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TIERethik 8. Jahrgang 2016/2 Heft 13, S. 48-58

Johann S. Ach

Stammzellen als Testsysteme?

Tierethische Perspektiven

Zusammenfassung

Die Beantwortung der Frage, wie die Forschung an und Entwicklung von stammzellbasierten In-vitro-Testsystemen, die das Ziel haben, zu einer Vermeidung oder Verringerung des Tierverbrauchs beizutragen, aus tier- ethischer Perspektive zu beurteilen sind, erfordert eine Güterabwägung.

Dabei müssen die aus der Nutzung entsprechender Testsysteme resultie- renden Vorteile, die Schutzanforderungen im Hinblick auf humane emb- ryonale Stammzellen sowie die Schutzanforderungen im Hinblick auf nichtmenschliche Tiere zueinander in Beziehung gesetzt werden. Der Beitrag unterscheidet verschiedene Positionen in dieser Frage und plä- diert für eine Ergänzung des § 5 Abs. 1 StZG, die neben dem wissen- schaftlichen Erkenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung und der Erweiterung medizinischer Kenntnisse bei der Entwicklung diagnos- tischer, präventiver oder therapeutischer Verfahren zur Anwendung bei Menschen auch die Vermeidung oder Verringerung von Tierversuchen ausdrücklich als hochrangiges Forschungsziel anerkennt.

Schlüsselwörter: Tierethik; Tierversuche; Stammzellforschung; Stamm- zellgesetz

Stem Cells as Test Systems?

The Animal Ethics Perspective Summary

Answering the question how the research and development of stem cell- based in vitro assay systems, which aim to contribute to the prevention or

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reduction of animal testing, must be assessed from an animal ethics per- spective, requires taking into account the benefits from using such test systems, the protection requirements in terms of human embryonic stem cells, as well as protection requirements with regard to non-human ani- mals. The contribution distinguishes different positions on this issue and calls for an extension of § 5 para. 1 StZG, which explicitly recognizes the preventing or reducing of animal testing as serious research goal.

Keywords: animal ethics, animal testing, stem cell research, Stem Cell Act

1. Stammzellforschung und Tierversuche: a mixed bag

1

Die Forschung an menschlichen Stammzellen ist von Beginn an mit Tier- versuchen verbunden gewesen. So gut wie alle wesentlichen Schritte in der Geschichte der Stammzellforschung beruhen auf Erkenntnissen, die zunächst am Tiermodell bzw. im Tierversuch gewonnen worden sind.

Schon die Entdeckung von Stammzellen in den 60er-Jahren geht auf ein Tierexperiment zurück; und auch die Isolierung von embryonalen Stammzellen gelang zu Beginn der 80er-Jahre erstmalig an der Maus (1981), in der Folge an Schafen (1987), Hamstern (1988), Schweinen (1990), Kaninchen (1993) und Affen (1995). „A brief review of the histo- ry of stem cell research“, so Deckha und Xie, „reveals that experimenta- tion on animals has laid the scientific foundation for stem cell research“

(Deckha & Xie 2008, 76; weitere Nachweise dort).

Nach Auffassung vieler Stammzell-Forscherinnen und -Forscher kann in der Stammzellforschung auch heute auf die Nutzung von Tiermodellen nicht verzichtet werden. Tatsächlich sind nicht wenige Stammzell- Forscherinnen und -Forscher der Auffassung, dass die Bedeutung von Tierversuchen mit der Translation der Stammzellforschung in die klini- sche Praxis sogar noch zunehmen wird. Mit der translationalen Stamm- zellforschung, so beispielsweise Harding et al., werde nicht nur eine zah- lenmäßige Zunahme an Tierversuchen einhergehen; erforderlich seien vielmehr auch Änderungen bei der Wahl der Tiermodelle. Die Stamm- zellforschung werde künftig vermehrt auf größere Tierarten als Tiermo-

1 Die nachfolgenden Überlegungen sind im Zusammenhang eines Berichtes entstanden, der am Centrum für Bioethik der Universität Münster im Auftrag und mit Mitteln der ethisch-rechtlich-sozialwissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Kompetenznetz- werks Stammzellforschung NRW erstellt worden ist. Vgl. dazu auch Ach (im Er- scheinen).

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delle, also beispielweise auf Kaninchen, Hunde, Schweine oder nicht- menschliche Primaten, zurückgreifen müssen.

„Stem cell-based therapies present significant safety challenges, which cannot be addressed by traditional procedures and require the develop- ment of new protocols and test systems, for which rigorous use of larger animal species more closely resembling human behavior will be re- quired.“ (Harding et al. 2013)

Während die Forschung an menschlichen Stammzellen also einerseits vorhersehbar zu einer Zunahme von Tierversuchen führen wird, kann sie andererseits, wie viele hoffen, aber möglicherweise auch einen (u.U. so- gar erheblichen) Beitrag zur Reduzierung von Tierversuchen leisten: Seit rund zehn Jahren wird in einer Reihe von Forschungsprojekten und Kon- sortien2 an der Entwicklung stammzellbasierter Testsysteme gearbeitet, die Tierversuche ersetzen sollen.

Diese Entwicklung hat nicht zuletzt auf Seiten von Tierschützerinnen und -schützern einige Hoffnung geweckt. So heißt es beispielsweise in einer Stellungnahme der Tierrechtsorganisation PETA von 2008:

„Obwohl die Stammzellenforschung derzeit mit Tieren arbeitet, hat sie das Potential, die Mehrzahl aller Tierversuche zu beenden. […] Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Stammzellenforschung der entscheidende Faktor sein wird, damit vorklinische in-vitro Studien als ausreichend für den Ein- satz von Medikamenten für menschliche Kliniktests angesehen werden können. Allein dieser Schritt würde jedes Jahr Millionen von Tieren das Leben retten.“ (PETA 2008)

2. Reduzierung von Tierversuchen durch stammzellbasierte Testsysteme?

Aus humanen embryonalen Stammzellen abgeleitete Zellen können so- wohl für die Testung neuer Substanzen auf mögliche pharmakologische Wirkungen (drug screening) als auch für die frühzeitige Bestimmung möglicher toxischer Wirkungen von Substanzen genutzt werden. Stamm- zellbasierte Testsysteme haben dabei gegenüber herkömmlichen Test- Systemen eine Reihe von Vorteilen: Im Unterschied zu funktionellen primären humanen Zellen, die in der Regel nur über kürzere Zeiträume

2 Beispielsweise das im 7. EU-Forschungsrahmenprogramm geförderte ESNATS- Konsortium (Embryonic Stem Cell-based Novel Alternative Testing Strategies). URL:

http://www.esnats.eu/; Zugriffsdatum: 12.10.2016.

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kultivierbar sind und nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen, stehen aus embryonalen Zelllinien gewonnene Zellen aufgrund deren hoher Proliferationsfähigkeit jederzeit in guter Qualität und in praktisch unbe- grenzter Menge zur Verfügung. Darüber hinaus sind pharmakologische Untersuchungen derzeit häufig nur an begrenzt aussagefähigen Zellsys- temen tierlichen bzw. humanen Ursprungs durchführbar. Für die pharma- kologische Forschung interessant sind auf Stammzellen basierende Test- systeme aber auch deshalb, weil sie eine frühzeitige Untersuchung der Metabolisierung von Pharmaka in vitro ermöglichen. Schließlich erlaubt die Testung möglicher Wirkstoffe an humanen Zellen, die aus hES- Zelllinien mit unterschiedlichen genetischen und ethnischen Hintergrün- den hergestellt wurden, gegebenenfalls den frühzeitigen Ausschluss von Prüfsubstanzen aus der Pharmaka-Entwicklung (Löser et al. 2007, 305).

Stammzellbasierte humane Test-Systeme lösen also möglicherweise die – für Tierversuche allgemein charakteristischen – Probleme der Übertrag- barkeit, zeichnen sich durch eine bessere Verfügbarkeit und Qualität aus, tragen zu einer Beschleunigung der Arzneimittelentwicklung bei und zu einer unter Umständen deutlich erhöhten Arzneimittelsicherheit.

Große Hoffnungen richten sich zudem darauf, stammzellbasierte High-Throughput-Screening-Systeme etablieren zu können. Diese sind umso dringlicher erforderlich, als im Zusammenhang der REACH-Ver- ordnung, die die Hersteller oder Importeure von Chemikalien zur Ermitt- lung der gefährlichen Eigenschaften von Stoffen und zur Abschätzung der Wirkungen auf die Gesundheit und die Umwelt verpflichtet, mit einer drastischen Zunahme von Toxizitätsprüfungen gerechnet werden muss.

Neben wissenschaftlichen, gesundheitspolitischen und ethischen Gründen sprechen insofern auch ökonomische Gründe für die Entwicklung stammzellbasierter humaner Testsysteme.

Auch wenn die Hoffnung auf ein Ende von Tierversuchen wohl über- zogen ist, scheint eine Reduzierung durchaus möglich. Zuverlässige Schätzungen darüber, wie viele Tierversuche sich durch eine Nutzung stammzellbasierter Testsysteme tatsächlich vermeiden ließen, gibt es der- zeit freilich nicht.

3. Stammzellen als Testsysteme: eine ethische Landkarte

Wie ist die Forschung an und die Entwicklung von stammzellbasierten In-vitro-Testsystemen, die das Ziel haben, zu einer Vermeidung oder Verringerung von Tierversuchen beizutragen, aus (tier-)ethischer Per- spektive zu beurteilen? Die Frage ist komplex, da ihre Beantwortung Gü-

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terabwägungen erforderlich macht, die (a) die aus der Nutzung entspre- chender Testsysteme resultierenden Vorteile, (b) die Schutzanforderun- gen im Hinblick auf humane embryonale Stammzellen sowie (c) die Schutzanforderungen im Hinblick auf nichtmenschliche Tiere zueinander in Beziehung setzen müssen. Etwas vereinfachend und schematisierend kann man die folgenden vier Optionen unterscheiden:

(i) Stammzellbasierte Testsysteme sind aus Gründen des Embryonen- schutzes gänzlich ablehnen.

(ii) Die Entwicklung stammzellbasierte Testsysteme zur Reduzierung von Tierversuchen ist moralisch verboten, weil der mit der Entwick- lung solcher Systeme einhergehende Embryonenverbrauch schwerer wiegt als etwaige Vorteile aus der Nutzung solcher Systeme.

(iii) Die Entwicklung stammzellbasierter Testsysteme zur Reduzierung von Tierversuchen ist moralisch zulässig, weil die Reduzierung von Tierversuchen „hochrangig genug“ ist, um entsprechende Vorhaben zu rechtfertigen.

(iv) Die Entwicklung stammzellbasierte Testsysteme zur Reduzierung von Tierversuchen ist moralisch geboten, weil es sich bei der Redu- zierung von Tierversuchen um ein hochrangiges Gut handelt, dem kein oder doch zumindest kein gleichrangiges Gut gegenübersteht.

Ad (i): Die erste der genannten Optionen wird vertreten, wer in der Frage des Embryonenschutzes eine strikte Position vertritt. Wer der Auffassung ist, dass bereits der befruchteten menschlichen Eizelle derselbe morali- sche (und rechtliche) Schutz zukommt wie jeder normalen erwachsenen Person, der wird die mit der Entwicklung von In-vitro-Testsystemen (derzeit3) notwendig einhergehende Zerstörung von Embryonen für den ausschlaggebenden Grund gegen die Entwicklung solcher Systeme hal- ten. Ein „Opfern“ von Embryonen wird für die Vertreterinnen und Ver- treter dieser Position grundsätzlich nicht in Frage kommen – weder zu- gunsten einer Entwicklung von Testsystemen noch zugunsten irgend ei-

3 In der Literatur werden humane induzierte pluripotente Stammzellen, sog. hiPS- Zellen, häufig als gegenüber humanen embryonalen Stammzellen „ethisch unbedenk- lichere Alternative“ bezeichnet, bzw. es wird behauptet, dass durch die Nutzung von hiPS-Zellen das Problem des Embryonenverbrauchs „umgangen“ werden könne. Ob diese Behauptungen zutreffen, hängt zum einen davon ab, ob sich eine überschießen- de Reprogrammierung zuverlässig ausschließen lässt, zum anderen davon, ob sich das Potenzialitäts-Argument auf plausible Weise ausbuchstabieren lässt.

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nes anderen Zieles (vgl. dazu auch die Diskussion bei Schickl 2016). Dies ist im Prinzip auch die Position, die dem deutschen Embryonenschutz- Gesetz zugrunde liegt. Über die Frage, ob sich eine solche Position wi- derspruchsfrei und plausibel begründen lässt, soll an dieser Stelle nicht geurteilt werde. Wichtig ist hier nur der Aufweis, dass Position (i) eine ganz bestimmte, keineswegs unumstrittene Auffassung über den morali- schen (und rechtlichen) Status des menschlichen Embryos voraussetzt und konsistent nur um den Preis vertreten werden kann, auf jedwede For- schung an Embryonen und a fortiori jede Forschung an embryonalen Stammzellen zu verzichten.

Ad (ii): Das deutsche Stammzellgesetz geht bekanntlich einen anderen Weg. Es verbietet zwar grundsätzlich die Forschung an humanen embry- onalen Stammzellen, erlaubt diese aber ausnahmsweise dann, wenn im konkreten Fall eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sind, die im Ge- setz explizit genannt werden. Eine dieser Voraussetzungen ist die sog.

Stichtagsregelung, der zufolge die für Forschungszwecke importierten embryonalen Stammzelllinien im Ausland vor einem bestimmten Stichtag hergestellt worden sein müssen – womit ausgeschlossen werden soll, dass die mit der Herstellung der Zelllinien verbundene Zerstörung von Emb- ryonen durch eine deutsche Nachfrage motiviert worden ist. Eine weitere Voraussetzung ist die Einschränkung der ausnahmsweise zulässigen Vor- haben auf solche, die „hochrangigen“ Forschungszwecken dienen. § 5 Abs. 1 des Stammzellgesetzes StZG regelt, dass Forschungsarbeiten an embryonalen Stammzellen nur unter der Voraussetzung durchgeführt werden dürfen, dass

„sie hochrangigen Forschungszielen für den wissenschaftlichen Erkennt- nisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung oder für die Erweiterung medizinischer Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder therapeutischer Verfahren zur Anwendung bei Menschen dienen.“4

4 Der Fünfte Erfahrungsbericht der Bundesregierung über die Durchführung des Stammzellgesetzes stellt dazu unmissverständlich fest: Das „in einigen Anträgen ne- ben anderen Forschungszielen, die auf die Gewinnung hochrangiger Erkenntnisse entsprechend § 5 Nummer 1 StGZ gerichtet waren, explizit formulierte zusätzliche Anliegen, durch Entwicklung neuer in-vitro-Testsysteme zur Vermeidung oder Ver- ringerung des Tierverbrauchs in der Forschung beitragen zu wollen, kann nicht als ei- genständiger Hochrangigkeitsgrund für die Verwendung humaner embryonaler Stammzellen anerkannt werden, weil es sich dabei um kein Forschungsziel i.S.d. § 5 Nummer 1 StZG handelt.“ (Deutscher Bundestag 2013, 11)

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Dies führt mehr oder minder unmittelbar zu Position (ii), die eine Ent- wicklung von In-vitro-Testsystemen auf Basis von embryonalen Stamm- zellen zwar nicht prinzipiell ausschließt, solange diese gesundheitlichen Zwecken des Menschen dienen, wohl aber die Entwicklung solcher Test- systeme ausschließt, deren Ziel allein in einer Reduzierung von Tierver- suchen bestünde. Forschungsvorhaben, die zu einer Vermeidung oder Verminderung von Tierversuchen in der Forschung beitragen, sind dem- nach nur unter der Voraussetzung genehmigungsfähig, dass sie aus an- derweitigen Gründen als „hochrangig“ gelten.

Eine solche Position lässt sich offenbar nur vertreten, wenn man in der Ethik (und im Recht) eine streng anthropozentrische Perspektive ver- tritt. Aus der Perspektive einer streng anthropozentrischen Ethik scheint nämlich der Umstand, dass stammzellbasierte Testsysteme auch einen Beitrag zur Reduzierung von Tierversuchen leisten können, schlicht nicht ins Gewicht zu fallen. Dies liegt daran, dass anthropozentrische Ansätze in der Ethik nur Menschen bzw. den Interessen, Gütern oder Rechten von Menschen einen intrinsischen Wert einräumen. Das Problem einer sol- chen Position ist vielfach diskutiert worden: Sie müsste ein Argument geben, das in nicht-willkürlicher Weise begründen kann, warum (alle) Menschen, nicht aber nichtmenschliche Tiere zur moralischen Gemein- schaft gehören sollen (vgl. Ach 1999).

Auch im Rahmen einer anthropozentrischen Ethikkonzeption bleibt indes Raum für eine Berücksichtigung auch der Interessen, Güter oder Rechte von empfindungsfähigen nichtmenschlichen Tieren, wenn man diese, wie es nicht zuletzt in der Ethik Kants geschieht, die gemeinhin als ein Paradebeispiel einer anthropozentrischen Ethikkonzeption gilt, als ei- nen „indirekten“ Ansatz ausbuchstabiert. Sogenannte „indirekte“ Ansätze halten moralische Verpflichtungen in Bezug auf nichtmenschliche Tiere im Wesentlichen aus moralpsychologischen oder moralpädagogischen Gründen für begründbar. So ist beispielsweise ein rücksichtsloser Um- gang mit Tieren für Kant aus Gründen verboten, die zwar auf den Men- schen Bezug nehmen, aber gerade nicht auf seine unmittelbaren oder be- liebigen Neigungen und Interessen. Unsere moralische Einstellung zu Tieren, so könnte man auch sagen, muss Kant zufolge von Erwägungen diesseits von bloßen Nutzenkalkülen geprägt sein. Dies sind wir, folgt man Kant, uns selbst als Menschen und insofern auch den Tieren schul- dig (vgl. Ingensiep & Baranzke 2008, 104ff.). Nichtmenschlichen Natur- wesen kommt im Rahmen so verstandener anthropozentrischer Ansätze zwar kein eigener Wert zu, wohl aber ein extrinsischer oder abgeleiteter Wert. Mit anderen Worten: Moralische Verpflichtungen lassen sich dieser

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Auffassung nach zwar nicht gegenüber, wohl aber in Bezug auf nicht- menschliche Naturwesen begründen.

Ad (iii): Aus der Perspektive einer Tierschutzethik lässt sich Position (iii) gewinnen. Als Tierschutzethik kann man solche Ansätze bezeichnen, die einerseits zwar empfindungsfähige nichtmenschliche Lebewesen für mo- ralisch berücksichtigenswert halten, die andererseits aber behaupten, dass der moralische Wert von Menschen höher zu gewichten sei als der von nichtmenschlichen Tieren. Ihren Ausdruck gefunden hat die Kern-Idee der Tierschutzethik beispielsweise im deutschen Tierschutzgesetz. Dort heißt es in Paragraph 1:

„Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen.

Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“

Einerseits erkennt das TierSchG also an, dass nichtmenschliche Tiere als

„Mitgeschöpfe“ um ihrer selbst willen berücksichtigt werden müssen;

andererseits findet diese Berücksichtigung aber dort ihre Grenze, wo es einen „vernünftigen Grund“ dafür gibt, die Interessen, Bedürfnisse oder Belange von Tieren hintanzustellen.

Aus der Perspektive einer Tierschutzethik stellt sich das Problem der im Hinblick auf die Entwicklung und Nutzung stammzellbasierter Test- systeme erforderlichen ethischen Güterabwägung anders dar als im Rah- men anthropozentrischer Konzeptionen, da aus tierethischer Perspektive die Bedürfnisse oder Interessen der durch solche Systeme gegebenenfalls einzusparenden Versuchstiere in eigenem Recht ins Gewicht fallen. Ein generelles Gebot zur Entwicklung entsprechender Systeme lässt sich aus der Perspektive der Tierschutzethik aufgrund ihrer hierarchischen Struk- tur zwar nur schwerlich begründen, ein moralisches Argument für ihre Entwicklung dort, wo sie dazu geeignet sind, Tierversuche gleichwertig zu ersetzen, aber allemal.

Ad (iv): Egalitäre Positionen in der Tierethik schließlich scheinen auf Po- sition (iv) festgelegt. Aus der Perspektive egalitärer Ansätze gibt es näm- lich keinen Grund, der es rechtfertigen könnte, die Interessen, Güter oder Rechte nichtmenschlicher Tiere gegenüber Interessen, Gütern oder Rech- ten von Menschen zu posteriorisieren. Da sie die Zugehörigkeit zur bio- logischen Gattung nicht für einen hinreichenden Grund hält, der eine Un- gleichberücksichtigung rechtfertigen könnte, gibt es aus dieser Perspekti- ve auch keinen Grund dafür, der es rechtfertigen könnte, die Interessen,

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Rechte oder Güter von Menschen einerseits und die Interessen, Rechte oder Güter von nichtmenschlichen Lebewesen andererseits nicht in glei- cher Weise zu berücksichtigen. Für die ethische Bewertung der Entwick- lung und Nutzung stammzellbasierter Testsysteme folgt hieraus, dass dem Umstand, dass solche Systeme einen Beitrag zur Reduzierung von Tierversuchen leisten können, erhebliche ethische Bedeutung zukommt.

Tatsächlich scheint sich aus dieser Perspektive sogar ein Gebot zur Ent- wicklung (und Nutzung) entsprechender Testsysteme zu ergeben. Der Umstand, dass bei der Nutzung solcher Systeme (empfindungslose) Zel- len menschlichen Ursprungs verwendet werden, wird den Umstand jeden- falls nicht aufwiegen können, dass der Einsatz entsprechender Systeme dazu geeignet sein könnte, Leiden, Schäden und Belastungen von Ver- suchstieren zu reduzieren bzw. zu mildern.

Aus der Perspektive egalitärer Positionen in der Tierethik stellt sich allerdings das Problem, dass stammzellbasierte Testsysteme „Kinder“ der Stammzellforschung sind, die, wie gesehen, selbst mit einem erheblichen Verbrauch an Versuchstieren einhergeht. Zumindest für die Vertreterin- nen und Vertreter deontologischer Varianten egalitärer Positionen in der Tierethik, die nichtmenschlichen Tieren unverrechenbare moralische Rechte zuerkennen, kann die Aussicht auf die Möglichkeit einer Reduzie- rung von Tierversuchen durch stammzellbasierte Testsysteme den aktuel- len Verbrauch von Versuchstieren, der im Zuge der Entwicklung entspre- chender Systeme erforderlich sein dürfte, nicht rechtfertigen. Paradox zu- gespitzt könnte man diese Position vielleicht so zusammenfassen: „Nut- zung ja, Forschung und Entwicklung nein“. Vertreterinnen und Vertreter konsequenzialistischer Varianten der egalitären Position in der Tierethik dagegen werden diese Frage ihrerseits noch einmal für eine Frage der Gü- ter- oder Interessenabwägung halten. Für die hierfür erforderliche Kalku- lation fehlen derzeit allerdings (auch nur halbwegs) seriöse Daten oder Prognosen.

4. Reduzierung von Tierversuchen: ein „hochrangiges“

Forschungsziel?

Dass es plausibel begründet werden kann, die Vermeidung oder Verrin- gerung von Tierversuchen grundsätzlich aus dem Spektrum möglicher

„hochrangiger“ Forschungsziele auszuschließen, scheint vor dem Hinter- grund der gerade skizzierten ethischen Landkarte einigermaßen fragwür- dig. Dass schmerzempfindliche Tiere moralisch schutzwürdig sind, ist in der ethischen Diskussion weitgehend unbestritten. Der wesentliche Grund

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dafür ist, dass empfindungsfähige Tiere durch die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird, subjektiv betroffen sein können. Die verschie- denen (tier)ethischen Ansätze und Positionen unterscheiden sich daher zwar hinsichtlich der Begründung der moralischen Verpflichtung gegen- über Tieren und auch hinsichtlich der konkreten moralischen Pflichten, die daraus entspringen; dass empfindungsfähige Tiere um ihrer selbst willen Berücksichtigung finden müssen, wird in der ethischen Diskussion aber kaum mehr bestritten. Dies gilt, wie gesehen, selbst für die meisten anthropozentrischen Positionen.

Dies eröffnet im Prinzip die Möglichkeit, das Anliegen des Tierschut- zes auch in der Stammzellforschung zu berücksichtigen und die „Hoch- rangigkeit“ solcher Forschungsvorhaben anzuerkennen, die auf eine Vermeidung oder Verringerung des Tierverbrauchs zielen. Auch wer an der anthropozentrischen Grundstruktur der deutschen Rechtsordnung festhalten will, hat also gute Gründe, die mögliche „Hochrangigkeit“ von Forschungsvorhaben, die primär auf eine Vermeidung oder Verringerung von Tierversuchen abzielen, nicht von vorneherein zu verneinen. Eine Ergänzung des § 5 Abs. 1 StZG, die neben dem wissenschaftlichen Er- kenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung und der Erweite- rung medizinischer Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer, prä- ventiver oder therapeutischer Verfahren zur Anwendung bei Menschen auch die Vermeidung oder Verringerung des Tierverbrauchs ausdrücklich als hochrangiges Forschungsziel anerkennt, erscheint vor diesem Hinter- grund ethisch geboten.

Literatur und Internetquelle

Ach, J. S. (1999). Warum man Lassie nicht quälen darf. Tierversuche und moralischer Individualismus. Erlangen: Harald Fischer.

Ach, J. S. (im Erscheinen). Reduzierung von Tierversuchen durch stammzellbasierte Test- systeme? Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 20.

Deckha, M. & Xie, Y. (2008). The Stem Cell Debate: Why Should It Matter to Animal Advocates? Stanford Journal of Animal Law and Policy 1, 69-100.

Deutscher Bundestag (2013). Fünfter Erfahrungsbericht der Bundesregierung über die Durchführung des Stammzellgesetzes (Fünfter Stammzellbericht). Drucksache 17/

12882.

Harding, J., Roberts, R. M. & Mirochnitchenko, O. (2013). Large Animal Models for Stem Cell Therapy. Stem Cell Research & Therapy 4, 23.

Ingensiep, H. W. & Baranzke, H. (2008). Das Tier. Stuttgart: Reclam.

Löser, P., Hanke, B. & Lerch, C. (2007). Forschung an humanen embryonalen Stammzel- len in Deutschland: Die gegenwärtige Situation im Kontext der internationalen For- schung. Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 12, 285-317.

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Millar, K. (2011). Translational Stem Cell Research and Animal Use: Examining Ethical Issues and Opportunities. In: Hug, K. & Hermerén, G. (Hrsg.). Translational Stem Cell Research. Stem Cell Biology and Regenerative Medicine. New York: Springer, 113-124.

PETA (2008). Stammzellforschung: das Ende der Tierversuche. URL: www.peta.de/web/

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Schickl, H. (im Erscheinen). Embryonen opfern für Tiere? Rechtliche und ethische Kon- flikte in Bezug auf die Nutzung von hES-Zellen für pharmakologische und toxikolo- gische Zwecke. In: Denkhaus, R., Lüttenberg, B. & Ach, J. S. (Hrsg.). Forschung an humanen embryonalen Stammzellen – Aktuelle ethische Fragestellungen. Münster.

LIT.

Suter-Dick, L. et al. (2015). Stem Cell-Derived Systems in Toxicology Assessment. Stem Cells and Development 24 (11), 1284-1296.

Wobus, A.M. & Löser, P. (2011). Present State and Future Perspectives of Using Pluripo- tent Stem Cells in Toxicology Research. Archives of Toxicology 85, 79-117.

Zur Person

Johann S. Ach ist seit 2003 Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter des Centrums für Bioethik an der Universität Münster. Studium der Phi- losophie, Katholischen Theologie, Soziologie und Erwachsenenbildung.

1997 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über moralische Probleme tierexperimenteller biomedizinischer Forschung, 2010 Habilitation für Praktische Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Angewand- ten Ethik. Er ist u.a. Mitglied der Koordinierungskommission tierexperi- mentelle Forschung der Universität Münster. Mitherausgeber von Hello Dolly? Über das Klonen (Frankfurt a.M. 1998), Die Frage nach dem Tier. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Mensch-Tier-Verhältnis (Ber- lin 2009) und wissen.leben.ethik. Themen und Positionen der Bioethik (Münster 2014). Gemeinsam mit Dagmar Borchers bereitet er gegenwär- tig die Herausgabe des Handbuch Tierethik (Stuttgart/Weimar 2017) vor.

Korrespondenzadresse Priv.-Doz. Dr. Johann S. Ach

Centrum für Bioethik, Universität Münster Von-Esmarch-Str. 62

48149 Münster Deutschland

E-Mail: ach@uni-muenster.de

URL: www.uni-muenster.de/bioethik

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