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P 98 - 301 Die deutsch-polnischen Beziehungen: Integrationstheoretische Überlegungen von Wolf-Dieter Eberwein

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P 98 - 301

Die deutsch-polnischen Beziehungen:

Integrationstheoretische Überlegungen von

Wolf-Dieter Eberwein

Mai 1998

Tel: (030) 25 491 564 Fax: (030 25 491 561

e-mail eberwein@medea.wz-berlin.de

Arbeitsgebiet: Internationale Politik Leiter: PD Dr. Wolf-Dieter Eberwein

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Reichpietschufer 50

D - 10785 Berlin

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Zusammenfassung

Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums haben sich die deutsch­

polnischen Beziehungen dramatisch zum Besseren verändert. Das Ziel dieser Arbeit besteht in der Entwicklung eines theoretischen Integrationskonzepts, das für die Analyse der Beziehungen zwischen zwei oder mehr Staatengemeinschaften im allgemeinen, für die deutsch-polnischen Beziehungen im besonderen, geeignet ist. Zwei zentrale Dimensionen der Integration werden identifiziert: die Gemeinschafts-Dimension, die auf der Wertekomplementarität und dem Aufkommen eines “Wir-Gefühls” beruht, und die Gesellschaftsdimension. Letzterer werden staatliche wie nichtstaatliche Akteure zugeordnet. Diese zeichnen sich durch ihre integrative Disposition im Sinne von Werten und Interessen und durch ihr integratives Handeln im Sinne von Interaktionen und Transaktionen aus. Abschließend werden einige zentrale Hypothesen zur Werte- und Interessenkomplementarität formuliert, die zu einem späteren Zeitpunkt anhand der Ergebnisse einer deutsch-polnischen Elitebefragung überprüft werden.

Abstract

German-Polish relations have dramatically changed for the better following the breakdown of the Soviet empire. The aim of the paper is to develop a theoretical concept of integration to study the relationship between two or more communities of states in general, German-Polish relations in particular. Two central dimensions of integration are identified: the community dimension based upon the complementarity of values and the emergence of a "we-feeling”, legitimizing the actions of governmental and nongovernmental actors, and the societal dimension. The latter consists of both governmental and nongovernmental actors. These are characterized by integrative dispositions, values and interests, and integrative activities defined in terms of interactions resp. transactions. Finally, a few central hypotheses on the interest and value complementarity are formulated which will later be tested using the data from a German-Polish elite survey.

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Inhaltsverzeichnis

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1. Integration als praktisches Problem...1

2. Zum Begriff der Integration...4

3. Gewalt, Integration und Sicherheitsgemeinschaften... 6

3.1 Zur ungenügenden Präzision der konflikttheoretischen Dimension...9

3.2 Unterspezifizierung der Integrationsdimension...11

3.3 Unterspezifizierung der Akteursdimension...13

3.4 Schlußfolgerungen... 14

4. Vergesellschaftung der Außenpolitik, Akteure und Interessen ... 15

5. Ausblick für die empirische Analyse... 25

5.1 Zur Definition von Integration... 25

5.2 Vorläufige Hypothesen... 27

5.3 Ausblick... ...29

6. Literatur... ...32

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1. Integration als praktisches Problem1

Mit der Unterzeichnung der deutsch-polnischen Verträge vom 11. November 1990 (Grenzvertrag) und vom 17. Juni 1991 (Freundschaftsvertrag) haben die Regierungen in Bonn und Warschau nicht nur den entscheidenden Durchbruch ihrer bilateralen Beziehungen geschafft, sondern auch eine bis dahin schier unüberwindbare Hürde beseitigt, die der Entwicklung einer umfassenden europäischen Friedensordnung im Wege gestanden hätte. Der Grenzvertrag schreibt die Oder-Neiße-Linie als endgültig fest. Seit ihrem Bestehen hatte sich die Bundesrepublik Deutschland immer wieder geweigert, diese Grenze anzuerkennen. Diese Konstante deutscher Außenpolitik hatte die deutsch-polnischen Beziehungen von Anfang an schwer belastet, eine Spätfolge des von Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieges. Nach der Öffnung der Mauer und noch vor der deutschen Vereinigung sollte sich dieser Zustand drastisch ändern. Bereits am 22. Februar 1990 hatte der polnische Außenminister Skubiszewski auf der Konferenz des deutsch-polnischen Forums in Posen den Begriff der deutsch-polnischen Interessengemeinschaft aus der Taufe gehoben, ein Begriff, der seitdem Karriere gemacht hat (Hajnicz, 1996:18-22). Bereits ein Jahr später ging der damalige polnische Botschafter Reiter (o. J.:10) bei der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrages in Bonn sogar noch einen Schritt weiter: er postulierte eine europäischen Wertegemeinschaft, der seiner Ansicht nach von nun an beide Staaten angehörten.

Dieser grundlegende Wandel (Ziemer, 1996:97) wäre ohne die Überwindung der Ost- West-Spaltung zwar denkbar, praktisch aber unmöglich gewesen. Er steht im direkten Zusammenhang mit der Integration Europas, d. h. der Schaffung einer politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich stabilen Region. So künstlich seinerzeit die Spaltung in Ost und West auch gewesen sein mag, so real sind heute deren Folgen. Das sozioökonomische Gefälle ist groß. Stabile demokratische Systeme sind zwar im

Für ihre kritische Lektüre der Entwürfe dieses Textes und viele wertvolle Anregungen danke ich Matthias Ecker, Catherine Götze und Yasemin Topfu. Die Schwächen in der Analyse gehen alleine zu Lasten des Verfassers.

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Entstehen, doch dieses Ziel ist noch keineswegs erreicht. Dennoch, oder gerade deswegen, sind die Erwartungen sehr hoch, daß Europa, dessen Grenzen alles andere als eindeutig definierbar sind (Buchowski, 1997:137), zu einer Sicherheits- und Wertegemeinschaft zusammenwächst. Zwei wesentliche politische Entscheidungen mit institutionellen Folge Wirkungen2 sind bereits gefallen: sicherheitspolitisch die Erweiterung der NATO, politisch und ökonomisch die Erweiterung der Europäischen Union. Der Ratifikationsprozeß für die Aufnahme der neuen Mitglieder in die NATO ist im Gange, nachdem im Sommer 1997 in Madrid die Entscheidung für die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik gefallen war. Mit sechs Ländern werden jetzt die Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union geführt, nachdem der Ministerrat im Dezember 1997 die entsprechende Entscheidung getroffen hat.

Die Spätfolgen des Kommunismus, die u. a. in dem sozio-ökonomischen Ost-West- Gefalle deutlich werden, erschweren gleichermaßen die bilateralen wie die multilateralen Integrationsprozesse in Europa. In den nachfolgenden theoretischen Überlegungen steht die Integration zwischen Deutschland und Polen im Mittelpunkt, nicht jedoch der multilaterale Integrationsprozeß Europas, der damit eng verknüpft ist.

Ausgangspunkt hierfür ist die postulierte Interessen- und Wertegemeinschaft, die sich, wie eingangs formuliert, die politisch Verantwortlichen in beiden Ländern zum Ziel gesetzt haben. Die nachfolgende Diskussion knüpft an dem von Deutsch et al. (1957) entwickelten Integrationskonzept an. Dieser kommunikationstheoretische Ansatz stellte das Problem der Wertekomplementarität in den Mittelpunkt. In den neofünktionalistischen Ansätzen, etwa von Haas (19971); Lindberg/Scheingold (1971), Puchala (1971, 1981, 1985) oder Schmitter (1996a,b), spielen dagegen gemeinsame Interessen eine - wenn nicht die - zentrale Rolle. ’’Die Theorie der internationalen Integration wurde im Verlauf der siebziger Jahre nur noch thematisiert, um ihr Versagen zu begründen” (Bellers/Häckel, 1990:296). An diesen älteren Theorien anzuknüpfen, erscheint aber dennoch gerechtfertigt, weil Werte und Interessen darin eine so

2 Erwähnt werden muß, daß inzwischen eine ganze Reihe von Institutionen geschaffen worden sind, die alle dem Zwecke der Integration Mittel- und Osteuropas, z. T. einschließlich Rußlands dienen, sei es

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prominente Rolle einnehmen. Der Rückgriff auf diese beiden Ansätze ist aber keineswegs evident. Paradoxerweise scheinen sie auf den ersten Blick ungeeignet. Für Deutsch steht nämlich die eingeschränkte Frage im Vordergrund, wie integrierte pluralistische Sicherheitsgemeinschaft zustande kommen, d. h. Gemeinschaften, die bei der Lösung ihrer Konflikte auf Gewalt verzichten. Die zentrale Problematik der Neofunktionalisten besteht darin, den Prozeß der supranationalen Einigung, d. h. der politische Integration, zu erklären. Im deutsch-polnischen Verhältnis stellt sich aber weder das Problem kriegerischer Auseinandersetzungen, noch streben die Regierungen beider Länder bilaterale supranationale Institutionen an.

Steht also theoretisch das Problem der Integration zwischen zwei oder mehreren Staaten im Mittelpunkt, so geht es empirisch darum, ob die - politisch gewollte - Interessen- und Wertegemeinschaft zwischen Polen und Deutschland tatsächlich besteht oder im Entstehen ist. Die empirische Basis für die Integrationsdisposition im Sinne gemeinsamer Interessen und Werte sind die Ergebnisse der Befragung der deutschen und polnischen Eliten, die in den Monaten Februar und März 1998 parallel in Warschau und Berlin durchgeführt wurde. Sie wird derzeit ausgewertet.

Die nachfolgende Analyse identifiziert zunächst die wesentlichen Elemente des Integrationskonzeptes. Im Anschluß daran wird das Konzept der integrierten Sicherheitsgemeinschaft von Deutsch näher analysiert. Wir gehen dabei von der These aus, daß dieser Ansatz primär konflikttheoretisch relevant ist, aus integra­

tionstheoretischer Sicht dagegen nicht weitreichend genug. Danach wird die Frage aufgegriffen, inwieweit Integration vor dem Hintergrund der Vielfalt staatlicher wie nichtstaatlicher Akteure im internationalen System überhaupt möglich ist. Dieses Problem wird anhand der Vergesellschaftungsthese von Czempiel (1994a) und einer Reihe von neofunktionalistischen Thesen diskutiert. Abschließend werden einige vorläufigen Hypothesen, die sich aus der theoretischen Diskussion ergeben haben, diskutiert und in den Zusammenhang mit einer Reihe von konkreten Problemen

das Partnership for Peace Program, die Europäische Bank für Wiederaufbau oder bi- und multilaterale Hilfsprogramme.

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illustriert, die nach Ansicht von Experten derzeit die deutsch-polnischen Beziehungen kennzeichnen.

2. Zum Begriff der Integration

Alltagssprachlich unproblematisch, ist die wissenschaftliche Bedeutung des Begriffs der Integration bzw. das ihm zugrunde liegende Konzept alles andere als eindeutig, wie Lindbergs (1971:45) Bemühungen um eine Klärung des Begriffs zeigen: Integration definiert er als umfassenden Prozeß ’’whereby larger groupings emerge or are created among nations without the use of violence”. Ausgehend von dieser gemeinsamen Eigenschaft sämtlicher Integrationsprozesse zeigt er auf, daß diese analytisch auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein können. Genauer gesagt meint er damit, daß Integrationsprozesse innerhalb bzw. zwischen verschiedenen Typen kollektiver Akteure oder aber innerhalb unterschiedlicher Politik- oder Handlungsfelder erfolgen können3.

Lindberg (1971:45) unterscheidet drei Typen der Gemeinschaft, die durch Integration entstehen, womit ebenso der Prozeßcharakter gemeint sein kann wie der Zustand einer Gemeinschaft:

1. Soziale Gemeinschaften (social communities). In diesem Falle bedeutet Integration die Verknüpfung der Menschen (populations) durch Gefühle wie Freundschaft, Vertrauen oder Identifikation.

2. Sicherheitsgemeinschaften (security communities). In diesem Falle bedeutet Integration, daß die politische Führung von mindestens zwei Gemeinschaften die mehr oder weniger zuverlässigen Erwartungen teilt, die zwischen ihnen entstehenden Konflikte gewaltfrei zu lösen. Die Bevölkerungen als solche können, müssen aber nicht unbedingt diese Erwartungen teilen.

3 Erkennbar ist, daß diese Aufzählung keinesfalls systematischer Natur ist, diese Klassifikation folglich auch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Die nachfolgende Analyse strebt eine solche umfassende Typologie auch nicht an, da das zentrale Problem das Verhältnis zwischen Eliten und Bevölkerung in einem Staat einerseits, die Beziehungen zwischen den Eliten und der Bevölkerung zweier Staaten andererseits, ist.

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3. Funktional definierte Gemeinschaften, insbesondere Wirtschaftsgemeinschaften (economic unions). Sie zeichnen sich u.. a. dadurch aus, daß innerhalb einer bestimmten Region eine Konzentration des Austausches erfolgt.

Diese Typen der Integration basieren auf den Beziehungen zwischen Menschen allgemein (Bevölkerung), auf den Beziehungen zwischen bestimmten Gruppen von Menschen (Eliten), oder auf den Interaktionsbeziehungen in einem spezifischen Handlungsfeld. Sie beruhen demzufolge auf Gefühlen, auf Erwartungen oder auf Handlungen bzw. Transaktionen.

Diesen Typen der Integration stellt Lindberg (1971:45-46) das Konzept der politischen Integration gegenüber. Politische Integration bedeutet ”a group of nations coming to make regularly and implement binding public decisions by means of collective institutions and processes rather than by formally autonomous national means”. Diese Definition ist problematisch, weil sie nichts darüber besagt, wie umfangreich der implizierte supranationale Einigungsprozeß ist. Die Definition schließt nämlich die Möglichkeit von autonomous national means keineswegs aus. Damit verliert der Begriff der politischen Integration an Schärfe. Wenn ’’collective institutions and processes”

vorhanden sind, wie eng oder weit sie auch definiert sein mögen, wäre supranationalen Einigung definitorisch vorgegeben. Staaten mit bilateralen Verträgen gehen beispielsweise durchaus gemeinsam verbindliche Verpflichtungen ein, ohne damit supranationale Einigungspläne zu verfolgen. Darüber hinaus verwendet er den Begriff ausschließlich für ’’binding public decisions”, obwohl es Normen, Prozeduren und Regeln geben kann, die nicht ausschließlich von staatlichen Akteuren festgelegt und eingehalten werden, die aber zugleich grenzüberschreitend wirksam sind.

Ganz allgemein kann festgehalten werden, daß Integration ein Zustand oder ein Prozeß ist, dessen konstitutive Bestandteile Gefühle, Erwartungen und Austausch bzw.

Interaktion sind. Hinzu kommen offensichtlich verhaltensrelevante Normen. Integration kann gleichermaßen auf einen funktionalen Sektor (Wirtschaft) beschränkt sein und damit nur eine bestimmte Gruppe umfassen, oder aber für alle Gruppen gelten (Eliten, Bevölkerung). Voraussetzung dafür ist die Norm oder das Prinzip der Gewaltfreiheit.

Integration als Zustand oder als Prozeß auf einen Teilbereich oder einen bestimmten

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Akteur einzuschränken, mag zwar arbeitsökonomisch gerechtfertigt sein, ist aber aus systematischen Gründen nicht plausibel. Für Haas (1964:111) ist konsequenterweise Integration ein Prozeß des Aufwertens der gemeinsamen Interessen. Integration als Prozeß entsteht durch die Annäherung von zwei oder mehreren Gemeinschaften (populations), Gesellschaften (im Sinne von verschiedenen kollektiven Akteuren), oder Staaten (als ein herausragender Akteurstyp). Diese Annäherung erfolgt bezüglich der Werte, der Interessen und der Interaktionsdichte. Gemeinsame Interessen beziehen sich auf die utilitaristische Dimension, Werte dagegen auf die affektive. Letztere legitimieren nicht nur die Annäherung, sondern strukturieren auch die Präferenzen der Handelnden.

Damit sind die konstitutiven Elemente des Phänomens identifiziert, das mit dem Begriff der Integration belegt wird. Diese deskriptive Definition ist sicherlich nicht so stringent wie die formale von Deutsch. Sie dient aber als Orientierung für die weiterführende Analyse

3. Gewalt, Integration und Sicherheitsgemeinschaften

Daß Gewaltverzicht nicht unbedingt das zentrale Element von Integration sein kann, ergibt sich schon alleine daraus, daß im internationalen System wie auch innerstaatlich Gewalt zwar immer wieder ausbricht, keineswegs aber im politischen Alltag dominiert.

Ausgangspunkt der theoretischen Diskussion ist der Begriff der Sicherheits­

gemeinschaft, den Karl Deutsch (1957) in den fünfziger Jahren eingeführt hat. Sein integrationstheoretischer Ansatz wurde jahrzehntelang vernachlässigt, nicht zuletzt deswegen, weil sich seine auf Kant zurückgehende ’’idealistische” Konzeption gegen den vorherrschenden Realismus in der Theorie internationaler Politik nicht durchsetzen konnte, ja sogar auf Ablehnung stieß (vgl. etwa Lijphart, 1981). Erst im Gefolge der dritten Demokratisierungswelle (Huntington, 1992) in den achtziger Jahren und des Zusammenbruchs der Sowjetunion wurde dieser Ansatz reanimiert, ironischerweise in der Kriegsursachenforschung und nicht etwa von den Integrationstheoretikem. Deutsch zufolge ist Gewalt keineswegs die zwangsläufige Folge der postulierten anarchischen Struktur des internationalen Systems. Vielmehr wird Gewalt als Mittel der

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Konfliktlösung mit der Schaffung von integrierten Sicherheitsgemeinschaften hinfällig.

Sie wird durch derartige Gemeinschaften abgeschafft

So trivial diese Aussage klingen mag, so ist sie dennoch von erheblicher theoretischer Reich- bzw. Tragweite. Diese theoretische Leistung hat Lijphardt (1981:248) wie folgt gewürdigt:

’’one of the reasons why Deutsch’s theory of integration is so important is that it is the major example of a general (im Orig, kursiv, WDE) theory in political science that is applicable not only at the international level but also at the national and subnational levels” (Hervorhebung durch den Verf.)”.

Diese verläßliche Erwartung auf Gewaltverzicht als Mittel der Konfliktlösung setzt einen Integrationsprozeß voraus, innerstaatlich aber auch zwischenstaatlich. Paradoxer­

weise sind pluralistische Sicherheitsgemeinschaften (zwischen Staaten) leichter zu verwirklichen als sogenannte amalgamierte Sicherheitsgemeinschaften (innerstaatlich).

Daß zwischen beiden Sicherheitsgemeinschaften eine enge Beziehung besteht, hat nicht etwa die Integrationsforschung belegt, sondern die empirisch-systematische Kriegs­

ursachenforschung (vgl. Maoz, 1997). Sie hat zur Entdeckung des empirischen Gesetzes geführt, daß Demokratien so gut wie keinen Krieg bzw. gar keinen Krieg untereinander führen4.

Die empirische Forschung beruft sich dabei immer wieder auf Deutsch (Starr, 1997).

Mit Hilfe seiner theoretischen Überlegungen wird zu begründen versucht, warum dieses Gesetz zutrifft. Eine Begründung, warum Demokratien nach innen friedlich sind, ist, daß es sich um amalgamierte pluralistische Sicherheitsgemeinschaften im Sinne von Deutsch handelt. Der anderen zufolge entsteht der Pazifizierungseffekt dadurch, daß diese innere Friedfertigkeit extemalisiert wird.

Eine solche definitorische Gleichsetzung ist aber unzulässig. Das empirische Gesetz kann nicht mit einem theoretischen Gesetz gleichgesetzt werden, zumal Deutsch den Begriff Demokratie nur an einer Stelle als Bedingung einfuhrt. Auf welcher Grundlage

4 Wir verzichten an dieser Stelle auf ausführliche Literaturverweise, zumal die Anzahl der Arbeiten, pro wie kontra, inzwischen dramatisch angewachsen ist. Einen guten Überblick über den Stand der Forschung gibt Maoz (1997).

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dieses empirische Gesetz theoretische Gültigkeit beanspruchen kann, ist bislang ungeklärt. Zwei alternative Erklärungen werden dafür vorgeschlagen: eine normative und eine strukturelle (s. u. a. Maoz/Russett, 1989; Russet, 1993). Die erste beruft sich auf die Norm der Gewaltfreiheit, die zweite postuliert strukturelle Restriktionen, die demokratisch verfaßte Systeme auszeichnen. Alleine ist keine dieser beiden Erklärungen Starr (1997:153) zufolge befriedigend. Ihr ad-hoc Charakter ist unübersehbar. Das ist aber nicht der Fall, ”if the democratic peace proposition is placed within the context of peace created by the process of integration” (a.a.O.). Integration impliziert ein Gemeinschaftsgefühl, entsprechende Institutionen und Praktiken sowie verläßliche Erwartungen friedlichen Wandels. Starr zufolge gehören strukturelle Restriktionen wie demokratische Kultur zusammen. Nur gemeinsam bewirken sie das Erlernen von Kooperationsnormen, die Entstehung eines Gemeinschaftsgefühls, sowie die entsprechende Bewältigung von Interdependenzbeziehungen (Starr, 1997: 155).

Innerstaatlich wie zwischenstaatlich stellt sich dieser Integrationseffekt deswegen ein, weil er einerseits auf der Legitimität der bestehenden Normen und Praktiken beruht, dadurch andererseits die freiwillige Einhaltung (compliance) von Normen und Verhaltensweisen garantiert wird. Dieser Lemeffekt wirkt in beide Richtungen, innerstaatlich wie zwischenstaatlich. Ähnlich argumentiert Risse-Kappen (1995:507), der diese empirische Gesetzmäßigkeit konstruktivistisch verortet: ”[A]n approach combining domestic structural characteristics, perceptions, and interaction patterns in the international realm appears to offer a better explanation than conventional liberal accounts”.5

Damit eröffnet sich für die Kriegsursachenforschung eine theoretisch progressive Perspektive. Ganz anders verhält es sich dagegen mit der integrationstheoretischen

5 Risse-Kappen (1995:511) vertritt die Meinung, daß nur eine Diskurs-Analyse eine empirisch befriedigende Erklärung liefern kann. Diese methodologische Vorgabe ist allerdings nicht zwingend, denn letztlich bestätigt nicht der Diskurs, sondern das Verhalten der Akteure die These des demokratischen Friedens.

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Problematik, die durchaus als komplementär zur Konfliktforschung betrachtet werden kann6.

Ungeachtet seiner Attraktivität hat der integrationstheoretische Ansatz von Deutsch noch keineswegs den Status einer ausgereiften Theorie. Er ist Puchala (1981:158) zufolge ’’incomplete, not inaccurate” und zwar aus mehreren Gründen. Erstens ist der Ansatz unterspezifiziert, was die konflikttheoretische Komponente betrifft. Das gilt, zweitens, gleichennaßen für die Integrationsdimension, soweit sie über den Gewaltverzicht hinausgeht. Und drittens ist gleichermaßen die Beziehung zwischen Öffentlichkeit und Eliten als den Trägem des Integrationsprozesses unterspezifiziert.

Das gilt sowohl für die Beziehung zwischen den Eliten und der Öffentlichkeit bzw. der Bevölkerung, als auch im Hinblick auf die Bedeutung und Rolle nichtstaatlicher kollektiver Akteure.

3.1 Zur ungenügenden Präzision der konflikttheoretischen Dimension

Daß Gewalt zwangsläufiges Korrelat der innergesellschaftlichen wie zwischen­

staatlichen Entwicklung sei, hat Deutsch verneint. Gerade darum hat er sie zum Aus­

gangspunkt seines Integrationsansatzes gemacht. So selbstverständlich diese Aussage heute sein mag, so provokativ war sie zu seiner Zeit, in der die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg noch frisch war und die Konfrontation zwischen Ost und West ihrem Höhepunkt mit der Kuba-Krise zusteuerte. Schaut man sich diese Definition der Sicherheitsgemeinschaft näher an, dann bedarf es weniger Elemente, damit eine pluralistische Gemeinschaft als integriert gilt. Erstens spricht er von Kollektiven, die territorial abgrenzbar sind und sich durch ein spezifisches Gemeinschaftsgefühl auszeichnen. Damit wird also eine kollektive Identität postuliert, die durch entsprechende Institutionen und Praktiken das Gemeinschaftsgefühl verstärkt. Dieses Gemeinschaftsgefühl basiert auf zentralen Werten, die den politischen

6 Der umgekehrte Fall ist aber auch denkbar, daß nämlich konflikttheoretische Elemente Bestandteil eines integrationstheoretischen Ansatzes betrachtet werden können, was Deutsch in gewisser Weise getan hat.

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Entscheidungsprozeß prägen. Sie müssen zwar nicht identisch, dafür aber kompatibel sein.

Die wesentlichen Werte, soweit sie überhaupt näher angegeben werden, bestehen in einer gemeinsamen politischen Ideologie. Integration setzt darüber hinaus die gegenseitige Ansprechbarkeit der Partner voraus, was nicht nur den ungehinderten kommunikativen Zugang der Entscheidungsträger zueinander impliziert, sondern auch, daß der Zugang, wenn immer nötig, zugleich erfolgreich ist. Diese Implikation ergibt sich aus der ergänzenden Anmerkung, daß funktionierende politische Institutionen bestehen müssen, die die gegenseitige Kommunikation und Konsultation fördern. Sie verstärken das Wir-Gefühl. Dieses Gefühl bewirkt Aufmerksamkeit gegenüber dem Partner, die Wahrnehmung von dessen Bedürfnissen und verstärkt die gemeinsame Kommunikation. Die Aneignung dieser Eigenschaften bezeichnet Deutsch als sozialen Lernprozeß. Die letzte entscheidende Bedingung für eine funktionierende pluralistische Sicherheitsgemeinschaft ist, daß nicht nur das Verhalten der anderen Seite vorhersehbar sein muß, sondern auch, daß gemeinsame Entscheidungen in begrenztem Rahmen getroffen werden.

Die Vorhersehbarkeit des Verhaltens ist möglicherweise redundant, zumal dann, wenn kompatible Werte das gegenseitige Verhalten der Akteure bestimmen. Gemeinsame Entscheidungen dagegen müßten sich logischerweise auf potentielle oder aktuelle Konflikte zwischen zwei Gemeinschaften beziehen, denn diese sind wegen des permanenten sozialen Wandels, den Deutsch unterstellt, ubiquitär. Unvollständig ist der Ansatz, weil er implizit postuliert, eine integrierte pluralistische Sicherheitsge­

meinschaft bestehe dann, wenn Gewaltverzicht erreicht ist, diese Norm gewissermaßen zum Selbstläufer geworden ist. Doch rein utilitaristische Gründe können auf Dauer genauso zur generellen Akzeptanz der Norm der Gewaltfreiheit führen, ohne daß ein gemeinsames Wir-Gefühl vorhanden sein müßte. Das belegt die Studie von Stein und Lebow (1995), der zufolge die Angst vor einer nuklearen Katastrophe das Verhalten der Protagonisten während der Kuba-Krise und danach bestimmte.

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Anders ausgedrückt, die Wirksamkeit der Norm der Gewaltfreiheit kann konflikt- theoretisch auf die Annahme einer integrierten Sicherheitsgemeinschaft verzichten.

Wenn wir der Einfachheit halber davon ausgehen, daß nur Demokratien in der Lage sind, integrierte pluralistische Sicherheitsgemeinschaften zu bilden, dann sind Demokratie und pluralistische Sicherheitsgemeinschaft tautologisch. Doch selbst wenn Demokratien zusammenbrechen, kann die Norm der Gewaltfreiheit Bestand haben.

Ebenso kann sie im Falle nichtdemokratischer Systeme wirksam sein. Konflikt- theoretisch muß also erklärt werden, warum und wie im Zeitablauf die Norm der Gewaltsamkeit das Verhalten politischer Gemeinschaften effektiv bestimmt7.

Konflikttheoretisch hat Coser auf die integrative Dimension von Konflikten hingewiesen, ohne daß dieser Gesichtspunkt im Bereich internationaler Politik je systematisch weiterentwickelt worden wäre.

3.2 Unterspezifizierung der Integrationsdimension

Setzen wir voraus, daß Integration und Gewaltfreiheit miteinander verkoppelt sind. Was bedeutet unter diesen Umständen Integration? Eine erste Antwort finden wir Stelle bei Deutsch (1966) u. a. in seiner kybernetischen Theorie politischer Systeme. Dort schreibt er:

If we define the core area of politics as the area of enforceable decisions, or, more accurately, all decisions backed by some combination of significant probability of voluntary compliance (Hervorh. durch den Verf.) with a significant probability of enforcement (Hervorh. durch den Verf.), then politics becomes the method par excellence for securing preferential treatment of messages and commands ...” (Deutsch, 1968:254).

Die Einhaltung von bestehenden Normen, Regeln und Verfahren, die Definition Keohanes (1989:3)fiir Institutionen, kann mit dem Begriff compliance gleichgesetzt werden. Deren Einhaltung beruht auf ihrer Legitimität. Innergesellschaftlich bedeutet compliance die Akzeptanz politischer Entscheidungen, in diesem Falle integrations­

relevanter Entscheidungen der politischen Führung. Zwischengesellschaftlich bedeutet

7 Daß die Zahl der Opfer eines Krieges diese Wirkung haben könnte, ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht der Fall (vgl. etwa Singer/Cusack, 1982). Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges hat keineswegs den zweiten verhindert.

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dies, daß die politische Führung zweier Gemeinschaften sich den Normen unterordnet, die gemeinsam als legitim erachtet werden. Integrierte Gemeinschaften beruhen auf sentimental relations among people (Puchala). Diese gefühlsmäßigen Beziehungen stellen zugleich die Legitimationsbasis für die Handlungen der Akteure dar.

Die Herausbildung dieser sentimentalen Beziehungen und der sich dadurch konstituierenden Legitimation des Handelns läßt sich als Lernprozesse konzeptuali- sieren, wie Deutsch oder Starr meinen. Doch damit werden gleich mehrere Probleme aufgeworfen. Aus theoretischer Sicht stellt sich das Problem, in welcher Beziehung diese affektive Dimension von Gemeinschaft (Werte) mit der kognitiven Dimension von Gesellschaft (Interessen)8 zueinander stehen. Zum zweiten bleibt bei Deutsch das Akteurskonzept relativ vage. Als Träger des Integrationsprozesses sind nicht nur staatliche sonder auch nichtstaatliche Akteure beteiligt, denen keineswegs homogene Interessen unterstellt werden können. Drittens fehlen operationale Kriterien, um den Grad des Integrationsniveaus zu bestimmen. Handlungen oder Transaktionen besagen per se wenig aus.

Integration ist ein Prozeß. Demzufolge besteht das theoretisch entscheidende Problem darin, die Dynamik des Prozesses zu erklären. Wenn Integration auf Lernprozessen basiert, dann könnte eine Finalität dieses Vorgangs postuliert werden. Eine solche Annahme teilt Deutsch nicht, weil der gesellschaftliche Wandel aus seiner Sicht ein endloser Vorgang ist, der immer wieder neue Konflikte mit sich bringt. Denkbar ist, daß Integration unter bestimmten Umständen als unattraktive Option erscheint. Deswegen ist der Prozeß aus theoretischer Sicht grundsätzlich umkehrbar. Geschichte kann als immer wiederkehrende Abfolge von Integrations- und Desintegrationsprozessen interpretiert werden, so daß Integration und Desintegration nur zwei Seiten der gleichen Medaille sind.

Kollektive physische Gewalt in Form von Revolutionen (vgl. Tilly, 1992) oder militärischen Konflikten und Kriegen (vgl. Jones et al., 1997; Small/Singer, 1982)

8 Wir greifen hier auf Max Webers (1984:69-72) Definition von Gemeinschaft und Gesellschaft zurück.

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erfolgt immer wieder. Nun postulieren Keohane und Nye (1987), daß der zunehmende Prozeß internationaler Verflechtung zur Entwertung militärischer Macht als Mittel der Konfliktlösung bzw. der Interessensdurchsetzung geführt habe bzw. auf Dauer führen wird. Wenn Interdependenz folglich Gewaltfreiheit begünstigt, muß sie deswegen noch keineswegs integrationsfördemd sein. Das bedeutet, daß es eine evolutionäre Entwick­

lung zur Gewaltfreiheit gibt. Interpetiert man Deutsch sehr eng, dann müßte diese Entwicklung mit dem Integrationstrend gleichgesetzt werden. Das wäre aber insofern irreführend, als unter den Bedingungen der komplexen Interdependenz andere Gewaltformen, etwa systematische Wirtschaftsblockaden, effizienter sein können als eine militärische Konfrontation.

Die Schlußfolgerung daraus lautet, daß aus integrationstheoretischer Sicht das Problem der Gewalt zu eng definiert ist. Den Akteuren stehen unter den Bedingungen komplexer Interdependenz, durch die unterschiedliche Grade der Sensitivität oder Verletzbarkeit der asymmetrischen Abhängigkeitsbeziehungen (Keohane/Nye, 191989:12-16) konstituiert werden, unterschiedliche Möglichkeiten der ’’Gewalt” zur Verfügung. Der Ausschluß derartiger Handlungsoptionen ergibt sich erst vor dem Hintergrund der bestehenden Wertvorstellungen und Interessen, die in der Interaktions- oder Transaktionsdichte nicht per se erfaßt werden.

3.3 Unterspezifizierung der Akteursdimension

Gemeinschaften sind nicht gleichzusetzen mit Staaten, auch wenn deren Rolle wesentlich ist (Friis, 1997:359). Sie sind auch nicht identisch mit den Repräsentanten der Staaten, den Regierungen. Während bei Deutsch die Bevölkerung nur eine untergeordnete Rolle spielt, bestenfalls in einem späten Stadium dieses Prozesses von Bedeutung sein kann, sind für ihn die Eliten die entscheidenden Träger des Integrationsprozesses. Dabei kann ein engerer oder weiterer Begriff von Eliten zugrunde gelegt werden. Man kann darunter den Personenkreis fassen, der unmittelbar am politischen Entscheidungsprozeß beteiligt ist, oder aber man schließt darunter sämtliche

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Personen ein, die aufgrund ihrer Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Einfluß auf diesen Entscheidungsprozeß ausüben.

Deutsch geht von einem weiteren Elite-Begriff aus, der seinem top-down-Modell des Integrationsprozesses zugrunde liegt. Deutsch (1968:147 ff) hat ihn mit seinem Kaskadenmodell präzisiert. Die zentralen Träger der vorherrschenden Werte in einer Gesellschaft sind die Positions- bzw. Funktionseliten, die sich aus fünf kaskadenförmig miteinander verbundenen Blöcken zusammensetzen. An der Spitze siedelt er die sozioökonomische Elite an, gefolgt von der politischen Elite (Regierung und politisches System), den Massenmedien, und Leitpersonen9. Auf der untersten Stufe befindet sich die Bevölkerung. Diese verschiedenen Blöcke sind zusätzlich mit Rückkoppelungs­

schleifen der darunter liegenden Ebenen verbunden. Wessels (1995a,b) hat dieses Modell statistisch überprüft und ist zum Schluß gekommen, daß es größere Erklärungskraft hat als das Generationenmodell.

Die Einstellungen der Eliten bzw. deren ’’sentimentale Beziehungen” zu denen einer anderen Gemeinschaft sind somit ein für den Integrationsprozeß entscheidendes Element. Doch die Existenz derartiger Einstellungen alleine reicht nicht aus, versteht man unter einer integrierten Sicherheitsgemeinschaft mehr als eine rein virtuelle Gefühls-Gemeinschaft. Die Interaktionsebene selbst muß dabei berücksichtigt werden, auf der sich die Integrationsdispositionen konkretisieren.

3.4 Schlußfolgerungen

Faßt man die bisherigen Überlegungen zusammen, lassen sich folgende Schlußfolge­

rungen ziehen:

1. ist die Norm des Gewaltverzichts nicht mit Integration gleichzusetzen. Es bleibt ein konflikttheoretisch zu lösendes Problem, wann und warum auf Gewalt als Mittel der Konfliktlösung, innerstaatlich und zwischenstaatlich verzichtet wird.

9 Darunter versteht Deutsch (1968:150) das Netz örtlicher Leitpersonen

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2. ist Interdependenz ihrerseits nicht mit Integration identisch, denn letztere setzt nicht nur ein überdurchschnittliches Maß an Transaktions- und Interaktionsdichte voraus, sondern zugleich bestimmte Wertvorstellungen, gewissermaßen die Integrations­

disposition.

3. ist die Rolle der Akteure bzw. der Eliten und der Öffentlichkeit nicht hinreichend präzisiert, da erstere die entscheidenden Motoren des Integrationsprozesses sind. Es ist aber mit Sicherheit anzunehmen, daß in diesem Zusammenhang die Öffentlich­

keit bzw. die Bevölkerung eine nicht unbedeutende Rolle spielt.

Dieser Zusammenhang von Integration und Akteuren wird im nachfolgenden Abschnitt aufgegriffen und mit Czempiels Vergesellschaftungsthese einerseits, den neofunktiona- listischen Argumenten über die Akteure andererseits, verknüpft.

4. Vergesellschaftung der Außenpolitik, Akteure und Interessen

Hätte Puchala (1981:145) recht, wäre die gesamte integrationstheoretische Diskussion nicht mehr wert als eine Fußnote der Wissenschaftsgeschichte. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Entwicklung im internationalen System zeigt sich aber, daß seit dem Ende des Kalten Krieges die Dynamik von Integration und Desintegration innerhalb wie zwischen den Staaten zugenommen hat. Daß ein integrationstheoretischer Mangel besteht, kann nicht behauptet werden. Wenn es einen solchen Mangel gibt, dann deswegen, weil dieser theoretische Ansatz zum Teil gar nicht, zum Teil nur selektiv verfolgt worden ist. Dieses Paradigma kann im Anschluß an Puchala (1981:147) in zwei Klassen unterteilt werden, in Integrationstheorien einerseits, in Studien zur Integration andererseits. Während Integrationstheorien zu erklären versuchen, unter welchen

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Bedingungen sich derartige Prozesse entwickeln, beschäftigen sich die Integrations­

studien mit der europäischen Einigungspolitik, die mit der Gründung von EGKS, EURATOM und der EWG in den 50er Jahren begann. Diese Unterscheidung ist inzwischen überholt. Aus diesem ursprünglichen zweigeteilten Paradigma lassen sich heute mindestens drei theoretische Fragestellungen herausschälen: eine

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integrationstheoretische im engeren Sinne, die an dem Konzept der Sicherheits­

gemeinschaft von Deutsch ansetzt, eine entscheidungs-theoretische, die auf dem ursprünglichen neoftinktionalistischen Ansatz aufbaut, sowie ein Argumentationsstrang, der im wesentlichen den Wandel im internationalen System zum Gegenstand hat.

Der erste Strang hängt unmittelbar mit der Wiederentdeckung von Deutschs Konzept der pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft zusammen. Starr (1997) hat hierzu methodologisch-konzeptionelle Überlegungen entwickelt, die aber letztlich konflikt­

theoretisch zu verorten sind, wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde. Einen Schritt weiter ist Archer (1997) mit seiner explorativen Studie der Nordic Zone o f Peace an Hand der Auflösung des norwegisch-schwedischen Staates gegangen. Selbst wenn die schwedische Regierung 1905 Norwegen mit Gewalt von der Sezession hätte abhalten wollen, sei dies nicht möglich gewesen, so Archer (1997:453). Für diesen Fall hatte die schwedische Arbeiterschaft mit einem Generalstreik gedroht. Dafür hat sich eine integrierte Sicherheitsgemeinschaft in Skandinavien in Form des sogenannten

’’parallel national action process” ohne formalen Souveränitätsverzicht durch Angleichung vieler gesellschaftlicher Bereiche herausgebildet (siehe Nielsson, 199O)10.

Er hat seinen Niederschlag in der Angleichung der Lebensverhältnisse innerhalb Skandinaviens gefunden, die zum Teil auf staatlicher, zum Teil auf nichtstaatlicher Ebene regulativ hergestellt wird.

Der zweite Strang der Integrationsstudien führte zunächst zu einer auf hohem theoretischen Niveau geführten Debatte in den sechziger und siebziger Jahren (Jachtenfuchs/Kohler-Koch, 1996a:9). Vom Funktionalismus bzw. Neofunktionalismus geprägt, war diese theoretische Diskussion von Anfang an mit einem Geburtsfehler behaftet: das zu erklärende Problem reduzierte sich auf den historisch singulären Prozeß der europäischen Einigung. Diese Finalität, die wie immer zu bewerkstelligende supranationale Einigung Europas, ist aber nicht mit einer allgemeinen Theorie zu

10 Dazu gehören etwa gemeinsame Kriterien für die berufliche Ausbildung (Medizin, Jura), die Angleichung des Rechts und der Rechtsprechung, die Aufhebung innerer Grenzen (also noch vor Schengen) usw. Es wäre in diesem Zusammenhang in der Tat sinnvoll, das Problem näher zu untersuchen, wie sich die EU-Mitgliedschaft der nordischen Staaten auf die bestehende

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erfassen. Dieses sogenannte abhängigen-Variablen-Problem ist dadurch gelöst worden, daß der konkret voranschreitende europäische Einigungsprozeß in den Kontext allgemeiner entscheidungstheoretischer Ansätze bzw. Theorien kollektiven Handelns eingeordnet worden ist. In der Europäischen Union hat sich in der Tat ein komplexer Entscheidungsprozeß in einem Mehrebenensystem herausgebildet, wie Jachtenfuchs und Kohler (1996b) zeigen. Dieser komplexe Mehrebenen-Entscheidungsprozeß, der zugleich als policy-Netzwerk (vgl. Heritier, 1994; s. a. Scharpf, 1996) konzeptualisiert werden kann, ist Ursache wie Folge der Übertragung von Souveränitätsrechten auf die Gemeinschaft. Damit ist allerdings ein genereller integrationstheoretischer Erklärungs­

ansatz nicht mehr möglich. Der Prozeß selbst wird zu einem Spezialfall der Theorien kollektiver Entscheidungen.

Im Zusammenhang mit diesem komplexen Entscheidungsprozeß in einem komplexen Mehrebenensystem steht der dritte integrationstheoretische Strang. Wessels (1992; s. a.

1997) hat diese Problematik, die als Sonderfall des Wandels im internationalen System betrachtet werden kann, mit der Fusionsthese theoretisch zu erfassen versucht. Dieses Konzept geht davon aus, daß die Europäische Union eine spezifische Strategie der Verknüpfung nationaler Souveränitätsrechte verfolgt, die von der Gemeinschaft kollektiv wahrgenommen werden, zum Teil bewußt, zum Teil gezwungenermaßen wegen nicht intendierter Folgewirkungen. Damit kann seiner Ansicht nach die Dynamik des institutioneilen Wandels innerhalb der Gemeinschaft erklärt werden. Das Problem der Erosion der nationaler Souveränität, werde diese bewußt vorangetrieben wie im Falle der EU, oder sei sie die Folge der zunehmenden internationalen Verflechtung, ist eine ganz entscheidende Bedingung des internationalen Systemwandels.

Ob Souveränität heute ein Anachronismus ist, wie dies Czempiel (1969) bereits vor mehr als 30 Jahren zu bedenken gab, sei dahingestellt. Tatsache ist jedenfalls, daß die Analyse dieser konstitutiven Norm internationaler Politik wie im übrigen die normative Basis des internationalen Systems insgesamt, ein zentrales Desiderat der Forschung ist.

Thomson (1995; s. a. Biersteker/Weber, 1996; Eberwein, 1997;. Badie, 1995) hebt zu

Integrationsstrukturen auswirkt. Theoretisch sollte sie eher desintegrative Folgewirkungen nach sich ziehen, weil Norwegen der EU nicht beigetreten ist.

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Recht hervor, daß beim gegenwärtigen Stand der theoretischen Diskussion wie der empirischen Forschung eine Aussage darüber, ob ein solcher Erosionsprozeß eingetreten ist oder nicht, und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, nicht möglich sei. Sie bemängelt die Ambivalenz des Konzeptes, das gleichermaßen mit dem Kontrollverlust wie der Erosion des legitimen Machtmonopols bzw. der Normierungsfahigkeit im internationalen System gleichgesetzt wird.

Im erstgenannten Sinne (Kontrollverlust) wäre die Aussage trivial, ist sie doch Folge der internationalen Verflechtung und der gewollten Abtretung staatlicher Prärogativen, etwa im wirtschaftlichen Bereich. Im zweiten Falle geht es tatsächlich um die Normierungs­

fähigkeit der Staaten im internationalen System. Diese Diskussion ist unter einer allgemeinen integrationstheoretischen Perspektive bislang unberücksichtigt geblieben.

Sie ist aber insofern relevant, weil ja jegliche Form der zwischenstaatlichen Ab­

machungen, die zugleich den Rahmen für die Integration der gesellschaftlichen Akteure (siehe hierzu weiter unten) schaffen, als Pooling von Souveränität interpretiert werden kann, wie etwa im skandinavischen parallel national action process (Nielsson, 1990).

Wenn Integration als dynamischer Prozeß verstanden wird, der Gemeinschaften zunehmend aneinander bindet oder spaltet, dann sind die Interessen, die für die Neofunktionalisten entscheidend sind, die Werte, die Deutsch hervorhebt, aber auch die daraus resultierenden Handlungen, konstitutiv. Haas (1975) hat letztlich Integrations­

theorien verworfen, weil sie seiner Ansicht nach gleich aus mehreren Gründen obsolet geworden seien. Ein wesentlicher Grund bestehe darin, daß sich der internationale Kontext verändere und damit die Prioritäten der Beteiligten (a.a.O., S. 9).

Konsequenterweise resultiere daraus ein Wandel der Motive, Interessen und Werte der Akteure bezüglich des Integrationsprozesses selbst (a.a.O.:8). Neben dem inter­

nationalen Kontext ändere sich auch der innerstaatliche, der seinerseits hemmende Auswirkungen auf den Integrationsprozeß haben könne (a.a.O. :8). Er zieht daraus den Schluß, ’’integration theories are becoming obsolete because they are not designed to address the most pressing and important problems on the global agenda of policy and research” (Haas, 1975:17).

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Haas hat recht, wenn drei Prämissen akzeptiert werden. Der ersten Pämisse zufolge reicht das Konzept rationaler Akteure aus, um den Integrationsprozeß zwischen ihnen zu beschreiben und zu erklären: ’’what matters most is a utilitarian calculus on the part of the actors” (Haas, 1975:12). Die zweite lautet, daß Integration bestenfalls eine Begleiterscheinung zwischenstaatlicher Beziehungen ist, zwischengesellschaftliche Beziehungen dagegen nur bedingt relevant sind. Die dritte Prämisse schließlich schränkt die zweite noch weiter ein, weil Haas nur eine staatszentrierte Perspektive zuläßt, d. h.

daß Integration als supranationalen Einigungsprozeß versteht.

Die Annahme rationaler Akteure und der ihnen unterstellte utilitaristische Kalkül relativiert Haas selbst, weil sich die diesem Kalkül zugrunde liegenden Präferenzen und Wertvorstellungen wandeln. Der Werte- und Präferenzwandel ist damit viel wichtiger als der Kalkül selbst. Lindberg (1972:78) spricht in diesem Zusammenhang von Ressourcen, zu denen er neben utilitaristischen auch identitäre Motive oder Werte zählt.

Die zweite Prämisse könnte vielleicht noch aus forschungsprogrammatischen Gründen akzeptiert werden, nicht aber die dritte. Sie macht den Souveränitätsverzicht in Form supranationaler Institutionenbildung zum zentralen Integrationskriterium, zur abhängigen Variablen. Diese Annahme ist aber nicht zwingend. Verallgemeinert man Wessels Fusionsthese, die einen Prozeß der Verschmelzung individueller Souveräni­

tätsprärogativen (sovereignty pooling) postuliert, dann sind sind alle möglichen Formen des Souveränitätspoolings denkbar, die nicht unbedingt supranationaler Art im engeren Sinne sein müssen. Dieser Vorgang muß auch keineswegs zielgerichtet sein, sondern kann ebenso Folge der Verflechtung einerseits, bestehender institutionalisierten Regulierungsmechanismen andererseits sein (Wessels, 1992:43). Der Zweck dieses Vorgangs besteht darin, kollektiv nationale Souveränität zurückzugewinnen.

Die Vergesellschaftungsthese relativiert darüber hinaus diese staatenzentrierte Betrachtung, die ”... on an imagined predominance of the national interest” (Schmitter, 1996a:5) beruht. Sie geht von der Hypothese aus, daß nichtstaatliche Akteure am Wertallokationsprozeß beteiligt sind. Das wiederum ist die Folge der Freiheit von Personen, Gruppen und Organisationen, ihre Interessen grenzüberschreitend autonom

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wahrzunehmen11. Demzufolge sind die Staaten wie die gesellschaftlichen Akteure integrationsfähig. Jeder kollektive Akteur ist in der Lage, eigenständig zwischen­

gesellschaftliche Integrationsstrategien zu verfolgen, so daß sich funktional integrierte Teilbereiche zwischen Gemeinschaften herausbilden können.

Auf diese partielle Autonomie gesellschaftlicher Akteure ist der Kontrollverlust der Regierungen bzw. der politischen Systeme zurückzuführen. Dabei muß noch einmal darauf hingewiesen werden, daß diese Autonomie für demokratische Staaten konstitutiv und auch gewollt ist. Daß der Staat aber im Integrationsprozeß zwischen zwei oder mehreren Gemeinschaften eine hervorgehobene Doppelrolle spielt, liegt an seiner besonderen (wenn nicht sogar zentralen) Rolle, die er im internationalen System einnimmt. Einerseits besteht sie darin, daß nur Staaten, durch praktische Politik allgemein verbindliche Regelungen zu treffen, in der Lage sind, die den Integrationsprozeß insgesamt in Gange setzen und fördern sollen. Das gilt auch für die Regelung der Folgeprobleme, die aus der zwischenstaatlichen und -gesellschaftlichen Verflechtung auftreten. Andererseits besteht sie darin, durch symbolische Politik den Integrationsprozeß zu legitimieren, soweit er über die rein zwischenstaatlichen Beziehungen hinausgehen soll. Die Handlungsfähigkeit der Staaten ist aber über die Bereitstellung des Integrationsangebots hinaus begrenzt, denn sie können die einzelnen gesellschaftlichen Akteure nicht zwingen, von diesem Angebot auch Gebrauch zu machen.

In einer ähnlichen Situation befinden sich die nichtstaatlichen Akteure zu. Sie können ihrerseits durchaus sektoral spezifische Integrationsprozesse in Gang setzen, sind aber nicht in der Lage, der Gesellschaft insgesamt und dem Staat, Integration als Priorität aufzuzwingen. Dafür steht etwa der deutsch-polnische Dialog, der von u. a. von den 11 12

11 Daraus leitet er zugleich seine spezielle Interventionsthese ab, die - präskriptiv gewendet - zum Postulat der Einmischung in die ’’inneren Angelegenheiten” anderer Staaten wird (Czempiel, 1994b).

Diese These hat vor einigen Jahren zu einer interessanten Kontroverse im Studienkreis internationale Beziehungen geführt (Czempiel/Link, 1984).

12 Dieser Kontrollverlust ist eine Folge der regulativen Kompetenz des Staates einerseits, der beispielsweise die Freizügigkeit von Handel und Kapital institutionalisiert hat und schützt.

Andererseits bedeutet Kontrollverlust, daß der einzelne Staat nicht mehr in der Lage ist, effektiv die

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Kirchen bereits in den 60er Jahren aufgenommen und zunehmend vertieft wurde. Bis 1989 jedenfalls hat er die deutsch-polnischen Beziehungen nicht fundamental beeinflussen können (vgl. etwa Ziemer, 1996:103). Nichtstaatliche Akteure tragen aber keineswegs schon per se, und hier liegt eine allzu optimistische Sichtweise bei Czempiel (1994b)vor, zur zwischengesellschaftlichen Integration bei , wenn sie ihre eigenen Interessen grenzüberschreitend verfolgen.

Gehen wir zunächst von dem theoretischen Konsens aus, daß der Integrationsprozeß von den Eliten getragen wird. Aus der Sicht eines rein interessenorientierten Ansatzes besteht das Problem der Integration darin, wie Komplementarität (der Interessen) verwirklicht werden kann. Geht man von einem rein utilitarischen Konzept aus, dann ist die Interessenkomplementarität insofern bereits vorgegeben, weil sie gleichgesetzt werden kann mit dem grundlegenden Konsens der interdependenten Nutzen­

maximierung. Doch gerade daraus ergeben sich Konflikte aufgrund der unter­

schiedlichen vorgegebenen Präferenzen. Der utilitaristische Ansatz funktioniert aber dann, wenn Wertekomplementarität apriori als gegeben angenommen wird und zwar im Sinne des Konsens über die zugrunde liegenden Spielregeln, d. h. über die Normen und Verfahren bzw. über die Einigung über Normen und Verfahren, aufgrund derer die Nutzenmaximierung verwirklicht werden soll. Wenn Komplementarität aber eine Voraussetzung ist, wird das Argument hinfällig, Integration sei mit der Herausbildung von Komplementarität gleichzusetzen.

Moravcsik (1997:522) argumentiert, daß die normative Komponente von Interessen bzw. deren Korrelat, die Ziele, also Werte, seien. Ein utilitaristischer Ansatz müsse sich zwangsläufig auf die Variationen der Mittel beschränken, mit denen die - vorgegebenen - Ziele verwirklicht werden. An dieser Stelle kann das von Goldstein und Keohane

Folgewirkungen zu verarbeiten, sich beispielsweise gegen Devisenspekulation systematisch zu schützen.

13 Wie beispielsweise Buchowski (1997) im Falle Polens zeigt, kann die Tätigkeit deutscher Investoren durchaus dazu fuhren, Vorurteile und Stereotypen gegen ’’die Deutschen” zu reaktivieren oder zu verstärken.

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(1993:8-10) vorgeschlagene Konzept der Ideen herangezogen werden14. Dabei interessiert hier weniger das, was sie als world views oder Weitsicht, eine Form von Ideen, bezeichnen, sondern causal beliefs und principled beliefs. Normen/Werte (principled beliefs) beinhalten Zielvorstellungen im weitesten Sinne, während Annahmen über Wirkungszusammenhänge mit causal beliefs umschrieben werden.

Beide unterliegen einem Wandel.

Wenn wir annehmen, daß sich die causal beliefs ändern, dann ist Interessen­

komplementarität substantiell als Neudefinition der Interessen vor dem Hintergrund sich verändernder Interdependenzbeziehungen interpretierbar. In diesem Falle bleibt das Ziel der Nutzenmaximierung konstant, nicht aber die Art und Weise wie es verwirklicht wird. Interessenkomplementarität besteht dann - vereinfacht gesprochen - im Ausmaß der Kongruenz bzw. Inkongruenz der causal beliefs. Wertekomplementarität kann dementsprechend als die Kongruenz oder Inkongruenz relevanter Ziel- oder Wertvorstellungen definiert werden. Damit bleibt offen, inwieweit durch Änderung bestimmter Wertvorstellungen Interessen neu definiert werden, und wie umgekehrt, Interessen ihrerseits WertvorStellungen beeinflussen körmen.

Damit läßt sich an Haas anknüpfen, für den die Bewältigung der Interdependenz das entscheidende Erkenntnisziel ist. Sofern lediglich Interessen bzw. deren Komple­

mentarität zum Bezugspunkt gewählt wird, geht es darum, wie die Akteure zur Bewältigung der gegenseitigen Abhängigkeit ihre Mittel entsprechend anpassen. Wenn zugleich Werte mitberücksichtigt werden, dann steht dahinter die gewollte gegenseitige Abhängigkeit. Diese erfolgt mit dem Entstehen des von Deutsch betonten ”Wir- Gefühls”. Im ersten Falle werden Werte bzw. Präferenzen der Akteure vorausgesetzt, im zweiten Falle dagegen explizit als variabele Größe eingeführt. Das erscheint schon deswegen legitim, weil Interessen, wird deren normative Einbindung ignoriert, sehr schnell zur ideologischen Formel degenerieren können.

14 Zusammen mit Matthias Ecker und Yasemin Topcu haben wir uns bemüht, dieses Konzept für Lernprozesse in der Außenpolitik fruchtbar zu machen. Der Aufsatz erscheint demnächt im Jahrbuch des WZB.

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Bisher sind wird davon ausgegangen, daß Integration letztlich eine reine Elite- Angelegenheit ist, die Öffentlichkeit bzw. Gesellschaft dagegen nur eine residuale Kategorie ist. Sie entspricht dem, was wir als Gemeinschaft im weiteren Sinne bezeichnet haben. In Czempiels (1990:17) Konzept wird die politische Wertallokation, an der staatliche wie nichtstaatliche Akteure beteiligt sind, drei funktionalen Bereichen zugeordnet. Daraus resultiert die Unterstützung für das politische System. Neben Sicherheit und Wohlstand nennt er Herrschaft. Herrschaft impliziert Partizipation.

Partizipation schlägt sich in der Form nieder, daß die Mehrheit der Bevölkerung erwartet, daß ihre Präferenzen im politischen Entscheidungsprozeß berücksichtigt werden.

Hellen Wallace (1997:219) hat im Zusammenhang mit der Erweiterung von NATO und EU die These aufgestellt, daß kulturelle und soziale Faktoren im Hinblick auf ihre Bedeutung für die politisch-ökonomische wie die Sicherheitsdimension der Integration weitgehend ignoriert worden seien, somit eine größere Rolle spielen als bislang angenommen (vgl. u. a. Marks/McAdam, 1996; Sinnott, 1995). Ausgehend von der Unterscheidung in Konvergenz bzw. Divergenz zwischen den Gesellschaften argumentiert sie, daß unklar sei, was gesellschaftliche Konvergenz bedeute und in welcher Beziehung sie zur Integration stehe (Wallace, 1997:224), insbesondere im Hinblick auf die Wechselwirkung zwischen Sicherheit einerseits, Politik und Wirtschaft andererseits. Ebenso sei unklar, wie Werte und Ideen sich förderlich oder hinderlich auf den Integrationsprozeß auswirkten. Sie zieht daraus die Schlußfolgerung, daß die bisher übliche Integrationsstrategie des sog. ’’elite-bargains” in Zukunft nicht mehr ausreiche.

Sie geht sogar davon aus, daß Solidarität das zentrale Problem für die Erweiterung darstelle (a.a.O.:225). In Deutschs Terminologie bedeutet das die Bereitschaft der Eliten und der Bevölkerung, auf die Bedürfnisse der zu integrierenden Gemeinschaften einzugehen und dafür gegebenenfalls ’’Opfer” zu bringen.

Dieses Argument kann ohne weiteres verallgemeinert werden. Integration ist Deutsch zufolge nur dann möglich, wenn - was üblicherweise der Fall ist, nämlich die Asymmetrie zwischen den Beteiligten - zusätzliche Kosten in Kauf genommen werden müssen. Integration ist nur dann erfolgreich, wenn erstens die entspechende Werte- und

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Interessenkomplementarität innerhalb der Eliten besteht, die für die Integration erforderlichen Kosten zu tragen. Zweitens muß die Öffentlichkeit ihrerseits bereit sein, diese Kosten zu tragen bzw. indifferent sein. Das setzt voraus, daß keine kon­

kurrierenden Präferenzen innerhalb der Eliten und der Öffentlichkeit bezüglich der Integrationskosten bestehen.

Die Herausbildung einer integrierten Gemeinschaft entspricht dieser Wertekomple­

mentarität von zwei oder mehreren Gemeinschaften. Das ist nicht apriori der Fall, sondern sie bildet sich im Verlaufe des Prozesses der sozialen Kommunikation und des Austausches zwischen ihnen heraus. Kommunikation und Transaktionen sind gleichermaßen Voraussetzungen wie Folgen des Integrationsprozesses. Die Öffentlich­

keit spielt dann eine zunehmend wichtige Rolle im Integrationsprozeß, wenn es innergesellschaftlich zur Kollision von Präferenzen kommt. In diesem Zusammenhang ist die These von Deutsch (1984) wichtig, der davon ausgeht, daß durch die Inter­

nationalisierung (Kommunikation usw.) die Distanz zwischen den Gemeinschaften sinkt. Vereinfacht gesprochen besteht die Folge darin, daß das Ungleichheitsgefalle von den Beteiligten wahrgenommen wird und aufgrund der daraus entstehenden Abhängigkeit eher konfliktfordemd als integrierend wirkt. Radikal zu Ende gedacht, implizierte diese These die Unmöglichkeit der Integration, wenn die Asymmetrie zwischen zwei Gemeinschaften zu groß ist.

Wenn erhebliche gesellschaftliche und/oder kulturelle Divergenzen zwischen zwei Gemeinschaften bestehen, zugleich innergesellschaftliche Präferenzen heterogen sind, ist eine integrative Politik nur schwer legitimierbar. Sie ist schwer legitimierbar, wenn sie als Zementierung oder gar Vergrößerung der Asymmetrie bzw. Abhängigkeit wahrgenommen wird. Doch wenn angenommen wird, daß sowohl die Eliten wie die Bevölkerung der gegenseitigen Verflechtung hohen Wert an sich beimessen in der Erwartung, daß dadurch längerfristig die Ungleichheit (relativ) reduziert würde oder sich die eigenen Lebensverhältnisse (absolut) verbesserten, könnte es dennoch zu Blockaden kommen, wenn es innerhalb der Eliten zu einer Interessenskollision kommt.

Ungeachtet der Wertvorstellungen und der kulturellen und sozialen Ungleichheit wäre

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dann Integration zwar legitimierbar aber im politischen Entscheidungsprozeß unter den Bedingungen vergesellschafteter Außenpolitik nicht durchsetzbar.

Im letzten und abschließenden Abschnitt werden die bisherigen Überlegungen zusammengefaßt und der Bezug zu der Elite-Studie über die deutsch-polnischen Beziehungen vorläufig hergestellt.

5. Ausblick für die empirische Analyse

5.1 Zur Definition von Integration

Die theoretischen Überlegungen griffen frühere Ansätze, den der integrierten Sicherheitsgemeinschaften von Deutsch, sowie den neofunktionalistischen, auf. Beide liefern Einsichten, die für die Entwicklung eines integrationstheoretischen Ansatzes geeignet sind, doch als solche greifen sie zu kurz. Deutsch konzentriert sich auf den Gewaltverzicht innerhalb wie zwischen Gesellschaften. Die Neofunktionalisten ihrerseits betrachteten ausschließlich den Prozeß der supranationalen Einigung. Es ist sicher kein Zufall, daß der Ansatz von Deutsch inzwischen auf seine konflikt­

theoretische Fruchtbarkeit hin reaktiviert wird. Dazu hat die empirisch-quantitative Kriegsursachenforschung mit der Entdeckung des Gesetzes des demokratischen Friedens beigetragen, die sich im theoretischen Erklärungsnotstand bezüglich dieses empirischen Gesetzes befindet. Zu dessen Überwindung eignet sich zweifelsohne der Ansatz von Deutsch, er müßte aber in den breiteren Zusammenhang der Wirksamkeit der Norm des innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Gewaltverzichts eingeordnet werden, was ja sein eigentliches theoretisches Anliegen war.

Das neofunktionalistische Integrationskonzept dagegen, so wurde argumentiert, ist zum einen wegen seiner Finalität (der supranationalen Einigung Europas) begrenzt, zum anderen ist diese supranationale Souveränitätsverschiebung nur ein Aspekt der immer wieder aufgestellten These der Erosion nationalstaatlicher Souveränität einerseits, der

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zwischenstaatlichen Integration andererseits. Die These der Souveränitätserosion ist zwar außerordentlich populär, doch auch hier stehen die systematische theoretische Begründung sowie die empirisch-systematische Überprüfung aus.

In der vorgelegten Analyse ist sowohl die Einschränkung auf Gewaltverzicht als das entscheidenden Kriterium der Integration fallen gelassen worden, als auch die Beschränkung auf die Staaten als die einzig zentralen Träger der Integration. Das Konzept der Gemeinschaft besteht aus drei konstitutiven Elementen, den staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren einerseits (den Eliten), der Bevölkerung insgesamt anderer­

seits. Im Integrationsprozeß spielen sie alle eine wichtige Rolle, im positiven wie negativen Sinne. Wenn Verflechtung ein generalisiertes Phänomen offener Gesellschaften ist, in denen die Außenpolitik vergesellschaftet worden ist, dann spielt der Staat, auch wenn dies widersprüchlich erscheinen mag, für den Integrationsprozeß, vorausgesetzt, er ist ein Ziel staatlicher Außenpolitik, eine entscheidende Rolle.

Einerseits verfugt er alleine über die regulative Kompetenz der zwischenstaatlichen und zwischengesellschaftlichen Beziehungen. Er kann sich andererseits direkt in die Gestaltung dieser Beziehungen einschalten und aktiv werden oder indirekt nützliche Beziehungen nichtstaatlicher Akteure fördern (z. B. Doppelbesteuerungsabkommen oder Kulturaustausch) bzw. unerwünschte Handlungsmöglichkeiten nichtstaatlicher Akteure einschränken (z. B. Exportverbot oder Visumszwang).

Deutlich ist somit, daß das Integrationskonzept nach wie theoretisch tragfähig zu sein scheint, wenn darunter eine gewollte Form der Bewältigung der Interdependenz unter den Bedingungen vergesellschafteter Außenpolitik verstanden wird. Integration hat somit eine normative Komponente. Für die theoretische wie empirische Weiterent­

wicklung schlagen wir daher folgende Definition vor, mit der die bisherigen Überlegungen zusammengefaßt werden:

Integration entspricht der Reduzierung der Distanz zwischen zwei oder mehreren Gemeinschaften, der Gesamtbevölkerung zweier oder mehrerer Staaten.

Die Reduzierung der Distanz besteht in der Herausbildung komplementärer Interessen und Werte der kollektiven Akteure einer Gesellschaft, der staatlichen wie der nichtstaatlichen, und der Kommunikation und Transaktionen zwischen ihnen.

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Die Reduzierung der Distanz von zwei oder mehreren Gemeinschaften erfolgt in dem Maße, wie ein ”Wir-Gefuhl” entsteht, sich also eine kollektive Identität auf der Basis der Wertekomplementarität herausbildet.

Diese Definition enthält eine Dimensionen der Distanz bzw. Veränderung der Distanz zwischen zwei oder mehreren Gemeinschaften: die Wertedimension, die die Bevölke­

rung insgesamt betrifft und die legitimatorische Basis für die Handlungen der gesellschaftlichen Akteure darstellt. Sie enthält zwei Dimension der Distanz bezüglich der gesellschaftlichen Akteure (staatliche wie nichtstaatliche), Dispositionen im Sinne von Werten und Interessen einerseits, und aktuelle Handlungen andererseits. Werte haben sowohl eine das Verhalten aktivierende wie eine das Verhalten legitimierende Funktion. Integration entspricht somit der Herausbildung einer kollektiven Identität, die den Prozeß der Verflechtung überlagert und zugleich vertieft.

5.2 Vorläufige Hypothesen

Der staatliche Wille zur Integration ist eine notwendige Bedingung, damit dieser Prozeß sich entwickeln kann. Geht man vom deutsch-polnischen Verhältnis aus, dann kann das Ziel der Integration in dem definierten Sinne auf Seite der Regierungen beider Staaten als gegeben vorausgesetzt werden (Bingen, 1997; Hajnicz, 1995; Ziemer 1996). Im Anschluß daran können zwei allgemeine Hypothesen formuliert werden. Die erste bezieht sich auf die innerstaatliche Dimension.

(1) Je größer die Distanz zwischen den Eliten in einer Gesellschaft bezüglich der Werte und Interessen, desto geringer die Chancen für die politische Führung, grenzüberschreitende Integrationsprozesse in Gang zu setzen.

Das setzt voraus, daß die allgemeine Wertvorstellungen der Eliten in einer Gesellschaft weitgehend kompatibel, d. h. ähnlich sind. Zu diesem Zwecke wurden in dem weitgehend identischen Fragebogen, der in Polen wie in Deutschland einer Stichprobe von Mitgliedern der Positionselite (vgl. hierzu Bürklin et al., 1997) vorgelegt worden ist, eine ganze Reihe von Wertvorstellungen abgefragt, über die gesellschaftliche Organisationsform, über individuelle Freiheitsrechte. Darüber hinaus werden allerdings

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