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An der Abbruchkante der Zeit

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An der Abbruchkante der Zeit

Jean Ziegler: Ein Kämpfer für Gerechtigkeit, im KURIER-Interview vom 26.03.2015.

Jean Ziegler wurde am 19. April 1934 im schweizerischen Thun geboren. Er studierte Soziologie. Ziegler lehrte an der Uni Genf und war mehrere Jahre lang Abgeordneter der Sozialdemokraten im Schweizer Nationalrat. Von 2000 bis 2008 war der Autor zahlreicher Bücher UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Derzeit ist der Globali- sierungskritiker Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates.

Er ist einer der bekanntesten und engagiertesten, aber auch ein umstrittener Globali- sierungskritiker. Auch mit 80 Jahren wird der Schweizer Jean Ziegler nicht müde, für eine gerechtere Welt zu kämpfen. Der Titel seines neuen Buches lautet „Ändere die Welt“.

(Bertelsmannverlag, 2015).

KURIER: Sie sprechen von einer „kannibalischen Weltordnung". Was verstehen Sie darunter?

JEAN ZIEGLER: Den Finanzkapitalismus, der sich wie ein Buschfeuer ausgebreitet hat. Die 500 größten Konzerne sind für 52 Prozent des Weltsozialprodukts verantwortlich und jeder staatlichen Kontrolle entflohen. Sie haben mehr Macht, als je ein Kaiser oder Papst hatte, und eine Weltdik- tatur errichtet. Auf Kosten der Armen: Global müssen 1,10 Milliarden Menschen von weniger als einem Dollar leben, alle fünf Sekunden stirbt ein Kind an Hunger oder den Folgen von Unter- ernährung. Eigentlich wird es ermordet, weil wir erstmals in der Geschichte der Menschheit keinen objektiven Mangel haben, sondern die Welt in Reichtum überquillt und zwölf Milliarden Erden- bürger problemlos ernähren könnte.

Wer stemmt sich gegen eine gerechtere Verteilung?

Eine schmale Oligarchie des Finanzkapitals mit ihrer neoliberalen Wahnidee. Wobei diese eine Struktur schuf, die sich verselbstständigt hat. Ein Beispiel: Die Führung des weltweit größten Lebensmittelkonzerns Nestle liegt in den Händen eines Kärntners, ich kenne ihn gut, er ist ein hochanständiger Mann. Aber wenn er keinen Profit liefert, ist er weg.

Hat die Politik versagt?

An die Nationalstaaten glaube ich schon lange nicht mehr. Die sind determiniert vom Markt. Auch die repräsentative Demokratie ist an ihrem Ende angelangt. Die Menschen wollen ihre Stimme niemandem mehr geben, dem sie nicht mehr glauben. Sie merken, irgendetwas passt nicht, die Unruhe wächst. Mit (dem deutschen Philosophen) Immanuel Kant meine ich, wir stehen an der

„Abbruchkante der Zeit": Entweder es gelingt, die kannibalische Weltordnung zu zertrümmern, oder die Demokratien und Werte der Aufklärung gehen verloren. Dann würde endgültig das Gesetz des Dschungels herrschen. Es geht um diese letzte, entscheidende Schlacht.

Doch wer soll diese „Schlacht" führen?

Die globalen sozialen Bewegungen, wie Attac, Greenpeace, die Bewegung der Landlosen oder der Frauen. Hier sehe ich viel Dynamik, eine Praxis des Widerstandes.

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Aber wenn die Kräfte des Marktes so dominant sind, wie Sie sagen, ist das doch ein aussichts- loses Unterfangen?

Auch die stärksten Mauern fallen durch erste kleine Risse. Denken Sie an Griechenland: Der Sieg der (linken) Syriza war ein unglaublicher demokratischer Aufstand der marginalisierten Bürger.

Auch (die Protestpartei) Podemos kämpft in Spanien gegen das kalte Monster des Neoliberalismus.

Das sind Zeichen der Hoffnung. Es geht darum, die Strukturen transparent zu machen, sie zu brechen und wieder die Oberhoheit zu gewinnen. Erste Risse sehe ich schon.

Was kann jeder Einzelne dazu beitragen?

Auf einer ersten Ebene muss es zu einem Aufstand des Gewissens kommen, zur Wiedererlangung der persönlichen Freiheit. Zweitens brauchen wir eine Veränderung des Konsumverhaltens: keine gentechnisch manipulierten Lebensmittel kaufen, in „Weltläden" fair gehandelte Produkte er- stehen, damit die Bauern in Nicaragua beispielsweise einen gerechten Preis für ihre Kaffeebohnen erhalten, und generell auf Ware aus der Region setzen. Die dritte Ebene ist die caritative - auch kleine Spenden können einem Kind das Leben retten.

Letzteres lindert den Schmerz, aber die Krankheit wird nicht bekämpft.

Da haben Sie recht, aber wenn man die Opfer kennt und nichts tut, könnte ich mir nicht mehr ins Gesicht schauen. Im Kern geht es natürlich um die Bekämpfung des Raubtier-Kapitalismus. Der ist wie ein Lastwagen, der in eine Menschenmenge rast, dann steigt der Fahrer aus, verarztet ein paar und rast weiter. Ich bin nicht gegen diese Hilfe, aber wenn wir den Lkw stoppen, brauchen wir sie gar nicht mehr.

Ist diese heile Welt, die Ihnen vorschwebt, nicht eine Utopie, eine Illusion von Schwärmern?

Der Weg ist gesäumt von Leichen, aber er führt zur Gerechtigkeit. Die Geschichte ergibt Sinn.

Dagegen spricht, dass sich die Ungleichheiten auf der Welt vergrößern. Erstmals besitzt das reichste eine Prozent der Menschheit mehr als die anderen 99 Prozent zusammen.

Ja, es ist schlechter geworden. Aber man darf nicht resignieren, man kennt die Früchte der Bäume nicht, die man pflanzt.

Was gibt Ihnen die Kraft, für Ihre Überzeugungen einen scheinbar ausweglosen Kampf zu führen?

Da halte ich es mit (dem französischen) Schriftsteller Victor Hugo: Ich hasse alle Kirchen, liebe die Menschen und glaube an Gott.

Danke für das Interview.

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