BEKANNTGABEN
BUNDESÄRZTEKAMMER
Wissenschaftlicher Beirat c er Buncesärztekammer
„Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten" erschienen
Aus einer überwiegend notfallorien- tierten Blutsubstitution hat sich in den letzten Jahrzehnten die gezielte Hämo- therapie mit einer großen Zahl von Blut- komponenten und Plasmaderivaten ent- wickelt. Zahlreiche Behandlungsverfah- ren in der modernen Medizin sind heute auf die ständige Verfügbarkeit von Blut- produkten angewiesen.
Wegen der vielfältigen Einsatzmög- lichkeiten machen Blutkomponenten und Plasmaderivate heute im Kranken- haus einen wesentlichen Teil des Arznei- mittelbudgets aus. Angesichts des bis in die jüngste Zeit wachsenden Verbrauchs stellt sich die kritische Frage nach der Selbstversorgung in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, eine Frage, die eng mit der wissenschaftlichen Ent- wicklung, auch mit neuen gentechnologi- schen Herstellungsverfahren für Plasma- produkte, wie zum Beispiel Faktor VIII, verknüpft ist.
In Deutschland ist der Verbrauch von Plasmaderivaten in den letzten Jahren im internationalen Vergleich besonders hoch gewesen, was auch unter wirt- schaftlichen Aspekten zu Überlegungen über Möglichkeiten der Einschränkung des Verbrauchs geführt hat.
Die Rechtsprechung der letzten Jah- re hat darüber hinaus deutlich gemacht, daß die Beachtung und Vermeidung möglicher Behandlungsrisiken beim Einsatz von Blutkomponenten und Plas- maderivaten zur besonderer Sorgfalts- pflicht von Herstellern und Ärzten gehört. Vor diesem Hintergrund ist größtmögliche Sparsamkeit beim Ein- satz von homologem Blut und daraus hergestellten Produkten geboten.
Im Herbst 1993 wurde von der Ge- sundheitsministerkonferenz (GMK), der Arbeitsgemeinschaft Leitender Medi- zinalbeamter (AGLMB) und vom Bun- desgesundheitsminister an die Bundes- ärztekammer die Forderung herangetra- gen, Leitlinien für die Therapie mit Blut und Blutprodukten zu erarbeiten. Eine Arbeitsgruppe des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer hat im August 1994 einen entsprechenden Ent- wurf vorgelegt, der in den darauffolgen- den Monaten mit Vertretern von zahlrei- chen wissenschaftlichen medizinischen
Fachgesellschaften, Berufsverbänden, Vereinigungen, der GMK, der AGLMB, des Bundesgesundheitsministeriums so- wie des Paul-Ehrlich-Instituts beraten und im Januar 1995 fertiggestellt wurde.
Der Vorstand der Bundesärztekammer verabschiedete die Leitlinien am 21. April 1995 und hat deren Veröffentli- chung beschlossen.
Sparsamer Verbrauch von Blutkom- ponenten und Plasmaderivaten bedeutet gezielte, kritische Indikationsstellung für Blutprodukte.
Die Leitlinien enthalten in neun Ka- piteln Hinweise und Regeln für den kli- nischen Einsatz von Erythrozytenkon- zentraten (Kapitel 1), Thrombozyten- konzentraten (Kapitel 2), gefrorenem Frischplasma (GFP, Kapitel 3), Hu- manalbumin (Kapitel 4), PPSB (Pro- thrombinkomplex-Faktoren, Kapitel 5), Faktor-VIII-/Von-Willebrand-Faktor- Konzentraten, Faktor-IX-Konzentraten (Kapitel 6), Fibrinogen/Faktor-XIII- Konzentraten/Fibrinkleber (Kapitel 7), Antithrombin III (Kapitel 8) und huma- nen Immunglobulinen (Kapitel 9).
Alle Kapitel sind nach einem einheit- lichen Schema konzipiert. Am Anfang jedes Kapitels steht eine kurze Übersicht zu physiologischen und pharmakologi- schen Eigenschaften der wirksamen Be- standteile der jeweiligen Präparate. La- gerung, Haltbarkeit und Packungsgröße werden erwähnt. In einem anschließen- den Abschnitt werden Anwendungsge- biete, Fragen der Dosierung und Einzel- heiten der Anwendung sowie Kontrain- dikationen in kurzer, prägnanter Form abgehandelt, wobei besonderer Wert auf Übersichtlichkeit und praktische An- wendbarkeit („Faustregeln", Übersicht- stabellen) gelegt wurde. Eine Beschrei- bung der möglichen unerwünschten Wir- kungen und eine Zusammenstellung der wichtigsten Literaturstellen schließen je- des Kapitel ab.
In Kapitel 10 wird der aktuelle Stand der Infektionssicherheit von Blutkom- ponenten und Plasmaderivaten beschrie- ben.
Der heute erreichte hohe Sicherheits- standard, insbesondere hinsichtlich der Möglichkeit der Übertragung von Viren mit Blutkomponenten und Plasmaderi-
vaten, entbindet nicht von einer vorsich- tigen und zurückhaltenden Indikations- stellung in jedem Einzelfall, denn trotz aller Maßnahmen kann die Übertragung von Krankheitserregern durch menschli- ches Blutprodukte niemals vollständig ausgeschlossen werden.
Paradoxerweise führt der hohe Si- cherheitsstandard allerdings dazu, daß die klinische Validierung eines Verfah- rens zur weiteren Verbesserung der In- fektionssicherheit kaum noch möglich erscheint, weshalb in vermehrtem Maße auf Modellsysteme zurückgegriffen wer- den muß.
Wesentlich bleibt hier die engagierte Mitarbeit der Ärzteschaft bei der Mel- dung und Aufdeckung möglicher Infek- tionen durch Blut und Blutprodukte. In diesem Zusammenhang soll auch an die Dokumentationspflicht für Blutproduk- te — außer Albumin — erinnert werden, die bereits im Oktober 1993 eingeführt wurde.
Die Leitlinien beziehen sich in erster Linie auf die Behandlung mit homolo- gen Blutkomponenten und Plasmaderi- vaten; auf autologe Blutprodukte lassen sie sich wegen der spezifischen Beson- derheiten der Eigenblutspende und -transfusion nicht in allen Fällen in glei- cher Weise anwenden. Hier bleibt es bei der grundsätzlichen Regelung, daß für die autologe Transfusion bestimmte Blutprodukte in der Hämotherapie mit homologen Blutkomponenten und Plas- maderivaten nicht eingesetzt werden dürfen.
Die Leitlinien werden in diesen Wo- chen Krankenhaus- und Fachärzten, die aufgrund ihrer Tätigkeit Blutkomponen- ten und Plasmaderivate einsetzen müs- sen, zur Verfügung stehen. Es ist vorge- sehen, diese Leitlinien in kürzeren Zeit- abständen fortzuschreiben.
Anregungen und Kritik sind jederzeit willkommen.
Prof. Dr. med. Helmuth Deicher Wissenschaftlicher Beirat Bundesärztekammer Herbert-Lewin-Straße 1 50931 Köln
Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 33, 18. August 1995 (69) A-2207