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Archiv "Der Kampf der „Mutter Theresa von Tamil Nadu“" (27.09.1990)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

DIE REP RTAGE

Die Ärztin Elisabeth Vom- stein aus Schliengen bei Freiburg/Breisgau leitet seit fast 30 Jahren das Le- prazentrum Chettipatty in Südindien. Nach Erfol- gen mit der Multi-Drug- Therapy gegen diese

„Geißel der Menschheit"

gilt der Kampf nun ver- stärkt der Kinderlähmung

und der Tuberkulose.

m Schrittempo schaukelt der

I

Lautsprecherwagen über den holprigen Feldweg, dem entle- gensten Teil des 750-Seelen- Dorfes Sekkarappatty zu. Mitten auf dem staubigen Pfad qualmt eine Feuerstelle. Eilig zieht die Köchin im Sari den Spieß von der Glut und bringt das Brathähnchen in Sicher- heit. Eine zerlumpte Kinderschar springt, aus großen dunklen Augen staunend, zur Seite. Aus dem Laut- sprecher hallt wieder die Ankündi- gung. Auch die letzte Familie in die- sem Winkel des südindischen Bun- desstaates Tamil Nadu soll erfahren, daß der Kleinbus des „Leprosy Re- lief Rural Centre" morgen wieder- kommt — als Klinik auf Rädern.

Überzeugungsarbeit

Doch bei der Sprechstunde am nächsten Tag im Schatten eines Bau- mes wartet mehr Personal als Patien- ten. Die mittlerweile gut bekannten ersten Lepra-Symptome — helle Flecken auf der Haut und Schmerz- unempfindlichkeit an einzelnen Kör- perstellen — treten in der Gegend kaum noch auf. Der jahrzehntelange Kampf gegen die „Geißel der Menschheit" scheint weitgehend ge- wonnen. Zumindest im Bezirk Sa- lem, der vor dreißig Jahren noch der am härtesten betroffene auf dem in- dischen Subkontinent war.

Als Elisabeth Vomstein aus Schliengen bei Mülheim im Jahr 1960 die Heimat verließ, um nach stürmischer Seefahrt auf einem Frachter nach Indien in Chettipatty die Leitung des Leprazentrums zu übernehmen, wurden hier 40 Fälle pro 1000 Einwohner gezählt. Heute sind es nur noch 2,5 (der indische Durchschnitt liegt mit 10 Fällen pro 1000 Einwohner vier mal so hoch).

In den ersten Jahren, erinnert sich die 73jährige Ärztin, standen 200 bis 400 Patienten Schlange vor den Klapptischen der „Roadside Clinic".

Darauf hatte sie beim Medizin- studium in Freiburg niemand vorbe- reitet: „Es kam vor, daß eine aufge- brachte Menge sich unserem Wagen in den Weg stellte und uns mit Stök- ken bedrohte. Die Leute hatten

Das durch Polio gelähmte Mädchen an der Hand von Elisabeth Vomstein hatte Glück:

Viele seiner Leidensgenossinnen werden von ihren Familien bewußt als nutzlose Es- ser dem schleichenden Tod durch Verhun- gem ausgesetzt. So betreut man im „St. Ju- de's Children Home" in Chettipatty deutlich mehr Jungen als Mädchen. Foto: Geyer

Angst, wir würden die Lepra verbrei- ten, statt sie einzudämmen." Inzwi- schen konnten sich die 300 000 Men- schen in dem 451 Quadratkilometer großen Einzugsgebiet vom Gegenteil überzeugen.

Am Rande der Kleinstadt Chet- tipatty, wo anfangs eine strohgedeck- te Lehmhütte als Ambulanz diente, steht heute ein modernes ICranken- haus mit 90 Betten, um das sich Wohnhäuser der Mitarbeiter, Büro- räume, Garagen und Werkstätten gruppieren. Im Jahr 1958 hatte das Deutsche Aussätzigen Hilfswerk (j ährliches Spendenaufkommen mehr als 30 Millionen DM) beschlos- sen, das Projekt als erstes in Indien zu unterstützen.

Damals und heute . . .

Damals standen Elisabeth Vom- stein drei Schwestern zur Seite. Heu- te sind allein im Zentrum rund 80 Personen beschäftigt, unter ihnen drei indische Ärzte. Sie sprechen zwar mit Hochachtung über ihre von Kommunalpolitikern auch „Mutter Teresa von Tamil Nadu" genannte Chefin, sie können jedoch das vom christlichen Grundsatz selbstloser Nächstenliebe bestimmte Engage- ment dieser Frau aus dem fernen Deutschland letztlich nicht verste- hen: „Ich arbeite für Geld und meine Familie", bekennt Dr. Nagarj Deva- rajan. „Sie tut alles nur für die Kran- ken." Er und seine einheimischen Kollegen ignorieren denn auch au- ßerhalb der Dienststunden die Pa- tienten des Zentrums und widmen sich ihrer Privatpraxis.

Der immer wieder bis an die Türschwellen der ärmlichsten Hüt- ten getragene Aufruf „Lepra ist heil-

Der Kampf

der „Mutter Theresa von Tamil Nadu"

Noch fehlt ein Nachfolger für das Leprazentrum

A-2874 (26) Dt. Ärztebl. 87, Heft 39, 27. September 1990

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bar — komm sofort!" hat die schick- salsgläubigen Duldernaturen der Hindus aufgerüttelt, sich gegen das Karma zu wehren: zum Arzt zu ge- hen und nicht die früher als unheil- bar geltende „Strafe Gottes" so lan- ge wie möglich vor der eigenen Fa- milie zu verbergen — aus Angst vor der Isolation: Immer noch gefürchtet sind die Auswirkungen des 1898 von der britischen Kolonialregierung er- lassenen Aussätzigen-Gesetzes, nach wie vor geltendes Recht in rund ei- nem Drittel der 31 indischen Bun- desstaaten und Unionsterritorien.

Der „Leper-act" ist ein durch die Revolutionierung der Behandlungs- methoden längst überholter Katalog von Diskriminierungen: Lepröse (über Tröpfcheninfektion anstek- kend sind etwa 10 Prozent der Fälle) dürfen danach weder öffentliche Verkehrsmittel benutzen noch sich auf dem Markt oder am Dorfbrun- nen sehen lassen.

Daß der Bus seit einem Jahr vor dem Tor der Leprastation bei Chetti- patty halten darf, ist ein Indiz für den Abbau von Berührungsängsten.

Hier in Chettipatty wurde 1973 erst- mals in Indien die heute weltweit an- erkannte Multi-Drug-Therapy einge- führt. Die Zahl der Fälle sank mit wachsender Motivation der Patien- ten: 1986 wurden in Chettipatty noch 2261 Neuerkrankte gezählt, von de- nen 74 Prozent regelmäßig zur Be- handlung erschienen. 1989 kamen nur noch 559 Patienten, 96 Prozent von ihnen regelmäßig.

jetzt gegen Tb . . .

Können die Helfer jetzt ihre Koffer packen, die Spender zu Hau- se ihre Schecks sparen? Elisabeth Vomstein schüttelt entschieden das weiße Haupt: „Geheilte gehören noch fünf Jahre unter ärztliche Be- obachtung. Und Verkrüppelte müs- sen wir rehabilitieren." Auch später bleiben Lepröse immer in Gefahr, sich beim täglichen Umgang mit offe- nem Feuer und scharfen Werkzeu- gen an tauben Händen oder Füßen unbemerkt zu verletzen. Barfußlau- fen ist deshalb tabu. Schützende und stützende Spezialschuhe sowie Krük- ken werden in der eigenen orthopä-

dischen Werkstatt nach Maß gefer- tigt. Hier, an Webstühlen und in der Landwirtschaft haben ehemalige Pa- tienten einen Arbeitsplatz gefunden.

Gleichzeitig konzentriert sich das Team in Chettipatty auf den Kampf gegen andere Seuchen: Auch Tuberkulose sucht sich ihre Opfer vornehmlich in ländlichen Gegen- den; auch sie bedeutet soziales Stig- ma. Mit der Lepra kann man, wenn auch als Krüppel, alt werden, die Tb (geschätzt werden 4 Fälle pro 1000 Einwohner) kostet noch dazu in In- dien jeden zweiten Tuberkulose-Pa- tienten das Leben.

So informieren die Lautspre- cherdurchsagen nun auch über die Symptome dieser hochgradig infekti-

Botschafter der Hilfsbereitschaft

Einen sehr wichtigen Bun- desgenossen hat Elisabeth Vomstein in dem Botschafter der Bundesrepublik i. R., Ger- hard Fischer, gefunden. Der heute 68jährige, der einst sein Medizinstudium abbrach, hatte als Generalkonsul in Madras die Ärztin vor 30 Jahren ken- nengelernt. Später vertrat er die Bundesrepublik als Bot- schafter in Kuala Lumpur, Dublin und Den Haag. Als man ihn vor fünf Jahren nach Bern versetzen wollte, quittier- te er den Dienst: „Mit fehlte die Herausforderung, ich woll- te noch etwas Sinnvolles tun", sagt der „diplomatische Aus- steiger" (Der Spiegel), der seit- dem 400 000 DM für verschie- dene Projekte in Indien erbet- telt hat — bei Rotariern und Lions, denen er allerorten be- kannt sein müßte: Von März bis Oktober zieht er auf Vor- tragsreise von Club zu Club, im Winter schaut er, wo in In- dien das Geld am nötigsten gebraucht wird. So hat er das Heim für 30 poliokranke Kinder in Chettipatty finan- ziert — es reichten dafür 30 000

Mark. El

ösen Krankheit. Bei Tb-Verdacht werden Blut- und Sputumproben im Labor des Krankenhauses unter- sucht. Nach entsprechender Diagno- se wacht in jedem der 53 Dörfer ein

„Village health worker" über die täg- liche Einnahme der Medizin. Die darf ja nicht gleich abgesetzt werden, wenn der Husten nachläßt; sonst ist der Rückfall vorprogrammiert — schlimmer als zuvor.

. . . und gegen Polio

Der zweite neue Schwerpunkt in Chettipatty ist die Versorgung von Polio-Kindern, für die 1987 ein Ex- tragebäude mit 30 Betten gebaut wurde. Rund 50 weitere gelähmte Kinder werden Tag für Tag mit dem Bus in die Schule gefahren — ein für Indien wahrscheinlich einmaliger Service. „Mädchen, die nicht laufen können, setzt man hierzulande sonst in die Ecke und läßt sie sterben", weiß Elisabeth Vomstein. „Sie haben keine Chance„unter die Haube' zu kommen, und sind lebenslang eine Last für die Familie." In den Kinder- heimen für Poliokranke werden des- halb doppelt so viele Jungen wie Mädchen betreut. Noch früher setzt die in den Medien gerade vieldisku- tierte Praxis der Fruchtwasserunter- suchung an: Gesunde Feten mit der Diagnose „Mädchen" werden abge- trieben, Jungen dürfen ausgetragen werden: Als Bräutigam kassieren sie später die Mitgift, für die die Eltern der Braut aufzukommen haben.

Eine effektive Schluckimpfung gegen Kinderlähmung ließ sich in In- dien bisher noch nicht verwirklichen.

Die Ignoranz der Bevölkerung ist nur eines der Hindernisse. „Alles muß man selber machen. In den Dörfern Nangavalli und Taramanga- lam konnten wir die Leute nicht ein- mal dazu bringen, den Heimkindern ein tägliches Mittagessen zu organi- sieren", bedauert Elisabeth Vom- stein. „Caritas" — für die meisten In- der ein Fremdwort.

Die neuen Aktivitäten in Chetti- patty liegen im Trend. „Endlich — Lepra ist heilbar", heißt die Parole des Deutschen Aussätzigen Hilfs- werks für 1990. Doch wer macht sich schon gerne überflüssig? Schon 1979 A-2876 (28) Dt. Ärztebl. 87, Heft 39, 27. September 1990

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startete der Verband in Tansania/

Afrika ein erstes kombiniertes Le- pra-Tb-Hilfsprogramm. Wo Kapazi- täten freiwerden, heißt es, sollen die Einrichtungen für die Behandlung anderer Krankheiten genutzt wer- den. „Mitgenutzt" muß man sagen.

Noch leiden weltweit schätzungswei- se 12 lvIillionen Menschen an der Le- pra. Nicht überall sind die Statisti- ken so günstig wie im Modellfall Chettipatty. Hinter die Devise der Weltgesundheitsorganisation „Aus- rottung der Lepra bis zum Jahr 2000" schleicht sich immer wieder ein Fragezeichen.

Nirgendwo glücklicher

Für Elisabeth Vomstein hat sich jedenfalls ein Wunschtraum erfüllt:

„Ich habe schon in meiner Kindheit an die Lepra gedacht", erzählt die gläubige Katholikin. „Kolossal faszi- niert" sei sie als junges Mädchen vom Wirken ihrer Namenspatronin Elisabeth von Thüringen (1207 bis 1231) gewesen, der — später heilig ge- sprochenen — ungarischen Königs- tochter, die sich vom höfischen Le- ben abgewandt und schließlich ganz dem Schicksal der Aussätzigen ge- widmet hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte Elisabeth Vom- stein, damals medizinisch-technische Assistentin, in Freiburg Medizin.

Dort arbeitete sie nach dem Examen 1953 zunächst in der Frauenklinik.

Sie wechselte mehrmals, zog nach Trier, Heidelberg und St. Blasien, bis sie 1960 eine kleine Zeitungsnotiz entdeckte: Gesucht wurde eine Ärz- tin für Leprakranke in Indien. Aus den geplanten „paar Jahren" werden im nächsten Februar drei volle Jahr- zehnte.

Wenn sie „daheim" sagt, meint sie zwar nach wie vor ihren Geburts- ort Schliengen bei Freiburg. Von dort unterstützen sie das Hilfswerk Chettipatty Schliengen-Mauchen und der Bindi-Club Schliengen (wei- tere Gruppen gibt es in Bad Krozin- gen, Sasbach bei Achern und Mus- sum bei Bocholt). Daß sie in Indien

Bild links oben: Ein Sari für die First Lady im fernen Deutschland: Marianne von Weizsäk- ker ließ sich aus dem Stoff, der in den Werk- stätten des Leprazentrums Chettipatty ge- webt wurde, ein Kleid nach europäischem Schnitt nähen und bedankte sich mit einem Foto. — Bild oben: Schulunterricht für Polio- Kinder in Taramangalarn, einem der beiden Kinderheime auf dem Land. Die orthopädi- schen Gehhilfen werden in einer der Werk- stätten des Leprazentrums Chettipatty herge- stellt: von ehemaligen Patienten. — Bild links:

Lauftraining und auch Krankengymnastik für die kleinen Patienten gegen die Folgen der Kinderlähmung gehören hier zum täglichen Programm. Fotos (3): Thomas Geyer

geblieben ist, hat sie dennoch nicht bereut: „Ich glaube nicht, daß ich ir- gendwo anders glücklicher geworden wäre."

Sorgen, so gesteht sie am letzten Abend meines Besuches in Chetti- patty, mache ihr nur das Fehlen ei- nes Nachfolgers: „Es gibt hier halt auch nichts mehr aufzubauen", meint sie nachdenklich. „Welcher deutsche Arzt sucht schon eine Stel- le irgendwo in Indien?" Und die in- dischen Kollegen? „Sie beherrschen ihr Handwerk", räumt Elisabeth Vomstein ein. „Nur . ." — und aus der alemannisch gefärbten Sprach- melodie klingt fast mütterliches Ver- ständnis — „. braucht's halt ab und zu einen Kick in den Hintern."

Anschrift des Verfassers:

Thomas Geyer

Westring 266, 2300 Kiel

Dt. Ärztebl. 87, Heft 39, 27. September 1990 (29) A-2877

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