Ein verkanntes Sanskritwort
Von Dieter Maue, Gießen
Prof. G. Rau pro dono natalicio dedicatum
I
Mit TT VIII E sind uns Reste einer prachtvollen skt.-uig. Udänavarga-
Handschrift aus Turfan erhalten. Darin ist der Sanskrit-Text pädaweise
ausgeschrieben und ins Uigurische übertragen. Sporadisch sind Erläu¬
terungen in uig. Sprache hinzugesetzt. Die Strophe 7 des Satkäravarga
(TT VIII E Z. 6-9) ist nahezu vollständig erhalten:
skt. uig.
vyäyameta sarvatra näy katiglan-{l)guluk ärmäz
al[kuda -I- -I- -t- -I- -H] iSlärtä ter
^ jnätapuruso"^ bhavet näy bilsikmiS k( i) Si yalyuk bolguluk
ärmäz
rtänyära ni(h)srtya jive[ta]^^ [näy] admlarka tayanip öz yigitgü-
lük ärmäz
*ä tma dvi'^pi Iqu! ol ter
dharmena na vanik caret nom üzä näy satig yulug kilguluk
ärmäz
a) .-"m" Ms h) ji\-ji" Ms c) dvi:dei TT VIII
»Nicht soll man sich bei allerlei abmühen, d.h. bei [. . .] Taten. Nicht
soll man ein berühmter Mensch werden (wollen). Nicht soll man auf
andere sich stützend sich nähren, d.h. man soll .... Mit der Lehre soll
öian keine Geschäfte machen."
II
Die Cmx liegt in dem erklärenden Zusatz des Uig. zu Päda c. A. von
GSabain hat zweifelnd pi-lqu, i.e. phonetisch [bilgu], als fehlerhafte
Schreibung für bilgü „zu erkeimen" ausgegeben. Die vorangehende
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Silbenfolge ä-tma-dci (sie!) blieb unerklärt. Tatsächlich läßt sich hierfür
— auch nach korrigierter Lesung — keine plausible Interpretation
finden.
III
Zieht man jedoch die Akgaras ä-tma-dvi-pi zusammen, ergibt sich
alsbald die Herleitung aus skt. ätmadvvpa, so mehrfach belegt in MPS
14.22-26, womit päli attadipa- „having oneself for refuge, relying on
oneself (vgl. CPD 1,98 mit Kommentatorenauszügen) direkt ver¬
gleichbar ist. Dies paßt trefflich in eine Erläuterung von „nicht auf
andere sich stützend, unabhängig von anderen".
Allerdings ist damit die Stelle noch nicht völlig geheilt, da das nun
folgende Iqu ol unverständlich bleibt. Es steckt unzweifelhaft ein Nezes-
sitätsausdnick x-gu ol „man muß x-en" dahinter. Die naheliegende
Trennung in atmadvip ilgu ol (mit ilgu von il- „herabsteigen", vgl.
Clauson 125 a) ist zwar wegen "dvip aus skt. "dvipa- in jambudvip
formal denkbar, aber aus syntaktischen und semantischen Gründen
abzulehnen. Die Annahme einer handschriftlichen Korruptel ist daher
unumgänglich. Diese jedoch kann durch einen geringfügigen Eingriff
beseitigt werden: atmadvipi (bo^lgu ol ter „d.h. man soll autark sein".
Der Fehler ist durch Haplologie der beiden p-haltigen Akgaras [pi, po)
entstanden.
rv
Der Gedanke, daß das „Selbst" eine „Insel" oder „Zufluchtsstätte"
werden kann und soll, scheint auch in Udänavarga XVI 3 b kurudhvarn
dvipam ätmanah und ähnlichen Formulierungen vorgelegen zu haben.
Dazu ist nur zu fordern, daß ätmanah — zumindest ursprünglich — als
Genetivus explicativus zu verstehen war: „schafft euch die Insel
'Selbst'". Die gängige spätere Umdeutung in einen Gen. pro Dativo
dürfte im Zusammenhang mit der Anätma-Lehre stehen.
Literatur und Abkürzungen
Clauson Gerard Clauson: An etymological dictionary of pre-thirteenth-
century Turkish. Oxford 1972.
CPD A critieal Päli dictionary, begun by V. Trenckner. 1 ff. Kopen¬
hagen 1924fr.
MPS Ernst Waldschmidt: Das Mahäparinirvänasütra. Text in Sans¬
krit und Tibetisch, verglichen mit dem Päli nebst einer Ubersetzung
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der chinesischen Entsprechung im Vinaya der Mülasarvästivädins auf Grund von Turfan-Hanxlschriften hrsg. und bearb. Teil 2-3. Berlin 1951. (Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaf¬
ten [ADAW]. Kl. f Spr., Lit. u. Kunst. 1950, 2-3.)
Ms Lesung des Manuskripts.
TT VIII Annemarie von Gabain: Türicische Turfantexte VIII: Texte in
Brähmischrift. Berlin 1954. (ADAW. Kl. f. Spr., Lit. u. Kunst.
1952, 7.)
Udänavarga Franz Bernhard: Udänavarga I-II. Göttingen 1965-1968.
(Sanskrittexte aus den Turfanfunden. 10.) (Abhandlungen der
Akademie der Wissenschaften in Göttingen. F. 3, Nr. 54.)
Sasthi — Kult und Legende einer indischen Volksgöttin'
Von Dieter B. Kapp, Heidelberg
1. Einleitung
Ein kennzeichnender Zug des indischen Menschen war und ist das
Festhalten an Ererbtem, das unbeirrbare Bewahren von Überkom¬
menem, ein weiterer seine Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem und
auch seine Bereitschaft, Neues aufzunehmen. Diese Wesenszüge
erklären auch zum einen die Mannigfaltigkeit, zum anderen die unge¬
hinderte Koexistenz religiöser Anschauungen, die in den verschie¬
densten Zeitepochen, ja zum Teil sogar in vorgeschichtlicher Zeit
wurzeln.
So ist es nicht verwunderlich, wenn Anhänger der hinduistischen
Religion sich auch heute immer noch zu Kultformen bekennen, die fest
im Volksglauben verhaftet sind, mithin ursprünglich im Umkreis des
Hinduismus angesiedelt waren. Doch brachte stets die Popularität,
derer sich solche Volkskulte erfreuten, es unweigerlich mit sich, daß die
Repräsentanten der hinduistischen Religion, die brahmanischen Prie¬
stergelehrten, sich zu irgendeiner Zeit näher mit ihnen befassen
mußten, was schließlich auch dazu führte, daß zahlreiche derartiger
Volkskulte nach und nach durch schriftliche Niederlegung in den Sans¬
krit-Texten in das Gebäude der hinduistischen Religion aufgenommen
wurden und somit durch die brahmaiüsche Oberschicht eine Sanktio¬
nierung erfuhren.
Wenn Volksglaube und Volkskulte in Indien auch heute noch so
lebendig sind, so hat das vor allem darin seinen Grund, daß der überwie¬
gende Teil der Bevölkerung ländlich ist. Annähemd 80 Prozent der
etwa 680 Millionen Inder leben in ca. 590000 Dörfem, wovon 380000
von weniger als 500 Menschen bewohnt sind'.
Die Wirkung, die von den mannigfachen heute in Indien blühenden
Volkskulten gerade auf die ländlichen Bevölkemngsgmppen der
* Öffentliche Antrittsvorlesung, gehalten am 8. 7. 1981 an der Universität Heidelberg, flir den Druck geringfiigig umgearbeitet und erweitert.
' Presler 1971, p. 195.