Kurzessay: Giesinger – Bildungsgerechtigkeit Lisa Lustig
Seminar Schule, Bildung und Gerechtigkeit
Johannes Giesinger stellt in seinem Artikel Was heißt Bildungsgerechtigkeit? die provokante Frage, ob Chancengleichheit das entscheidende Kriterium ist, wenn es darum geht, Bildungsgerechtigkeit herzustellen.
Um Chancengleichheit kritisieren zu können beleuchtet er zunächst die Begriffe Chance und Chancengleichheit. Eine Chance definiert er als eine Gelegenheit, welche eine Wahrscheinlichkeit von größer als 0 hat, dass diese wahrgenommen werden kann. Allerdings bietet diese keine Garantie auf Gelingen. Die Wahrscheinlichkeit liegt also niedriger 1.
Dann untersucht er die verschiedenen Auffassungen von Chancengleichheit in der aktuellen Debatte und nennt auf der einen Seite die Forderung von Canagh, das niemand aufgrund seiner Rasse, Geschlecht etc. bei der Vergabe von Jobs benachteiligt werden darf. Diese Forderung nennt er das Minimalkonzept von Chancengleichheit.
Dem gegenüber stellt er die Position der Glücks-Egalitaristen, welche fordern, dass niemand durch Gründe, für die er selber nicht verantwortlich ist, benachteiligt werden darf. Dazu zählen finanzielle Hürden, familiäres Umfeld, Mangel an Talent bis hin zu bloßem Pech.
Diese Auffassung von Chancengleichheit definiert er als Maximalkonzept.
Zwischen diese beiden Positionen stellt Giesinger das Standardverständnis von Bildungsgerechtigkeit: "Dieses besagt, das Ungleichheiten im Bildungserfolg, welche durch soziale Einflüsse entstehen, illegitim sind, während natürliche Ungleichheiten kein moralisches Problem darstellen." (Giesinger, Seite 373)
An dieser Definition macht er seine Kritik an der Chancengleichheit fest: Denn wenn sozial bedingte Chancenungleichheit beseitigt werden soll, gibt es keinen plausiblen Grund, warum man dies mit der natürlichen nicht auch tun soll.
Denn auch diese ist nicht selbst verantwortet und damit nicht gerecht. Ein weiterer Punkt ist, dass zum Ausräumen sozialer Benachteiligung unvertretbare Eingriffe in die Integrität der Familie notwendig wären.
Als dritten Einwand formuliert Giesinger, dass verschiedene Lebensentwürfe in den Familien durchaus legitim und auch nicht schädlich sind, allerdings unter Umständen zu unterschiedlichen Bildungserfolgen führen können. Ein Korrigieren dieser Entwürfe würde einen eklatanten Übergriff in die freie Persönlichkeitsentfaltung bedeuten.
Daraufhin entwickelt er seine eigene Auffassung von Bildungsgerechtigkeit. Dieses ist im Grunde ein Schwellenkonzept, wonach Gerechtigkeit dann herrscht, wenn jedem die Möglichkeit gegeben wird, ein gutes Leben zu führen, wenn er dies denn möchte. Giesinger fordert somit, dass allen ein hierzu notwendiger Bildungsstand gewährt werden soll, allerdings denen, die besonders begabt sind eine noch höhere Bildung nicht verwehrt werden soll.
Es soll also nicht für jeden eine Chance auf gute Bildung geben, sondern eine gewisse Grundbildung für alle tatsächlich erreicht werden, solange diese sich nicht explizit dagegen wehren.
Das ganze Modell soll allerdings nicht dazu führen, das bestimmte soziale Schichten oder andere Gruppierungen der Gesellschaft in bestimmten beruflichen Segmenten unter- oder überrepräsentiert sind. Denn dann wäre wieder die soziale Stellung ausschlaggebend gewesen für den einzelnen Bildungserfolg und eben nicht die reine Befähigung.
Das Schwellenmodell ist meiner Meinung nach ein klarer Fortschritt gegenüber dem Modell der Chancengleichheit – eben aus den genannten Gründen. Allerdings beinhaltet das Modell
eine Verlagerung der Diskussion in den Bereich der Verteilungsgerechtigkeit. Denn wenn die momentane gesellschaftliche Entwicklung so weiter geht, dass große Teile der Gesellschaft einfach nicht mehr von ihrem Einkommen leben können, obwohl sie eine gute Bildung genossen haben, muss eben bei der Verteilung angesetzt werden, um ein gutes Leben für alle sicherzustellen. Denn ich glaube nicht, dass Bildung das Mittel zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit ist. Vielmehr ist die Bildung das Opfer einer interessengelenkten Verteilungsungerechtigkeit.
Und da bin ich mir nicht so sicher, ob sich Giesinger der Tragweite seiner Konzeption bewusst ist, denn ansonsten müsste er deutlicher in diese Richtung argumentieren um zu verhindern, dass seine Konzeption missbraucht wird, um den Status Quo zu erhalten. Das sich stellende Problem ist, das die Definition davon, was denn nun ein gutes Leben ist, einen ziemlich großen Interpretationsraum lässt, um den es nun zu ringen gilt.