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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 AULA - Manuskriptdienst. Wie mit Schuld umgehen? - Ein Rückblick auf die Wende

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SÜDWESTRUNDFUNK

SWR2 AULA - Manuskriptdienst

„Wie mit Schuld umgehen? - Ein Rückblick auf die Wende“

Autor und Sprecher: Professor Klaus Michael Kodalle * Redaktion: Ralf Caspary

Sendung: Sonntag, 2. August 2009, 08.30 Uhr, SWR2

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Bitte beachten Sie:

Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

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Ansage:

Heute mit dem Thema: „Wie mit Schuld umgehen? - Ein moralischer Exkurs über Täter und Mitläufer in der ehemaligen DDR“.

Wie soll man umgehen mit dem DDR-Unrecht, mit den Stasi-Mitarbeitern und den Funktionären, die ein ganzes Volk eingesperrt und bespitzelt haben? Bei dieser Frage geht es nicht nur um justiziable Dinge, um strafrechtliche Aspekte, es geht vor allem auch um moralisch-ethische, es geht um die Frage, kann man verzeihen, vergeben, ohne die Täter und deren Taten auf irgendeine Weise zu verharmlosen?

Diese Aspekte behandelt in der SWR2 Aula Klaus Michael Kodalle, emeritierter Professor der Universität Jena, Philosoph mit Schwerpunkt Ethik. Er kam nach der Wende als Wessi nach Jena, und traf auf eine Stimmung zwischen DDR-Nostalgie und dem rigiden Ruf nach Bestrafung der Täter. In dieser Stimmung hielt er

provokanterweise eine Antrittsvorlesung zum Thema: „Vergeben und Verzeihen“.

In der SWR2 AULA fasst er die wichtigen Aspekte dieser Vorlesung zusammen:

Klaus Michael Kodalle:

Als ich, von Hamburg kommend, 1992 meine Tätigkeit als Philosophieprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena aufnahm, war die Atmosphäre noch durchzittert von Schuldvorwürfen, Abwehrgesten, Bitterkeit, unglaublichen Verharmlosungen der Verletzung individueller Biographien, von Ressentiments und von Larmoyanz sowie von der Rechthaberei der Gestrigen, die - wenn sie nur geschickt waren - ökonomisch bald wieder Oberwasser hatten.

Das öffentliche und private Klima in der ost-deutschen Gesellschaft war noch sehr stark von den Spannungen zwischen Tätern und Opfern geprägt, von den immer wieder noch neu hochkommenden Entdeckungen niederträchtiger Zersetzungspraktiken einerseits und einem „Abtauchen“, Verharmlosen von Schuld seitens der Großtäter andererseits.

Die Millionen Mitläufer hielten sich bedeckt, und allmählich erst formierte sich ein ost- deutsches Wir-Bewusstsein.

Dazu trug natürlich von westlicher Seite eine sensationslüsterne Aufarbeitung der fremden DDR-Vergangenheit bei, die im Brustton der eigenen Unangefochtenheit die Pathologien des real existierenden Sozialismus genüsslich und hypermoralisch zugleich freilegte, ohne auch nur im geringsten die eigenen Verwicklungen in die

Verharmlosungsprozesse des politisch Verwerflichen mitzureflektieren. Und Tausende westlicher IMs sind bis heute kein Thema. Die großartigen Manifestationen von Mut und Zivilcourage in den gefährlichen Wirren von '89 wurden in der veröffentlichten Meinung viel schwächer ausgeleuchtet und gewürdigt als die Zeugnisse von Gemeinheit,

Niedertracht und Mitläuferfeigheit. Angesichts dieser „Lage“ widmete ich mich 1993 in meiner Jenaer Antrittsvorlesung dem Thema „Verzeihung nach Wendezeiten? Über Unnachsichtigkeit und misslingende Selbst-Entschuldung“ (Erlangen/Jena 1994).

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Mit endlicher Freiheit sind unweigerlich Erfahrungen des Versagens und der Selbstverfehlung verbunden; häufig genug werden dabei andere geschädigt.

Irrtum und illusionäre Optionen gehören mithin zum menschlichen Dasein.

Konfrontiert mit eigenen Fehlgriffen und ihren Folgen steht die Selbst-Achtung auf dem Spiel. Das Geschehen lässt sich nicht aus der Welt schaffen und nur in den seltensten Fällen „wiedergutmachen“. Wie stelle ich mich also eigener Schuld?

Vor wem habe ich mich zu rechtfertigen? Wie werde ich Schuld womöglich los?“

Bezogen auf das Politische, auf die Öffentliche Meinung, hat sich der Wind gedreht. Die Stimmen der Opfer und ihrer Sprecher sind immer leiser geworden, und in den letzten Jahren erleben wir zwar - national und international - geradezu eine Lawine von

öffentlichen Entschuldigungen, aber auch eine verstärkte Selbstbehauptung der Täter, die sich der Rechtsmittel des Rechtsstaates, den sie einst bekämpften, bedienen („Persönlichkeitsschutz“), um den Opfern zu untersagen, dass diese die nachweisliche Rolle jener Zeitgenossen im SED-Staat und in dessen MfS öffentlich benennen.

In den folgenden Beobachtungen spiegeln sich die „konjunkturellen“ Schwankungen in der Wahrnehmung und Beurteilung von Schuld und Verantwortlichkeit. Die moralische Beurteilung der einzelnen Vorgänge seitens des hier Redenden mag aufgrund von Andeutungen und Rückfragen oftmals erahnbar sein, wird aber jedenfalls nur

zurückhaltend artikuliert, um das eigene Urteil der Hörer nicht zu stark zu präjudizieren.

Die Staatskriminalität der DDR im rechtsstaatlichen Zugriff

Das Strafrecht des Rechtsstaates thematisiert nur die persönliche Schuld; die

„Staatskriminalität“ eines undemokratischen Regimes, die alle Ebenen des

gesellschaftlichen Lebens durchdrang, ist mit den Mitteln des Rechtsstaates nicht zu sanktionieren. Zur Verdeutlichung muss man ja nur auf die - nach Hobbes und Kant - fundamentalste Dimension der Freiheit: die äußere Bewegungsfreiheit zurückgehen, um sich klar zu machen, welches Unrecht in der millionenfachen Behinderung der

Freizügigkeit von DDR-Bürgern in diesem Staat auf Dauer gestellt war - und wie wenig es gelingen kann, diese Verletzung eines Grundrechts als Straftatbestand zu

qualifizieren und zu ahnden. Hält sich der Rechtsstaat aber an seine eigenen Regeln („Rückwirkungsverbot“!) und verfolgt er nur solche Taten und Verhaltensweisen, die auch nach DDR-Recht strafbar waren, so wird jede seiner Handlungen und jedes Urteil kollidieren mit dem vorgängigen Rechtsempfinden in der Bevölkerung, der die jeweils ausgesprochenen Strafen (oder Verfahrenseinstellungen!) wie ein Hohn auf

hunderttausendfach erlittenes Unrecht erscheinen müssen. Kein Wunder, dass nach der Einstellung des Honecker-Prozesses die Berliner Justizsenatorin mit einer Unmenge von Briefen eingedeckt wurde, in denen sich Wut und Empörung artikulierten. Das Handeln des Rechtsstaats ist mithin für viele Bürger, die ihn bislang nicht kannten, gelinde gesagt enttäuschend. Ihnen fällt es auch schwer, sich damit abzufinden, dass das Strafrecht nur Straftaten erfassen kann, die Einzelpersonen zuzurechnen sind, dass also einer kollektiven Schuld auf diesem Wege nicht beizukommen ist.

Wird - was in gewisser Weise auch wiederum unvermeidlich ist - das Strafrecht dennoch auf bestimmte Tatbestände der DDR-Vergangenheit angewandt, so kommt es nicht selten zu unerlässlichen Umdefinitionen, die den vom Unrecht Betroffenen wie

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absichtsvolle Verharmlosung erscheinen müssen: so werden die illegalen

Wohnungsdurchsuchungen nunmehr als „Hausfriedensbruch“ qualifiziert und das Abhören von Telefongesprächen als „Amtsanmaßung“.

Politiker, die der strafrechtlichen Behandlung des DDR-Unrechts ein Ende setzen wollten, hielten es für abwegig, beides zugleich zu wollen: den gesellschaftlichen Frieden unter den neuen Bedingungen des vereinten Deutschland zu sichern und die Auseinandersetzung mit den Vergangenheiten der Bundesrepublik und der DDR zu betreiben. Das Beste wäre es - dieser Ansicht zufolge -, man fragte im öffentlichen Diskurs nicht länger nach den Vergangenheiten mit ihren individuellen Biographien und überließe dieses Unternehmen den Wissenschaftlern.

Man befürchtete schon damals, dass in Ostdeutschland eine auf Trotz basierende Abwehrhaltung entstehen könnte. Im Übrigen habe in der DDR eine Standhaftigkeit, die nicht den diversen Anpassungsversuchungen nachzugeben gewillt war, an „moralischen Heroismus“ gegrenzt - und diese ethische Haltung sei höchst ehrenwert, aber sei nun einmal nicht „als Moral des Durchschnittsmenschen“ zu unterstellen.

Staatsräson: der Wille zum Schlussstrich

Die deutsche Situation der Vereinigung zweier unterschiedlicher Politik-, Rechts- und Wirtschaftssysteme könnte mithin als Herausforderung des Staates angesehen werden,

„Verantwortliche“ des überwundenen Systems, politische Feinde im Vollsinne des Wortes, oder doch bestimmte Tätergruppen „minderen“ Ranges straffrei zu stellen - um des lieben Friedens willen. In der Tat haben Bundesjustizministerium und

Regierungsfraktionen am 11. September 1990 den „Entwurf eines Gesetzes über Straffreiheit bei Straftaten des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit“ vorgelegt. Die Initiative scheiterte an der von ihr ausgelösten Welle der Empörung. Gerade weil die Bürger der DDR in ihrer friedlichen Revolution auf eine gewalttätige Abrechnung mit den Repräsentanten des Regimes verzichtet und sich auf eine rechtsstaatliche Sühnung der Staatsverbrechen verlassen hatten, konnten oder wollten sie, vor allem sofern sie Opfer waren, das Vorhaben einer Amnestie nicht billigen. Die Erinnerungen an erlittenes Unrecht waren noch zu frisch.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hat 2009 übrigens bestätigt, dass er und Kanzler Kohl ursprünglich die Absicht hatten, die Stasi-Akten zu vernichten, um auf diese Weise dezidiert einen Schlussstrich unter die Diktaturzeit zu ziehen und den Übergang zur neuen Ordnung der Demokratie zu erleichtern.

Zur Erinnerung: Insgesamt haben zwischen 1950 und 1989 mehr als 600.000 Menschen für das MfS als Inoffizielle Mitarbeiter gearbeitet; 1950 waren es erst 5.200, 1989

immerhin 173.000 (in der Bundesrepublik eingesetzt 3.000). Nur die Hälfte von ihnen waren SED-Mitglieder. Untersuchungen lassen erkennen, dass bei denen, die sich verpflichteten, „ideelle“ Motive gegenüber den materiellen überwogen. Circa 90.000 hauptamtliche Mitarbeiter hat es zu DDR-Zeiten gegeben; die Hälfte davon agierte in Berlin.

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„Gnade vor Recht“ oder „Gnade nach Recht“?

Die Hinweise zum Amnestie-Problem verführen zu einer grundsätzlichen

(hegelianischen) Anmerkung zum Strafverfahren im Rechtsstaat. Wie wenig es um Rache oder Sühne geht, lässt sich mit der These verdeutlichen, die eigentliche Schmach für einen Angeklagten mit Ehrgefühl sei es, von einem rechtsstaatlich

waltenden Gericht öffentlich schuldig gesprochen zu werden. Der weitergehende reale Strafvollzug mag (mit durchaus guten Gründen) als unerlässlich angesehen werden, sei aber gegenüber jenem öffentlichen Akt der Gerichtsbarkeit sekundär. Man wird mithin in der Regel der Formel „Gnade vor Recht“ dann, wenn Standards des öffentlichen Ethos auf dem Spiel stehen, nicht zustimmen können, sondern der Geist der Verzeihung könnte sich angemessen artikulieren in der Formel „Gnade nach Recht“. - Im privaten Verkehr ist das anders: ob ich, nachdem ich von jemandem in meinen Rechten / in meiner Würde verletzt worden bin, das Gericht anrufe (was „mein gutes Recht“ ist!) oder Nachsicht übe, ist eine Frage meiner Stärke, meiner Souveränität, meiner Einschätzung des anderen (Wiederholungsgefahr!) und der Situation. Hier mag „Gnade vor Recht“

angebracht sein. Vieles hängt auch davon ab, ob ich dem anderen jene Sensibilität unterstellen kann, dass er daraus die richtigen Schlüsse zieht, also nicht hochrechnet:

„ach, dann war’s ja nur halb so schlimm“ - und sich alsbald die nächste kleine Schweinerei leistet.

Die Umstände und die Freiheit der Wahl - eine Grundsatzüberlegung

Zuweilen wird in Debatten der Eindruck hervorgerufen, es lasse sich mit Rücksicht auf die Umstände quasi-objektiv feststellen, ob ein Mensch in einer bestimmten Situation die Freiheit der Wahl hatte oder nicht. Entsprechend kann man sich die Beschreibung der politischen Umstände vorstellen, in denen doch der arme Einzelne gar keine Wahl hatte.

Aber eine solche eindeutige Feststellung von Spielräumen ist selber nur das Produkt einer Strategie der Selbst-Entschuldung / Selbst-Entschuldigung. Tatsächlich verhält es sich doch ganz anders: Mit jenem Satz „er hatte doch gar keine andere Wahl!“ drücken wir eben unsere Bereitschaft aus, die Tat eines anderen (oder die Unterlassung) zu entschuldigen. Wir erleichtern dem anderen Menschen den Druck seiner

Verantwortlichkeit. Unsere Rede über Freiheit und moralische Verantwortlichkeit bewegt sich also gar nicht auf der Ebene von empirischen Faktenfeststellungen, sondern sie ist abhängig von unserem Urteil über Fakten, das wir im Lichte einer variablen Bereitschaft zur Verzeihung fällen. Ob jemand „eine Wahl hatte“ oder nicht, ist mithin selbst eine moralische Frage. Sobald wir jemanden - um es anders zu wenden - einer verwerflichen Tat bezichtigen und ihn eventuell verurteilen, so besagt dies, dass wir uns von keinen glaubwürdigen Gründen für Entschuldigungen zu überzeugen vermochten. Wenn wir in kommunikativen Verhältnissen darauf bestehen, dass hier doch Freiheit vorliege, so zeigt das an, dass es uns an Gründen - oder an Bereitschaft - mangelt, den

Betreffenden zu entschuldigen. Zuerst also müssen wir erkunden, ob es

Entschuldigungsgründe gibt, und dann können wir uns zu einem Urteil herbeilassen, ob X „eine Wahl hatte“ oder nicht. - Stellen Sie sich wirklich eine extreme Zwangssituation (zum Beispiel der Erpressung) vor: man wird stets gute Gründe finden, um die

Behauptung aufrecht zu erhalten, X habe noch in dieser Situation Handlungsalternativen gehabt, und man wird andererseits überzeugende Gründe anführen können, inwiefern er keine Wahl hatte. Die Entscheidung fällt allein auf der Ebene der

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Verzeihungsbereitschaft. Darin spiegelt sich unsere Wahrnehmung der conditio humana. Demgegenüber ist es eben höchst aufschlussreich, wenn bezüglich des gleichen Vorgangs ein Agent sich selbst rechtfertigt mit dem Entlastungshinweis, er habe doch gar keine Wahl gehabt. Sofort lassen wir alle Alternativen Revue passieren, die er auch unter den schlimmsten Bedingungen noch stets hätte ergreifen können...

Immer hängt es davon ab, wie viel Aufmerksamkeit, Sensibilität, Weitsichtigkeit, Leidensbereitschaft wir von einer Person erwarten oder erwarten dürfen. Und dieser Erwartungshorizont ist natürlich selbst geschichtlichen Veränderungen unterworfen.

Selbst-Kollektivierung und Selbst-Entlastung

Unverzeihlich ist jene Flucht aus der Verantwortlichkeit, die in der freiwilligen

„Kollektivierung“ des eigenen Selbst besteht. Das Kollektiv kennt weder Scham noch Reue. Die Masse ist verantwortungslos. Erst wenn sie nach der Katastrophe ihrer Visionen in alle Winde auseinanderstiebt, macht sich bei den einzelnen, die sich still verdrücken, Verlegenheit breit, vielleicht mit einer leichten Einflechtung von Trotz, wie er bei ertappten Kindern anzutreffen ist. Ein Subjekt der Taten, das zur Verantwortung zu ziehen wäre, ist nicht mehr greifbar. Die Folgen der Taten bleiben insofern ungesühnt.

Wer sich - im Wahn, einer guten Sache zu dienen - in die Gefahr der Teilnahme an der Vermassung begibt, kommt darin um: Bereits diese Bereitschaft ist verwerflich und kann selbstverständlich durch keinen Hinweis auf eine gute Absicht oder gar die erzielten

„guten“ Ergebnisse kompensiert werden. Der Schritt in die Selbstentmündigung ist unverzeihlich. Dass sie sich nicht scheuten, diesen Schritt als angeblich mündige Bürger (womöglich in „emanzipatorischer“ Absicht) vollzogen zu haben, bezahlen die einzelnen mit einem Trauma, das sich nicht selten als post-utopischer Zynismus bemerkbar macht.

Zwischen billiger Selbstentschuldung und arroganter Hypermoral

Es gibt auch so etwas wie leichtfertige Vergebung. Staatsbürger, die das politische Ethos des Gemeinwesens mitprägen bzw. die es nicht verschlampen lassen wollen, werden auch im Kontext einer Kultur der Nachsichtigkeit unmissverständlich von Schuld reden, vor allem Klartext gegenüber denen, die auf billige Weise die Selbstentschuldung erschleichen möchten, indem sie die Konfrontation mit sich selbst tunlichst vermeiden.

Eine kritische Würdigung ist auch jenen westdeutschen Gesprächspartnern zuzumuten, die sich aus größter Distanz, scheinbar unangefochten, für Nachsicht im politischen Kontext stark machen. Viele sind im Hinblick auf die Verantwortungsspielräume des gewissenhaften Einzelnen in der Diktatur bereit, die Zurechnung von Handlungsfolgen, die eindeutig schuldhafte Verstrickung dokumentieren, großzügig zu minimieren. Hinter dieser Einstellung verbirgt sich weniger eine wohlüberlegte Konzeption des

gesellschaftlichen Pardons - „Gnade statt Recht“ oder „Gnade nach Recht“ -, sondern im Grunde eine Nachsicht, die man sich indirekt selbst zubilligt - in der durchaus ehrlichen Einräumung „womöglich hätte ich ja unter diesen gesellschaftspolitischen Umständen auch nicht anders gehandelt“. Bereits die abstrakte Vorstellung, man könnte einmal in die Position der radikalen Nonkonformität geraten, führt hier zum Abwurf des

Gewissensballastes. Man traut sich nicht selber zu, eine Grenzsituation der Versuchung, in der womöglich das eigene Leben sogar zu riskieren wäre, bestehen zu können - und so schwindelt man sich die Gleichung zurecht, „in Versuchung geraten“ und „gezwungen

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werden“ sei im Grunde dasselbe. Das aber hieße: in den entscheidenden Situationen ist niemand frei und verantwortlich! Die mit sich zufriedenen „Durchschnittsmenschen“

posaunen es heraus: Nur der Heilige könne der Versuchung widerstehen. „Wir sind ja alle gleichermaßen schlecht. Und schuld sind die geschichtlichen Bedingungen und Prozesse, die sich doch auch ohne unsere Beteiligung so oder so vollzogen hätten.“

Demgegenüber ist zu insistieren: wer ein Unrecht Unrecht nennt, bringt damit

keineswegs zum Ausdruck, er sei gefeit dagegen, ein ebensolches Unrecht zu begehen.

Das hielte wohl zur Demut an, nicht jedoch - was man viel häufiger antrifft - zur Gleichgültigkeit gegenüber den Erfahrungen von Opfern und Tätern.

Richtig bleibt, dass es gerade in Kontexten des Umgangs mit Schuld so elementar wichtig ist, sich als Unbetroffener nicht aufs hohe Ross zu setzen, sondern sich auch angesichts der schlimmsten Vergehen zu fragen, ob man denn wohl - in ähnlicher

Bedrängnis - nicht auch schwach und angepasst sich verhalten hätte. Sich sozusagen in diese Position eingestandener eigener Anfälligkeit zu begeben, ist sicherlich conditio sine qua non, um eingetretene Verwerfungen und Asymmetrien abzubauen. Die Leute mit dem schlechthin unangefochten guten Gewissen sind ja in ihrem Hypermoralismus ungenießbar. Aber: die Gefahr, die genau darin lauert, ist, dass man, weil man sich selbst nichts an Standfestigkeit zutraut, mithin wenig Achtung für die eigene Würde empfindet, dann auch die Standards besonders niedrig hängt und zu einer leichtfertig- großzügigen Nonchalance „Vergeben und Vergessen“ neigt.

Allerdings ist nachdrücklich hervorzuheben: Das Eingeständnis eigenen Versagens vor sich und anderen ist auf ein bestimmtes Klima der Nachsicht, ja: des Vertrauens auf die zumindest mögliche Vergebung angewiesen.

Vaclav Havel und Christoph Hein: Vergessen, was unverzeihlich ist

Als man Präsident Vaclav Havel in bedrückter Stimmung nach der Lektüre seiner Akte des tschechoslowakischen Staatssicherheitsdienstes antraf, gab er auf die Frage, was er zu tun gedenke, die folgende Antwort: „Ich hoffe, ich habe es bereits vergessen. Es ist das gute Recht der Betroffenen, eben das zu vergessen, was nicht zu verzeihen ist.“

Der ostdeutsche Schriftsteller Christoph Hein zog aus diesen Worten eine existentielle Folgerung für sich, denn er merkt an: „Diese Sätze haben mir persönlich geholfen. Ich war unschlüssig, ob ich meine Akte sehen will, denn bislang wusste ich nicht, was ich mit dem dort Erfahrenen beginnen, wie ich mit diesen Information leben sollte. Nun werde ich den Antrag auf Einsicht stellen, damit ich weiß, was ich bislang nur ahnte oder bruchstückweise wahrnehmen konnte. Ich will in die Akte blicken, um es zu wissen und um es zu vergessen.“ Auch Hein weiß natürlich, dass es seltsam klingt, etwas eigens wissen zu wollen, um es zu vergessen. Gerade was man unbedingt vergessen möchte, prägt sich wahrscheinlich um so tiefer dem Gedächtnis ein. Der Wille, zu vergessen, ist paradox, denn je stärker der Wille sich innerlich bekundet, desto präsenter ist ja das, was als ein Grund des Ärgernisses gerade nicht mehr präsent sein soll. Aber die Einsicht Havels bleibt darum doch beachtlich: Wenn es entweder keine Instanz mehr gibt, der wir die Verzeihung des Bösen anheim stellen oder wenn es sich um

Verhaltensweisen handelt, die wir für schlechthin unverzeihlich halten, bleibt nur die Hoffnung auf das allmähliche Vergessen.

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Praktizierte Verzeihung: Pastor Holmer und Peter Bohley

Nur wenige erinnern sich noch jenes Pastors Holmer, der - mit seiner großen Familie in DDR-Zeiten auf vielfache Weise drangsaliert und in seinen Rechten verletzt - Margot und Erich Honecker in seinem Pfarrhaus Unterkunft bot und täglich mit ihnen speiste - zu einem Zeitpunkt, als die befreiten Massen der DDR dem Sündenbock-Mechanismus huldigten und keine Gnade für den einst Bejubelten kannten.

Die ernsthafte Nachsicht, von der hier die Rede ist, findet sich häufiger, um den falschen Ton der Selbstgerechtigkeit zu vermeiden, in indirekten Manifestationen - z. B. in Form von Faktenfeststellungen, die in Wirklichkeit von diesem Geist der Verzeihung

durchdrungen sind. So schreibt ein Wissenschaftler aus Halle, dem man übel mitgespielt hat (Berufsverbot): „In irgendeiner Form mussten alle sich anpassen an diese

besondere Art von Diktatur, ich kenne da keine Ausnahme, meine Brüder und mich betraf das wie alle anderen.“ „Der Grad der Anpassung war jedoch sehr

unterschiedlich.“ Auch der Wille zur Differenzierung, die Abwehr pauschalisierender Rede kann den Geist einer gewissen Nachsicht repräsentieren, wenn der, der so redet, selbst ein Opfer der Nachstellungen gewesen ist. Imponierend, wenn so einer dann, die eigene Bitternis nicht verdrängend, äußert: „Wir sollten uns auch daran erinnern, dass jeder Mensch sich mit dem Machtzuwachs notwendig verändert, und dass er der einzige sein kann, der diese Veränderung nicht bemerkt.“

Ein beeindruckendes Dokument der Selbst-Klärung: Fritz J. Raddatz

Lange nach der Wende, im weit fortgeschrittenen Alter, hat Fritz J. Raddatz, der einst Feuilletonchef der Wochenzeitung DIE ZEIT war, im Jahr 2007 die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sein „Versagen als Bürger der DDR“ gerichtet. Die späte politische Gewissensprüfung dieses angesehenen Intellektuellen, der sich im juristischen Sinne nichts zu schulden kommen ließ, ist ein imponierendes Zeugnis kompromissloser Aufrichtigkeit. Hätten mehr kleine oder größere Mitläufer des DDR-Systems ähnlichen Mut aufgebracht, wäre es vielleicht zu den diversen Formen einer leichtfertigen DDR- Nostalgie, die den Unrechtscharakter dieses Regimes durch Verharmlosung zum Verschwinden bringt, nicht gekommen.

Was Raddatz sich vorwirft, betrifft keinen konkreten anderen Menschen, den er verletzt hat und dessen Verzeihung er erbitten müsste. Vielmehr geht es um Mitläufer-

Verhaltensweisen, die - solange sie nicht offen und ehrlich ausgesprochen waren - Raddatz sich nicht selbst verzeihen konnte. Die Öffentlichkeit wird zum Medium der Selbstklärung gemacht.

Durch das öffentliche Bekenntnis ist wenigstens die innere Spannung nun gelöst, auch wenn man das Leben nicht noch einmal - strenger mit sich umgehend - leben kann.

Raddatz war Anfang 20, als er, abgestoßen von den restaurativen Tendenzen der Adenauerzeit, 1950 vom Westen in die DDR wechselte und in der dortigen Kulturszene bald als Lektor (schließlich: stellvertretender Cheflektor des Verlags „Volk und Welt“) wahrlich nicht geringen Einfluss gewann - also: zum Kulturestablishment der DDR gehörte, mit den entsprechenden Privilegien und Konformitätszwängen. Er beschreibt

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jene kleinen Erfolge, die im scheinbar mutigen Kampf gegen die bornierte Kulturbürokratie zu erzielen waren und die einem das Gefühl gaben, die eigene Nonkonformität sei noch intakt. Im Rückblick aber wird klar, wie viel Schreckliches zur eigenen Kenntnis gelangte und durch verschiedene Formen des Wegsehens und Weginterpretierens ins Erträgliche gewendet wurde. Man mogelte und trickste, um das Bessere noch zu erreichen. Und auch wenn das gelang - es bleibt doch die späte Einsicht, nur ein „anständiger Lügner“ gewesen zu sein.

„Ich log mir etwas vor.“ „Im hochgemuten Selbstbewusstsein, nicht Mitglied der SED zu sein - ein veritabler „Sonderfall“ für die vergleichsweise hohe Position -, tat ich genau das, was ich Jahre später (und bis heute) den großen Furtwänglers und Gründgens und den kleinen Mitarbeitern am „Reich“ vorgehalten habe: Ich schmuggelte Bücher ins schließlich weitgehend von mir bestimmte Verlagsprogramm und stibitzte mir diesen Lorbeer.“ Heute fragt sich Raddatz: Was war das für ein lächerlicher Mut - angesichts der Menschen aus dem Bekanntenkreis, die in Bautzen oder in Sibirien verschwanden!

Raddatz erzählt, wie der junge Lyriker Horst Bienek in der Theaterkantine des Berliner Ensembles verhaftet wurde - er verschwand für viele Jahre in Sibirien - und sein Chef Brecht protestierte mit keiner Geste - von Helene Weigel und anderen Zeugen der Szene ganz zu schweigen.

Die Selbstanklage des Literaten, der 1958 die DDR wieder verließ, ist schonungslos:

„Ich wurde nicht missbraucht. Ich habe mich selber missbraucht.“ Denn die Exkulpation über die Inanspruchnahme des Nichtwissens funktioniert hier nicht: „Ich wusste - von abgesetzten Stücken, von zurückgezogenen Filmen, von verbotenen Büchern“ aber mehr noch: von dem Leiden und Sterben, von Folter und Hinrichtungen in den Stasi- Gefängnissen. … vom Würge-Elend der Eingekerkerten, der Not, dem Hunger, den Epidemien und dem Tod der Gefangenen des Regimes.“ - „Hätte ich nicht aufschreien müssen?“

Das eigene Verhalten, mit seinen kleinen Siegen über SED-Borniertheit, erscheint in dieser Gewissensprüfung nun als im Grunde lächerliche „Kulissenschieberei“ - „in Anbetracht der Pastorensöhne, die nicht studieren durften, der Liebenden, die zur gegenseitigen Denunziation gezwungen wurden, der zurückgekehrten Juden, die abermals in panische Angst versetzt wurden durch Moskauer Prozesse gegen eine

‚jüdische Ärzteverschwörung’.“

Ich vermute: es war das verharmlosende Verschleifen der moralischen Standards, das Raddatz bei so vielen Prominenten zur Kenntnis nehmen musste, welches ihm den Anlass gab, in dieser Weise Selbstkritik zu üben: Nämlich als Anstiftung zu größerer Ehrlichkeit mit Blick auf die noch Lebenden.

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(10)

* Zum Autor:

Studium der Philosophie, Germanistik und Pädagogik in Köln, 1982 Professor für

Religionsphilosophie und Sozialethik an der Universität Hamburg, seit 1992 ordentlicher Professor für Praktische Philosophie/Ethik an der Schiller-Universität in Jena. Kodalle ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz und Vorsitzender der

„Thüringischen Gesellschaft für Philosophie“. Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Ethik, Religionsphilosophie.

Bücher (Auswahl):

- Verzeihung nach Wendezeiten? Über Unnachsichtigkeit und misslingende Selbst- Entschuldung. Erlangen und Jena.

- Schockierende Fremdheit. Nach-metaphysische Ethik in der Weimarer Wendezeit.

Wien.

- Gott und Politik in den USA (Hrsg). Über den Einfluss des Religiösen. Frankfurt/M.

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