einmal ganz herzlich zum heutigen Jubiläum. Zugleich wünsche ich Ihnen für Ihr enorm wichtiges gesellschaft- liches Wirken weiterhin viel Erfolg und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Das übergeordnete Ziel ist es, eine gemeinsame Plattform für die Zukunft eines Themas (z.B. „Kinder in Deutschland“) oder die Zukunft einer Organisation (z.B. „Die Rolle

Heute wird das Denken und Han- deln tschechischer Politiker teilweise immer noch von der Nachkriegs- geschichte und durch die Auswirkun- gen der Dekrete des Präsidenten Beneö aus

Davon ausgehend, dass Szenario 1 weiterhin umgesetzt werden soll, wird daher präferiert, dass die unterweisende Person HMD und Bildschirm zur Anzeige nutzt, während die

Verwende dabei eine passende Zeitform

Ergänze eine passende Zeitangabe aus dem Kasten.. Achte dabei auf die Zeitform

Design ist ein Objekt oder eine Dienstleistung?.

• Begabtenförderung soll in differenzierter Weise den individuellen besonderen Begabungen gerecht werden, sowohl durch äußere Differenzierung nach Schularten und Bildungsgängen

9 Beschränkt sich die Ausübung einer Dienstbarkeit (etwa eines Wegrechts, eines Baurechts oder eines Bauverbots) auf einen Teil eines Grundstücks und ist die örtliche Lage im