DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT
URZBERICHT
Hüft-Endoprothetik
Eine Standortbestimmung
Heinz Gierse,
Burkhard Maaz und Thomas Wessolowski
eitdem in den sechziger Jahren der Kunststoff PMMA zur Befestigung von Hüftprothesen einge- führt wurde, ist die Zahl der Implantationen ständig gestie- gen. Im Gebiet der ehemaligen Bun- desrepublik Deutschland wird die Zahl der implantierten Hüftgelenke auf fünfzig- bis sechzigtausend pro Jahr geschätzt. In den sechziger Jah- ren mußten als Anfangsprobleme Materialschwierigkeiten überwun- den werden. So erwies sich zum Bei- spiel der Werkstoff Teflon als unge- eignet, weil er mit einem zu hohen Abrieb behaftet war (3, 16). Nach Bewältigung dieser Materialproble- me traten dann häufig aseptische Lockerungen auf. Diese stellen die am meisten in Erscheinung tretende Komplikation einer TEP-Versor- gung dar (2, 4, 7). Eine derartige Lockerung erfordert fast immer eine erneute Operation. Diese Wechsel- operationen sind aufwendig und müssen zunehmend im höheren und hohen Alter durchgeführt werden.
Im Vordergrund der technischen Probleme bei der Entfernung gelok- kerter Prothesen stehen zum einen knöcherne Zerstörungen und Defek- te, zum anderen ergibt sich die Schwierigkeit, noch festsitzende Tei- le des Kunstgelenkes beziehungswei- se des Knochenzementes zu entfer- nen. Aus diesem Grunde wurden Anfang der siebziger Jahre soge- nannte zementfreie Prothesensyste- me entwickelt, die ohne Knochenze- ment eingesetzt werden. Derzeit wer- den als Vor- und Nachteile der beiden
Systeme eine Reihe von Punkten dis- kutiert, die in der nachfolgenden Ta- belle zusammengefaßt sind.
Problematik
Nach der ersten Euphorie über die Neuentwicklung zementfreier Sy- steme folgte eine Ernüchterung, die darauf gründete, daß auch hier Lok- kerungsprobleme auftreten und ge- häufte frühzeitige postoperative Be- schwerden bestehen (1, 5, 8, 9, 11, 12, 15). Dies führte dazu, daß stän- dig neue Prothesensysteme entwik- kelt wurden und weiterhin entwik- kelt werden. In regelmäßigen Ab- ständen tauchen in den Medien Be- richte über Erfolge und Vorteile sol- cher neuer Systeme auf. Als Folge dessen werden die beratenden Ärzte und Ärztinnen immer wieder auf derartige Prothesen angesprochen.
Eine Vielzahl von Patienten ist der Meinung, daß es sich bei diesen Neu- entwicklungen für ihren persönli- chen Fall um das Beste handele. Da vielfach der Eindruck be- bezie- hungsweise entsteht, die zementierte TEP (Totalendoprothese) sei veral- tet, überholt und werde kaum noch praktiziert, ist es schwierig, jeman- den von den Vorteilen dieser Art der Prothesenverankerung zu überzeu- gen. In persönlichen Gesprächen mit Kollegen aus anderen Kliniken hat- ten wir den Eindruck, daß der über- wiegende Anteil der Hüftprothesen zementiert wird. Genauere Zahlen- angaben waren jedoch nicht zu be- kommen, da von Haus zu Haus der Anteil an zementfreier Endoprothe- tik sehr schwankt.
Auch die Angaben von Indu- striefirmen waren nicht aussagekräf- tig. Dies beruht darauf, daß viele Aus der Orthopädischen Fachklinik (Chef- arzt: Dr. med. Burkhard Maaz), Marienkran- kenhaus Düsseldorf-Kaiserswerth
verschiedene Firmen auf dem Markt sind und der Anteil zementfreier und zementierter Implantate unter- schiedlich ist. Außerdem besagt eine Verkaufsrate noch nichts über die tatsächlichen Implantationszahlen.
Dies veranlaßte uns, von Herbst 1989 bis Anfang 1991 eine Umfrage durchzuführen und alle Kliniken im Gebiet der alten Bundesrepublik Deutschland anzuschreiben. Um ei- ne hohe Rücklaufquote des Fragebo- gens zu bekommen, beschränkten wir uns auf wenige Fragen, die sich auf das Jahr 1988 bezogen. Zur Aus- wertung kamen bisher 690 chirurgi- sche und orthopädische Kliniken und Abteilungen, in denen Hüft- endoprothesen implantiert werden.
Wir möchten uns an dieser Stelle nochmals bei allen bedanken, die durch ihre Mitarbeit dazu beigetra- gen haben, daß ein so repräsentati- ves Ergebnis zustande gekommen ist.
Ergebnisse der Umfrage In den Kliniken, die sich an unserer Umfrageaktion beteiligten, wurden über 57 000 Erstimplantatio- nen und über 6000 Revisionsopera- tionen durchgeführt (Abbildung 1).
Bezogen auf die Schätzungen der Gesamtimplantationen, bedeutet dies, daß weit über 90 Prozent aller Implantationen erfaßt wurden. So- mit ergibt sich eine hohe Aussagefä- higkeit bezüglich der Ergebnisse, und der tatsächliche Stand konnte mit relativ großer Wahrscheinlich- keit ermittelt werden.
Die Anzahl der einzelnen Im- plantationen pro Klinik ist sehr un- terschiedlich. So gibt es Abteilungen, die nur einige wenige Implantatio- nen pro Jahr durchführen (bei Schenkelhalsbrüchen), und andere Kliniken, die über 1000 Implantatio- nen pro Jahr erreichen. Nimmt man einmal die Zahl von 100 Implantatio- nen pro Jahr als unteres Limit, so ge- hörten zu dem anvisierten Größen- bereich etwas mehr als ein Viertel der befragten Kliniken. Dieses Vier- tel implantiert jedoch über 60 Pro- zent der Gesamtzahl an Hüftprothe- sen (Abbildung 2).
Eine derartige Verschiebung findet sich auch im Bereich der Al- A1-3454 (62) Dt. Ärztebl. 89, Heft 42, 16. Oktober 1992
Mi Revisionen EZ Erstimplantationen
Abbildung 1: Hüft-TEP: Implantationen 1988, Bundesrepublik Deutschland (n = 690 Kliniken)
von Implantationen ist deutlich ge- ringer als der Anteil von Kliniken, die ein zementfreies System benut- zen. Er beträgt knapp ein Drittel, be- zogen auf die Gesamtzahl (Abbildung 5). Somit gibt es nicht nur eine Reihe von Kliniken (immerhin ein Drittel aller befragten), die kein zementfrei- es Pfannensystem besitzen, sondern es läßt sich auch festhalten, daß die,
< 5 % Anteil 55,5 %
> 20 % Anteil 8,4 % 10 - 20 % Anteil 13,6 % 5 - 10 % Anteil 22,6 %
a) Anteil jüngerer Patienten zum Zeitpunkt b) Der Patientenanteil unter 60 Jahre liegt der Op, bezogen auf die einzelnen Kliniken. über 20 %. Aufteilung auf die Kliniken.
(n = 690) (n = 57)
MIM K < 100 Impl. 36,8 % K > 100 Imp1.63,2 %
20
0 Aufteilung der 690 Kliniken
Anteil an der Gesamtzahl der Implantationen (n = 57818) 80
60
40
BIK<100 Impl. Z K>100 Impl.
tersstruktur. Eine Frage bezog sich auf den Anteil der Patienten, die zum Zeitpunkt der Operation unter 60 Jahre waren, das heißt, es ging darum herauszufinden, wir groß der Anteil jüngerer Patienten am gesam- ten Patientengut ist. Einen Anteil von über 20 Prozent jüngerer Patien- ten gaben knapp 9 Prozent aller Kli- niken an. Hiervon entfallen jedoch 62 Prozent auf die Kliniken mit über 100 Implantationen pro Jahr. Dies bedeutet, daß hier auch der Anteil an jüngeren Patienten im Schnitt größer ist als in den anderen Klini- ken (Abbildung 3).
Der Schwerpunkt unserer Um- frage bezog sich auf die zementfrei- en Systeme. Wie sich hier im nach- hinein herausstellte, war es richtig, zwischen Pfanne und Schaft zu un- terscheiden. Die eigenen Erfahrun- gen mit der Kombination von ver- schiedenen Systemen - der soge- nannten Hybrid-Prothese (ein Teil zementiert, das andere Teil zement- frei) - fanden hier eine Bestätigung.
Bei der Frage nach einem ze- mentfreien Pfannensystem stellte sich heraus, daß fast zwei Drittel al- ler Kliniken ein zementfreies Pfan- nensystem in ihrem Sortiment haben und benutzen (Abbildung 4). Hierbei wurden an die 20 verschiedene Sy- steme benannt. Die Zahl der implan- tierten Pfannen ist jedoch nicht allzu hoch. Ihr Anteil an der Gesamtzahl
Abbildung 3: Verteilung jüngerer Patienten (unter 60 Jahre)
Abbildung 2: Hüft-TEP: Kliniken mit mehr als 100 Implantationen pro Jahr
die es vorrätig haben, es meistens nur in einem geringeren Maße ein- setzen. Die Situation an den Klini- ken mit höheren Implantationszah- len (über 100 pro Jahr) ist im Prinzip nicht viel anders. Obwohl einzelne Kliniken bis zu 100 Prozent zement- frei implantieren, liegt insgesamt der Anteil der Implantationen bei 36 Prozent, also nur geringfügig höher als im Gesamtkollektiv (Abbildungen 4 und 5).
Bei den Schaftsystemen ist die- ser Trend noch deutlicher. Während hier nur noch gut die Hälfte der Kli- niken ein zementfreies Schaftsystem benutzten, liegt der Anteil der Im- plantationen gerade bei einem Vier- tel der Gesamtzahl (Abbildung 6).
Auch im Bereich des Schaftes sind über 20 verschiedene Systeme in der Anwendung. Insgesamt ist hier die Zurückhaltung bezüglich der ze- mentfreien Implantation noch grö- ßer als im Pfannenbereich. Die Si- tuation bei den Kliniken mit einer höheren Implantatzahl (über 100 pro Jahr) ist hier ebenfalls gering anders.
Zwar ist der Anteil der Kliniken, in denen ein zementfreies Schaftsystem vorhanden ist, mit gut vier Fünftel deutlich höher als im Gesamtkollek- tiv, doch liegt der Anteil der Implan- A1-3456 (64) Dt. Ärztebl. 89, Heft 42, 16. Oktober 1992
20
0 Anwendung in 690 Kliniken
Anwendung in Kliniken mit
> 100 Impl./Jahr (n = 177) 100
40 60 80
BM ja I3rA nein
Alle Kliniken Kliniken mit (n = 57818) > 100 Impl./Jahr
(n = 35187) zementiert rA zementfrei 80
60
40
20
0
Alle Kliniken Kliniken mit (n = 57818) . > 100 Impl./Jahr
(n = 35187) zementiert zementfrei
20
0 Anwendung in 690 Kliniken
Anwendung in Kliniken mit
> 100 Impl./Jahr (n = 177) 100
80
60
40
IM ja IM nein
20
0 Anwendung in 690 Kliniken
Anwendung 'n Kliniken mit
> 100 Impl./Jahr (n = 177) 100
40 60 80
In ja 27 nein
Abbildung 4: Häufigkeit der Anwendung der zementfreien Pfanne
tationen mit einem Viertel im Ge- samttrend (Abbildungen 6 und 7). So- mit bestätigt sich auch hier, daß die meisten Kliniken überwiegend ein zementiertes Schaftsystem bevorzu- gen.
Neben der Verhinderung einer aseptischen Lockerung steht im Be-
Abbildung 7: Implantationszahlen zemen- tiertes/zementfreies Schaftsystem
Abbildung 5: Implantationszahlen zemen- tierte/zementfreie Pfanne
reich der Endoprothetik immer die Problematik der Infektion im Vor- dergrund. Hierzu wird empfohlen, routinemäßig eine perioperative An- tibiotikaprophylaxe oder eine stan- dardmäßige Antibiotikabeimischung zum Zement zu benutzen. Das Für und Wider der einzelnen Verfahren
Abbildung 6: Häufigkeit der Anwendung des zementfreien Schaftsystems
ist an anderen Stellen bereits aus- führlich diskutiert worden (Buch- holz, Gierse). In unserer Umfrage gab etwa ein Viertel der Kliniken an, auf die überwiegende Anwendung eines antibiotikahaltigen Zements zu ver- zichten. Bei drei Viertel der Kliniken gehört sie somit zur Routine. Hier- bei gibt es keinen Unterschied zwi- schen Kliniken mit geringeren oder höheren Implantationszahlen (Abbil- dung 8).
Diskussion
Die Anwendung zementfreier Hüftendoprothesensysteme und ze- mentierter Prothesen ist im Bereich der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland recht unterschiedlich.
Bei unserer Umfrage fanden sich Kliniken, die entweder in der einen oder in der anderen Richtung im- plantierten, das bedeutet, daß an den betreffenden Kliniken nur ze- mentfrei oder nur zementiert gear- beitet wurde. Bei der zementfreien Implantation war dies jedoch eine Ausnahme. Nur in den seltensten
Abbildung 8: Vorwiegende Benutzung eines antibiotikahaltigen Zementes
Dt. Ärztebl. 89, Heft 42, 16. Oktober 1992 (67) A1-3459
Vorteile Nachteile
Tabelle: Vor- und Nachteile der Prothesensysteme mit und ohne Zementfixierung
Zementfixierung
Vorteile Nachteile
1. gute Primärstabilität 1. geringe Dauerschwingfestigkeit bei 2. großflächige Haftung und zu geringer Schichtdicke
Kraftübertragung 2 aggressive Abriebpartikel
3. wenig Oberschenkel- 3. toxische Bestandteile der Beimi- schaftschmerzen schungen (Katalysatoren, Rönt- 4. frühe Mobilisier- und Be- genkontrastmittel)
lastbarkeit 4. aufwendige Maßnahmen bei der 5. Verringerung des Infek- Entfernung teilweise festsitzender
tionsrisikos durch Antibio- Zementstücke
tikabeimischung 5. hohe Temperatur bei der Aushär- tung mit der möglichen Folge von Nekroseschäden
zementfreie Fixierung
1. Primärfixierung mit nur geringem Oberflächenkontakt (ca. 30%) 2. Sekundärstabilisierung nicht im-
mer gewährleistet
3. Abrieb unter Umständen von Oberflächenanteilen, zum Beispiel Titanlegierung
4. Anlaufprobleme mit Oberschen- kelschmerzen
5. Belastungsschmerz und Abduk- toreninsuffizienz in einem relativ hohen Prozentsatz
1. direkter Kontakt Implan- tat — Knochen
2. Sekundärstabilisierung durch ein- oder anwach- sende Knochen
3. bessere Verträglichkeit durch geeignete Material- wahl (Titan, Hydroxylapa- tit)
Fällen wurde ausschließlich zement- frei implantiert. Meistens wurde in der betreffenden Abteilung sowohl zementiert als auch zementfrei gear- beitet. Der Eindruck, der in persön- lichen Gesprächen mit Kollegen aus anderen Kliniken entstand, bestätig- te sich bei dieser Umfrage, nämlich daß der überwiegende Anteil der Hüftprothesen einzementiert wird.
Dies gilt sowohl für den Bereich der Pfanne als auch für den Schaft. Be- zogen auf die Größe der Klinik (Zahl der Implantationen < oder > 100 pro Jahr), sind hier keine wesentli- chen Unterschiede zu erkennen.
Nach wie vor gilt: Das „Standbein"
der Hüftendoprothetik ist im zemen- tierten Bereich zu sehen (10).
In einer ersten Auswertung un- serer Umfrage im Januar 1990 be- richteten wir auf unserem Hüftsym-
Abbildung 9: 84jähri- ger Patient (Mai 1990); 19 Jahre post- operativ rechts, 11 Jahre postoperativ links beschwerdefrei;
Weichteilverkalkun- gen links ohne klini- sche Bedeutung
posium über die Ergebnisse, die bei Auswertung von 514 Kliniken ge- wonnen wurden (6). Die damals vor- getragenen Zahlen haben sich im Trend bestätigt, obwohl inzwischen an die 200 Kliniken mit über 14 000
Implantationen zusätzlich ausgewer- tet wurden.
Inwieweit derzeitige Versuche, die Implantationen (zementiert oder zementfrei) zu verbessern, auch zu wesentlich besseren Ergebnissen führen werden (5, 15), muß die Zu- kunft erweisen. Für die Gegenwart ist festzuhalten, daß sich vermehrt Patienten und Patientinnen in Klini- ken mit Prothesen vorstellen, die ih- nen auch nach über 15 Jahren Im- plantation nach wie vor keine Pro- bleme bereiten (Abbildung 9). Hier- bei handelt es sich bis jetzt aus- schließlich um zementierte Hüftpro- thesen.
Alle implantierten Gelenke soll- ten regelmäßig nachkontrolliert wer- den (13). Nur auf diese Weise läßt sich die Funktionstüchtigkeit und Haltbarkeit beurteilen und die Indi- kation zur Re-Operation rechtzeitig stellen. Dies ist notwendig, um die Entstehung großer Knochendefekte zu verhindern und die Möglichkeit der erneuten Implantation zu erhal- ten.
Dt. Ärztebl. 89 (1992) A 1 -3454-3460 [Heft 42]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonder- druck, anzufordern über die Verfasser.
Anschrift für die Verfasser:
Privatdozent
Dr. med. Heinz Gierse Marienkrankenhaus An St. Swidbert 17 W-4000 Düsseldorf 31 A1 -3460 (68) Dt. Ärztebl. 89, Heft 42, 16. Oktober 1992