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Ein Algorithmus

und seine Implementierung in Java

1.

Version vom 9. November 2021 Kapitel aus der Vorlesung „Informatik II“

(Studiengang ITET) von Friedemann Mattern

ALGORITHME, s. m. terme arabe, employé par quelques Auteurs, & singulièrement par les Espagnols, pour signifier la pratique de l’Algèbre. Voyez Algèbre. Il se prend aussi quelquefois pour l’Arithmétique par chiffres. Voyez Arithmétique. L’algorithme, selon la force du mot, signifie proprement l’Art de supputer avec justesse & facilité ; il comprend les six règles de l’Arithmétique vulgaire. C’est ce qu’on appelle autrement Logistique nombrante ou numérale. V. Arithmétique, Règle, &c. Ainsi l’on dit l’algorithme des entiers, l’algorithme des fractions, l’algorithme des nombres sourds.

Ein Algorithmus und seine Implementierung in Java

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Lernziele Kapitel 1 Ein Algorithmus in Java

▪ Fähigkeit, elementare Java-Programme erstellen zu können

▪ Kenntnis von Argumenten und Methoden zu Korrektheit von Algorithmen (Invarianten, Induktion, Semantikkalkül)

▪ Verständnis von Prinzipien der kryptographisch gesicherten Kommunikation (Public-Key, Diffie-Hellman-Prinzip)

Thema / Inhalt

Wir lernen als „running gag“ ein uraltes Verfahren zur Multiplikation von zwei Zahlen, die

„altägyptische Multiplikation“, kennen. Es ist einfach anwendbar, erstaunlich effizient und für das Dualsystem (also für CPUs heutiger Computer und Mikroprozessoren) bestens geeignet.

Dass unser Java-Programm bei der Multiplikation mit 0 abstürzt, sonst aber für alle natürlichen Zahlen korrekt ist, erscheint zunächst verwunderlich. Um die Korrektheit zu beweisen, ent- wickeln wir formale (d.h. auf Prinzipien der Mathematik und der Logik) beruhende Verfahren.

Die erstaunliche Einsicht: Erstens ist bei einem Algorithmus weniger das, was sich ändert, als das was gleich bleibt („Invariante“) relevant; und zweitens sind Programme nicht einfach da- hingeschriebene Anweisungen an einen Computer, sondern selbst mathematische Objekte, die sich mit einem mathematischen Kalkül behandeln und dadurch auch verifizieren lassen.

Die „altägyptische Multiplikation“ lässt sich in kanonischer und einfacher Weise verallgemeinern zu einem Verfahren, das sehr effizient die Exponentialfunktion xy realisiert. Dieses stellt den

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Thema / Inhalt (2)

Kern wichtiger kryptographischer Verfahren dar, womit die Kommunikation in offenen Netzen verschlüsselt und abgesichert wird. Das Erstaunliche ist, dass man über das unsichere Netz mit einem Unbekannten einen Geheimschlüssel (zur Verwendung bei der späteren eigentlichen Kommunikation) vereinbaren kann, der tatsächlich „geheim“ bleibt, auch wenn Andere das Verfahren genau kennen und jedes Bit der Schlüsselvereinbarung (und der nachfolgenden damit verschlüsselten Kommunikation) abhören können. Als die Geheimdienste entdeckten, dass auch total überwachte Personen gemeinsame Geheimnisse entwickeln können, waren sie elektrisiert und versuchten, daraus selbst ein streng gewahrtes Geheimnis zu machen. Geholfen hat es nicht viel, bald darauf wurde dies unabhängig auch in der akademisch-zivilen Welt entdeckt!

Ist das Prinzip der „altägyptischen Multiplikation“ genauso gut wie das schriftliche Multiplikations- verfahren, das wir in der Schule lernen? Was aber soll hier „gut“ heissen und kann man eine solche Qualitätsfrage unabhängig vom Kontext generell beantworten? Um eine tiefergehende Diskussion in späteren Kapiteln vorzubereiten schliesslich geht es um den zentralen Begriff der Komplexität schätzen wir ab, wie der Zeitbedarf bei der Multiplikation von x mit y funktional von den beiden Parametern x und y abhängt.

Der Algorithmusbegriff liefert viel Stoff für den eingeflochtenen historischen Themenstrang dieses Kapitels. Benannt nach einem persischen Mathematiker und Astronomen des 9. Jahrhun- derts, ist er historisch mit den Rechenregeln bei Verwendung der indisch-arabischen Dezimal- ziffern (einschliesslich der Wahnsinnserfindung der Null) verbunden, wird heute aber in einem viel umfassenderen Sinne verstanden und löst Befürchtungen und Ängste aus entscheiden evtl. rational-kalte Algorithmen im Dienste diffuser Mächte über unser Schicksal? Auch wie die Informatik selbst zu ihrem Namen kam, ist nebenbei vielleicht ganz interessant zu erfahren.

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Thema / Inhalt (3)

Aber hauptsächlich dreht sich hier fast alles um Leibniz, den Philosophen. Denn Leibniz war keineswegs nur Philosoph, sondern eben auch Mathematiker und vieles mehr ein echter Universalgelehrter. Ein Vordenker vieler Bestrebungen der Informatik, der (zu seinem Leid- wesen, was er selbst aber bestenfalls nur ahnen konnte) seiner Zeit meilenweit voraus war und den man mit Fug und Recht zum Schutzheilgen der Informatik ernennen könnte, sollte sie jemals eines solchen bedürfen. Nach dem dreissigjährigen Krieg in eine Zeit hineingeboren, welche wieder offener war für Wissenschaft und Fortschritt, propagierte er beispielsweise das Dualsystem und konstruierte Rechenmaschinen, die die vier Grundrechenarten beherrsch- ten. Ein mühsames Geschäft, musste doch alles rein mechanisch funktionieren, wobei Werk- zeuge, Werkstoffe und Ingenieurskunst verglichen mit heute noch weit unterentwickelt waren.

Aber eigentlich geht es Leibniz sowieso um mehr als um ein praktisches Rechenwerkzeug (dessen seinerzeit noch weit in der Zukunft liegende ökonomische Wirkung er übrigens recht treffend einschätzt) er sah dies mehr als ein erstes Beispiel auf dem Weg zur generellen Mechanisierung bzw. Automatisierung der menschlichen Geisteskraft (dem „Gemüt“, um in der Terminologie von Leibniz zu bleiben), wobei man unterwegs dann eben noch die Logik und die menschliche Sprache formalisieren müsse... Fast meint man, ein verwegenes Programm zur Etablierung der künstlichen Intelligenz herauszuhören! Leibniz war optimistisch und glaubte, dass dies alles irgendwann gelingen sollte. In späteren drei Jahrhunderten mussten aber durch Berühmtheiten wie George Boole, Gottlob Frege, Bertrand Russell, David Hilbert, Kurt Gödel und Alan Turing, um nur einige zu nennen, noch einige Durchbrüche erzielt werden und teils auch Rückschläge eingesteckt werden und auch heute sind wir noch nicht ganz am Ziel! Die Beiträge von Leibniz‘ „Nachfolgern im Geiste“ sind zu umfangreich, um sie hier zu würdi- gen, wir werden im Bonus-Teil dieses Kapitels einige ihrer Leistungen aber zumindest andeuten.

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Zum Begriff „Algorithmus“

Def.: Nach einem bestimmten Schema ablaufendes Rechenverfahren.

Allgemeiner: Eindeutige Handlungsvorschrift zur schrittweisen Lösung eines Problems bzw. einer Klasse von Problemen.

Ein klassisches Beispiel ist der euklidische Algorithmus, mit dem zu zwei beliebigen positiven ganzen Zahlen (nach endlich vielen Schritten in Form einzelner elementarer Rechenoperationen) deren grösster gemeinsamer Teiler ermittelt wird. Andere typi- sche Beispiele sind Primzahlbestimmungen, Apps zum Schachspielen oder Sortierver-

fahren, mit denen z.B. eine Liste von Wörtern alphabetisch (d.h., wie im Lexikon)

angeordnet werden kann.

Möchte man präzise Aussagen über Algorithmen bzw. die durch sie lösbaren Proble- me

treffen (etwa: „für dieses Problem gibt es keinen wesentlich effizienteren Algo-

rithmus

als...“), dann muss der Begriff exakt definiert werden (denn die Nichtexistenz

eines Objektes zu beweisen, das nicht eindeutig spezifiziert ist, ist ein unmögliches Vorhaben), insbesondere muss genau festgelegt werden, welche Operationen bzw.

elementaren Schritte man bei einem Algorithmus zulässt; in der Algorithmentheorie spielen daher abstrakte Maschinenmodelle (wie z.B. die klassische Turingmaschine) eine wichtige Rolle.

Algorithmen adressieren Menschen mit ihrem Kontextwissen und sachgerechten In- terpretationen, sie sind umgangssprachlich oder in Form von „Pseudocode“ formu- liert; Computer als Maschinen benötigen i.a. detailliertere und präzisere Programme.

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Zum Begriff „Algorithmus“ (2)

Ein Algorithmus ist die Beschreibung eines Verfahrens, um aus gewissen Eingabegrössen bestimmte Ausgabegrössen zu berechnen. Dabei müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:

1. Spezifikation

Eingabespezifikation: Es muss genau spezifiziert sein, welche Eingabegrössen erforderlich sind und welchen Anforderungen diese genügen müssen, damit das Verfahren funktioniert.

Ausgabespezifikation: Es muss genau spezifiziert sein, welche Ausgabegrössen (Resultate) mit welchen Eigenschaften berech- net werden.

2. Durchführbarkeit

Endliche Beschreibung: das Verfahren muss in einem endli- chen Text vollständig beschrieben sein.

Effektivität: Jeder Schritt des Verfahrens muss effektiv (d.h.

tatsächlich) mechanisch ausführbar sein.

Determiniertheit: Der Verfahrensablauf ist zu jedem Zeit- punkt fest vorgeschrieben.

3. Korrektheit

Partielle Korrektheit: Jedes berechnete Ergebnis genügt der Ausgabespezifikation (sofern die Eingaben der Eingabespe- zifikation genügt haben).

Terminierung: Der Algorithmus hält nach endlich vielen Schritten mit einem Ergebnis an (sofern die Eingaben der Eingabespezifikation genügt haben).

Wir bemühen noch eine Lehrbuchde- finition (Wolfgang Küchlin, Andreas Weber: „Einführung in die Informa- tik“, Springer). In diesem Buch wer- den wir noch auf einige weitere As- pekte aufmerksam gemacht:

„Ein Algorithmus muss ein Verfahren sein, das (ohne weiteres Nachden- ken) von einer Maschine mechanisch ausgeführt werden kann. Ein Kor- rektheitsbeweis des Verfahrens im mathematischen Sinne ist nur dann möglich, wenn auch eine mathema- tisch präzise Spezifikation vorliegt.

Die präziseste Sprache zur Spezifika- tion ist die Sprache der mathemati- schen Logik. In der Praxis ist man oft zu weniger formalen Problembe- schreibungen in natürlicher Sprache gezwungen (sog. Pflichtenhefte), die umfangreich und mehrdeutig, oft auch inkonsistent sind. Solche Aufgaben- stellungen mit notgedrungen vagen Zusicherungen begünstigen dann ge- richtliche Auseinandersetzungen dar- über, ob der programmierte Algorith- mus das tut, was der Kunde wollte.“

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Zum Begriff „Algorithmus“ (3)

Ein Algorithmus kann typischerweise eine ganze Klasse parametrisierter Probleme bearbeiten. So ist die Beschreibung, wie man am schnellsten von Ascona nach Brindisi kommt, kein Algorithmus im eigentlichen Sinne (auch wenn diese eine Handlungsanweisung an einen autofahrenden Menschen darstellt), sondern höchs- tens das Ergebnis eines Kürzeste-Wege-Algorithmus, welcher für einen beliebigen Startpunkt A den kürzesten Weg zu einem beliebigen Ziel B ermittelt (wobei dann Parameter A mit „Ascona“ und B mit „Brindisi“ instanziiert wurde). Das zugrunde- liegende Strassennetz stellt dabei typischerweise einen weiteren Eingabeparame- ter dar oder ist fest eingebaut.

Kürzeste- Wege- Algorithmus Start-

punkt A Ziel- punkt B

Kürzes- terWeg A → B

Bis Locarno Wegweisern folgen; dann E35, A1, A14 / E45 (Autostrada Adriatica) folgen; bei Ausfahrt Bari Nord auf E55 in Richtung Bari fahren und weiter auf Autostradale Bari-Bologna;

Ausfahrt Richtung Lecce / Brindisi nehmen und weiter auf Strada Statale SS379 bis Via Provinciale Lecce / Strada Comunale 80 fahren;

weiter auf SS16 / SS613;

Ausfahrt Brindisi Porta Lecce nehmen.

Ein Kochrezept ist so wenig ein Algorithmus, wie eine Wegbe- schreibung ein Navigations- system ist. -- Sebastian Stiller

Strassennetz In geeigne-

ter Beschrei- bung, z.B.:

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„Algorithmus“ im Wörterbuch der Philosophie

Hans Hermes (1912 – 2003; Promotion in Münster, Professuren in Münster und Freiburg, Arbeitsgebiete mathemati- sche Logik und Berechenbarkeitstheorie) verfasste den Wörterbucheintrag zu „Algorithmus“ im 8-bändigen „Historischen Wörterbuch der Philosophie“. Hier ein Auszug; die Lektüre des weiterführenden Gesamtartikels ist empfehlenswert!

Der Begriff des A. hat sich aus der Mathematik entwickelt. Er ist grundlegend als Hilfsmittel für die Beschreibung und Beurteilung wesentlicher Züge der Mathematik (und der exakten Naturwissenschaften). Ein A. kann zunächst grob gekennzeichnet werden als ein Rechenverfahren (eine Rechenmethode), welches schrittweise vorgeht. Trotz der mo- dernen Präzisierungen verschiedener mit dem Begriff des A. zusammenhängender Begriffe […] muss man auch heute noch den Begriff des A. durch Beispiele zu erfassen versuchen. Einfache Beispiele für A. sind: (a) die in der Schule gelernten Verfahren zur Addition, Subtraktion und Multiplikation von natürlichen Zahlen, welche in Dezimaldarstellung gegeben sind. Diese A. brechen nach endlich vielen Schritten mit dem Resultat ab. Nicht abbrechend ist dagegen im allgemeinen der Divisions-A., z.B. bei der Berechnung von 3:7 = 0,428.., oder das Verfahren zur Berechnung einer Quadratwurzel, z.B. für √2 = 1,414...; (b) der (abbrechende) «euklidische A.» zur Bestimmung des größten gemein- samen Teilers zweier natürlicher Zahlen; (c) die Verfahren zur Darstellung der Lösungen von quadratischen, kubischen oder biquadratischen Gleichungen mit Hilfe von Wurzelzeichen. […]

Es ist für die heutige Auffassung wesentlich, dass die in den Beispielen angedeuteten Verfahren erst dann A. genannt werden dürfen, wenn ihre Ausübung in allen Einzelheiten genau vorgeschrieben ist, viel genauer als dies üblicherweise geschieht. Die Vorschrift muss von endlicher Länge sein. Die Durchführung eines A. darf keine speziellen mathemati- schen Fähigkeiten erfordern. Die Anweisung muss derart sein, dass jeder, welcher die Sprache versteht, in der sie abgefasst ist, nach ihr handeln kann. Verfolgt man diesen Gedanken, so kommt man zu der Auffassung, dass man die Ausübung eines durch eine solche Vorschrift gegebenen Verfahrens sogar einer Maschine muss überantworten können.

Wie die obigen Beispiele zeigen, kann ein A. im allgemeinen auf verschiedene Ausgangsgegebenheiten angewendet werden (z.B. der Additions-A. auf verschiedene Summanden).

Bei der Durchführung eines A. operiert man nicht z.B. mit abstrakten Zahlen, sondern mit «handgreiflichen» Gegen- ständen, wie etwa bei der Dezimaldarstellung von Zahlen mit den Ziffern «0», ..., «9». Andere für Rechnungen ver- wendbare Zahldarstellungen sind z.B. die Dualdarstellung mit den beiden Ziffern «0», «1», oder die Darstellung durch Strichfolgen ||...|, oder die Darstellung durch Rechenpfennige auf einem Abakus (Rechenbrett), auf welchem man in Eu- ropa bis zum 15. Jh. die elementaren Rechenoperationen durchzuführen pflegte. […] Ganz allgemein kann man sagen, dass man bei einem A. mit wohlunterscheidbaren «handgreiflichen» (d.h. manipulierbaren) Gegenständen operiert. […]

Auf den Begriff des A. lassen sich verschiedene wesentliche Begriffe zurückführen. Dazu gehören die Begriffe der Be- rechenbarkeit, Entscheidbarkeit und Aufzählbarkeit.

DOI: 10.24894/HWPh.1879, www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*[%40attr_id%3D%27verw.algorithmus%27]

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Kapitel 1.

Ansätze eines allgemeinen Rechenkalküls A.) Allgemeines

1) Definition des Begriffes "Rechnen"

Unter "Rechenaufgaben" wollen wir im folgenden ganz allgemein alle die schematischen Operationen, Formeln, Ableitungen, Algorithmen usw. verstehen, bei denen für alle in Frage kommenden Fälle nach einer bestimmten

Vorschrift aus gegebenen Ausgangsangaben bestimmte Resultatsangaben abgeleitet werden. Der Prozeß der Bildung dieser Resultate wird mit "Rechnen" bezeichnet.

Zur untersten Stufe gehört das Rechnen mit Zahlen; hier ist der Rechnungsgang bereits so schematisch und klar, daß mechanische Lösungen bereits in großem Umfang angewendet werden.

Rechnen heißt also noch einmal kurz: "Aus gegebenen Angaben nach einer Vorschrift neue Angaben bilden."

„Algorithmus“ = verallgemeinerte Rechenvorschrift?

Konrad Zuse (1910–1995) war ein Pionier der Com- puterentwicklung; er konstruierte u.a. während des zweiten Weltkriegs einen programmgesteuerten Re- chenautomaten (Z4), mit dem die ETH den ersten Computer einer Universität in Kontinentaleuropa er- hielt. Wir kommen später auf ihn und die Z4 zurück.

Hier ist zunächst interessant, dass er sich zeitgleich Gedanken dazu machte, was eigentlich das Prinzip des Rechnens ausmacht, das Computer (die seiner- zeit nur als Maschinen zum Bearbeiten mathemati- scher Aufgaben verstanden wurden) automatisiert durchführen.

Mathematiker wie Alan Turing oder Alonso Church hatten sich Mitte der 1930er-Jahre in theoretisch- mathematischer Hinsicht mit dem Problem der Be- rechenbarkeit befasst; Zuse hingegen war Ingenieur und stellte sich die pragmatische Frage, wie man ei- ne Rechenaufgabe so (in Form eines Rechenplans) formuliert, dass eine Maschine sie ausführen kann.

Ein „Plankalkül“, ein algorithmischer Programmier- formalismus, schwebte ihm vor. (Die Begriffe „Pro- gramm“ oder gar „Programmiersprache“ existierten seinerzeit noch nicht!) Dabei wurde ihm schnell klar, dass man mit solchen – eigentlich für das Rechnen konzipierten – Maschinen nicht nur mathematische Aufgaben, sondern viel allgemeinere Probleme bear- beiten kann. Er definierte daher 1944 „Rechenaufga- be“ so, wie wir heute „Algorithmus“ verstehen – und suchte dann nach einer Sprache, mit der sich eine solche Aufgabe für seine Rechenautomaten (bzw.

„Algorithmenprozessoren“?) klar formulieren lässt.

Rechnen mit Zahlen sei nur noch ein Spezialfall.

Konrad Zuse: Ansätze ei- ner Theorie des allgemei- nen Rechnens, ca. 1944 (unpubliz. Manuskript)

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„Algorithmus“ – historische Aspekte

Historische Begriffsauffassung (ab dem Mittelalter): Rechenrezepte, speziell für die (seinerzeit neue) Dezimalzahlen-Arithmetik und die Algebra.

«Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers»

von Diderot und D’Alembert, 1751

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Algorithmus, unter dieser Benennung werden zusammen begriffen die 4 Rechnungs-Arten in der Rechen-Kunst, nemlich addiren, multipliciren, subtrahiren und dividiren. Davon unter dem Wort Species mehr zu finden. Algorithmus infinitesimalis, heissen

„Algorithmus“ – historische Aspekte (2)

Im „Vollständigen Mathematischen Lexicon“

von Christian von Wolff (1734) findet sich ebenfalls die ältere Begriffsauffassung von der Kunst des Rechnens (vor allem der De- zimal-Arithmetik):

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Zur Historie:

The Craft of Nombryng

Noch deutlich älter (von ca. 1300) ist ein frühenglisches Manuskript über die Kunst des Zählens und Rechnens mit indischen Ziffern, in dem der Begriff

„algorism“ (bzw. „algorym“, „augrim“) auftaucht (Eggerton MS. 2622, British Museum: „It measures 7” × 5”, 29-30 lines to the page, in a rough hand. The English is N.E. Midland in dialect.“) Es handelt sich um einen Kommentar und erweiterte Übersetzung des latei- nischen Traktats Carmen de Algorismo von Alexandre de Villedieu (ca. 1240).

Damals populär, aber falsch, war die Annahme, dass das Wort auf einen indischen König „Algor“ zurückgeht oder vom griechischen Wort „algos“

abstammt.

Auf den nachfolgenden Seiten finden sich eine Transliteration der ersten Ma- nuskriptseite sowie erläuternde Anmer- kungen dazu aus dem Buch „History of Mathematics” von David E. Smith.

(13)

Zur Historie:

The Craft of Nombryng Transliteration

Hec algorism us ars p re sens dicit ur ; in qua Talib us indor um fruim ur bis qui n q ue figuris.

1

This boke is called þe boke of algorym, or Augrym aft er lewd er vse. And þis boke tretys þe Craft of Nombryng, þe quych crafte is called also Algorym.

Ther was a kyng of Inde, þe quich heyth Algor, & he made þis craft. And aft er his name he called hit algory m ; or els anoþ er cause is quy it is called Algorym, for þe latyn word of hit s. Algorism us com es of Algos, grece, q uid e st ars, latine, craft on englis, and rides, q uid e st nu me rus , latine, A nomb ur on englys, inde d icitu r Algorism us p er addic i one m hui us sillabe m us & subtracc i onem d & e, q ua si ars num er andi.

2

¶ fforthermor e

3 ȝe most vnd

ir stonde þ a t in þis craft ben vsid teen figurys, as here ben e writen for ensampul, ¶ Expone þe too v er sus afor e

4

: this p re sent craft ys called Algorism us , in þe quych we vse teen signys of Inde. Questio. ¶ Why ten fyguris of Inde? Solucio. for as I haue sayd afore þai wer e fonde fyrst in Inde of a kyng e of þat Cuntre, þ a t was called Algor. ¶ Prima sig nifica t unu m ; duo ve r o s e c un da

5

: ¶ Tercia sig nifica t tria; sic procede sinistre. ¶ Don e c ad extrema m venias, que cifra voca tur . ¶ Cap itulu m primum de significac i o n e figurar um . ¶ In þis verse is notifide þe significac i on of þese figur is . And þus expone the verse. Þe first signifiyth on e , þe secu n de signi

[*fiyth tweyn e

]… Die schwierig zu verstehende

Null (bedeutet für sich nichts!) ist hier in anderer Farbe notiert

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1These are the two opening lines of the

Carmen de Algorismo

, of Alexandre de Villedieu (

c.1240

). It is translated a few lines later: “This present craft is called Algorismus, in the which we use ten figures of India.”

2“Inde dicitur Algorismus per addicionem huius sillabe

mus

& subtraccionem

d

&

e

, quasi ars numerandi (Whence it is called Algorismus by the addition of this syllable

mus

, and the taking away of

d

and

e

, as if the art of numbering).” This idea had considerable acceptance in the 13th century.

3“Furthermore,” the

f

being doubled for a capital. “Furthermore you must under- stand that in this craft there are used ten figures.” The forms of the numerals given in the original were the common ones of the 12th and 13th centuries. The zero was not usually our form, but frequently looked more like the Greek

phi

. The 7, 5, and 4 changed materially in the latter part of the 15th century, about the time of the first printed books.

The sequence here shown is found in most of the very early manuscripts, the zero or nine being at the left.

4“Explain the two verses afore.”

5“The first means one, the second two, the third means three, and thus proceed to the left until you reach the last, which is called cifra.” The author is quoting from the Carmen of Alexandre de Villedieu:

Prima significat unum; duo vero secunda;

Tertia significat tria; sic procede sinistre

Donec ad extremam venias, ques cifra vocatur.

Zur Historie:

The Craft of Nombryng Erläuterungen

Studenten mussten im Mittelalter viel auswendig ler- nen, da Kopien handgeschriebener Bücher selten und kostbar waren. Rhythmen und Reime halfen dabei; sie waren der Klarheit aber abträglich –daher entstan- den zu solchen Werken oft erläuternde Kommentare.

Die Null wurde also „cifra“ genannt, nach dem Arabischen „sifr“ (رْف ِص) für „nichts“; daraus dann auch „Ziffer“

Kann man mit „Lehrge- dicht über das Ziffern- rechnen“ oder „Ode an die Arithmetik“ übersetzen

(15)

Popularität des Wortes „Algorithmus“

Relative Häufigkeit des Wortgebrauchs im Verlauf der Zeit, basierend auf den von Google eingescannten Büchern (nach Erscheinungsjahr) https://books.google.com/ngrams

▪ Begriffe wie „euklidischer Algorithmus“ waren schon weit vor dem 20. Jh. populär

▪ Der Logiker Alonzo Church verwendet 1936 bereits „algorithm“ im heutigen Sinne,

während Alan Turing um diese Zeit noch von „mechanical process“ spricht

Mitte des 20. Jh. bürgerte sich „Algorithmus“ generell für „Rechenverfahren“ ein

1954 veröffentlicht z.B. Andrei Andrejewitsch Markow jun. (1903 – 1979), Sohn des gleichnamigen berühmten Stochastikers, ein Buch mit dem Titel „Теория алгорифмов“

Ende der 1950er-Jahren wurde zur computerbasierten Lösung numerischer Probleme die „algorithmische“ Programmiersprache ALGOL entwickelt

algorism

* 200

algorithm

Algorithmus

„Algorithmus“ bzgl. des deutschen Wortschatzes;

„algorithm“ und „algorism“ (letzteres hier mit Faktor 200 überhöht) bzgl. des englischen Wortschatzes;

ab 1925 wird im Englischen die Form „algorithm“

öfter verwendet als „algorism“, dann zunehmend mit der heute gebräuchlichen Bedeutung.

(16)

Popularität des Wortes „Algorithmus“ (2)

Die plötzliche Popularität zeigt sich beim Zeitungskorpus des „Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache“ (DWDS, www.dwds.de). Grundlage bildet nicht wie bei Google Books der Wortschatz aus Büchern, sondern eine Vielzahl bedeutender überregional verbreiteter deutschsprachiger Tages- und Wochenzeitungen mit über 16 Mio. Dokumenten und insgesamt ca. 375 Mio. Sätzen sowie mehr als 6 Mrd. Tokens. Dadurch wird eher reflektiert, was in der öffentlichen Diskussion populär ist. Das DWDS-Projekt wird von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften betrieben.

It is interesting to observe how the term “algorithm”

has taken the place of concepts like “technology,” “sys- tem,” or “digital media.” […] At the hands of ethnogra- phers, historians, and sociologists, the formerly stable figure of the algorithm disappears into a range of other concepts and relations, including “sociotechnical sys- tems,” “material history,” “order,” or “culture.” This does not exactly make the initial question any easier.

What actuallyis an algorithm? -- Malte Ziewitz, 2016.

Erst vor kurzer Zeit ging „Al- gorithmus“ in den allgemei- nen Wortschatz über, einherge- hend mit einer gewissen Ver- schiebung des Wortgebrauchs und damit auch der Bedeutung.

2005 - 2017

(17)

Algorithmus =?=

Künstliche Intelligenz

Das Departement Informatik der ETH Zürich sah sich im Dezember 2019 veranlasst, die zunehmende Gleichsetzung von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz selbst innerhalb der ETH zu kritisieren. Anlass war der Entwurf des Strategie- und Entwicklungsplans 2021-2024 der ETH Zürich. In einem Brief an den Präsidenten der ETH heisst es:

We strongly urge a clear distinction between “algorithms” and “artificial intelligence”, partly because it reflects reality, but mostly because the confusion of these two very different concepts in popular discourse muddies the already difficult discussion of the implications of “Digitalisierung”.

For clarity, “algorithms” are a foundational concept in computer science, and refer to specific recipes or procedures for calculating values or performing actions. “Artificial In- telligence” is a broad field within computer science, and deals with automated decision making, planning, etc. “Machine learning” might be considered a subset of AI, in which algorithms are used together with training data to create models, which are then used as a basis for decision making, etc. The distinction between “algorithm” and “learned model” in ML is particularly important.

Wo Künstliche Intelligenz drauf- steht, sind oft nur Algorithmen drin. -- www.marconomy.de

Im Februar 2021 veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie „Wie Deutschland über Algorithmen schreibt“ (Untertitel: „Eine Analyse des Mediendiskurses über Algorithmen und Künstliche Intelligenz“). Auf den 52 Seiten taucht das Wort „Algorithmus“ bzw. „Algorithmen“ 131 Mal auf, aber fast ausschliesslich in der Wendung „Algorithmen und künstliche Intelligenz“. Der Begriff „Algorithmus“ wird nicht erläutert, im ersten Satz des ersten Kapitels aber als „neue Technologie“ charakterisiert. Das Titelbild zeigt einen Men- schen, der entweder des Lesens unkundig ist oder aber auf dem Kopf stehende Zeitungstexte lesen kann.

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Bedeutungsverschiebung von „Algorithmus“

Die oben angesprochene Bedeutungsverschiebung des Begriffs „Algorithmus“ in jüngs- ter Zeit wird derzeit noch kaum explizit thematisiert; im französischsprachigen Wikipedia (fr.wikipedia.org/wiki/Algorithme, Juli 2019) findet sich allerdings eine Aussage dazu:

Dans la vie quotidienne, un glissement de sens s’est opéré, ces dernières années, dans la notion d’« algorithme » qui devient à la fois plus réducteur, puisque ce sont pour l’essentiel des algorithmes de gestion du big data, et d’autre part plus universel en ce sens qu’il intervient dans tous les domaines du comportement quotidien. La famille des algorithmes dont il est question effectue des calculs à partir de grandes masses de don- nées (les big data). Ils réalisent des classements, sélectionnent des informations […].

Les implications sont nombreuses et touchent les domaines les plus variés.

Das neu aufgekommene nicht-technische Framing von Algorithmen unter ethischen und kulturellen Gesichtspunkten ist eine Quelle teilweise bizarrer Missverständnisse, etwa wenn Fachleute für Algorithmen benannt werden sollen. Die Soziologen Jonathan Roberge und Robert Seyfert sprechen in ihrem Aufsatz „Was sind Algorithmuskulturen?“ der In- formatik sogar prinzipiell eine relevante Meinung dazu ab: „Wir würden sogar so weit gehen zu behaupten, dass der computerwissenschaftliche Diskurs algorithmische Prakti-..

Im Zeitalter von Machine Learning sind Algorithmen nicht mehr einfach nur Re- zepte. Wenn es schon eine Küchenanalo- gie sein soll, dann sind Algorithmen eher das gesamte Kochen. -- Anna Jobin

Wer die Anweisung erhält, mit Milch, Mehl und Äpfeln etwas Schmackhaftes zu kochen, wird nicht zwangsläufig ei- nen Apfelkuchen backen. -- Anna Jobin

ken konzeptuell ausschliesst.“ Die Begründung bleibt allerdings recht unscharf: „...da es ihrer DNA anhaf- tet, Algorithmen über Präzision und Korrektheit zu definieren. Computerwissenschaftler können Abwei- chungen einzig menschlichen Routinen zurechnen...“

(19)

Algorithmen im soziotechnischen Kontext

Die Bedeutungsverschiebung von Algorithmen wird auch bei einem Aufsatz von Rob Kitchin

“Thinking critically about and researching algorithms” deutlich (2017, Auszüge):

Algorithms need to be understood as relational, contingent, contextual in nature, framed within the wider context of their socio-technical assemblage. From this perspective, ‘algorithm’ is one element in a broader apparatus which means it can never be understood as a technical, objective, impartial form of knowledge or mode of operation.

Code is not purely abstract and mathematical; it has significant social, political, and aesthetic dimensions, inherently framed and shaped by all kinds of decisions, politics, ideology […].

Whilst programmers might seek to maintain a high degree of mechanical objectivity – being distant, detached and impartial in how they work and thus acting independent of local customs, culture, knowledge and context – in the process of translating a task or process or calculation into an algorithm they can never fully escape these.

Wer diese Eigenschaften von Algorithmen als fabrizierte Fiktion abtue, sei “far from being ob- jective, impartial, reliable and legitimate”. Der Autor kritisiert dementsprechend auch die Heran- gehensweise der Informatik, die diese Eigenschaften von Algorithmen ausblendet:

In computer science texts the focus is centred on how to design an algorithm, determine its efficiency and prove its optimality from a purely technical perspective. If there is discussion of the work algorithms do in real-world contexts this concentrates on how algorithms function in practice to perform a specific task. In other words, algorithms are understood to be strictly rational concerns, marrying the certainties of mathematics with the objectivity of technology.

Other knowledge about algorithms – such as their applications, effects, and circulation – is strictly out of frame. As are the complex set of decision-making processes and practices, and the wider assemblage of systems of thought, finance, politics, legal codes and regulations, ma- terialities and infrastructures, institutions, inter-personal relations, which shape their production.

(20)

Algorithms – their usage has changed

Few subjects are more constantly or fervidly discussed right now than algorithms. But what is an algorithm? In fact, the usage has changed in interesting ways since the rise of the internet – and search engines in particular – in the mid-1990s. At root, an algorithm is a small, simple thing; a rule used to automate the treatment of a piece of data. If a happens, then do b; if not, then do c. […] At core, computer programs are bundles of such algorithms. Recipes for treating data. On the micro level, nothing could be simpler.

If computers appear to be performing magic, it’s because they are fast, not intelligent.

Recent years have seen a more portentous and ambiguous meaning emerge, with the word “algorithm” taken to mean any large, complex decision-making software system;

any means of taking an array of input – of data – and assessing it quickly, according to a given set of criteria (or “rules”). This has revolutionized areas of medicine, science, transport, communication, making it easy to understand the utopian view of computing that held sway for many years. Algorithms have made our lives better in myriad ways.

Only since 2016 has a more nuanced consideration of our new algorithmic reality begun to take shape. If we tend to discuss algorithms in almost biblical terms, as independent entities with lives of their own, it’s because we have been encouraged to think of them in this way. Corporations like Facebook and Google have sold and defended their algo- rithms on the promise of objectivity, an ability to weigh a set of conditions with mathe- matical detachment and absence of fuzzy emotion. No wonder such algorithmic decision- making has spread to the granting of loans / bail / benefits / college places / job inter- views and almost anything requiring choice.

[Andrew Smith: Franken-algorithms: the deadly consequences of unpredictable code,

www.theguardian.com/technology/2018/aug/29/coding-algorithms-frankenalgos-program-danger]

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Algorithmen: grün, schleimig, gefährlich

Sie kamen scheinbar über Nacht.

Kinder lauschten verstört dem Abendgespräch der Eltern. Da war von bislang unbekannten Wesen die Rede. Sie mussten grün aussehen, vielleicht schleimig, zumal sie erst gerade den düsteren

Tiefen des nahen Sees entstiegen sein mussten, in deren Strömung

sie sich zuvor gleichmässig hin und her bewegt hatten – längste Zeit vollkommen unentdeckt. Aber jetzt waren sie plötzlich überall:

Algorithmen! So eklig wie sie aussehen mussten, so gefährliche Wesen mussten das sein. Verführerisch seien sie. Sie stifteten Nutzen und

erleichterten den Alltag. Damit zögen sie die Menschheit in ihren Bann. Anschliessend hätten sie leichtes

Spiel, die Menschheit in kompletter Abhängigkeit zu beherrschen.

Christian Laux, 6.6.2019,

www.inside-it.ch/articles/54644

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„Fuck the Algorithm“

The defining battle of the Zoomers’ lives will be against AI-enabled oppression

“The story of an algorithm — the scapegoat for government and regulator incompetence

— taking away young people’s futures in the UK is just the start.

That’s the phrase that was chanted during protests against the Great Grade Swindle in London yester- day: ‘Fuck the algorithm!’ It will become the rallying cry for this generation and the generations that fol- low it. Because ‘the algorithm’ is magic now. It’s the thing that politicians – lazy, feckless, vain and money- grubbing – see as the solution to war, health, crime, education, food, and social deprivation. They don’t need policies and human empathy; they need the algorithm.

And Silicon Valley startups, handmaidens for the ra- pacious venture capital class, will keep selling them these magic AI solutions. And those solutions, built on the back of inequalities baked into the current system, will increase inequality and do what the VCs and their political pals want: They will maintain the inequality and maintain the system as it is. AI will not fix the world, it will just break it faster.

So the war has already begun. Stand with the younger generations and join in the chant: Fuck.

The. Algorithm.” [https://medium.com/@brokenbottleboy/fuck-the-algorithm-86c18245af36, 17. Aug. 2020]

www.dw.com/image/54600560_303.jpg

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„Fuck the Algorithm“ (2)

Algorithmen kommen aus Ma- schinen und sind deshalb un- menschlich. Berliner Gazette

„Ein Algorithmus sollte in Großbritannien dafür sorgen, dass Schüler auch ohne Prüfungen eine gerechte Abiturnote be- kommen. Das Ergebnis ist Chaos. […]

Wegen der Corona-Krise waren die Abiturprüfungen abge- sagt worden. Viele Schüler fühlen sich um ihre Zukunft be- trogen, nachdem ihre Noten teilweise deutlich niedriger aus- gefallen waren, als es der Fall gewesen wäre, wenn die Ein- schätzung der Lehrer und Lehrerinnen gegolten hätte. […] Vor Regierungsgebäuden skandierten sie nun unter anderem

‚Fuck the algorithm!‘

Bei dem Streit geht es um die sogenannten A-Levels, die dem Abitur beziehungsweise der Matura ent- sprechen. […] Weil im Zuge der Corona-Einschränkungen in Großbritannien in diesem Jahr die Ab- schlussprüfungen abgesagt worden waren, hatte es zuerst geheißen, dass die jeweiligen Lehrer ange- ben sollen, welche Abschlussnoten sie für ihre Schüler erwarten. […]

Nachdem sich gezeigt hatte, dass es durch den Rückgriff auf die Einschätzungen der Lehrer deutlich mehr As beziehungsweise A*s als in den Vorjahren geben würde, hatte [die zuständige Behörde] Ofqual eine Änderung angekündigt. Danach legte ein Algorithmus die Noten fest und bezog dabei nicht nur die bisherige Leistung der Schüler ein, sondern auch die Ergebnisse der Schule in der Vergangenheit.

Hatte die in den Vorjahren beispielsweise nur jeweils ein A-Level mit Bestnote, dann durfte sich das 2020 nicht ändern. Gab es bislang immer ein Abschlusszeugnis mit der schlechtestmöglichen Note, musste es ein solches auch in diesem Jahr geben. Das kam der BBC zufolge vor allem Absolventen von Privatschulen zugute, aus denen auch in den vergangenen Jahren die besten Ergebnisse gekommen waren. Gleichzeitig wurden in England mehr als ein Drittel der Noten um mindestens eine gesenkt.“

www.heise.de/news/Fuck-the-algorithm-Proteste-in-London-gegen-Corona-bedingte-Abi-Notenvergabe-4872096.html, 17.08.2020

Zum Hintergrund des Protestes einige kurze Ausschnitte aus einem Artikel bei Heise online:

www.telegraph.co.uk/technology/2020/08/17/a-levels-fiasco- has-revealed-socially-toxic-consequences-algorithmic/

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Auszug aus einem längeren Artikel des britischen Guardian vom 18.2.2021 The student and the algorithm:

how the exam results fiasco threatened one pupil’s future, der die Geschichte des Desasters anhand eines Schülers erzählt, der für seine gerechte „menschliche“ Bewertung kämpfte. www.theguardian.com/education/

2021/feb/18/the-student-and-the-algorithm-how-the-exam-results-fiasco-threatened-one-pupils-future

[…] The algorithm plan was announced by Johnson’s education minister, Gavin Williamson, on 18 March 2020. [The English exam regulator] Ofqual spent the next two months toying with possibilities. It came up with 11 candidate algorithms, labelled Approach-1 through Approach-11, ranged next to each other for consideration like prototype rockets. […] Approach-1 was reckoned the most accurate of the lot. By the end of May it had the nod.

In order for Approach-1 to function, it needed to be fed data. Some of this data could be drawn from Ofqual’s own historical records – for instance, how well a school had performed in exams in previous years and some data would have to be generated more speculatively. Teachers around the country were asked to predict what grades their students might have secured if exams had gone ahead. They were also asked to make lists that ranked students against each other by subject. The projected grades and rankings reached Ofqual in mid-June. Because most teachers were expected to be generous, and a minority to be Scroogier than the rest, a failsafe was built into Approach-1 that would adjust the incoming grades up or down based on historical precedent. For instance, did a school tend to get about 10 As in maths a year? And had its teachers projected 12 As for 2020? Well, Approach-1 might suggest, the school’s 10 highest-ranked students in maths could have their As. But students number 11 and 12 would find they were Bs. They might even find they were Cs, if their school by some historical quirk did not typically secure Bs.

If this seems worrisome written down, it perhaps inspired more confidence when accompanied by reassuring graphs, hundreds of which were produced by Ofqual in its planning and testing phase: bell curves, spiky histo- grams, constellation-like scatter plots veined with blue and orange lines. Ofqual already employed statisticians and data scientists because, even in non-pandemic years, it used algorithms to regulate exam grades. Algo- rithms helped knock out regional inconsistencies. They helped flatten year-on-year inflation. In all sectors, in all parts of life, such problem-solving computer models steer important human matters, influencing what

„Fuck the Algorithm“ (3)

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interest rates we’re offered, how long we’ll wait for hip surgery, when’s ideal for the next Justin Bieber album to drop. Before 2020, Ofqual’s algorithms did not draw much public curiosity, let alone criticism. In the summer of 2020, Approach-1 had the support of teaching unions. The governments of Scotland, Wales and Northern Ireland, plotting with their own national exam regulators, had come up with roughly similar algorithms.

By the middle of June, with two months to go until grades were due in students’ hands, all the necessary data was in. At Ofqual, Roger Taylor and his staff studied the grades the algorithm spat out. It seemed as if fairness was being maintained. The grades were not unduly high or low compared with other years. Considered broadly, students from disadvantaged backgrounds were on course to do slightly better in 2020 than they had in 2019. Approach-1 did create a small proportion of anomalous results, less than a quarter of 1%, which gave Ofqual pause. Bright students in historically low-achieving schools were tumbling, sometimes in great, cliff- edge drops of two or three grades, because of institutional records they had nothing to do with. As documents released by the organisation show, Ofqual discussed the problem but were unable to find a solution.

As late as 7 August, Ofqual was concerned enough about the anomalies to send a memo to Boris Johnson’s office, noting “the risks of disadvantage to outlier students”. The public was not informed of this risk and in fact, when Ofqual published a summary of its efforts the following week, to accompany the public release of the Approach-1 grades, Taylor struck a tough, even bolshie note: “Some students may think that, had they taken their exams, they would have achieved higher grades. We will never know.”

Come the morning of 13 August, there were students, thousands, disinclined to leave the matter as vague as all that. The collapse of confidence in what Ofqual and the government had done was instant. At Southmoor Academy in Sunderland, vice-principal Sammy Wright moved between students who were trading pages of grades, stunned. “I tend to be quite positive about things,” said Wright, “but this was a shitshow. All the teachers I know were off-the-map angry, furious on behalf of the kids.” At Spires Academy in Oxford, not historically a high-performer in exams, teachers said they found it especially difficult to console the “outliers”

in the school. Kate Clanchy, on the English staff, told me about her best student, projected to receive the highest possible grade, an A*, but knocked down by algorithm to a C. “She deeply believed she was rubbish,”

said Clanchy. “We had tried all year to demonstrate to her she was not rubbish. Yet here was the system insisting: ‘We know what you are.’”

„Fuck the Algorithm“ (4)

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There would be postmortem disagreements as to whether the algorithm helped or hindered students from disadvantaged backgrounds. Because

of a limitation in Approach-1, niche subjects studied by smaller groups of students tended

to be spared downward adjustment; and on the whole these subjects were more likely to be offered in private, fee-paying schools. While wealthier kids fared better in pockets, Ofqual continued to insist that poorer kids had done better overall. How much consolation this was to devastated individuals can probably be guessed.

Exams rank. Exams sort. In any given year, they pull aside a large number of ambitious kids and bluntly check their ambitions. Exams are cruel like this, but for all the many ways in which they are unfair, they do allow for something useful, which is a sense of agency. You go in clutching your biro – and your fate – in hand. You sit down and maybe you ask one of the patrolling teachers for a folded piece of paper to correct the desk’s dis- tracting wobble. You turn over your page, and now it’s all on you, shit, shit, shit … ! Taylor and Ofqual would quickly admit that Approach-1 contained an awesome flaw. It allowed for no real agency. It did not give indi- viduals, in Taylor’s words, “the ability to affect their fate”. After March, when schools had been closed and exams cancelled, nothing was on the kids. They were hardly involved till they ripped open their envelopes. […]

Ofqual had known since the spring that the Approach-1 algorithm would spit out anomalies. It knew these blips would have to be corrected by human intervention – appeals – if they were to be corrected at all. How something as necessary as a process for making those appeals was missing on 13 August is a story typical of Johnson-era governance. […] Far too late, Johnson’s ministers sought to fiddle with aspects of the appeals process that Ofqual had spent a summer planning. Details were rushed or skimped. Nothing was firmly in place when it mattered. […]

On 16 August, after Roger Taylor acknowledged “a situation that was rapidly getting out of control”, a decision was made that the Approach-1 algorithm was by now so tarnished it would be better if they abandoned it.

Every student in England would now receive the grades that were predicted by their teachers back in June.

[…] “What’s bizarre to me is that we’ve created a system where so much rests on something that’s so in- accurate,” Sam Freedman told me. Freedman is an education executive who during a crammed career has run schools, overseen teacher training, and worked as an adviser inside David Cameron’s government. “Even in a normal year,” Freedman said, “you’ve got people’s lives being decided on a few grades, when those grades have a 50% chance of being wrong.”

„Fuck the Algorithm“ (5)

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By Ofqual’s own admission, about half the grades issued to school leavers in

any given year were in some way aberrant or off. Levels of strictness, pedantry and pity varied from teacher to teacher, marker to marker, region to region. Essay-based subjects in particular were a nightmare for Ofqual to standardise. Such kinks and irregularities as there were got targeted by the algorithms that Ofqual made use of even in non-pan-demic years. These algorithms were a bit like desperate duvet-shakes, to try to get the edges square on a nation’s grades – and even then, when all was said and done, lumps remained.

“So forget Covid,” Freedman said. Every year, school leavers were sent scuttering off this way or that way, dodging life’s queues or joining life’s bottlenecks and jams, based on a filtering system that was appallingly flawed. Freedman could only think we’d stuck by this flawed system so long because no one had come up with anything better. “Because no one’s been prepared to acknowledge what it would mean to dismantle it all.” […]

There was a long, salty meeting between Ofqual’s leadership and the UK parliament’s education committee, broadcast online, which picked over the events of the summer and sometimes felt like a criminal trial in which Taylor, his colleagues, even the Approach-1 algorithm, were codefendants. Approach-1 was already a famous failure. Perhaps it was the first algorithm in the history of computer science to be condemned on the front page of every major British newspaper. During the parliamentary meeting, Taylor was urged to publicly disown his co-creation. It would have been easy for him to blame the crisis on a rogue, out-of-control algorithm. With his usual craven briskness, Johnson had done exactly this, muttering about a “mutant” strain of code. Taylor could not bring himself to denounce Approach-1 in such terms.

The algorithm did what it was supposed to do. Humans, in the end, had no stomach for what it was supposed to do. Algorithms don’t go rogue, they don’t go on mutant rampages, they only sometimes reveal and amplify the cruddy human biases that underpin them. Ofqual’s mistake was to think this exercise – which made plain our usual tricks for filtering and limiting young lives – would be morally tolerable as it played out in public view. Taylor apologised to everyone who had been hurt by Approach-1 and later resigned his position as chair of Ofqual. […] The education minister, Gavin Williamson, would announce, again, that exams were off in 2021. Puffing himself up, for all the world as if he hadn’t been the one to initiate Approach-1 in the first place, Williamson would go on to make a flashy promise that “this year, we will put our trust in teachers rather than algorithms”.

„Fuck the Algorithm“ (6)

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Das Wissenschafts-Fernsehmagazin Quarks & Co brachte bereits im Mai 2014 eine Sendung („Die Macht der Daten“) zum Aspekt der zunehmenden Digitali- sierung und Big Data. Die Sendung bestand aus Beiträgen „Berechnetes Leben“,

„Verräterischer Kassenbon“, „Geld gegen Daten“, „Überwachte Gesundheit“,

„Big Data im Polizeialltag“ und „Gläserner Staat “. Im ersten Beitrag ging es um Probleme, „wenn Algorithmen die Kontrolle übernehmen“, nett illustriert und motiviert durch das Schreckensszenario, beim Autofahren plötzlich im Fluss zu landen – was ja tatsächlich hin und wieder vorkommt:

Vertrauen in Algorithmen?

„Einem Navigationsgerät soll- te niemand blind vertrauen. Es basiert auf Algorithmen, welche Daten auch mal falsch interpre- tieren und den Autofahrer an- statt über eine Brücke zu einem Fähranleger leiten. Etliche Auto- fahrer sind schon im Wasser ge- landet. Quarks & Co zeigt, wo Algorithmen in unserem Alltag schon heute eine Rolle spielen und zu welchen Turbulenzen vollautomatische Entscheidungs- systeme führen können. Denn längst verlässt sich auch die Fi- nanzwelt auf Rechenmodelle.“

www.sueddeutsche.de/image/sz.1.3885819

https://www1.wdr.de/bigdatatalk-pdf100.pdf

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Algorithmen-Bashing im Feuilleton

„Algorithmus“ war einmal ein unschuldiges, ein bisschen langweiliges Wort, so ähnlich wie „Grammatik“ oder „Multiplikation“. [...] In der Presse tauchte das Wort [...] nur dann auf, wenn jemand sagen wollte, dass da etwas Kompliziertes in einem Computer vorging, was man aus Rücksicht auf den Leser jetzt nicht so genau erklären mochte. So ging das bis zum Frühjahr 2010. Dann hielt die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel einen Vortrag in Berlin, in dem sie den Vormarsch der Algorithmen und das Verschwinden des Zufalls beklagte. Wenige Tage später kritisierte Schirrmacher in der FAZ, dass nach dem Ausbruch des Eyjafjallajökull der Luftverkehr aufgrund von Simulationen und „sozia- len Algorithmen“ stillgelegt wurde. Seither ist kein Monat ohne großen Feuilletonbeitrag über das unbeaufsichtigte Treiben der Empfehlungs- und Filteralgorithmen vergangen, und seit dem Erscheinen von Eli Parisers Buch über die „Filter Bubble“ Mitte 2011 ist

„Algorithmus“ auf dem besten Weg zum Schulhofschimpfwort. -- Kathrin Passig im Januar 2012 im Blog der Süddeutschen Zeitung („Zur Kritik an Algorithmen“). [Siehe dazu auch: Miriam Meckel (2011): Wie der Zufall aus unserem digitalen Leben verschwindet, www.spiegel.de/spiegel/print/d-80451034.html]

Pauschale Kritik an Algorithmen, wie sie in den letzten zwei Jahren häufig zu lesen war, ist ungefähr so sinnvoll wie Kritik am „Rechnen“ oder – wie in den 1980er Jah- ren – an „den Computern“. Man müsste erst mal präzise benennen, welche Verfah- ren man meint. Das scheitert in der Regel an der fehlenden Anschauung und dem fehlenden technischen Verständnis der Kritiker.

-- Kathrin Passig im Januar 2012 in der Berliner Gazette, https://berlinergazette.de/kritik-an-algorithmen/

Mir gefällt, wenn jemand von Algo- rhythmus spricht. Denke dann immer an Samba, Rumba oder Cha-Cha-Cha.

-- ElChupacabra

https://apps.derstandard.at/userprofil/postings/521489

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Algokratie

Der Journalist Adrian Lobe verfasst regelmässig Artikel für bekannte Tages- und Wochenzeitun- gen; im Januar 2018 schrieb er in der Süddeutschen Zeitung unter „Vorgekautes Denken“ u.a.:

Klammheimlich haben sich in den letzten Jahren algorithmische Entscheidungssysteme in unseren All- tag geschlichen, die als zentrale Steuerungsinstanzen fungieren. Sie entscheiden autoritativ, ob wir bei der Bank einen Kredit bekommen, welche Informationen wir sehen und, wie in einigen US-Bundes- staaten, wie hoch die Haftstrafe ausfällt. Die technischen Systeme entscheiden über Freiheit oder Un- freiheit und mithin über ureigenste Rechte des Menschen – obwohl sie dazu gar nicht legitimiert sind.

Der Stanford-Soziologe A. Aneesh prägte den Begriff der „Algokratie“, eine Herrschaftsform, bei der Programmcodes eine politische Steuerung implementieren. Durch die Abtretung von Wertentschei- dungen an soziotechnische Systeme wächst Konzernen wie Google oder Facebook eine politische Macht zu. [...] Der Angriff auf die offene Gesellschaft besteht nicht allein darin, dass die große Masse aus politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen wird, sondern, dass das Geschäftsmodell des Silicon Valley das Erbe der Aufklärung aufs Spiel setzt: das vernunftgeleitete, für jeden nachvollzieh- bare Überprüfen und Hinterfragen von Quellen. Die algorithmischen Prozeduren, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, sind eine Rückkehr zu jenen Praktiken, wie sie bereits in der mittelalter- lichen Geistlichkeit verbreitet waren und leisten einer Refeudalisierung der Gesellschaft Vorschub.

Das Problem ist, dass die Undurchsichtigkeit algorithmischer Prozeduren eine der Grundvorausset- zungen für das Funktionieren der Informationsökonomie ist. Google beruft sich auf die Schutzbehaup- tung, dass bei einer Offenlegung seines Algorithmus Spammer ihre Splitter in die oberen Suchränge platzieren könnten und die informationelle Architektur kollabieren würde. Es ist ein systemimmanen- ter Widerspruch, bei dem niemand weiß, wie er aufzulösen wäre.

Der langjährige Google-Chef Eric Schmidt formulierte 2005 das Ziel, für jede Suchanfrage nur noch einen Treffer anzuzeigen. „Wir sollten in der Lage sein, sofort die richtige Antwort zu geben. Wir soll- ten wissen, was jemand meint.“ [...] Die Automatisierung des Denkens, die zwischen jeder Program- mierzeile zu lesen ist, ist nicht nur ein antiaufklärerisches Vorhaben, sondern auch ein Einfallstor für Autoritarismus. [...] Wenn Schmidt behauptet, Mehrfachantworten seien ein „Bug“, also ein Fehler im System, ist das eine Absage an jede Form von Meinungspluralismus.

...wünscht sich eine große Mehrheit der Bevölkerung stärkere Kontrollen von Algorithmen. Es gilt daher, effektive Kontrollmechanismen politisch auszuhandeln, zu entwickeln und zügig umzusetzen. Leitbild muss dabei das gesellschaftlich Sinnvolle und nicht das technisch Mach- bare sein. -- Was Europa über Algorithmen weiß und denkt, Bertelsmann Stiftung, 2019

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Herrschaft der Algorithmen?

Jürgen Kuri, Redakteur bei der Computerzeitschrift c‘t und heise online, schrieb bereits 2010 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung über die aufkommende Sorge vor der algorithmischen Herrschaft unter der Überschrift „Herrschaft der Algo- rithmen Die Welt bleibt unberechenbar“:

Algorithmen beherrschen die Welt, die Gesellschaft, unser Leben, online wie offline.

Hedge-Fonds entscheiden über Wohl und Wehe von Märkten, Firmen und ganzen Volkswirtschaften anhand der Berechnungen, mit denen die Algorithmen der Finanz- mathematik die Welt erklären. Die selbständigen Transaktionen der automatisierten

Mit einem Algorithmus kann man nicht verhandeln. -- Anna Jobin

Börsensoftware lösen Auf- und Abwärtsbewegungen der Aktienindizes, ja ihren plötzlichen Absturz aus. Staaten und Staatengemeinschaften beurteilen die Lage anhand von Simulationen, in denen Algorithmen aus der Vergangenheit die Zukunft vorauszusagen versuchen. Beratergremien nehmen Politikern mittels Modellen Entscheidungen ab, deren Algorithmen mit historischen Wetterdaten, aktuellen Messwerten, archäologischen Gesteinsanalysen und anderen Daten, die sich zu von Men- schen nicht mehr erfassbaren Gebirgen auftürmen, Aussagen über das künftige Klima treffen.

Scoring-Algorithmen bestimmen anhand persönlicher Zahlungsmoral, individuellen Umfelds, Wohn- und Arbeitssituation die Kreditwürdigkeit eines Bürgers. In per WLAN vernetzten Kraft- fahrzeugen entscheiden Algorithmen, welche Autobahn die Strecke mit den wenigsten Staus verspricht und wie schnell oder langsam der Wagen fahren muss, um effizient und schnell ans Ziel zu kommen. Smartphone-Apps zeigen anhand von Bevölkerungsdaten und Kriminalitäts- statistik, ob es eine gute Idee ist, die schicke Wohnung ausgerechnet in diesem oder jenem Wohnviertel zu beziehen. Empfehlungsalgorithmen sagen uns, welche Musik wir hören wollen, welches Buch wir lesen möchten, welche Menschen wir treffen sollen. Die Maschinen, die Algo- rithmen berechnen unser Leben und unsere Zukunft: So ist es, so wird es sein.

www.faz.net/aktuell/feuilleton/herrschaft-der-algorithmen-die-welt-bleibt-unberechenbar-1996485.html

Abbildung

Abbildung aus der „Ars Magna“ von Raimundus Lullus:

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