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Grundlagen einer hermeneutischen Dolmetschforschung

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Academic year: 2022

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Grundlagen einer

hermeneutischen Dolmetschforschung

Miriam Paola Leibbrand

Frank & Timme

Verlag für wissenschaftliche Literatur

T RANS ÜD Arbeiten zur Theorie und Pr axis des Über setzens und Dolmetsc hens

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Miriam Paola Leibbrand

Grundlagen einer hermeneutischen Dolmetschforschung

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Hartwig Kalverkämper/ Larisa Schippel (Hg.) TRANSÜD.

Arbeiten zur Theorie und Praxis des Übersetzens und Dolmetschens Band 38

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Miriam Paola Leibbrand

Grundlagen einer hermeneutischen Dolmetschforschung

Verlag für wissenschaftliche Literatur

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ISBN 978-3-86596-343-7 ISSN 1438-2636

© Frank & Timme GmbH Verlag für wissenschaftliche Literatur Berlin 2011. Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts- gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Ver arbeitung in elektronischen Systemen.

Herstellung durch das atelier eilenberger, Taucha bei Leipzig.

Printed in Germany.

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier.

Das Typoskript wurde mit dem Titel „Verstehen verstehen: Modellierung epistemologischer und methodologischer Grundlagen für die Konferenz- dolmetschforschung ausgehend vom Simultandolmetschen in die B-Sprache“

im Jahr 2009 als Dissertation bei der Universität Wien eingereicht und vom Zentrum für Translationswissenschaft angenommen.

Für die Drucklegung erfolgte eine orthographische Durchsicht des Typoskriptes.

www.frank-timme.de Umschlagabbildung:

Die dynamisch-körperliche Brücke steht als Metapher für den Prozeß, den ein dolmetschendes Individuum zwischen den Sprachen und Kulturen leistet. Dazu muß die Dolmetscherin eine hohe Verstehensleistung zu den Kommunikaten der Ausgangskultur erbringen; erst dies ermöglicht ihr den qualifizierten translatorischen Brückenschlag zur Zielsprache und -kultur, in der sie ein angemessenes Translat hoher Qualität anbieten muß. Diese Gemeinschaft zwischen sicherem Beginn und dann Öffnung in neue Kontexte hinein repräsentiert die Körperbrücke: Wenn die Füße fest stehen, gelingt die Streckung aus den Armen und Händen heraus.

Foto: © privat

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© Frank&Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur 5 Ein Dankeschön gebührt dem Verlag, Frau Dr. Karin Timme und Frau Astrid Matthes, für die Arbeit an meinem Buch sowie dem Herausgeber, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Hartwig Kalverkämper, für die wertvollen Anregun- gen und die gemeinsame Interpretation des Umschlagbildes.

Herrn Ao. Univ.-Prof. Dr. Markus F. Peschl, der freundlicherweise seine Folien aus der Vorlesung für den Anhang zur Verfügung gestellt hat, danke ich erneut sehr herzlich.

Die Inspiration zum Titel des Buches verdanke ich der Ankündigung des Panels Hermeneutics as a Research Paradigm auf der EST-Konferenz im Sep- tember 2010, der Begegnung mit Radegundis Stolze und John Stanley auf der LICTRA im Mai 2010 und der Tagung Hermeneutics and Translation Studies im kommenden Mai in Köln.

Danken möchte ich außerdem Simone für das Umschlagbild, Florian und meinen Eltern.

Wien, im Februar 2011 Miriam Paola Leibbrand

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À la mémoire de Jean Herbert, interprète de conférence, nommé Vishvabandhu

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© Frank&Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur 9 Danksagung

Herrn Ao. Univ.-Prof. Dr. Franz Pöchhacker, meinem Doktorvater, sei an dieser Stelle zuallererst gedankt. Seine Offenheit und Weitsicht sowie sein großes Ver- trauen in meine fachlichen Fähigkeiten und die Umsetzbarkeit innovativ anmutender Denk- und Handlungsansätze haben meine Forschungsarbeit entscheidend geprägt. Es war Franz Pöchhackers Dissertation und Pionierarbeit (Pöchhacker 1994), durch deren Rezeption während meines Diplomstudiums am Institut für Übersetzen und Dolmetschen der Universität Heidelberg der Grundstein für meine aufkeimende dolmetschwissenschaftliche Neugierde gelegt wurde. Franz Pöchhackers dolmetschwissenschaftliches Wirken weit über Wien hinaus veranlaßte mich, in Wien ein Promotionsvorhaben zu starten – nicht zu- letzt auch wegen des Rates meines Heidelberger Professors, Herrn Prof. em. Dr.

Jörn Albrecht, der meinen eigenen Eindruck bestätigte: Wenn ich zum Dolmet- schen forschen wolle, solle ich mich im besten Fall an Franz Pöchhacker wenden.

Ich danke meinem Doktorvater sehr für die große akademische Freiheit, die er mir während des gesamten Forschungsprozesses gewährte, und ohne welche die vorliegende Arbeit in dieser Form nicht hätte entstehen können. Ich danke ihm auch für unsere wichtigen Gespräche sowie für die kritische, aufmerksame und konstruktive Lektüre der einzelnen Kapitel in den Roh- und Endfassungen.

Frau Prof. Dr. Heidrun Gerzymisch-Arbogast gelten mein Dank für die Unterstützung durch die EU-Marie-Curie-Maßnahme der PhD-Schools im Rahmen der MUTRA-Konferenzserie und meine besondere Wertschätzung.

In diesem Zusammenhang gilt mein Dank ebenso dem zweiten Tutor der PhD-Schools und weiteren Pionier der Dolmetschforschung, Herrn Prof. Dr.

Daniel Gile, dem ich nebst dem ermutigenden Wort „vous avez déjà beaucoup travaillé!“ insbesondere einen wegweisenden Hinweis, ebenfalls in Saarbrü- cken, verdanke: „you are interested in studying comprehension!“.

Die Begeisterung und der Elan von Herrn Ao. Univ.-Prof. Dr. Markus F.

Peschl bei der Gestaltung der Vorlesungen zur Wissenschaftstheorie und die Vermittlung grundlegender konzeptueller Inhalte in diesem Rahmen haben die Entstehung und den Geist der vorliegenden Arbeit maßgeblich geprägt.

Ihm, den ich als meinen zweiten akademischen Lehrer in Wien betrachte, gebühren ein aufrichtiges Dankeschön und besondere Anerkennung.

Danken möchte ich außerdem Herrn Univ.-Prof. Dr. Johann A. Schülein am Institut für Soziologie und Empirische Sozialforschung der Wirtschafts-

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universität Wien, durch dessen Vermittlung erkenntnis- und wissenschafts- theoretische Zusammenhänge aus einer weiteren sehr bereichernden Perspektive in vivo erfahrbar wurden.

Ich danke Herrn Univ.-Prof. Dr. Gerhard Budin für die freundliche Bereit- schaft, meine Arbeit als Zweitgutachter zu beurteilen, sehr herzlich.

Ein weiteres Dankeschön gilt Frau Prof. Dott.ssa Gabi Mack an der Univer- sität Bologna/Forlì: Anläßlich unserer Begegnung in Rimini vor zweieinhalb Jahrzehnten erfuhr ich als Kind, daß Dolmetschen eine Berufstätigkeit ist, und so nahmen die Dinge ihren Lauf!

Von großer Bedeutung vor Ort in Wien waren die aus dem Prozeßbeglei- tenden Coaching des Referats Frauenförderung und Gleichstellung der Uni- versität Wien hervorgegangenen Peer-Treffen und die daraus entstandene Freundschaft mit Frau MMag. Annette Tesarek, der ich sehr herzlich für ihre liebe Unterstützung und Solidarität danken möchte.

Mein herzlicher Dank gilt meinem Yogalehrer, Herrn Dr. Florian Fladerer, und dem Universitätssportinstitut im gesamten für das vielfältige, die wichti- gen Pausen fördernde Kursprogramm.

Gerade mit Blick auf die Rahmenbedingungen zur Fertigstellung einer sol- chen Arbeit dürfen auch das niederländisch-amerikanische Unternehmen, für das ich seit anderthalb Jahren tätig bin, und allen voran Kathrin und Wolfgang nicht unerwähnt bleiben. Thank you all!

Ein persönlicher Dank gilt meinen Mitbewohner/Innen in der „4.-Stock- Küche“ des Wilhelm-Dantine-Hauses, insbesondere Eva, Simone, Elisabeth, Leonhard, Sabine, Moritz und Gergely, außerdem der ehemaligen Leiterin, Frau Mag. Elke Uschmann, die Ende Februar 2004 eine prompte Zimmerzusage machen konnte, sowie dem jetzigen Leiter, Herrn Dr. Stefan Schumann. Ohne diesen freudvollen und segensreichen Ort der Heimat in Wien wäre die Arbeit kaum zustande gekommen. Ich danke meiner Schwester Nathalie für ihre unent- behrliche Unterstützung und meiner Schwester Laura und Andreas sowie Anna, die immer an mich geglaubt haben, und außerdem Thomas, Pia und Lukas.

Meinem Freund Florian danke ich für seine liebevolle Präsenz.

Meinen Eltern, Mirella und Gunther, danke ich für ihre ideelle und mate- rielle Unterstützung, für zahlreiche Telefonate, die Korrektur der Endfassung und ihr großes Vertrauen.

Wien, im August 2009 Miriam Paola Leibbrand

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Inhaltsverzeichnis

Danksagung... 9

Abbildungsverzeichnis ... 15

Einleitung ... 17

1 Verstehen beim Simultandolmetschen in die B-Sprache (Verstehen des Verstehens I)... 19

1.1 Ausgangspunkt des Forschungsprozesses, forschungsleitende Fragestellungen, Erkenntnisinteresse, Methodik... 21

1.2 Vorverständnis – zu den Prämissen des Forschungsprozesses... 26

1.2.1 Verstehen beim Simultandolmetschen in die B-Sprache in der Praxis des Simultandolmetschens ... 27

1.2.2 Verstehen beim Simultandolmetschen in die B-Sprache in der Theorie und in der Forschung zum Simultandolmetschen... 29

1.2.2.1 Verstehen beim (Simultan-)Dolmetschen ... 31

1.2.2.2 (Simultan-)Dolmetschen in die B-Sprache... 38

1.2.2.3 Verstehen und Übersetzen ... 41

1.2.3 Forschungsbedarf zum Verstehen beim Simultandolmetschen in die B-Sprache in Praxis, Theorie und Forschung und erster, tentativer Lösungsansatz ... 46

1.2.3.1 Forschungsbedarf ... 48

1.2.3.2 Erster, tentativer Lösungsansatz... 50

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2 Verstehen und Wissenschaft: Ein Kapitel Erkenntnis- und

Wissenschaftstheorie und Philosophie ...61

2.1 Einführendes zu Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie ...62

2.1.1 Gegenstandslogik und Theorietyp...67

2.1.1.1 Konsequenzen ...70

2.2 Philosophie ...71

2.2.1 Philosophische Gegenwart und Paradigmen ...71

2.2.1.1 Gegenwartsphilosophie...71

2.2.1.2 Philosophie als Wissenschaft und als Aufklärung ...73

2.2.1.3 Paradigmen der Philosophie ...75

2.2.2 Philosophische Methoden...81

2.2.2.1 Analytische Methoden ...81

2.2.2.2 Hermeneutische Methoden...86

2.2.2.3 Integrierende Arbeitsweisen...93

2.2.2.4 Forschungsprogramme...96

2.2.3 Hermeneutik als wissenschaftstheoretischer Ansatz...99

2.3 Wissenschaftstheorie nach M. F. Peschl...107

2.3.1 Konstruktivistisch orientierte, kognitiv fundierte Wissenschaftstheorie ...108

2.3.2 „Dynamischer Konstruktivismus“...126

2.3.3 Exkurs: Cognitive Science ...130

3 Verstehen und Methodologie: Ein Kapitel Qualitative Sozialforschung....137

3.1 Theorie der qualitativen Forschung: Theorienkonstruktion und interpretatives Paradigma in der Sozialforschung ...138

3.2 Prozeßcharakter qualitativer Forschung ...147

3.2.1 Zyklische Organisierung von Feldforschung ...148

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3.2.2 Zentrale Komponenten der Forschungsarbeit... 152

3.2.3 Das Material der Feldforschung ... 156

3.2.4 Reflexion und Zusammenfassung ... 158

3.3 Zur Praxis der Theoriebildung in der qualitativen Forschung ... 160

3.3.1 Abduktionslogik... 160

3.3.2 Re-Produktion der Ergebnisse in der qualitativen Forschung... 164

4 Verstehen und Forschungsprozeß: Ein Kapitel Theoriebildung ... 179

4.1 Dynamik des Forschungsprozesses und Erkenntnisse... 180

4.1.1 Reflexion 11/2004 ... 182

4.1.2 Forschungsaufzeichnungen 01/2005... 184

4.1.3 Forschungstagebuch... 185

4.1.4 Zwischenergebnisse (Thesen I) 02/2006... 198

4.1.5 Forschungstagebuch... 201

4.1.6 Theorie- und Modellbildung: Forschungstagebuch und „Entwurf für ein Modell“, 07/2006... 216

4.1.7 Forschungstagebuch und Theoriebildende Übungen ... 233

4.1.8 Modellbildung; Forschungstagebuch... 246

4.1.9 Forschungstagebuch... 252

5 Verstehen in der Forschung zum Simultandolmetschen (Verstehen des Verstehens II) ... 257

5.1 Verstehen in der Forschung zum Simultandolmetschen... 257

5.1.1 Das Modell hier und jetzt: Verstehen in der Forschung zum Simultandolmetschen... 258

5.1.2 Zusammenfassende Reflexion... 260

5.2 Cui bono? – Ausblick auf die Anwendungsbereiche des Modells... 269

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© Frank &Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur

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5.2.1 Theorie der Forschung zum Simultandolmetschen...270

5.2.2 Praxis der Forschung und Forschungsdidaktik zum Simultandolmetschen ...271

5.2.2.1 Wege zu einer Didaktik der Verstehenden Forschung zum Simultandolmetschen ...271

5.2.2.2 Verstehende Forschung zum Gegenstand Simultandolmetschen ...272

5.2.3 Praxis des Simultandolmetschens...277

5.2.4 Schematische Darstellung des Mehrwerts ...278

Literatur ...279

Anhang: Auszüge aus dem Skriptum zur Vorlesung „Einführung in die Wissenschaftstheorie“ von M. F. Peschl (Peschl 2005)...303

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© Frank&Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur 15 Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Gesellschafts- und Erkenntnisformen (Schülein/Reitze 2002, 212)...63

Abbildung 2: Gegenstandslogik und Theorietyp (Schülein/Reitze 2002, 194)...69

Abbildung 3: Paradigmen der Philosophie (Schnädelbach 2003, 69)...76

Abbildung 4: Der hermeneutische Zirkel bei Heidegger und Gadamer im Vergleich (Grondin 2000, 133)...89

Abbildung 5: Computational-Representational Understanding of Mind: theoretische Anwendungen (Thagard 2005, 134) ...132

Abbildung 6: Cognitive Science: praktische Anwendungen (Thagard 2005, 135)...132

Abbildung 7: Konstituierung des Gegenstands im Prozeß...186

Abbildung 8: Transdisziplinärer Zugang zum Verstehen in der Forschung zum Simultandolmetschen...214

Abbildung 9: Konstruktivistischer Zugang zum Forschungsgegenstand ...215

Abbildung 10: 1. Visualisierung des Modells: Entwurf für ein Modell...222

Abbildung 11: Das Konzept der Reflexion im Vergleich ...240

Abbildung 12: Das Verhältnis von Wissenschaft und Alltag im Vergleich ...241

Abbildung 13: 2. Visualisierung des Modells: Verstehen in der Forschung zum Simultandolmetschen als Begriff...246

Abbildung 14: Verstehen in der Forschung zum Simultandolmetschen...259

Abbildung 15: Mehrwert des Modells ...278

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Einleitung

Mit der vorliegenden Arbeit wird ein eigenständiger epistemologischer und methodologischer, konnotativer (vgl. Schülein 2000; Schülein/Reitze 2002) Ansatz für die Konferenzdolmetschforschung vorgelegt.

Das Ziel der Arbeit besteht darin, der Disziplin grundlegende erkenntnis- theoretische, wissenschaftstheoretische und philosophische Zusammenhänge sowie Grundlagen der Theorie interpretativer Sozialforschung zur Verfügung zu stellen und sie dadurch anschlußfähig zu machen.

Die Methodik folgt der philosophisch-hermeneutischen Einsicht in die Be- deutung des verbum interius (vgl. Grondin 2001), der menschlichen Kritik- und Vernunftfähigkeit, die letzten Endes das bedeutendste Werkzeug des forschenden Subjekts Mensch auf der Suche nach Wahrheit ist, diesseits und jenseits der Methode. Die Benennung dessen, was sich im denkenden Vollzug vor den Augen und in den Ohren der und des Feldforschenden1 abspielt (vgl.

Scheffer 2002), die Begriffsbildung (vgl. Gadamer 1960/1986), ist, ebenso wie für die philosophische Hermeneutik, auch für die interpretativ und rekon- struktiv verfahrende Sozialforschung von Belang.

Zum einen wird dem dolmetschwissenschaftlichen Gegenstand des Verste- hens beim Simultandolmetschen in die B-Sprache Multiperspektivität und Mehrdimensionalität eingeräumt, indem er aus seinem dolmetschwissenschaft- lichen Kontext herausgenommen und in andere Kontexte, die Wissenschafts- theorie und die qualitative Sozialforschung, hineingesetzt wird. Zum anderen wird er – im ständigen Prozeß des Verstehen-Wollens, der Verstehen generiert und auf diese Weise Wissen schafft – einer tiefschürfenden Betrachtung unter- zogen: Es wird versucht, das Verstehen seinem Wesen nach zu begreifen. Ein wichtiges methodisches und theoriebildendes Verfahren dabei ist die Analogie- bildung (vgl. Peschl 2001; Schmid 2006; Shelley 2003; Thagard 2005).

Der Zweifel angesichts einer experimentellen Vorgehensweise zur Untersu- chung der Verstehensprozesse beim Simultandolmetschen aus der A- in die B- ...

1 Eine gendergerechte Formulierung in der vorliegenden Arbeit zu verwirklichen, wäre nicht zuletzt der persönliche Anspruch der Verfassenden gewesen. Es wird aufrichtig um Verständ- nis dafür gebeten, daß dieser Zielvorgabe in dem hier gesetzten Rahmen leider nicht entspro- chen werden konnte.

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© Frank &Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur

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Sprache führt zunächst zur Auseinandersetzung mit methodischen und dann mit methodologischen Fragen. Die Frage nach der Unterscheidung von Me- thode und Methodologie sowie das Anliegen, den Gegenstand der Forschung in Abhängigkeit einer Methode zu betrachten, sind im Kern bereits zentrale epistemologische Fragen.

Die Betonung des Prozeßcharakters des Verstehens, sowohl in der philoso- phischen Hermeneutik als auch in der qualitativen Sozialforschung als auch in der dynamisch-konstruktivistischen kognitiven Wissenschaftstheorie, schlägt sich methodologisch in Kapitel vier als Novum nieder: durch die Darstellung des theoriebildenden Forschungsprozesses, als dessen Ergebnis die vorliegende Arbeit betrachtet wird. Es entspricht der Logik der vorliegenden Arbeit, daß der Komplexität theoriebildender Prozesse durch diese Art der Darstellung Rechnung getragen werden soll. Die Explizierung der Haltung der Interpretin gegenüber dem Material (vgl. Reichertz 1991) wird in der hermeneutischen Sozialforschung ebenso betont wie die Explizierung der Prämissen in der Wissenschaftstheorie (vgl. Peschl 2005). Dies entspricht wiederum den Erfor- dernissen der wissenschaftlichen, d. h. systematischen und kritischen, Vorge- hensweise bei der Befolgung der hermeneutischen Methode (vgl. Mittelstraß 1995/2004).

Darüber hinaus liegt das Ziel der Integration des Datenmaterials in den Text darin, ein plastisches Beispiel dafür zu liefern, wie das Vorverständnis eines kognitiven Systems, welches das Kapitel rezipiert, durch die Interaktion mit der Rekonstruktion der Realität in situ durch ein anderes kognitives Systems, das forschende Subjekt, aktiv rekonstruierend erweitert werden kann.

Die Rekonstruktionsleistung des forschenden Subjekts soll auf diese Weise nachvollzogen werden können. M. a. W., Horizontverschmelzung (vgl. Gada- mer 1960/1986) angesichts der reflexiv-autopoietischen Realität (Schülein 2002) ist das Ziel.

Verstehen wird in der Quintessenz als Forschungsgegenstand, als Wissen- schaft und als Methode betrachtet.

Nebst der theoretischen Auseinandersetzung mit Verstehen in den Kapiteln eins bis drei wird durch die Integration des Datenmaterials in Kapitel vier der Entdeckungszusammenhang (vgl. 2.3, 3.1) von Wissenschaft in der For- schungspraxis veranschaulicht.

In Kapitel fünf wird das mehrdimensionale Modell, das die Erkenntnisse der vorhergehenden Kapitel umfaßt, vorgelegt und ein Ausblick auf die Ver- wertbarkeit der Erkenntnisse formuliert.

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1 Verstehen beim Simultan- dolmetschen in die B-Sprache (Verstehen des Verstehens I)

Zur Erläuterung der Logik der vorliegenden Arbeit soll einleitend auf den epistemologischen Standpunkt des in Form einer schriftlichen Darstellung vorläufig zu Ende gebrachten Forschungsprozesses eingegangen werden.

Dieser Standpunkt erweist sich sowohl in bezug auf die innere Konzeption der Ergebnisse als auch auf deren Dokumentation mit dem Ziel ihrer Anschlußfä- higkeit als der passende. Es handelt sich hierbei explizit um die offene For- schungslogik einer qualitativen Haltung. Die aus dem epistemologischen Standpunkt erwachsende Methodik ist eine verstehende, die für den translati- onswissenschaftlichen Bereich durch die vorliegende Arbeit als Verstehende Forschung definiert wird (vgl. 5.1).

Im Rahmen der Darstellung der „drei Axiome einer verstehenden Soziolo- gie“ (Richter 1995, 13)2 (vgl. Kap. 3.1) kommt Richter innerhalb des zweiten Axioms des „Verstehens in den Wissenschaften“ (Richter 1995, 15) in bezug auf das Thema des Verstehens im Forschungsablauf auf die Bedeutung der sog. Problemstellung im Zusammenhang der Datensammlung zu sprechen:

Wissenschaftlich Datensammeln heißt aber, daß man zunächst ein Problem hat. Auch Naturwissenschaftler gehen von einer Frage, einem Problem aus. Wichtig scheint mir hier zu sein, daß Popper von einem Problem spricht, nicht von einer Theorie. Denn auch die verstehende Soziologie geht von einem Problem aus {nicht von einer Theorie}. In vielen Fällen muß ich nach diesem Problem allerdings erst mühsam suchen. Sehr oft ist es daher innerhalb einer verstehenden Vorgangsweise nützlich, zunächst einmal aktiv nach dem Problem zu suchen: z. B.

indem man sogleich ins Feld geht, beobachtet und sich dann das Beo- bachtete durch den Kopf gehen läßt (Richter 1995, 17, Hervorhebungen durch die Verfasserin).

...

2 In der neuen Ausgabe der Monographie ist nicht mehr von Axiomen, sondern von Prämissen die Rede (vgl. Richter 2002).

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Interpretative Sozialforschung zeichnet sich im Gegensatz zur quantitativ- empirischen Forschung durch eine andere Forschungslogik aus: Es wird nicht das „deduktiv-nomologische Erklärungsschema“ (Lueger 2001, 229) befolgt.

Statt dessen hat die interpretative Sozialforschung eine ihr eigene interpretative Methodologie hervorgebracht, die von Lueger (2000; 2001) ausführlich disku- tiert wird.

Bei Kelle (1994) findet sich ebenfalls eine Explizierung der handlungstheo- retischen Prämisse des interpretativen Paradigmas, das im Gegensatz zum hypothetiko-deduktiven nicht Methodologien empirisch begründeter The- orienüberprüfung, sondern Methodologien empirisch begründeter Theorie- bildung erfordert (vgl. Kelle 1994, 53; vgl. Kap. 3.1).

Zur Logik des deduktiven Schließens hält Lueger fest: „Eine an Deduktion orientierte Sozialforschung, welche bereits vorformulierte Hypothesen an den Beginn der Arbeit stellt, widerspricht (…) den Grundlagen interpretativer Sozialforschung, die andere Zielsetzungen verfolgt“ (Lueger 2001, 231, Her- vorhebung durch die Verfasserin). Hier sind wir also beim Thema des Vorwis- sens und des Vorverständnisses in bezug auf ein Phänomen. Radikal formu- liert kann in der Logik qualitativer Sozialforschung die „Destruktion von Vorurteilen“ (Lueger 2000, 12) betrieben werden. Postuliert wird in der genuin qualitativen Sozialforschung anstelle eines starren „methodisch-technischen Regelwerks“ (Lueger 2000, 11) eine Forschungshaltung der Offenheit.

Darum ist im folgenden auch nicht vom sog. Forschungsstand bezüglich eines vorab (ex-ante) deduktiv-nomologisch klar umgrenzten Forschungsge- genstandes die Rede, sondern es soll zugunsten einer der Verstehenden For- schung angemessenen Sprechweise vom Vorverständnis (vgl. 1.2) bezüglich eines Ausgangspunkts im Forschungsprozeß mit einer anfänglichen Frage- stellung (vgl. 1.1) die Rede sein.

Unter Bezugnahme auf epistemologische und methodologische Prämissen qualitativer Forschung erfolgt die forschungspraktische Schlußfolgerung, die bei Lueger klar zum Ausdruck gebracht wird und die Logik qualitativer For- schung und infolgedessen auch die Logik der Darstellung der hier vorliegen- den Arbeit wiedergibt,

daß qualitative Feldforschung sich nicht im voraus in allen Einzelheiten planen läßt. Konzepte, die von der Forschungsfrage über die Erhebung bis hin zur anschließenden Auswertung und Interpretation der Daten den Erkenntnisprozeß steuern, wie dies in der quantitativ orientierten Sozial-

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© Frank&Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur 21 forschung standardmäßig {vgl. Atteslander 1991: 33ff.; Diekmann 1995:

161ff.} vorgesehen ist, erweisen sich als völlig unbrauchbar, weil sie die Prüfung einer klaren Fragestellung bzw. Hypothese ins Zentrum rücken (Lueger 2000, 51).

Unter dem Stichwort der zyklischen Organisierung der Feldforschung (vgl. Kap.

3.2) bietet Lueger eine durch hohes forschungspraktisches Potential gekenn- zeichnete forschungslogische Perspektive an, die den epistemologischen und methodologischen Prämissen eines „genuin interpretative[n] Analysepro- zess[es]“ (ibid.) entspricht, denn:

Nimmt man gesellschaftliche Phänomene ernst, will sie in ihrer sozialen Dynamik verstehen und möchte für Neues empfänglich sein, so zeigt sich erst im Forschungsverlauf, welche Fragen überhaupt sinnvoll gestellt werden können[,] und erst am Ende weiß man, auf welche Fragen eine Studie eine Antwort zu geben vermag (ibid.).

1.1 Ausgangspunkt des Forschungsprozesses, forschungsleitende Fragestellungen, Erkenntnisinteresse, Methodik

Das Verstehen des Originals der Rede in der A-Sprache des Dolmetschers, das als Teilprozeß der kognitiven Tätigkeit des Simultandolmetschens betrachtet wird, ist der Ausgangspunkt des Forschungsprozesses.

Da das sog. muttersprachliche Verstehen interessiert, liegt der Ausgangs- punkt des Forschungsprozesses im Phänomenbereich des Simultandolmet- schens in die Fremdsprache, die B-Sprache des Dolmetschers.

Der Schwerpunkt der Betrachtung richtet sich dabei nicht auf das Produkt der Verdolmetschung, den sog. Dolmetschoutput, für den Zuhörer, sondern auf den Prozeß des Simultandolmetschens aus Sicht des dolmetschenden Individuums selbst. Es geht hier also nicht um eine Untersuchung von sog.

Zieltexten, sondern um eine Annäherung an das Phänomen des Verstehens, das über das Verstehen des sprachlichen Inputs hinausreicht. Es interessiert das Phänomen des Verstehens als wissensbasiertes, kognitives Geschehen.

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Zu Beginn des Forschungsprozesses steht nicht die Frage nach dem Wesen des Verstehens beim Simultandolmetschen im allgemeinen,3 die sich im Detail in Fragen wie beispielsweise „Welche sind die Voraussetzungen für das Verste- hen beim Simultandolmetschen?“ oder etwa „Was ist Sprachverstehen über- haupt?“ äußern würde, sondern die Frage nach der geeigneten Methode, um – umgangssprachlich – „das Verstehen“ beim Simultandolmetschen aus der A-Sprache mit demjenigen aus einer B- oder C-Sprache zu vergleichen.

Die grundlegende, d. h. anfängliche Frage lautet: Wie messe ich die Ver- stehensleistung als Teilprozeßleistung beim Simultandolmetschen, wenn ich wissenschaftlich vorgehe? Aus dieser Frage ergibt sich die nächste: Wie kann die Verstehensleistung am Dolmetschprodukt abgelesen werden? Und: Kann eine Verstehensleistung überhaupt am Dolmetschprodukt, das zur Auswertung in Form eines Transkripts vorliegt, abgelesen werden? M. a. W.: Wie soll in diesem spezifischen Fall geforscht werden? Soll experimentell geforscht wer- den? Wie soll das Verstehen beim Simultandolmetschen wissenschaftlich untersucht werden? Diese Frage beinhaltet außerdem die wissenschaftssozio- logisch interessante Frage nach der praktischen Durchführbarkeit eines derartigen Forschungsvorhabens im Rahmen einer Dissertation ohne mate- rielle Ausstattung oder projektbezogene Einbettung in den Wissenschaftsbe- trieb (vgl. Gile et al. 2001; Gerzymisch-Arbogast 2003).

Das grundlegende Erkenntnisinteresse lautet: Was macht das Wesen des Verstehens beim Simultandolmetschen aus der A- in die B-Sprache aus?

Daraus ergibt sich ein weiteres Erkenntnisinteresse: Wie soll untersucht werden, was das Wesen des Verstehens beim Simultandolmetschen in die B- Sprache ist? Wie soll eine Annäherung an den Kern des Verstehens beim Simultandolmetschen in die B-Sprache geschehen? Wie soll das Wesen des Verstehens beim Simultandolmetschen in die B-Sprache beschrieben werden?

Es interessiert zunächst einmal das Verstehen beim Simultandolmetschen als kognitiv betrachteter Teilprozeß des Gesamtprozesses Simultandolmetschen aus der sog. Muttersprache, der A-Sprache. Unklar ist zunächst die Vor- gehensweise. Zu Beginn steht also bereits eine wissenschaftstheoretische oder

...

3 Hier wird deutlich, daß zwischen dem Begriff des „Verstehens in der Forschung zum Simul- tandolmetschen“ im durch die vorliegende Arbeit eingeführten Modell, der sich summarisch auf die Ergebnisse des Forschungsprozesses bezieht, und dem Begriff des „Verstehens beim Simultandolmetschen in die B-Sprache“ als Ausgangspunkt des Forschungsprozesses klar un- terschieden werden muß.

(24)

© Frank&Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur 23 zumindest eine forschungspraktische, d. h. methodische, später im For- schungsprozeß als methodologisch identifizierte Frage.

Der Grund für die Wahl der Betrachtung des Phänomenbereichs des Si- multandolmetschens aus der A- in die B-Sprache liegt im Erfahrungshorizont der am wissenschaftlichen Prozeß beteiligten Akteure: Ein Forschungsvorha- ben innerhalb des experimentellen Paradigmas4 erscheint zunächst nahelie- gend. Zweifel angesichts einer nicht hinterfragten experimentellen Vorge- hensweise bestehen angesichts der mit der Diplomarbeit gesammelten Erfahrungen bei der Verfasserin der vorliegenden Arbeit bereits zu Beginn des Vorhabens. Dennoch steht die Frage nach der experimentell möglichen Meßbarkeit einer Verstehensleistung (vgl. Dillinger 1990; vgl. 1.2.2.1) am Anfang aller Forschungs- und Reflexionsbemühungen im Rahmen der vorlie- genden Arbeit.

Grundsätzlich erscheint die Kopplung der Verstehensleistung beim Simul- tandolmetschen an das Dolmetschprodukt5, das im ersten Moment akustisch vermittelt in Form des sog. Dolmetschoutputs vorliegt, naheliegend. Um „das Verstehen beim Simultandolmetschen“ zu messen, könnten folglich zwei Dol- metschprodukte verglichen werden. Denkbar ist der Vergleich von zwei hypo- thetisch als unterschiedlich zu erwartenden sog. Dolmetschoutputs. Größtmög- liche Unterschiede könnten im Falle der Variierung der Dolmetschrichtung erwartet werden. Der durch ein experimentelles Vorgehen erzeugte Vergleich eines Dolmetschprodukts in der A-Sprache mit einem Dolmetschprodukt in der B-Sprache erscheint naheliegend.

Wie unten dargestellt werden soll, ergeben sich weitere Fragen aus der an- fänglichen Forschungsfrage, die innerhalb eines später als hypothetiko- deduktiv identifizierten und als solches gekennzeichneten Paradigmas gestellt worden ist. Diese Fragen führen zu einer Abkehr vom ursprünglich beabsich- tigten experimentellen Vorgehen, jedoch nicht zu einer Abkehr vom ursprüng- lichen Erkenntnisinteresse.

Mit den zusätzlich hinzukommenden Fragen ergeben sich auch zahlreiche Antworten, die in einem – im Zuge des Forschungsprozesses theoretisch und empirisch legitimierten – ersten konzeptuellen Ergebnis gipfeln: Das Verste- hen beim Simultandolmetschen wird notwendigerweise durch die Produktion ...

4 Die Autorin der vorliegenden Arbeit gelangte erst im Laufe des Forschungsprozesses zur bewußten Kennzeichnung einer üblichen Forschungspraxis als Paradigma.

5 Hierzu ein grundsätzlicher Hinweis auf die Problematik der Transkriptionsfähigkeit von Dolmetschoutputs zum Zwecke der Forschung, vgl. Kalina 1998, 134ff.

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ergänzt. Außerdem: Bei diesem Ergebnis im Forschungsprozeß handelt es sich um Theoriebildung. Außerdem: Diese muß externalisiert, d. h. dargestellt werden und erfährt damit eine Überprüfung in der Realität in Form eines Experiments der funktionalen Passung (vgl. 2.3).

Die Tatsache, daß ich nicht auf empirisch-experimentellem Wege zu u. a.

diesen Ergebnissen gekommen bin, sondern durch das ebenfalls empiriegelei- tete praktische und theoretische Studium wissenschaftstheoretischer und methodologischer Fragen (Beobachtung6 im Feld, „Selbst-Reflexion“7/sog.

Introspektion8 sowie Literaturarbeit) begründet methodologisch, d. h. for- schungslogisch und handlungstheoretisch, den vorliegenden Ansatz sowie den nach wie vor bestehenden Bezug zum Phänomenbereich des Simultandolmet- schens in die B-Sprache.

So erfährt das ursprünglich deduktiv-nomologisch als „Forschungsfrage“

formulierte Erkenntnisinteresse am Verstehen beim Simultandolmetschen in die B-Sprache eine erste Befriedigung durch ein erstes konzeptuelles Ergebnis – die Notwendigkeit des Produktionsmoments – durch die Auseinanderset- zung mit epistemologischen Fragen.

Dementsprechend wird das Verstehen beim Simultandolmetschen in die B- Sprache im Laufe des in der vorliegenden Arbeit dokumentierten Forschungs- prozesses als „paradigmatisches“ Verstehen beim Simultandolmetschen bezeichnet. Folgende zwei Gründe sind dafür ausschlaggebend: Erstens wird das Verstehen beim Simultandolmetschen aus der A-Sprache in die B-Sprache auf der Objektebene des Simultandolmetschens konzeptuell als das hypothe- tisch gegebene, d. h. mustergültige, paradigmatische Verstehen betrachtet.

Zweitens nimmt es im Ergebnis als Gegenstand innerhalb des mit der vorlie- genden Arbeit begründeten Modells zum Verstehen in der Forschung zum Simultandolmetschen eine paradigmatische Rolle ein, weil es, forschungslo- gisch gesehen, den Ausgangspunkt des als Forschungsprozeß betrachteten Forschungsvorhabens darstellt, sowie, konzeptuell gesehen, den Kern des Modells bildet, um den herum sich etwas Neues entwickeln kann. M. a. W.:

Theoriebildung im qualitativen Sinn kann sich ausgehend von genau diesem ...

6 Vgl. Lueger (2001), Wolff (2000), Scheffer (2002).

7 Vgl. hierzu Hanrahan (2003), wenngleich dieser Aufsatz nicht zu Beginn, sondern erst im Laufe des Forschungsprozesses, als die Methodik sich schon herauskristallisiert hatte, rezipiert wurde. Die Kennzeichnung dieser Vorgehensweise als Selbst-Reflexion geschieht zunächst einmal ohne das theoretische Vorwissen über den Aufsatz und aus dessen Inhalt.

8 Vgl. Kleining/ Witt (2000).

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© Frank&Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur 25 Erkenntnisinteresse am Wesen des Verstehens beim Simultandolmetschen aus der A-Sprache in die B-Sprache entwickeln: Das in der vorliegenden Arbeit vorgelegte Modell ist das Ergebnis des Bemühens um das Verstehen des Verstehens beim Simultandolmetschen in die B-Sprache (und eben nicht um ein Verstehen des Verstehens beim Simultandolmetschen in die A-Sprache).

Im folgenden soll versucht werden, die grobe Dynamik der wichtigsten Fragen, die sich im Laufe des Forschungsprozesses gestellt haben, nachzu- zeichnen.

In Fortführung des Erkenntnisinteresses, das bereits in meiner Diplomar- beit den Antrieb für meine dolmetschwissenschaftlichen Bemühungen kenn- zeichnete, stellt sich die Frage: Worin unterscheidet sich beim Simultandol- metschen das Verstehen in der Muttersprache (A-Sprache) vom Verstehen in der Fremdsprache (B-Sprache)? Diese ist für mich eng gekoppelt an die Frage:

Wie wirkt sich die Art des Spracherwerbs9 in bezug auf Zeitpunkt und Um- stände desselben auf das Verstehen beim Simultandolmetschen aus? Beide Fragen führen angesichts der Zunahme an Verdolmetschungen in die Fremd- sprache, die sog. B-Sprache (vgl. 1.2.3), in der Berufspraxis zur Frage: Worin unterscheidet sich das Verstehen beim Simultandolmetschen aus der A- in die B-Sprache vom Verstehen beim Simultandolmetschen aus einer C- oder B- in die A-Sprache?

An diese grundlegenden Fragen schließen sich bereits erste methodologi- sche an: Wie kann „das Verstehen beim Simultandolmetschen“ gemessen werden? Wie kann das Verstehen beim Simultandolmetschen am sog. Dol- metschoutput abgelesen werden? Und angesichts der Zweifel an der aus- schließlichen Möglichkeit einer experimentellen Methodik: Welche Zugänge zum Verstehen beim Simultandolmetschen gibt es über den experimentellen hinaus? Ferner stellt sich eine weitere grundlegende Frage: Was ist Verstehen überhaupt?

Mit den Zweifeln an der experimentellen Methodik erschließt sich der Raum der methodologischen, infolgedessen dann auch der wissenschaftstheo- retischen und schließlich der erkenntnisphilosophischen Fragen.

Über die Frage nach Alternativen zur experimentellen Methodik stellt sich die Frage nach der geeigneten Methode neu: Wie soll das Verstehen beim Simultandolmetschen erforscht werden? Welche Methoden gibt es überhaupt in der Dolmetschwissenschaft?

...

9 Vgl. Kap. 1.2.3.2 der vorliegenden Arbeit.

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An diese letzte Frage schließt sich alsbald eine weitere grundlegende an:

Was ist die Dolmetschwissenschaft überhaupt? Was ist der Gegenstand der Dolmetschwissenschaft? Was ist der Unterschied zwischen Dolmetschwissen- schaft und Dolmetschforschung? Und in welchem Verhältnis stehen diese zur Übersetzungs- sowie zur Translationswissenschaft? Spätestens hier sind wir im Raum der wissenschaftstheoretischen und damit der (erkenntnis-)philosophi- schen Fragen angelangt: Was ist Wissenschaft? Und alsbald: Was ist Wissen- schaftstheorie? Was ist der Unterschied zwischen Wissenschaftstheorie und Methodologie? Was ist der Unterschied zwischen Wissenschaftstheorie und Erkenntnisphilosophie? Und in Rückkopplung an die eigene Disziplin: Welche wissenschaftstheoretischen Standpunkte werden in der Dolmetschwissenschaft vertreten? Wie steht es um den Grad der Reflexion in bezug auf epistemologi- sche und methodologische Fragen bei den Forschenden und den Dolmetsch- wissenschaftler/Innen selbst?

Zusammenfassend läßt sich folgendes festhalten: Die Dynamik der Fragen im Laufe des Forschungsprozesses führt, angesichts der Reflexion der Prozeß- haftigkeit auf der einen und der Reflexion der Zirkularität auf der anderen Seite, zur ständigen Rückkopplung der neuen Fragen und des neuen Wissens an das ursprüngliche Erkenntnisinteresse und damit an die Frage nach dem Wesen des Verstehens beim Simultandolmetschen in die B-Sprache. Darum beziehen sich vorläufige Antworten auf emergierende Fragen beständig auch auf den Ausgangspunkt des Forschungsprozesses, das Verstehen beim Simul- tandolmetschen in die B-Sprache.10

1.2 Vorverständnis – zu den Prämissen des Forschungsprozesses

Im folgenden soll das Vorverständnis zu Beginn des Forschungsprozesses dargestellt werden.

...

10 Es sei an dieser Stelle bemerkt, daß eine Anwendung der Fragen und der vorläufigen Antwor- ten in Form von Forschungsergebnissen im Sinne einer Ausweitung auf den Bereich des Ver- stehens beim Simultandolmetschen in die A-Sprache und des Verstehens beim Übersetzen und im translationswissenschaftlichen Prozeß im allgemeinen im vorhinein nicht ausgeschlos- sen, jedoch ebensowenig im Sinne einer allgemeinen Theorie angestrebt wird.

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1.2.1 Verstehen beim Simultandolmetschen in die B-Sprache in der Praxis des Simultandolmetschens

Da der Ausgangspunkt des Forschungsprozesses zunächst im Phänomenbe- reich der Praxis des Simultandolmetschens in die B-Sprache liegt, soll dieser Phänomenbereich im folgenden kurz umrissen werden (vgl. EMCI 2002, vgl.

Kelly et al. 2003).

Das Simultandolmetschen in die B-Sprache wird für die professionelle Pra- xis des Konferenzdolmetschens immer wichtiger: sowohl auf dem sogenann- ten Privatmarkt als auch bei den Institutionen der Europäischen Union im Zuge der jüngeren Erweiterungsrunden. Während traditionell „im Westen“

grundsätzlich in die A-Sprache, d. h. die Muttersprache der DolmetscherIn gedolmetscht wurde, wird das Dolmetschen in die Fremdsprache, die B- Sprache, immer öfter praktiziert. Bei den europäischen Institutionen wurde zunächst anläßlich des Beitritts Finnlands das Arbeiten in die Fremdsprache als Alternative zum Arbeiten in die Muttersprache genutzt. Heute ist es üblich geworden, daß die Sprachen der neuen Mitgliedsländer von Muttersprachle- rInnen in sogenannte „alte“ Retour-Sprachen gedolmetscht werden, d. h., daß z. B. eine ungarische Muttersprachlerin als sogenannter Pivot in der deutschen Kabine ins Deutsche arbeitet und sich die DolmetschkollegInnen aus den anderen Kabinen, sobald Ungarisch gesprochen wird, auf die deutsche Kabine schalten, um das Gesagte aus dem Deutschen wiederum ins Italienische, Finnische, Tschechische etc. zu übertragen.

Der Phänomenbereich des Verstehens beim Simultandolmetschen in die B- Sprache liegt im Unterschied zum deutlich berufspraktisch und didaktisch motivierten, konkreten (praktischen) Phänomenbereich der Produktion beim Simultandolmetschen in die B-Sprache eher im abstrakten (theoretischen) Bereich.

Was soll das heißen? Hierzu einige wenige Beobachtungen: Erstens: Das Simultandolmetschen in die B-Sprache wird praktiziert. Es wird außerdem auch unterrichtet. Zweitens: Es scheint unumstritten, daß das Verstehen der A- Sprache beim Simultandolmetschen in die B-Sprache kein praktisches Prob- lem darstellt. Drittens: Es ist bekannt, daß im Westen im 20. Jahrhundert eindeutig dem Dolmetschen in die Muttersprache der Vorzug gegeben wurde.

Nicht so im Osten (vgl. Denissenko 1989; vgl. Gile 2005, 10ff.). So betrachtet die sowjetische Schule

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das 100-prozentige Verstehen des Ausgangstextes [als] die wichtigste Voraussetzung für ein geglücktes Dolmetschen: ‚Was ich nicht verstehe, kann ich nicht dolmetschen‘, oder ‚Verloren gegangene Informationen kann ich nicht wiedergewinnen‘ {vgl. Denissenko 1989}. Je mehr Auf- merksamkeit der Dolmetscher für das Verstehen des Originals aufwenden muss, desto schlechter sind die Ergebnisse auf der Wiedergabeseite (Op- denhoff 2005, 52).11

Deutlich kommt diese Position bei Denissenko zum Ausdruck: “The losses at input cannot be repaired. This can hardly be denied. So understanding the message in the source language or comprehension is the most crucial stage in the Bermuda triangle [comprehension, transformation and delivery] of the simultaneous interpretation process” (Denissenko 1989, 157).

Schließlich sei ein Zitat aus dem Zusammenhang der didaktischen Auseinandersetzung mit dem Simultandolmetschen in die B-Sprache im Rahmen des EMCI angeführt: “In interpreting it is estimated that at least 80 % of the effort or cognitive resources is devoted to listening and understanding the discourse and only 20 % to speech production” (Padilla 1995, [ohne Seitenangabe], zit. nach Rejšková 2002, 30).12

Das Thema des Verstehens beim Simultandolmetschen aus der A-Sprache in die B-Sprache ist somit auch in der berufspraktischen Realität vorhanden und steht im Raum. Darum soll im folgenden der Versuch unternommen werden, das Verstehen beim Simultandolmetschen in die B-Sprache im Lichte der Literatur aus Theorie und Forschung zum Simultandolmetschen zu be- handeln. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß hier die Dokumentierung der Prämissen des Forschungs- prozesses, so wie er tatsächlich stattgefunden hat, unternommen wird.

...

11 Opdenhoff selbst untersucht experimentell die Rolle des Gedächtnisses in Abhängigkeit von der jeweiligen Ausgangssprache. Unter Umständen ergäbe sich dadurch eine neue Diskussi- onsgrundlage zur Dolmetschrichtung A-B (vgl. Opdenhoff 2005, 53).

12 Rejšková zitiert aus der Dissertation von P. Padilla, „Procesos de atención y memoria en interpretación de lenguas. Unpublished doctoral dissertation. Universidad de Granada“ (Rejš- ková 2002, 34) die kognitionspsychologisch orientiert ist.

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1.2.2 Verstehen beim Simultandolmetschen in die B-Sprache in der Theorie und in der Forschung zum Simultandolmetschen Nachdem in 1.2.1 der Ausgangspunkt des Forschungsprozesses zunächst im Phänomenbereich der Praxis des Simultandolmetschens in die B-Sprache ausgemacht wurde, soll mit Blick auf den Aufbau der vorliegenden Arbeit im folgenden der Phänomenbereich des Verstehens beim Simultandolmetschen in die B-Sprache in der Theorie und in der Forschung zum Simultandolmetschen umrissen werden.

Das Verstehen beim Simultandolmetschen in die B-Sprache kann in der Lite- ratur zur Dolmetschforschung nirgendwo als eigenständiger Forschungsge- genstand identifiziert werden. Diese Feststellung soll im folgenden erläutert werden.

Es müssen Publikationen für unsere Betrachtung hinzugezogen werden, in denen nicht explizit vom Verstehen beim Simultandolmetschen in die B- Sprache, sondern vom Verstehen beim Simultandolmetschen im allgemeinen (vgl. für einen einführenden Überblick Pöchhacker 2004, 118ff; vgl. Kalina 1998), oder nicht explizit vom Prozeß des Verstehens, sondern allgemein vom Simultandolmetschen in die B-Sprache (vgl. Godijns/Hinderdael 2005; vgl.

Kelly et al. 2003; vgl. Donovan 2004) unter deutlicher Betonung des Produk- tionsaspektes die Rede ist. Ferner werden in der vorliegenden Arbeit auch Publikationen zum Zusammenhang von Verstehen und Übersetzen (exempla- risch: Stolze 1982, 2003) berücksichtigt.

An dieser Stelle darf auch die Existenz von Kolloquiumsakten (Barbizet/

Pergnier/Seleskovitch 1981), durch welche die international und multidiszipli- när angelegte Auseinandersetzung mit dem Verstehen von Sprache13 im Zu- sammenhang mit dem Gegenstand der Translation dokumentiert wird, die in der Folge jedoch in der – Literatur zur – Dolmetschforschung nicht weiter rezipiert wurden, nicht unerwähnt bleiben: Angeregt wurde diese Auseinan- dersetzung im Jahre 1980 durch die Zusammenarbeit von D. Seleskovitch, stellvertretend für die École Supérieure d’Interprètes et de Traducteurs an der Universität Paris III, Sprachwissenschaftlern der Universitäten Paris III und Paris IV und des federführenden Groupe d’Études sur le Langage an der Universität Paris XII. Das dreitägige Kolloquium fand an der Medizinischen Fakultät des Universitätskrankenhauses Henri-Mondor in Créteil unter der Mitwirkung der EG-Kommission, des französischen Außenministeriums und ...

13 frz. « compréhension du langage ».

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