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Die Schwierigkeit einer Definition zwischen Wahrnehmung und Messung

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Der Begriff der Gesundheit

Die Schwierigkeit einer Definition zwischen Wahrnehmung und Messung

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2012 von Herrn Prof. Dr. phil. I Georg Kohler und

Herrn Prof. Dr. med. Felix Gutzwiller als Dissertation angenommen.

Lektorat: Andrea Schilling, http://www.arbeiten-korrigieren.de, D-08056 Zwickau

Druck und Bindung:Buchproduktion Ebertin, D-78333 Stockach Titelabbildung: Foto Corinne I. Heitz

Gestaltung: Julia Ehmer

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, Wiedergabe auf fotomechanischem und digitalem Weg sowie Speicherung auf Datenträgern, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, bleiben vorbehalten.

Postfach

CH-9427 Wolfhalden

© Mai 2014

ISBN 978-3-906279-00-8

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Corinne I. Heitz

Der Begriff der Gesundheit

Die Schwierigkeit einer Definition

zwischen Wahrnehmung und Messung

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2

Die historischen Untersuchungen, wie auch alle syste- matischen Überlegungen, haben uns gelehrt, auf einen Gesundheitsbegriff zu verzichten. Gesundheit ist weder ein Zustand oder Besitz noch ein Ziel! 1

Auf die Schreibweise in männlicher und weiblicher Form wird verzichtet, es gilt grundsätzlich immer auch die weibliche Form. Zitate sind immer kursiv gesetzt, jeder Autor wird in der Fussnote genannt oder/und im Litera- turverzeichnis aufgeführt. Bei Texten aus Quellen, wel- che frei im Internet verfügbar sind, z. B. Online-Lexika, wurde auf einen Verweis verzichtet.

1 Schipperges, Heinrich, zitiert in: Ringeling, Hermann: Ganzheit und Gesundheit, biblisches Menschenbild und medizinische Ethik.

In: Schweizerische Ärztezeitung 51 (1982), S. 2321-28.

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3 Inhaltsverzeichnis

Tabellenverzeichnis ... 6

Teil 1 ... 7

Dank ... 7

Vorwort ... 9

Einleitung ... 11

Teil 2 ... 14

Historischer Abriss und Sammlung verschiedener Begriffsdefinitionen von Gesundheit ... 14

Entwicklung des Begriffs der Gesundheit ... 15

Biologisch funktionelle Definition ... 41

Frauengesundheit und Männergesundheit ... 45

Definitionen von Gesundheit in Wörterbüchern und Nachschlagewerken ... 50

Definition der Welt-Gesundheits-Organisation (WHO) ... 58

Psychische Gesundheit ... 60

Teil 3 ... 62

Gesundheit und Wahrnehmung ... 62

Unterschied zwischen Wahrnehmung und Messbarkeit ... 62

Wissenswelt und Lebenswelt ... 82

Wissenswelt ... 83

Lebenswelt ... 84

Teil 4 ... 86

Was ist Gesundheit? – Ein Versuch ... 86

Individualität der Gesundheit ... 86

Krankheit ... 87

(6)

4

Gesundheit ist kein ‘fait accomplit’ ... 94

Gesundheit und Gerechtigkeit ... 99

Pathologisierung des Alterns ... 101

Bedeutung des Todes ... 105

Heilen ... 113

Arzt und Heiler ... 116

Verhältnis Arzt – Patient ... 118

Heilmittel ... 123

Erfahrungsmedizin ... 127

Gesundheit bewahren ... 132

Prävention ... 132

Der Einfluss von Hygiene ... 132

Was ist echte Prävention?... 133

Verhinderung von Krankheit ... 135

Versuch einer Definition von Gesundheit ... 137

Es gibt keine Gesundheit ... 138

Teil 5 ... 140

Problematik im Umgang mit Gesundheit ... 140

Mehr Kranke als Gesunde oder: Wer soll das bezahlen? ... 141

Gesundheitskosten ... 145

Cui bono? ... 150

Leistungsgesellschaft ... 151

Wohlstandsgesellschaft ... 156

Wunschkörper und Wunschgesundheit ... 165

Antiaging ... 167

Teil 6 ... 172

Lösungsansatz ... 172

(7)

5 Grenze der Verantwortung und der

Gesundheitsversorgung ... 176

Eine minimale Gesundheitsversorgung ... 176

Synthese ... 179

Teil 7 ... 188

Anhang ... 188

1. Auflistung der verschiedenen Definitionen ... 189

2. Text Encyclopædia Britannica ... 191

3. Ottawa Charta Originaltext ... 195

4. Der Hippokratische Eid (Text und Kommentar) ... 205

5. Factsheet Frauen- und Männergesundheit ... 213

6. Frauenseelen leiden anders: Besonderheiten der weiblichen Psyche. ... 219

7. Der Unpatient ... 222

8. Gesundheitsgesetz Appenzell Ausserrhoden ... 223

Teil 8 ... 231

Literaturverzeichnis ... 231

Teil 9 ... 244

Lebenslauf ... 244

(8)

6

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Forschungsmethode Mathematik vs.

Forschungsmethode Statistik ... 38 Tabelle 2: Kosten des Gesundheitswesens, gemessen am Anteil des BIP ... 145 Tabelle 3: Kosten des Gesundheitswesens nach

Direktzahlenden ... 146 Tabelle 4: Kosten des Gesundheitswesens nach

Leistungserbringern ... 147 Tabelle 5: Suchtkosten ... 163 Tabelle 6: Kosten von Sportunfällen ... 164

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7

Teil 1

Dank

Besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. phil. I. Georg Kohler, der diese Arbeit kritisch begleitet hat, sowie Herrn Prof. Dr. med. Felix Gutzwiller, welcher diese Arbeit mit Interesse erwartete und mir wertvolle Literaturhinweise gab.

Dank an beide dafür, dass sie dieser interdisziplinären Doktorarbeit zugestimmt haben.

Dank an Frau Dr. Marianne Hofer, in deren Regio-plus- Projekt, dem Institut für Integrative Medizin, die Idee zu dieser Dissertation entstanden ist; ebenso an Prof. Mi- chael Lambek, Anthropologe an der Universität Toronto, der bei zwei Besuchen im Appenzellerland anlässlich seines eigenen Forschungsprojekts über das Heilwesen in der Schweiz für anregende und inspirierende Gespräche sorgte und mir weiterführende Literaturhinweise gab.

Dank auch an Renate Bräuninger†, die mir ihre wertvol- len Gedanken sowie zahlreiche Bücher zum Thema ver- machte.

Herrn Prof. Schobinger†, der mir vor und nach meiner Lizentiats-Prüfung in Philosophie, insbesondere mit sei- ner Vorlesung über ‘das Wortloch’, das Wissen vermit- telte, dass ich denken könne. – Ihm widme ich diese Ar-

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8

beit, denn seine Vorlesungen haben mein Leben und Denken mitgeprägt.

Dank an meine Partnerin Susanne E. Heitz und an Hanna Sostak, die sich die Mühe machten, den Text gegenzule- sen.

Ebenso danke ich meinen Freundinnen, welche mich un- terstützten und motivierten, Zeitungsausschnitte sammel- ten und mir immer wieder wertvolle Hinweise gaben.

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9

Vorwort

Die frühen Ärzte waren fast alle Philosophen, und viele antike Philosophen waren auch Ärzte, in der Antike und im Mittelalter waren Heilkunst und Philosophie zusam- mengehörend. Daher wird diese Arbeit zum Thema Ge- sundheit sowohl der philosophischen wie auch der medi- zinischen Fakultät vorgelegt.

In der Schweizerischen Ärztezeitung aus dem Jahr 2002 fand sich ein Artikel mit dem Titel: „Inwieweit umfasst die medizinische Wissenschaft die medizinische Wirklich- keit?

Dies ist ein Hinweis darauf, dass selbst in Ärztekreisen daran gezweifelt wird, dass sich die wissenschaftliche Medizin noch mit dem befasst, was Wirklichkeit ist. Die Autoren wünschen gar, dass philosophische Ansätze wieder in den medizinischen Alltag integriert werden sollen.

Der Begriff «Medizin» steht für mehr als für den ärztli- chen Arbeitsbereich. Andere Einrichtungen und andere Gesundheitsberufe sind für die Gesundheit vielleicht be- deutsamer als der ärztliche.

Trotzdem soll hier, auf der konzeptionellen Ebene, vom Status Quo der ärztlichen Wissenschaft ausgegangen werden. Ihr Denkgebäude nimmt fast im gesamten Ge- sundheitswesen unserer szientistischen westlichen Ge- sellschaft eine dominierende Rolle ein. Die Autoren be- ziehen sich hier auf die zurzeit in etablierten akademi- schen Institutionen (vorwiegend medizinische Fakultäten

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10

im westlichen Kulturbereich) dominierende Wissenschaft.

Es geht nicht um deren Ablehnung, sondern um ihre Er- weiterung durch historisch längst anerkannte philosophi- sche Ansätze. Diese Erweiterung muss heute als Konse- quenz der Erkenntnisse der Physik des 20. Jahrhunderts als wissenschaftlich bezeichnet werden. Am etablierten Wissenschaftsbetrieb Unbeteiligte mögen in ihr aber ebenso gut eine von einem übernommenen Fundamenta- lismus (oder Glaubenssystem) befreite Zuwendung zu alltäglichen, aber essentiellen Selbstverständlichkeiten sehen.2

Nicht nur die Forderung nach einer humaneren, men- schengerechteren Medizin steht im Raum, sondern auch diejenige nach Evidenz, Wissenschaftlichkeit und vor allem Bezahlbarkeit. – Ein nicht aufzulösender Wider- spruch?

2 Pauli, H. G./White, K. L./McWhinney, I. R.: Inwieweit umfasst die medizinische Wissenschaft die medizinische Wirklichkeit? In:

Schweizerische Ärztezeitung 83 (2002): Nr. 48, S. 2633-43.

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11

Einleitung

Diese Arbeit stellt die These auf, dass der Begriff der Gesundheit unzureichend definiert ist, und postuliert, dass Gesundheit kein medizinischer Begriff ist und schon gar nicht ein wissenschaftlich messbarer.

Im Weiteren wird erläutert, wie sich mangels klarer Be- griffsdefinition hinsichtlich der Gesundheit ein weites Spektrum an Interessen, z. B. wirtschaftlicher und politi- scher Natur, entwickeln konnte. So entstand etwa inner- halb der Medizin die Fachrichtung zur Erhaltung der Ge- sundheit als eigenes Gebiet, und dies obschon Gesund- heit sich aus vielen Teilaspekten zusammensetzt, die nicht medizinischer Art sind.

In diesem Zusammenhang werden unterschiedliche Be- griffsdefinitionen aus verschiedenen Quellen miteinander verglichen, um den Begriff der Gesundheit zunächst ver- ständlich zu machen. Gesundheit scheint dabei nichts Statisches oder Stabiles, sondern vielmehr etwas Dyna- misches, leicht zu Beeinflussendes zu sein: Denn vieles kann die Gesundheit stören, nicht nur Krankheit.

Das Hauptgewicht der vorliegenden Arbeit liegt danach auf zwei verschiedenen Betrachtungsweisen der Dinge, so auch der Gesundheit: Die eine ist, wie Husserl3 sie nennt, die „Wissenswelt“, die andere die Lebenswelt“.

3 Edmund Husserl, geboren 1859 in Prossnitz (Mähren), studierte unter anderem Mathematik und Physik. Später studierte er bei Franz Brentano (1838-1917) in Wien Philosophie. Er interessierte sich schon früh für Logik und Psychologie. Er kritisiert den Psycholo- gismus in der Logik in seinem grössten Werk „Logische Untersu- chungen“ (1900-01). Das Werk bringt ihm ein Extraordinariat an der

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12

Im Weiteren wird am erarbeiteten Begriff der Gesundheit aufgezeigt, dass je nach Betrachtungsweise ganz andere Folgerungen oder Ansprüche medizinischer, gesellschaft- licher, politischer und individueller Art entstehen.

Es wird zudem, wo sinnvoll, ein zusätzliches Merkmal eingeführt, frei nach Popper,4 der bei komplizierten Fra- gen immer jene nach dem Nutzen stellt: Cui bono?– Wem nützt es? Angesichts stetig steigender Gesundheits- kosten (oder besser ‘Krankheitskosten’), welche der Staat, die Krankenkassen und die Gesellschaft kaum mehr finanzieren können, lässt sich diese Frage nicht umgehen. Die Einnahmen daraus müssen jemandem zu- gutekommen oder mit anderen Worten: Es fragt sich, wer aus den steigenden Kosten im Gesundheitswesen oder dem Mangel an Begriffsdefinition, einen Nutzen zieht.

Deutlich wird, dass sich die Interessen der Beteiligten je nach Auslegung der Definition des Begriffs der Gesund- heit deutlich voneinander unterscheiden: für das Indivi- duum, das Gesundheitswesen, die Versicherer und die Hersteller von Heilmitteln.

Es scheint weiterhin eine Diskrepanz zwischen der ärztli- chen Versorgung und den wachsenden Kosten im Ge- sundheitswesen zu bestehen. Müssten wir eigentlich da-

Universität Göttingen, wo er zusammen mit besonders begabten Studenten die phänomenologische Bewegung begründet.

Husserls Bekanntheitsgrad ist wesentlich geringer als etwa jener Heideggers und Sartres, welche sich ebenfalls mit der Phänomenolo- gie befassten und heute als die Vertreter der modernen Philosophie und Phänomenologie bekannt sind. Husserl war Jude. Deshalb wur- den seine Werke nach seinem Tod (1938) nicht mehr publiziert und erst nach dem 2. Weltkrieg ab 1950 nach und nach veröffentlicht.

4 Karl R. Popper, 1902-1994, Begründer der „Erkenntnistheorie“

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13 von ausgehen, dass eine medizinisch gut versorgte Ge- sellschaft weniger krank ist und somit weniger Kosten produziert, scheint dies jedoch tatsächlich nicht der Fall zu sein. Die vorliegende Arbeit wird aufzeigen, weshalb dies so ist.

Gesundheit scheint zunächst ein Allgemeingut zu sein, über welches nicht weiter nachgedacht werden muss.

„Allgemeingut“ deshalb, weil es unabhängig von ethni- scher Herkunft, Geschlecht und sozialem Status allen zugänglich ist. Gerade dies scheint jedoch eine Idealvor- stellung zu sein, welche nicht der Realität entspricht.

Wenn wir Gesundheit der Krankheit gegenüberstellen, gehen wir davon aus, dass Gesundheit eine Art integrer Urzustand ist, den wir erhalten und schützen oder zu welchem wir im Falle von Krankheit zurückkehren kön- nen. Die moderne technisierte Medizin lehrt uns jedoch, dass es eine solche etablierte Gesundheit gar nicht gibt, obwohl sie selbst uns dieses Ideal als Ziel vorgibt.

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Teil 2

Historischer Abriss und Sammlung verschiedener Begriffsdefinitionen von Gesundheit

Gesundheit ist scheinbar im Interesse aller: Es gibt Tau- sende von Krankheiten, doch wir alle haben nur eine Ge- sundheit, und obwohl es nur eine Gesundheit gibt, scheint nichts so schwierig wie deren Definition. Wer

‘Gesundheit’ sagt, denkt automatisch an Krankheit, ob- wohl Gesundheit alles andere als Krankheit zu sein scheint.

Bereits vorhandene Begriffsdefinitionen bilden im Fol- genden die Basis für die weitere Erarbeitung des Themas und sind zum tieferen Verständnis unabdingbar, so insbe- sondere der historische Überblick.

Es sei erwähnt, dass sich der historische Abriss und die Definitionen von Gesundheit auf den westlichen Kultur- kreis beschränken: Zum einen, weil die östliche Definiti- on von Gesundheit und auch die dazugehörige Heilkunde das westliche und schweizerische Gesundheitssystem nicht in einem grossen Ausmass beeinflussen, zum ande- ren, weil die Entwicklung und Entstehung der Gesund- heitslehre im Osten (Asien) eine völlig anderes Weltbild und Philosophien voraussetzen, welche nicht Thema die- ser Arbeit sind.

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15 Entwicklung des Begriffs der Gesundheit

Grosse begriffliche Vorarbeit hat der Autor Piet van Spijk mit dem Büchlein „Definition und Beschreibung der Gesundheit“5 geleistet. Er zeigt die historische Ent- wicklung sowohl verschiedener Definitionen wie auch die unterschiedliche Wahrnehmung dessen, was Gesund- heit ist, auf.

Die historischen Untersuchungen, wie auch alle syste- matischen Überlegungen haben uns gelehrt, auf einen Gesundheitsbegriff zu verzichten. Gesundheit ist weder ein Zustand oder Besitz noch ein Ziel!“6

Dieses Zitat wurde der vorliegenden Arbeit bereits vo- rangestellt. Es demonstriert, dass Gesundheit anschei- nend nichts Fassbares ist und könnte als roter Faden be- trachtet werden, der durch ein Wirrwarr von Ansätzen und Ideen zum Begriff führt. Doch weshalb ist Gesund- heit nicht ‘fassbar’ς Eines ist gewiss: Ein Verzicht auf den Versuch, Gesundheit zu definieren, ist in diesem Zu- sammenhang nicht hilfreich. Das o. g. Zitat ist dennoch keine Definition, sondern eher eine Schlussfolgerung, der sich die vorliegende Arbeit eventuell nähert.

5 Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991.

6 Schipperges, Heinrich, zitiert in: Ringeling, Hermann: Ganzheit und Gesundheit, biblisches Menschenbild und medizinische Ethik.

In: Schweizerische Ärztezeitung 51 (1982), S. 2321-28.

(18)

16

Dass z. B. die UNO (Organisation der Vereinten Natio- nen) Gesundheit zum Menschenrecht erklärt, während im o. g. Zitat der Verzicht gefordert wird, zeigt, wie gross der Widerspruch im Verständnis von Gesundheit ist.

Van Spijk versucht nicht, eine Definition für Gesundheit zu finden. In der medizinhistorischen Schrift wird viel- mehr eine Zusammenfassung der, meist aus der europäi- schen Kultur stammenden, bis dato gefundenen Definiti- onen aufgelistet; typischerweise beginnt die Aufzählung im antiken Griechenland.

Gesund ist, wer sich nicht krank fühlt

In der griechischen Mythologie finden wir zu Beginn Asklepios7 und Hygieia.8 Beides waren ursprünglich voneinander unabhängige Gottheiten, welche erst im fünften Jahrhundert vor Christus in Verbindung geraten.

Auf eine kurze Formel gebracht, finden wird aus jener Zeit folgende Definition: „Gesundheit ist gleichzusetzen mit der Abwesenheit oder dem Gegenteil von Krank- heit.9

7 Asklepios, zu Deutsch „Äskulap“, beherrschte Medizin, Chirurgie und Kräuterkunde. Seine Behandlung im Asklepius-Kult bestand darin, den Kranken im Tempel des Asklepios schlafen zu lassen. Im Traum erschien ihm der Arzt und gab ihm Diäten oder andere Kuren auf.

8 Sie ist eine Göttin der Gesundheit und gilt als Schutzpatronin der Apotheker. Das Wort Hygiene wurde von ihrem Namen abgeleitet.

9 Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991.

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17 Gemeint ist hier in etwa, dass ein Mensch, der keine Krankheit wahrnimmt, gesund ist.

Es wird 2500 Jahre dauern, bis wir wieder auf die gleiche einfache Formel kommen: Die im Verlauf der vorliegen- den Arbeit noch folgende moderne Variante dieser Defi- nition umgeht allerdings den ursprünglich betonten As- pekt der subjektiven Wahrnehmung und ersetzt ihn durch den Anspruch objektiver Messbarkeit. Krankheit wird damit zu einer messbaren Abweichung von der Norm ohne jeden Bedarf an Subjektivität.

Zusammengefasst sind in der Antike Lebensführung und richtige Verteilung der Körpersäfte das, was Gesundheit ausmacht. Körperliche und geistige Hygiene werden da- bei von der Gottheit Hygieia symbolisiert.

Im Gegensatz zu Asklepios symbolisiert die Göttin Hy- gieia nicht Heilung von Krankheit. Sie ist die zur Göttin erhobene Gesundheit im Sinne der Lebenskunst und der vernünftigen Lebensführung. Es handelt sich um eine aktive, eigenständige Tat, die einer eigenen affirmativen Beschreibung bedarf.

Abwesenheit oder Gegenteil von Krankheit vermag Ge- sundheit im Sinne der Hygieia nicht genügend zu um- schreiben. Sie sind ihr keine ausreichende, für gewisse Autoren auch keine nötige, Bedingung. Umgekehrt darf das Fehlen der Hygieia ja nicht automatisch mit Krank- heit gleich gesetzt werden, sondern kann viel mehr als erhöhte Bereitschaft zu Krankheit gewertet werden. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass die Einschränkung

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des Begriffs «Hygiene» auf «Sauberkeit» und «Keimfrei- heit» erst im 19. Jahrhundert erfolgte.10

Als ‘Bereitschaft zu Krankheit’ würden wir, heutiges Wissen vorausgesetzt, annehmen:

a) eine genetische Disposition oder

b) eine durch soziales Verhalten (Konsum) oder die Umwelt (Exposition) verursachte Disposition o- der

c) eine aus psychischen oder emotionalen Gründen verursachte Disposition zur körperlichen Erkran- kung (Psychosomatik).

Dennoch haben all diese Faktoren letztlich auch mit Le- bensführung sowie Körper- und Seelenhygiene zu tun.

Das richtige Verhältnis

Bei den Pythagoräern (6. u. 5. Jh. v. Chr.) findet van Spijk die folgende Definition: „Gesundheit ist gleichzu- setzen mit den numerisch richtigen Verhältnissen im Menschen.“11

Diese Definition impliziert jedoch keinesfalls Messbar- keit: Die ‘richtigen Verhältnisse’ sind im Gegenteil et- was, das der Arzt oder auch der Philosoph wahrnimmt.

10 Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991.

11 Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991.

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19 Als „gesund“ gelten in diesem Zusammenhang ebenso einfache anatomische Aspekte, wie zwei Arme oder zwei Beine zu haben. Für den Philosophen wiederum geht es mehr um die ‘Ausgeglichenheit’ der Gedanken. Alk- maion (6. Jahrhundert v. Chr.) definiert Gesundheit fol- gendermassen:

„Die Gesundheit werde durch das Gleichgewicht der Kräfte (isonomia) zusammengehalten (): des Feuchten und Trocknen, des Kalten und Warmen, des Bitteren und Süssen, und so aller übrigen. Die Alleinherrschaft des einen oder des anderen Prinzips bei ihnen erregt Krank- heit. Denn verderblich wirke die Alleinherrschaft einer der gegensätzlichen Kräfte.

Krankheit ergebe sich, was ihre Ursache betrifft, durch das Übermass von Wärme und Kälte, ihr Anlass aber aus dem Übermass oder Mangel an Speisen.“12

In Zeiten, wo Hunger die Menschen plagte, ist es selbst- verständlich, dass die ungenügende Zufuhr von Nahrung eine der Hauptursachen für Krankheit bildete.

Hier finden wir aber auch das, was später mit ‘Eukrasie’ bezeichnet wird: die Harmonielehre der Säfte. Es handelt sich hierbei jedoch um eine Theorie und nicht um eine Methodik der Messung des Säfteverhältnisses. Vielmehr steht eine Philosophie der Lebensführung im Fokus, wel- che eben zu dieser Eukrasie oder auch zur Balance der Gemütsverfassung führt und in der Folge mit ‘Gesund- heit’ bezeichnet wird.

In Zeiten, in welchen Hunger die Menschen plagte, ist es selbstverständlich, dass die ungenügende Zufuhr von Nahrung eine der Hauptursachen für Krankheit bildete.

12 Ebenda

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Bei Demokrit (ca. 460-370 v. Chr.) findet van Spijk eine sehr bemerkenswerte Definition: „Gesundheit fordern in ihren Gebeten die Menschen von den Göttern; dass sie aber selbst dafür die Macht in sich haben, wissen sie nicht ()

Gesundheit ist als Gleichgewicht zwischen den beiden Gegensatzpaaren warm/kalt und feucht/trocken zu ver- stehen.13

Die Forderung nach Gesundheit wird hier erstmals er- wähnt: Gefordert von den Göttern mit dem Hinweis des Nichtwissens darum, dass Gesundheit in einem selbst liege. Dies mutet sehr modern an: Menschen, die von ihrem Gott, den sie durch den Arzt ersetzen, eine Wie- derherstellung ihrer Gesundheit fordern, ohne sich selber um sie (die Gesundheit) kümmern zu wollen. Der Zusatz, dass nur sie selbst die Macht dazu haben, erscheint eben- falls sehr neuzeitlich. Es kann gefolgert werden, dass die Forderung nach Gesundheit unter Ausschluss der eigenen Verantwortung eine sehr alte ist.

Diepgen14 fasst diese antike Auffassung von Gesundheit wie folgt zusammen: Die Gesundheit beruht (bei Hip- pokrates) auf einer vollendeten Harmonie der Physis des Menschen, im Körperlichen wie im Seelischen. Dazu ge- hört eine richtige Säftemischung eine Eukrasie, und ein vollendeter Ausgleich unter den einander entgegenge-

13 Ebenda

14 Diepgen, Paul: Geschichte der Medizin. Berlin: De Gruyter, 1949.

Zitiert in: Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesund- heit. In: Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Ge- sundheitspolitik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991. Kommentar 10.

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21 setzten Kräften, die in den Elementen wirksam sind.

Wichtig zu bemerken ist dabei, dass der erwähnte vollen- dete Ausgleich in erster Linie durch die Naturheilkraft, der s. g. vis medicatrix naturae und erst in zweiter Linie durch die Fähigkeit des Arztes zu Stande kommt.

Nicht der Arzt stellt Gesundheit her, sondern die Lebens- führung, und somit der Mensch selbst. Er allein ist ver- antwortlich für seine Gesundheit. Diese Aspekte haben in der Präventivmedizin und in der Naturheilkunde heute ihren festen Platz gefunden. Die Lebensführung und so- mit die Verantwortung jedes Einzelnen ist massgeblich an der Erhaltung von Gesundheit und auch deren Wie- derherstellung beteiligt. Daraus kann gefolgert werden, dass ein Arzt zwar eine Krankheit bekämpft, aber nicht zwingend dadurch die Gesundheit wiederherstellt. Diese These wird in der vorliegenden Arbeit immer wieder er- scheinen und belegt werden.

Zur gleichen Zeit, um 460 bis 370 v. Chr., entstand der noch heute für Ärzte gültige hippokratische Eid (siehe Seite 86). Es ist allerdings umstritten, ob Hippokrates wirklich der Verfasser des Textes ist. Dieser ist im An- hang vollständig wiedergegeben und wird im Kapitel

„Arzt und Heiler“ (siehe Seite 116) diskutiert werden.

Bei Platon werden an verschiedenen Stellen medizini- sche Fragen behandelt. Es handelt sich dabei um Erörte- rungen, die sich an das übliche Wissen dieser Zeit anleh- nen. Um die körperliche Gesundheit, ausgedrückt durch Eukrasie, hat sich der Arzt zu kümmern. Um die Seele aber, auf welche es entsprechend ihrer hierarchischen Positionen in erster Linie ankommt, kümmert sich der

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Philosoph. Die philosophisch gebildete Seele strebt nach Platon dahin, das wahrhaft Seiende, Gott, die Ideen zu erkennen.

Gesundheit ist Suchen und Erkennen des wahren Seins, Gottes und der Ideen; sie ist Funktion der Seele zu diesen wahren Dingen.

Bei Platon wird der Tod paradoxerweise zum Moment der Heilung und Gesundung. Eine Textstelle im Phaidon verweist auf die Freiheit des selbst gewählten Todes.“15 Erwähnt wird hier die Freiheit des Menschen, für sich selbst den Tod16 zu wählen und damit eine Heilung der Seele herbeizuführen. Das Motiv der Heilung durch den Tod findet sich später in einer abgewandelten Form auch im Christentum wieder (siehe Kapitel „Gesundheit und Moral“, Seite 26).

Trennung von Körper und Seele

Der Arzt kümmert sich um die körperliche Krankheit, der Philosoph um die seelische Gesundheit. Gibt es auch keine Rangordnung, so existiert jedoch eine Spaltung: die Trennung von Körper und Seele sowie die von Arzt und Philosoph.

Galen (Galenius 131 201 n. Chr.) sagt wörtlich: «es gibt zwar nur eine Wissenschaft vom menschlichen Kör-

15 Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991.

16 siehe Kapitel „Bedeutung des Todes“, Seite 57

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23 per () Sie hat aber zwei hervorragende und besondere Teilgebiete (das eine wird Gesundheitspflege, das andere Heilkunde genannt), die sich in ihrer Auswirkung ver- schieden verhalten, da das eine den bestehenden Dauer- zustand des Körpers bewahren, das andere ihn verän- dern will. Da in der Zeit die der Wertschätzung nach Gesundheit vor der Krankheit kommt, müssen wir doch wohl zuerst darauf schauen, wie man sie bewahren kann und erst in zweiter Linie, wie man die Krankheit am bes- ten ausheilen kann.»

Im gleichen Atemzug weist er darauf hin, wie wichtig eine allgemeine Gesundheitslehre ist, «denn wir können sie (die Gesundheit) weder bewahren, wenn sie vorhan- den ist, noch sie wieder herstellen, wenn sie zerstört ist, wenn wir überhaupt nicht wissen, was sie ist.»17

Galen unterscheidet zwischen Gesundheitspflege und Heilkunde (siehe Unterscheidung zwischen ‘to care’ und

‘to cure’, Seite 114). Bei ihm ist Gesundheit ein andau- ernder Zustand des Körpers, die Krankheit somit eher die Ausnahme. Er verweist aber auch darauf, dass es wichtig sei, zunächst zu wissen, was Gesundheit ist, da ansonsten weder deren Bewahrung noch Wiederherstellung möglich sei. Seine Definition lautet: „Gesundheit ist also eine hierarchische Ordnung, bestehend aus dem Gleichge- wichtszustand der Grundelemente, dem Gleichgewicht- und ausgeglichenen Spannungszustand der daraus gebil- deten Gewebe und aus der richtigen Zahl, Menge und Form der aus den Geweben gebildeten Organe.“26

17 Galenus, Claudius: Gesundheitslehre. (Übers. Beintker E.). Band I.

Stuttgart: Hippokrates-Verlag, 1931-41. Band I. S. 15 f.

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Mit zunehmender Kenntnis anatomischer Gegebenheiten folgt der logische Schluss, dass Gesundheit die richtige Verteilung von sichtbaren Organen und Geweben sei.

Bislang hatten sich ärztliche Philosophen zum Thema geäussert, nun kommt ein philosophisch und auch ana- tomisch geschulter Arzt zu Wort.

Auch bei Galen ist der Tod nicht gleichbedeutend mit Krankheit. Es ist der Samen der Krankheit in uns vor- handen, () weil der ganze Körper, wie die Ursache der Entstehung, so auch das Vorgehen von Geburt an in sich trägt.18

Die Idee, dass der Keim zur Krankheit uns innewohne und somit zum Ende des Lebens führt, wird erst im 19.

Jahrhundert mit der von Louis Pasteur, Ignaz Semmel- weis und Robert Koch etablierten Hygiene (siehe Kapitel

„Bedeutung der Hygiene“, Seite 132) und Bakteriologie verworfen.19 Ab diesem Zeitpunkt kommen Keime –

18 Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991.

19Louis Pasteur (1822-1895) war ein französischer Wissenschaftler und Pionier auf dem Gebiet der Mikrobiologie.

Heinrich Hermann Robert Koch (1843-1910) war ein deutscher Me- diziner und Mikrobiologe. Koch gelang es im Jahre 1876 erstmalig, den Erreger des Milzbrands (Bacillus anthracis) in Kultur zu ver- mehren und dessen Rolle bei der Entstehung der Krankheit nachzu- weisen. 1882 entdeckte er den Erreger der Tuberkulose (Mycobac- terium tuberculosis) und entwickelte später das Tuberkulin. 1884 entdeckte er den Cholera-Erreger und erhielt 1905 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.

Ignaz Philipp Semmelweis (ungarisch: Ignác Fülöp, 1818-1865) war ein ungarisch-österreichischer Arzt. Er studierte an den Universitäten Pest und Wien Medizin und erhielt 1844 seinen Doktorgrad an der

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25 sprich Krankheitserreger – grundsätzlich von aussen und sind zu bekämpfen.

Ein Gleichgewichtszustand ist auch ausreichend, «wenn wir weder Schmerzen leiden, noch im Gebrauch der Le- benskräfte behindert werden.» Konkret heisst dies, fähig zu sein, «Staatsgeschäfte zu verrichten, zu baden, zu es- sen oder zu trinken oder das zu tun, was wir müssen.» Damit ist Gesundheit als intakte Funktionen in allgemei- ner und spezifischer Art umschrieben.

Galen kommt zum Schluss, dass Gesundheit ein um den Idealpunkt schwankendes Gleichgewicht sei, also ein Idealzustand. „Gesundheit ist eine intakte Funktion, die es erlaubt, ohne Schmerz zu leben und die natürlichen, das heisst gottgegebenen Lebenskräfte ungehindert zu gebrauchen.20

Die Summe der Lebenskräfte wird hier als schicksals- mässig verteilt, gottgegeben, betrachtet: Somit ist der Gesundheitsbegriff von Galen offen, d. h., es wird keine pauschale und messbare, für alle gültige Gesundheit pro- klamiert. Dafür wird die Möglichkeit offen gelassen, dass, so Gott es will, auch ein schwächerer Mensch ge- sund sein kann. Vereinfacht gesprochen: Ein bisschen krank ist immer noch gesund (vgl. dazu die englische Definition von Gesundheit und Krankheit: ‘good health’ und ‘bad health’ ist jeweils immer ‘health’)! Somit ist

Universität Wien. Er erkannte die Ursache für das Kindbettfieber und führte als erster Hygienevorschriften für Ärzte und Kranken- hauspersonal ein.

20 Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991.

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auch eine Behinderung nicht eine ‘Krankheit’, sondern eine eingeschränkte Gesundheit.

Ein blinder Mensch ist nicht krank, sondern kann ‘nur’ nicht sehen. Genauso ist ein Mensch mit einem fehlenden Bein nicht krank, sondern es besteht eine körperliche Einschränkung.

Daraus kann gefolgert werden, dass Gesundheit z. B.

vom Lebensalter abhängig ist: Die Gesundheit eines Säuglings ist eine andere als die eines Greises. Es gibt so etwas wie eine ‘natürliche Menge’ von Lebenskraft, die je nach Alter unterschiedlich bemessen ist (siehe Kapitel

„Pathologisierung des Alters“, Seite 86).

Gesundheit und Moral

Wenn Gott schicksalhaft für Gesundheit oder Krankheit sorgt, dann sind ‘Schuld’ und ‘Sühne’ nicht weit. Mit dem Christentum wird erstmals eine Verknüpfung von Krankheit und Sünde vollzogen: Wer gesund ist, ist frei von Sünde. Krankheit wird somit zur Strafe Gottes. Jesus ist der Totenerweckung fähig: Dies überschreitet die Grenzen der Zuständigkeit von Asklepios und jedes Arz- tes.

Bei Asklepios erschöpft sich die Heiler-Tätigkeit auf die Befreiung von körperlichen Erkrankungen, bei Jesus da- gegen ist die Befreiung von Krankheit nur ein Teil, ein Epiphänomen, wichtiger Vorgänge, nämlich der Befrei- ung von Sünde, des Hinweisens Jesu auf das kommende

(29)

27 Himmelreich und des unbedingten Glaubens des Patien- ten an den einzigen wahren Gott.21

War Krankheit oder Gesundheit vorab frei von Moral, so ist sie nun verknüpft mit Sünde und wird der Begriff der

‘Heilung’, der Weg von der Krankheit in die Gesundheit, eingeführt. Heilung ist die Befreiung von Sünde. Somit wird Krankheit ‘sündhaft’ und Gesundheit zur ‘Tugend’. – Eine Thematik, die auch unsere moderne Gesellschaft noch prägt. Über Krankheit darf nicht gesprochen wer- den, und oft fragen sich schwer kranke Menschen, wes- halb sie so ‘bestraft’ werden. Christus erscheint als der Heiland, der Salvator.

„Gesundheit ist das sichtbare Zeichen für etwas Wichti- geres und Umfassenderes als körperliches Wohlergehen, nämlich die Vergebung von Sünde.“22

Paracelsus23 drückt sich folgendermassen aus: „Gesund- heit kann sich nur dann einstellen, wenn nach Gottes Ratschluss das Fegefeuer beendet sein soll.“24

21-22 Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991. Siehe auch Markus Evangelium 2.5-2.12.

23 Philippus Theophrastus Aureolus Bombast von Hohenheim, ge- tauft als Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Para- celsus“ (* vermutlich 10. November 1493 in Egg bei Einsiedeln; † 24. September 1541 in Salzburg), war ein Arzt, Alchemist, Astrolo- ge, Mystiker, Laientheologe und Philosoph.

24 Paracelsus (Theophrastus von Hohenheim): Opus paramirum. In:

Strebel, Josef (Hrsg.): Sämtliche Werke in zeitgenössischer Kürzung.

Band V. St. Gallen: Verlag Zollikofer und Co., 1947.

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28

Heilung und als Folge davon Gesundheit, sind Zeichen (und Voraussetzung) für das kommende von Jesus ver- kündete Himmelreich. Gesundheit ist ein Glaubensakt.25 Mit Einführung von Religion, Moral und Schuld in Form der Sünde verliert der Philosoph an Einfluss auf den Be- griff der Gesundheit. Zwar befasst sich Philosophie mit Moral, Ethik und auch Religion, nur der Aspekt des Seel- sorgens geht dem Philosophen verloren und wird durch den Priester ersetzt. Nicht der Philosoph kümmert sich mehr um ausgewogene Lebensführung und den gesunden Geist. Gesundheit wird damit zur Glaubensfrage und er- öffnet ein weites Spektrum für all jene, die Heil und Hei- lung versprechen.

Neuzeit

Der Überblick zu den neuzeitlichen Auffassungen von Gesundheit soll im Folgenden mit der Definition von René Descartes (1596-1650) beginnen.

Van Spijk zitiert Descartes wie folgt: „Man solle nie von etwas anderem als der von einer sicheren Einsicht aus- gehen (Evidenz). Alles, was ich zu denken versuche, wer- de ich analysieren, bis ich zu ganz einfachen Elementen gelange (Deduktion). Dann sollen diese einfachen Ele- mente in einer Ordnung wachsender Komplexität wieder zusammengesetzt werden, damit das Denken die komple- xen Realitäten klar erfasst (Kausalität). Am Ende soll

25Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991.

(31)

29 noch die Reihe geprüft werden, damit keine Lücken be- stehen und die klare, vollständige Ordnung gesichert ist (Vollständigkeit).“26

Daraus wiederum folgt diese Definition von Gesundheit:

„Körperliche Gesundheit bedeutet das reibungslose Funktionieren der Maschine Mensch“.27

Dabei kommt ‘reibungsloses Funktionieren’ der biolo- gisch funktionalen Definition (siehe Kapitel „Die biolo- gisch funktionelle Definition“, Seite 41) von Gesundheit sehr nahe.

Mit der Messbarkeit funktionaler Parameter verändert sich der Begriff der Gesundheit. Während der Zeit der aufkeimenden Naturwissenschaften finden sich verschie- dene, Messwerte beinhaltende Definitionen, so z. B. bei Francois de le Boë (1614-1672): „Gesundheit ist das richtige Verhältnis zwischen Säure- und Alkali-Bildung im Körper“, sowie bei Giorgio Bagliavi (1668-1707):

„Gesundheit ist das physikalische Gleichgewicht zwi- schen den Fasern und den flüssigen Säften, dieses Gleichgewicht wird in erster Linie durch die Elastizität der Fasern, d. h. durch deren mittleren Tonus bedingt“.28

John Brown (1735-1788) bezieht sich auf Albrecht von Hallers (1708-1777) Entdeckung der in der Muskelfaser bestehenden Irritabilität (d. h. die Fähigkeit, sich auf einen Reiz hin zusammen zu ziehen) und die in den Ner-

26 Descartes, René: Discours de la méthode. Œuvres complètes. Li- brairie philosophique. Band IV. Paris: L’école, 1965 (163ι).

27 Dictionnaire des sciences médicinales par une société de médecins et de chirurgiens. C.L.F. Panckoucke, Paris 1920; S. 564.

28 Piet van Spijk, Definition und Beschreibung der Gesundheit in Schriftenreihe Schweiz. Gesellschaft für Gesundheitspolitik (SGGP) Nr. 22, Muri BE, 1991.

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30

venfasern bestehende Sensibilität (d. h. die Fähigkeit, einen Reiz zu empfinden und weiterzuleiten) ()

Eine mässige Erregung bestimmte den gesunden Zustand, () Brown entwickelt das System des Vitalismus. Ge- sundheit wird damit Ausdruck eines grossen Masses an Lebenskraft beziehungsweise Ausdruck einer intakten Lebenskraft.“29

Der Ausdruck ‘grosses Mass’ deutet auf Messbarkeit hin;

diese Lebenskraft scheint in dieser Definition so etwas wie Spannkraft, Reizfähigkeit oder gar Muskelkraft zu sein (siehe auch Definition der Gesundheit von Duden, Seite 54).

Letztendlich versuchen alle Definitionen, etwas Messba- res zu finden. Ein Zuviel oder ein Zuwenig ist jeweils

‘ungesund’ oder ‘krank’.

Samuel Hahnemann (1755-1843) begründet die bis heute bekannte und nach wie vor beliebte Homöopathie, die wesentlich auf seiner Gesundheitsdefinition basiert: „Im gesunden Zustande des Menschen waltet die geistartige, als Dynamis den materiellen Körper (...) belebende Le- benskraft () unumschränkt und hält alle seine Theile in bewundernswürdig harmonischem Lebensgange in Ge- fühlen und Tätigkeiten, so dass unser inwohnende, ver- nünftige Geist sich dieses lebendigen, gesunden Werk- zeugs frei zu dem höheren Zwecke unseres Daseins be- dienen kann.“30

29 Ebenda

30 Hahnemann, Samuel: Organon der Heilkunst. Stuttgart: Hippokra- tes Verlag, 1955 (1842).

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31 Nach Hahnemann waltet also eine Dynamis als Lebensa- tem in uns. Gemeint ist so etwas wie das aus der traditio- nellen chinesischen Medizin bekannte Chi (Qi), eine Le- bensenergie, die uns durchfliesst. Die Dynamis entzieht sich jedoch einer Messbarkeit und wohl auch einer Wahrnehmbarkeit. Damit wird der Gesundheitsbegriff von Hahnemann sehr schwer verständlich, zumal die Ge- sundheit zum Zwecke eines höheren Daseins dienen soll.

Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) bringt erstmals den Begriff des langen Lebens ins Spiel: „Die Gesund- heit eines Geschöpfs wird abhängig von der [Summe der ihm angeborenen Lebenskräfte, die mehrere oder weni- ger Festigkeit seiner Organe, die schnellere oder lang- samere Konsumption und die vollkommene oder unvoll- kommene Restauration.]“31

Wer lange lebt, ist lange gesund. Langes Leben setzt vie- le Ressourcen voraus: Lebenskraft, Dynamis, Chi; wer genug davon hat, wird alt. Auch die Organe müssen funktionieren, aber essenziell ist der Vorrat an Energien.

Van Spijk präzisiert die Aussage von Hufeland folgen- dermassen: „Zu der eben genannten Gesundheitsdefiniti- on, die Hufeland in seinem Werk «Die Kunst das mensch- liche Leben zu verlängern» entnommen ist, muss folgen- de Präzisierung angefügt werden. Alles, was der Autor in diesem Werk sagt, bezieht sich nicht in erster Linie auf Gesundheit, sondern auf «langes Leben». Hufelands Be- griff des «langen Lebens» ist aber meines Erachtens mit

31 Hufeland, Christoph Wilhelm: Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern. Bonn: E. Strauss, um 1900 (1796).

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32

Gesundheit weitgehend deckungsgleich, sofern sie als Hygiene, als weise Lebensführung verstanden werden.“32 Hier wird ‘langes Leben’ nicht zwingend mit Gesundheit gleichgesetzt, aber im Laufe der Zeit wird das lange Le- ben zum Inbegriff von Gesundheit. Eine vollkommene Gesundheit muss somit zur Unsterblichkeit führen. Dass es verhängnisvoll sein kann, Gesundheit mit langem – aus dem folgt unabdingbar – ‘ewigem Leben’ gleichzu- setzen, zeigt sich z. B. in den ‘Auswüchsen’ des so ge- nannten ‘Antiagings’ (siehe Kapitel „Antiaging“, Seite 86) und einer kaum mehr bezahlbaren Spitzen-Techno- Medizin (chirurgische Verjüngung, Hormonbehandlun- gen etc.). Der Wunsch vom langen Leben, ohne alt zu werden, ist ein neuzeitlicher.

Anpassungsfähigkeit

Friedrich Wilhelm Josef Schellings (1775-1854) Ge- sundheitsbegriff lautet wie folgt: „Die Gesundheit muss aufgefasst werden als ein Zustand, in welchem sämtliche Polaritäten der Organe untereinander in dem richtigen Verhältnis stehen und zusammen genommen wiederum mit der Aussenwelt harmonieren.“33

Der Begriff der ‘Aussenwelt’ ist hier interessant. Ganz modern erscheint diese Formulierung, denn sie verlangt von einem gesunden Körper, dass er mit der Aussenwelt

32 Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991.

33 Zitiert in: Berghoff, Emanuel: Entwicklungsgeschichte des Krank- heitsbegriffes. Wien: Verlag W. Moudrich, 1947.

(35)

33 harmoniere. Wer fähig ist, auf Umweltbedingungen zu reagieren, ist gesund. Damit sind natürlich nicht neuzeit- liche Umweltbelastungen, sondern vielmehr die alltägli- chen Wechsel von z. B. kalt und warm, trocken und feucht etc. gemeint.

Ärzte wie Johann Nepomuk Ringseis (1785-1880) defi- nieren Gesundheit zu derselben Zeit wie folgt: „Die Ge- sundheit ist vollkommen oder relativ. Den Menschen mögliche Vollkommenheit der Gesundheit ist da, wo alle Sphären, Kreise und ihre Theile zu einem einzigen indi- viduellen Leben zusammen stimmen, so dass weder etwas mangelt, noch etwas Fremdartiges in Leib, Seele und Geist vorhanden ist, darum alle Verpflichtungen mit Leichtigkeit und Behagen von statten gehen (). Voll- kommene Gesundheit mit der Möglichkeit der Trübung war einst im Paradies; (…) Sie ging verloren durch die Sünde unserer Stammhalter () auch die Seelen- und Geistes Gesundheit ist eine Vollkommene und relative.

Vollkommen wäre eine Gesundheit ohne Irrtum, mit völ- liger Einsicht in die täglichen, menschlichen und unter- geordneten Dinge ohne Neigung zum Bösen, mit unbe- schränkter Liebe des Guten, mit voller Macht des Wil- lens, das erkannte Gute zu vollbringen.“34

Die Gesundheitsdefinition von Ringseis kommt jener der Weltgesundheitsorganisation WHO (siehe Seite 58) sehr nahe, wobei Ringseis den Willen zum Guten als ‘gesund’ und somit das Böse als ‘pathologisch’ bezeichnet, was auch in der christlichen Moral wiederzufinden ist. Inte-

34 Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991.

(36)

34

ressant ist ebenfalls die Erwähnung von Mangel und nichts ‘Fremdartigem’, welche in Leib, Seele oder Geist vorhanden seien.

Vollkommene Gesundheit ist aber auch ein paradiesi- scher und somit ein Ideal-Zustand.

„‘Gesundheit’ ist formal betrachtet ein Letztbegriff wie

Glück. Glück und Gesundheit haben durchaus eine en- ge Beziehung, insofern Gesundheit ja normalerweise ein Element dessen ist, was wir mit Glück meinen.“35

Bei der ärztlichen Befragung eines Patienten nach seinem Befinden oder nach einer Krankheit sind zwei mögliche Ansätze bekannt:

„Was fehlt dem Patienten?“ (hier die Gesundheit) und

„Was hat der Patient?, im Allgemeinen, eine Krankheit.

Damit definiert auch Ringseis in diesem Teilaspekt der Gesundheit eher die Krankheit oder die Gesundheit als Abwesenheit von Mängeln. Das heisst, Krankheit ist nichts Erworbenes, sondern es fehlt an Gesundheit.

Krankheit ist die Abwesenheit von Gesundheit.

35 Kohler, Georg: Wie viel Gesundheit braucht der Mensch. Vortrag.

Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für innere Medizin, Meisterschwanden, 29.-30.08.2008.

(37)

35 Gesundheit als medizinischer Fachbegriff

Virchow (1821-1902) schliesslich ist Arzt. Als Mediziner und Pathologe (Pathologie ist die Lehre der Krankheiten) erkennt er Gesundheit als einen Idealzustand der Zellpa- thologie.

Er leitet die medizinischen Definitionen von Gesundheit im Allgemeinen ein, welche später als das biofunktionel- le Modell vorgestellt werden.

Mit der Einführung der Zellpathologie verabschiedet sich das Gesundheitsmodell auch von der Säftelehre. Symp- tome sind fortan von den Zellen und nicht von den Säften verursacht.

Die zunehmenden Möglichkeiten an diagnostischen Mas- snahmen, seien es Laboranalytik, genetische Untersu- chungen oder bildgebende Apparaturen, erweitern jedoch auch die Möglichkeiten der Abweichung von der Norm.

Es gibt keine Gesunden, nur ungenügend Untersuchte (Quelle unbekannt). Mit anderen Worten: Wer lange ge- nug sucht, findet immer eine Abweichung von der Norm.

Dies führt zu einer Pathologisierung von Werten, die für die Gesundheit jedoch nicht unbedingt eine Rolle spielen (z. B. hohe Intelligenz, siehe das nachfolgende Zitat van Spijks).

Bei Virchow taucht auch die Ansicht auf, dass Gesund- heit als Norm definiert werden könne. Es ist festzustel- len, dass hier die Gesundheit als die Norm definiert wird und nicht etwa eine Norm für den Begriff der Gesundheit festgelegt wird. Virchow sagt, dass es normal sei, gesund zu sein!

(38)

36 Statistik

Gemäss van Spijk wird die Statistik erstmals 1662 durch den Engländer John Grant in seiner Schrift „Die Gesetze der Sterblichkeit“ in die Medizin eingeführt. Zu einem wirklichen Hilfsmittel in der Medizin wird die Statistik jedoch erst im 19. Jahrhundert, als an den grossen Pariser Spitälern unter anderem mittels statistischer Erhebung nachgewiesen wird, dass der Aderlass bei Bauchtyphus nutzlos ist.36

Daraus folgteine neue Gesundheitsdefinition, welche bis heute Gültigkeit hat:

Gesundheit ist das Sich-im-statistischen-Mittel- Befinden aller Einzelparameter eines Menschen.

Ein statistischer Mittelwert leitet sich immer aus den Werten von Vielen ab.

Zusammenfassend sagt van Spijk dazu:

„Die Kritikpunkte an oben genannten Gesundheitsdefini- tionen werden unterdessen von verschiedener Seite, unter anderem von den eben genannten Autoren selbst aufge- zeigt und wie folgt zusammengefasst:

a) Es gibt weit verbreitete, das heisst statistisch häufige Phänomene, die nicht gesund sind [aber der Norm ent- sprechen, z. B. auch Übergewichtigkeit; Anm. C. Heitz ] (z. B. Karies)

36 Diepgen, Paul: Geschichte der Medizin. Berlin: De Gruyter, 1949.

Band II. S. 9 f.

(39)

37 b) Gewisse Aspekte sind, obwohl sie eine Normabwei- chung darstellen, keinesfalls mit Krankheit gleich zu set- zen (z. B. hohe Intelligenz).

c) Normen, insbesondere im Bereich der Psychiatrie, sind stark kulturell geprägt (z. B. sexuelle Verhaltenswei- sen). Aber auch somatische Erkrankungen sind zum Teil kulturell zu relativieren.

d) Komplexe (z. B. psychische) Phänomene lassen sich schlecht quantifizieren.

e) Um relevante Gesundheits-Variablen und -Parameter messen zu können, muss vorgängig ein grundsätzliches Wissen um das Wesen der Gesundheit vorhanden sein.

f) Die Wahl der Grenzen zwischen normal und abnor- mal ist immer willkürlich.37

Die Einführung der Statistik in die Medizin hat dieser die Möglichkeit genommen, den Menschen individuell und kausal zu behandeln.

Auf den ersten Blick scheint die Mathematik, der sich Descartes und seine Nachfolger verpflichtet fühlten, mit der Statistik verwandt zu sein. Es ist aber so, dass diese zwei Denk- und Forschungsmethoden wesentlich vonei- nander verschieden sind. In der Statistik wird die Klar- heit und Kürze der mathematischen Gleichung durch ungefähre Beschreibung des untersuchten Objekts und

37 Macklin, Ruth: Mental health and mental illness: Some problems of definition and concept formation. Philosophy of Science 39, No. 3 (1972), S. 341-365.

(40)

38

durch Wahrscheinlichkeiten ersetzt. Das hohe Ziel des vollständigen Verstehens wird aufgegeben.“38

Van Spijk stellt in einer Tabelle die mathematische For- schungsmethode der statistischen gegenüber:

Tabelle 1: Forschungsmethode Mathematik vs. Forschungsme- thode Statistik39

Forschungsmetho de Mathematik

Forschungsmetho de Statistik Zugrundeliegend

es Paradigma

Ein Objekt ist durch eine Ursachenkette determiniert.

Die ein Objekt bestimmende Ursachenkette ist in der Regel unbekannt.

Vorgehen reduzieren, analysieren

tabellieren, zusammenfassen Zahl der zu

untersuchenden Objekte

wenige, im Idealfall ein einziges

viele Art der Aussage Definition,

Erklärung, Gleichung

Aufzählung, Beschreibung Sicherheitsgrad

der Aussage

sicher, im Idealfall absolut sicher

wahrscheinlich

38 Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991.

39 Spijk, Piet van: Definition und Beschreibung der Gesundheit. In:

Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspo- litik. Nr. 22. Muri BE: SGGP, 1991.

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39 Auffällig sind hier zwei wesentliche Faktoren:

Die mathematische Forschungsmethode kann mit der Untersuchung eines einzigen Objektes im Idealfall eine absolut gesicherte Aussage machen. Die statistische Me- thode hingegen verlässt sich auf Wahrscheinlichkeiten – ohne die Beachtung von Ursachenketten.

Damit ist die Frage nach der Ursache einer Krankheit nicht mehr relevant, denn die bestimmende Ursachenket- te ist in der Methodik der Statistik unbekannt.

So werden als Gesundheitsindikatoren in der Statistik die Sterblichkeitsraten und die Lebenserwartung als Hinweis auf die Gesundheit gewertet.

„Trotz all der genannten Punkte hat die statistische Er- fassung der Gesundheit, zumindest impliziterweise, vor- rangige Bedeutung erhalten. In der praktischen Tätigkeit des heutigen Arztes wird in der Regel Gesundheit postu- liert, wenn sich eine mehr oder minder grosse Anzahl klinischer, labormässiger und anderer Parameter im Normbereich befinden.“40

Dieses Modell wird von einer mathematisch- naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise beherrscht und orientiert sich gänzlich an der Wissenswelt, während es die subjektive Wahrnehmung der Lebenswelt komplett ausschliesst.

Die Aussage, dass die Norm die Gesundheit bestimme, ist nicht ganz korrekt, denn sie ignoriert die Wahrneh- mung des Patienten. So können zwar alle Werte in der

40 Ebenda

(42)

40

Norm sein und dennoch fühlt sich jemand krank. Zum einen sind eventuell nicht wirklich alle relevanten Para- meter untersucht worden, zum anderen ist die Feststel- lung der ‘Gesundheit’ keine rein medizinische Aufgabe.

Die Aussage müsste lauten: Es müssen sich klinisch, d. h.

vom Beschwerdebild abhängige, Werte in der Norm be- finden.

Dies würde einer medizinisch-körperlichen Definition von Gesundheit entsprechen. Da aber Kausalketten durch die Statistik nicht gefordert werden, sind sie teilweise nicht mehr bekannt.

„Die Schwierigkeiten, die sich bieten, will man allgemein verbindliche Kriterien dafür aufstellen, was unter den Begriff Gesundheit zu fallen hat, sind beträchtlich. Sie werden in der Regel von einem Arzt anderes gesehen als von einem Geistheiler, von einem Theologen anderes, als von einem Gesundheitsminister und so weiter. Solche Schwierigkeiten haben zum Beispiel den Ökonomiepro- fessor V. Fuchs zufolge zur Aussage gebracht „ein Volkswirtschafter sollte nicht so sehr nach einem idealen Gesundheitskonzept suchen, sondern vielmehr das Kon- zept auswählen, welches ihm für ein bestimmtes Problem das Nötigste zu sein scheint.“41

Das Nötigste für die Erhaltung der Gesundheit ist der Zugang zu einer minimalen Versorgung und die Über- nahme der Kosten durch ein Sozialsystem. Worin eine minimale Versorgung besteht, ist wiederum eine politi-

41 Fuchs, Victor: Concepts of health an Economist’s perspective.

In: The Journal of Medicine and Philosophy 1, No. 3 (1976), S. 229- 237.

(43)

41 sche Definition, die je nach Land und Möglichkeiten va- riiert (siehe „Grenze der Verantwortung und der Gesund- heitsvorsorge“, Seite 176).

Biologisch funktionelle Definition

Als biologisch funktionelle Definition von Gesundheit hat sich die folgende etabliert:

Gesundheit ist die Abwesenheit von Krankheit, wobei Krankheit definiert ist als Abweichungen von der natürli- chen funktionalen Organisation eines typischen Mitglie- des einer Spezies.

Krankheit ist damit definiert als Abweichung von der Norm. Doch was ist „Norm“?

Als Norm bezeichnet man einen mittleren Wert von vie- len gemessenen Werten. Um die Norm für Gesunde zu definieren, werden z. B. gesunde Probanden gemessen und wird mithilfe des Mittelwertes eine Norm bestimmt.

Je mehr Messungen vorliegen, desto exakter der be- stimmte Wert. Da jeder gemessene Wert von der Mitte abweicht, wird ein Toleranzfenster bestimmt, innerhalb dessen die Norm noch erfüllt ist.

Dies ist ein rein arithmetisches Vorgehen und bezieht sich keinesfalls auf bestehende Beschwerden (Klinik) oder auch Symptomlosigkeit. Die Lebenswelt und die Wahrnehmung sind hierbei nicht berücksichtigt.

Das typische Mitglied der Spezies Homo sapiens ist männlich. Zumindest für die Schweiz gilt: Die Norm ist definiert durch 95 % der gesunden männlichen Bevölke-

(44)

42

rung.42 Dies resultiert aus der Tatsache, dass bei den wehrpflichtigen und diensttaugleichen Männern, welche in der Regel als ‘gesund’ befunden wurden, routinemäs- sig die Normwerte festgestellt werden. Erst seit wenigen Jahren gibt es einen kleinen Prozentsatz an weiblichen Diensttauglichen. Es ist keine neue Auffassung, dass bei Wehrpflicht die Diensttauglichkeit als Nachweis für die Gesundheit dient. Zur Normalbevölkerung gehören in der Regel, wie bereits erwähnt, junge Männer, welche mili- tärdiensttauglich sind. Sie sind die grösste untersuchte Gruppe, welche selbstredend für ‘gesund’ erklärt wurde.

Im logischen Umkehrschluss folgt: Wenn die, welche die Norm bilden, nicht wirklich gesund sind, folgt, dass die- jenigen, die von der Norm abweichen, eigentlich gesund sein könnten.

In der Tat gibt es etliche Laborparameter, für welche die Norm gar nicht feststeht, weil die Analysen z. B. sehr teuer sind und man sie nur bei kranken Menschen veran- lasst. Somit gibt es keine Norm für die Gesunden. So sind etliche Komponenten (z. B. Lymphozyten- Subpopulationen) des menschlichen Immunsystems zwar erforscht und man kennt ihre Funktion, nur gibt es noch keine definierte Norm dazu.

„Das biomedizinische Modell macht Krankheit zu rein mechanischen Prozessen. (...) das biomedizinische Mo- dell dominiert: Es ist nicht nur im Gesundheitssystem fest verankert, sondern kann auch auf eine ganze Reihe glän- zender Erfolge zurückblicken. Es wird sich verändern, drastisch verändern möglicherweise, aber es wird nicht

42 Aussage auf Befragung von Dr. Didier Burki, Labor Viollier AG Basel

(45)

43 so schnell verschwinden, dafür haben wir seine Lehren zu sehr verinnerlicht.43

Der Schweregrad einer Krankheit kann sich nicht daran messen, wie viele Werte von der Norm abweichen. Er kann eher daran gemessen werden, wie ein Patient seinen Zustand wahrnimmt. Auch ein Arzt kann den Schwere- grad einer Erkrankung weder wahrnehmen noch ermes- sen. Auch hier zeigt sich, dass Krankheit nicht wirklich messbar oder detailliert wahrnehmbar ist. Es gibt gewisse Anzeichen, die darauf hinweisen, dass jemand todkrank ist. Dieses Wissen ist jedoch ein Erfahrungswissen, und sicherlich sind Anteile davon messbar, nicht aber das Wissen darum.

Am Anfang der modernen Chirurgie, z. B. bei den ersten Operationen an der Schilddrüse, mussten sowohl Patien- ten wie Ärzte zuerst aus Erfahrung lernen. Dadurch ent- stand Wissen. Die Patienten, denen aus Unwissenheit bei Kropfoperationen auch die Nebenschilddrüsen entfernt wurden, litten nach einer solchen Operation an Kretinis- mus. Unter dem Titel Exstirpation einer Struma retroo- esophagea“ veröffentlichte Emil Theodor Kocher im Jahre 1883, dass eine Totalexstirpation der Schilddrüse zu einem dem Kretinismus ähnlichen Zustand führen könne. Der Kretinismus könne verhindert werden, indem ein Rest Schilddrüsengewebe im Körper des Patienten verbleibe.44 In den folgenden 10 Jahren trug er wesent-

43 Morris, David B.: Krankheit und Kultur (Illness and Culture in the Postmoderne Age). Übersetzte Ausgabe. München: Kunstmann, 2000.

44 Emil Theodor Kocher erhielt 1909 den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie für seine Arbeit über die Physiologie, Pathologie

(46)

44

lich zu einer Verbesserung der Operationstechnik bei und konnte die Sterblichkeitsrate in Folge einer Totalexstirpa- tion erheblich senken. Das Wissen entstand folglich aus der Erfahrung und grossem Leid der Patienten. Und so ist jede klinische Studie, auch wenn sie statistisch aufberei- tet wird, eine Erfahrungsstudie. Lediglich die Auswer- tung erfolgt anhand einer wissenschaftlichen, nämlich der mathematischen (statistischen) Methode.

Die Medizin konzentriert sich auf die Feststellung von Krankheit und hält fest, dass diese eine Abweichung phy- siologischer Werte von der Norm darstellt.

„Wenn Gesundheit nach diesem Konzept betrachtet wird, so wird dies mit Krankheitskonzept bezeichnet. Der Vor- teil des Konzeptes ist die epidemiologische Erhebung der Krankheiten, jedoch sind die sozialen Auswirkungen der Krankheiten nicht feststellbar(). Eine zweite, aus der Soziologie entstandene Konzeption betrachtet Gesundheit nicht als Selbstzweck, sondern als Voraussetzung indivi- dueller Aktivitäten () hierbei schränkt eine Krankheit ein. Dieses Konzept wird als Beeinträchtigungskonzept bezeichnet, (...) es lassen sich die zugrunde liegenden Krankheiten nicht erfassen.45

Wer die Norm bestimmt, hat die Macht, über Gesundheit oder Krankheit zu befinden. Fragwürdig wird es dann,

und Chirurgie der Schilddrüse. Bereits 1876 führte er die erste Strumektomie (Entfernung der Schilddrüse) durch.

45 Rubant, Gerald: Definition und Messung von „Gesundheit“. Dip- lomarbeit in Wirtschaftswissenschaften/Volkswirtschaft. Frankfurt am Main: Johann Wolfang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 1997.

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45 wenn Arzneimittelhersteller die Labors ausrüsten. Die entsprechenden Normen werden mitgeliefert, und bei Abweichung muss ein bestimmtes Medikament abgege- ben werden.

Frauengesundheit und Männergesundheit

Es gibt inzwischen sehr viel Literatur zu Frauengesund- heit und Gender-Research. Das Thema kann daher nur am Rande gestreift werden. Normen in der Medizin sind jedoch immer noch Normen, die an Männern festgelegt werden. Frauen sind grundsätzlich schon deshalb weniger

‘gesund’, weil ihre Werte von der Männernorm abwei- chen.

Richard Rorty schreibt: „Kein Mann zu sein ist die drit- te46 Form, als Nichtmensch zu gelten.47

Frauengesundheit ist anders als Männergesundheit, oder:

Die Gesundheit der Frauen ist weniger erreicht als jene der Männer. Gemäss Definition der WHO ist z. B. die Gleichberechtigung ein Teilaspekt der Gesundheit. Nach Rorty definiert sich das Anders-Sein bei Menschen in der Form, dass derjenige, der keine Macht besitzt, als Nicht- mensch betrachtet wird. Er benutzt dazu das Beispiel der

48 Rorty bezieht sich auf gefiederte und ungefiederte Zweifüss- ler“: So sind Mehrfüssler immer Nicht-Menschen, so wie auch die gefiederten Zweifüssler. Die dritte Möglichkeit, „Nicht-Mensch“

zu sein, ist es, eben eine Frau zu sein, da „Mensch“ immer „Mann“

bedeute.

47 Rorty, Richard: Moralischer Fortschritt II für integrativere Gesell- schaften. In: Rorty, Richard: Wahrheit und Fortschritt (Truth and Progress). Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft, 2003.

Referenzen

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