Milieus,
und Nationalsozialismus
Wolfram Pyta
Ländlich-evangelisches Milieu
und Nationalsozialismus bis 1933
/.
Das
evangelische
Landwardiejenige Sozialformation,
welche derNSDAP seit 1930weitüberdurchschnittliche
Wahlerfolge
bescherte1.Indenprotestantischen
DörfernkonntedieHitler-Partei aufeinenfesten Wählerstamm
bauen,
dersie indieLage
versetzte,demkon-junkturellen
Auf undAb inderWählergunst gelassener gegenüberzutreten
alsvieleihrerpo-litischen Konkurrenten.Als
Landbevölkerung
wird imfolgenden
die Einwohnerschaftsol- cherOrtebezeichnet,
dieweniger
alszweitausend Insassenzählten.EinesolcheLandgemein-
de solldann dasKriterium
„protestantisch" verdienen,
wennmindestens70 %ihrerMitglie-
dereiner der
evangelischen
Landeskirchenangehörten.
EinesolcheUnterteilung
nachkon-fessionellenKriterien
gebietet
dergarnicht hochgenugzuveranschlagende Umstand,
daßinderWeimarer
Republik
die konfessionelleZugehörigkeit
als derwichtigste
wahlbeeinflus- sende Faktor einzustufen ist2. So wiesen trotzweitgehend
identischer Sozialstruktur ge- schlossen katholischeDörfereinvonihrenevangelischen
NachbardörfernimRegelfall
kraßabweichendesWahlverhalten auf.Dennhierdominierte
gewohnheitsmäßig
die Zentrums-partei,
während aufdemevangelischen
Landseit 1930/31 dieNSDAPdenTonangab.
Im
Jahre
1925lebte nochjeder
dritteDeutsche auf demLande,
wobeischätzungsweise
zweiDritteldieserLandleute
evangelisch getauft
gewesenseindürften3.Insgesamt
warda-mitvermutlichmehrals ein Fünftel der
Gesamtbevölkerung
zumevangelischen
Landvolkzu rechnen. Natürlich reichte dieses Elektorat allein nichtaus, damitdie NSDAP anden Wahlurnen zur bei weitem stärksten deutschen Partei aufrücken konnte. Der Schlüssel für diesen
Wählerzuspruch lag
zweifellosdarin,
daß die NSDAP anders als ihrepoliti-
schen Mitbewerber
gezielt
und mitgroßem propagandistischen
AufwandumWählerausallen sozialen Schichten
ungeachtet
deren konfessionellerZugehörigkeit
warb und diese auch innennenswertemUmfang
ansichzubinden vermochte4.1Dazudie
grundlegende Untersuchung
vonJürgenWFalter,HitlersWähler,München1991,voral-lemS. 163-167u.S.255.
2
Vgl.
ebd.,insbes.S.177ff.,S.184ff.u.S.278.3Nach der
Volkszählung
desJahres 1925lebtenvonden 62,4 Millionen Bewohnern des Deutschen ReichesinLandgemeinden
mitwenigerals2000Einwohnern22,2Millionen(=35,6%);siehedazudie
Angaben
beiJürgenFalter, ThomasLindenberger, Siegfried
Schumann,Wahlen und Abstim- mungen inderWeimarerRepublik,
München1986,S.35. Eine exaktekonfessionelleAufschlüsse-lung
derLandbevölkerung
istnichtmöglich,
da die Reichsstatistikentsprechende Angaben
nichtausweist. Man
geht jedoch
nicht fehlinderVermutung,daßdieKonfessionsverteilung
aufReichs-ebene
-
64%
evangelisch,
32 % katholisch-
ungefähr
auch das konfessionelle Verhältnis innerhalb derLandbevölkerung widerspiegelte.
Damitdürften vermutlichgegen60 %aller Landbewohner ei-nerder
evangelischen
Landeskirchenangehört
haben.4Hierzu Eberhard Kolb, Die Weimarer
Republik,
3.Aufl. München 1993,S.226;HeinrichAugust Winkler,Weimar1918-1933, München1993,S.389f.Die
Bedeutung
ihrerländlich-evangelischen
Stammwählerschafterschöpfte
sich abernicht
darin,
daß dasprotestantische
Dorf einen erheblichen Anteil am NS-Gesamtstim- menaufkommen-
etwa30 %
-
beisteuerte.Es bildete obendrein das
politische Rückgrat
der
Hitler-Partei,
auf das diese Partei auch nachWahlrückschlägen
wie anläßlich derReichstagswahl
vom November1932 bauen konnte. Nurweil dieNSDAPaufdemevan-gelischen
Land so überdurchschnittlicheWahlerfolge davontrug,
konnte sie ihr unüber- sehbares Defizit bei derErfassung gewerkschaftlich organisierter
Industriearbeiter und kirchentreuer Katholikenkompensieren.
Hinzu
kam,
daß dieEroberung gerade
des ländlichen Ostelbienseinenüberproportio-
nalen Nutzenbeim
Ringen
um diepolitische
Macht inBerlin abwarf. DennReichspräsi-
dent
Hindenburg
besaßstetsein offenes Ohr für die Partikularinteressen der ostelbischen Grundbesitzer. DieserUmstand verschaffte denAgrarverbänden
Ostelbiens ein erhebli-ches
politisches
Gewicht und wirkte sich insofernpositiv
für die Hitler-Partei aus, als der Reichslandbund seit 1932 immer stärker daspolitische
Einvernehmen mit der NSDAP suchte. Das bei denReichstagswahlen
in Ostelbienangesammelte Kapital
anWählerstimmen warf damit für die Hitler-Partei
gleich doppelte
Rendite ab: zum einensetztesiesich
gestützt
auf dieses WählervotumindenFührungsgremien
der meistenLand-bundorganisationen
fest-und dieser
organisatorische
Rückhalt zahlte sichzum anderengesamtpolitisch
vorallem bei derEinfädelung
derErnennung
Hitlerszum Reichskanzleram
30.Januar
1933 aus5.Gewiß wog die Stimme eines
ostpreußischen
Bauern fürdie NSDAP beim Zustande- kommen derWahlergebnisse quantitativ
nicht mehralsdas Votum einesLeipziger
Indu-striearbeiters für die SPD oder eines Kölner Handwerkers fürdie
Zentrumspartei.
Aberin
qualitativer
Hinsichtwar unterdenBedingungen
eines immer weiterfortschreitendenPräsidialregimes
vonungleich größerem Gewicht,
welchepolitische
Formation denAn-spruch geltend
machenkonnte,
die ostelbischeLandbevölkerung repräsentieren
zu kön-nen.
Welche Parteials
Sprachrohr
desprotestantischen
Landvolksauftretenkonnte,
mußso-mitalseinPolitikumersten
Ranges eingestuft
werden.Vondahergewinnt
dieFrage
nachden Ursachen der nationalsozialistischen
Verwurzelung
imevangelischen
Dorf ihre Be-rechtigung.
Warum vermochte sichausgerechnet
die NSDAP alsprotestantische Agrar- partei
zuprofilieren,
wodoch dieUrsprünge
dieserBewegung
inden Städten des überwie-gend
katholischenBayern lagen
undsie zudemmit der in bäuerlichen Kreisen eher ab- schreckendenBezeichnung
einer„National-Sozialistischen Arbeiterpartei"
aufwartete?EinBlick auf die Karteder
NS-Hochburgen genügt,
um zudem Befundzugelangen,
daßmit
regionalen Spezifika
allein der reichsweite Durchbruch der Hitler-Partei auf demevangelischen
Dorf nichtadäquat
zuerklärenist. DenndieNSDAP erwiessich fast über- all imevangelisch-ländlichen
Deutschland alsWählermagnet.
Ob inOstpreußen
oderHolstein,
ob in Mittelfranken oder in Oberhessen-
in nahezu sämtlichen
evangelischen Landgebieten
vermochte derNSDAPspätestens
seit 1932 keine anderepolitische Grup- pierung
denSpitzenrang
in derWählergunst
abzulaufen6. Zwarlegten
die rein bäuerlich strukturiertenAgrarregionen
eine besondereHinneigung
zur Hitler-Partei an denTag.
So verzeichnete die NSDAP bei der
Reichstagswahl
vom 31.Juli
1932 in den überwie-5ZurRolle derostelbischen
Großgrundbesitzer
bei derVorbereitung
derReichskanzlerschaft Hitlers nachdrücklichWinkler,Weimar,S.607.6
Vgl.
dieentsprechenden Angaben
beiFalter,HitlersWähler,S.163-185.Ländlich-evangelisches
gend
bäuerlichenundnahezureinevangelischen
KreisenMittelfrankens ihreSpitzenwer-
te7. Aber auch das
gutswirtschaftlich geprägte
Land war ein fruchtbares soziales Terrain für den Nationalsozialismus: in weiten TeilenOstpreußens, Pommerns, Brandenburgs
und Schlesiens fuhr dieHitler-Partei bei
Wahltagen
ebenfalls reiche Ernteheim.DieNSDAPerzieltemithinsoflächendeckende
Wahlerfolge
in derevangelischen
Land-bevölkerung,
daß bei derUrsachenforschung
der Verweis aufregionale Eigenheiten
nichtzu
überzeugen
vermag. Dabei istnatürlichunbestritten,
daß solche Besonderheitendenallgemeinen
TrendhinzumNationalsozialismus abschwächen oder noch verstärken konn-ten.
Es bietetsich daheran, auf andere
Erklärungsmuster zurückzugreifen,
wobei vorallenDingen
der sogenannte„Milieuansatz"
einen besondersreichhaltigen
heuristischen Er- tragverspricht.
Demnach läßt sichinrelativhomogenen gesellschaftlichen
Ensemblenpo-litisches
Verhalten,
insbesondere dieStimmabgabe
beiWahlen,
deuten als Ausdruck der tiefenVerwurzelung
der Wählerschaftin ihrer soziokulturellenUmgebung.
DerWahlaktist demnach in erster Linie die Manifestation einer engen
Bindung
an einebestimmte,
„Milieu"
genannteLebensweise. VerwendetmaninAnlehnung
anLepsius8
einen weit ge- faßtenMilieubegriff,
der dieBeengtheit
eines sozio-ökonomischenKlassenbegriffs
ver-meidet und
genügend
Raumbietet,
umdie kulturell-lebensweltlicheDimensionmenschli- cherExistenzeinzufangen,
dann erweistsich der Milieuansatz alsergiebig,
um weitrei-chenden
Erkenntnisgewinn
auch bei derUntersuchung
desWahlverhaltensindenevange- lischenLandgebieten
abzuwerfen.„Milieu"
istalso nichtgleichzusetzen
mit derBezeichnung
einer bestimmtenSozialfor-mation,
die sichlediglich
aus derVerfügungsgewalt
über die Produktionsmittel ableitet.Derhier verwendete
Milieubegriff greift
über dasreinÖkonomische
weithinaus. Ergeht
davonaus,daß die
Zuweisung
zueinembestimmtenSozialgebilde
nacheinemdasÖkono-
mische
übersteigenden
Kriterium zuerfolgen
hat: ob derenAngehörige
einespezifische
Lebensweise
teilen,
ob sie sich durch eine relativgleichförmige Lebensführung
auszeich-nen,obsiesichüberdas
Ökonomische
hinaus durchgemeinsame Wertvorstellungen
undsoziale Verhaltensweisen verbunden fühlen.
„Milieu"
steht damitfürdieUmschreibung
ei-ner
homogenen Lebenswelt,
die bei ihrenInsassendieAusbildung
einerspezifischen
Kol-lektivmoral
begünstigt
und sie auf dieseWeise zu einercharakteristischenGleichförmig-
keitder
alltäglichen Lebensgestaltung
erzieht9. InintaktenMilieus bleibteineindividuelleAbweichung
vomgeltenden
Verhaltenskanon natürlichmöglich,
sie wirdallerdings
durchden herrschenden Konformitätsdruck erschwert.
„Milieus"
bilden damit festeSozialge-
häusemit einem
engmaschigen
NetzsozialerRegulierungsmechanismen,
die tief indas All-tagsleben
der Menscheneingreifen
und derenLebensablauf inhohem Maße strukturieren.7
Rothenburg
(Tauber) 83% derabgegebenen
Stimmen;Uffenheim 81%; Neustadt (Aisch) 79%;Ansbach76%;alle
Angaben
nachFalteru.a.,Wahlen undAbstimmungen,
S.133.8
Vgl.
dessenbahnbrechenden Aufsatz:ParteiensystemundSozialstruktur.ZumProblem der Demo-kratisierung
der deutschen Gesellschaft (zuerst 1966), in: M.Rainer Lepsius, Demokratie inDeutschland.
Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte
Aufsätze,Göttingen
1993,S.25-50,hierS.38.
9
Grundlegend
zurErgiebigkeit
des Milieuansatzesfür die Wahl- undParteiengeschichte
istdieStu-dievon Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, Frankfurt/M. 1992, insbes.
S.9f.u.S.13-21.Als
gelungenes Beispiel
für dieAnwendung
desMilieukonzeptes
in einerhistori-schen Fallstudie sieheCorneliaRauh-Kühne, Katholisches Milieu und
Kleinstadtgesellschaft.
Ett-lingen
1918-1939,Sigmaringen1991,vorallemS.16f.Fürdie
verhaltensreglementierenden
Effekteeiner fest verankertenMilieubindung
bietetvor allem das
evangelische
Dorf der 20er und 30erJahre
reichesAnschauungsmateri-
al10. Dennin den ländlichen Ortschaften
-
fernabvom lebhaftenTreiben der Großstädte und
verkehrsmäßig
nur unzureichend an dieandersartige
Lebenswelt der Städte ange- schlossen-
hatte sich eine Form sozialen Zusammenlebens
erhalten,
diemitbemerkens-werter
Zähigkeit
den inden Städten faßbarenTendenzen zugesellschaftlicher
Pluralisie- rung undIndividualisierung
zu trotzen suchte: dieDorfgemeinschaft.
Das Dorf dieser Zeit kann als einsozial weithinabgeriegelter
Lebensraumgelten,
in dem die Milieuver-haftetheit intensiv
ausgeprägt
war und auch inpoliticis nachhaltig durchschlug.
Dennim Geflecht innerdörflicher
Sozialbeziehungen gedieh
eine kollektive Lebensweise imRegelfall
besonders gut. Dafürsorgte zum einen der eng umgrenzte Schicksalsraum des dörflichenSiedlungsverbandes.
Die Dorfbewohner standen in solchen überschaubaren Wohneinheiten ineinemtagtäglichem
Sozialkontaktmiteinander,
dessenDichte nicht sel-ten das Ausmaß wachsamerSozialkontrolle erreichte und die
Schaffung
vonRückzugs-
zonen
bürgerlich
anmutender Privatheit erschwerte. Eine funktionierendeDorfgemein-
schaft schützte gegensoziale
Vereinzelung
undVereinsamung;
abersie schnürte dabei in allerRegel
die Freiheit zu individuellen Lebensentwürfen drastisch ein. Gemeinschaftli- cheImpulse gingen
zum anderen auch von dem innerdörflichen Wirtschaftsverbundaus,welcher invielen Fällen die
Angehörigen
sämtlicherBerufsgruppen
umspannte. Un-geachtet
ihresHauptberufes
warendoch vielfach die meisten Dorfbewohner auf die eine oder andere Weiseaufs engste mitderBewirtschaftung
vonGrund und Boden befaßt. Sobetätigten
sich Handwerker und IndustriearbeiterimNebenerwerb als Landwirte:siebe- stellten ihreigenes
Stück Land oderverdingten
sich als Aushilfskräfte bei den Voller- werbsbauern. Diese Existenz einerdorfumgreifenden Produktionsgemeinschaft begün- stigte
dieAusprägung
eines dörflichenWertekanons,
der in seinem Kernumeinpronon- ciertesArbeitsethoskreiste.Bei der
Zuteilung
sozialen Ansehens stand daher dieArbeitsleistung jedes
einzelnenanvorderster Stelle. Besitzzählte nurin
Verbindung
mit einementsprechenden,
nach außengekehrten
und damitjederzeit überprüfbaren
Arbeitseinsatz.Werausdieser dörflichenSo- zialmoralausscherte,
dersetztesich nichtselten dersozialenÄchtung
aus,riskierte dieso- zialeIsolierung.
PerSaldo hatte das Dorfder20erund30erJahre
trotzallerAuflösungs- erscheinungen
eine kollektive Lebensweisekonserviert,
dieseine Bewohnerganzheitlich gefangennahm
und mitvorgefertigten
sozialenDeutungsmustern
auszustaffieren suchte.Indiesergegenäußere Einflüsse
weitgehend abgeschotteten
Lebenswelt konntensich die herrschenden Milieueinflüsse ohnelästige
Einfälle konkurrierender Lebensstile auch inpolitischer
Hinsicht relativstörungsfrei
entfalten.So waralso dersozialeBoden beschaf-fen,
dem eine bemerkenswertepolitische Gleichförmigkeit erwuchs,
ausder ab 1930 dieNSDAPden
Hauptnutzen
zog.10Die
Verzahnung
zwischendörflich-protestantischem
Sozialmilieu und Politik hat der Verfasser in seinerHabilitationsschrift nachzuzeichnen versucht:Dorfgemeinschaft
undParteipolitik
1918-1933.Die
Verschränkung
vonMilieuundParteien indenprotestantischen Landgebieten
Deutsch-landsin derWeimarer
Republik,
Düsseldorf 1995. DieAusführungen
dieses Aufsatzes zu dörf- lichem Sozialmilieu und ländlichem„policy-making"
stützen sich aufbesagte
Habilitations- schrift,weswegen andieser Stelle aufgesonderte
Einzelnachweiseweitgehend
verzichtet werden soll.Ländlich-evangelisches
Mithin muß
jeder Erklärungsversuch
für denAufstieg
desNationalsozialismus auf dem Landezu kurzgreifen,
dervon diesenMilieubedingungen
absieht. Die Zahl öffentlicher Auftritte derHitler-Partei,
dieMasseundQualität
dervonihrin den Dörfern verteiltenFlugblätter geben
dazuwenig
her.WerUrsachenforschung
alleinausderPerspektive
pro-pagandistisch ausgerichteter Wahlkämpfe betreibt, geht
ander soziokulturellenVerwurze-lung
derNS-Wahlerfolge
vorbei. Keine Partei-
und auchnicht dieNSDAP
-
konnte sich auf dem
protestantischen
Lande dauerhaftfestsetzen,
die sich nicht alsMilieupartei
zuprofilieren
vermocht hätte:als einePartei,
derenVotum alsBejahung
der dörflichen Le- bensweiseaufgefaßt wurde,
alspolitisch gefaßtes
Bekenntnis zugunsten des dörflichenNormensystems.
Die„große
Politik" waraufdem Lande eben kein von derSphäre
desalltäglichen
Sozialverkehrsabgenabelter Prozeß,
sieführtekeinvonderdortigen
Lebens-welt
abgelöstes Eigenleben.
Dieswirft die
Kardinalfrage auf,
warum esausgerechnet
derNSDAPvorbehaltenblieb,
sich in den
evangelisch-ländlichen
Lebensraum alsMilieupartei
soeinzunisten,
daß sich ihreWahlerfolge
zu einem GutteilausdenStimmendesprotestantischen
Landvolksspei-
sten. Wenden wiruns dazu zunächstder
politischen
Beschaffenheit des dörflichenSozial- milieus zu, d.h. derNahtstelle,
anwelcher sich dieUmsetzung
derMilieuverwurzelung
in eine
milieugerechte
Politikabspielte.
Wirhaben unsere Aufmerksamkeit also auf die dörflicheSpielart
des Politischenzu richten: Aufwelche Weise fand PolitikEingang
inden dörflichen Sozialverkehr? Gab es eine bestimmte
Zugangsweise
der Landbewohnerzur
Politik,
einspezifisches Einstellungsmuster
zum Bereich desPolitischen,
wie es inderPolitikwissenschaftals
„political
culture" definiert wird11?Diemeisten Dorfbewohner
gingen
zurSphäre
des Politischen auf innereDistanz,
weil diefürsorgliche,
in sichgekehrte Dorfgemeinschaft geistige Selbstgenügsamkeit
undSelbstabschließung hervorbrachte,
die für dieübergreifenden Anliegen
desstaatlichenGe-meinwesens,
mithin fürdiegroße Politik,
in erster Liniegelangweilte
Indifferenzübrig
hatten. Im sozial autarken Mikrokosmos des Dorfes dominierte eine
ausgesprochene Kirchtumsperspektive,
wie siegering
ausdifferenziertenSozialgebilden
üblicherweise an-haftet. Die
„political
culture" auf dem Lande wies somit einen starkparochialen Über- hang auf12,
waserheblicheAuswirkungen
auf diepolitische Willensbildung
nachsichzog.Weil
Politik,
insofernsiedenreinheimatbezogenen
Rahmensprengte, alsein Fremd-körper
imdörflichenLebenskreiserschien,
wurdesieandiewenigen
Dorfinsassen„dele- giert",
welche manaufgrund
ihres Berufs und ihrerAusbildung
am besten für den Um- gang mit solchen außerdörflichen Mächten gewappnet hielt. Politik aufdem Landewarmithinweder eine
Herzensangelegenheit partizipationshungriger Einheimischer,
noch fielsie indie
Zuständigkeit
dorffremderBerufspolitiker.
Derpolitische
Prozeß auf demDor- fe verlief vielmehrentlang
denbestehenden Autoritätsstrukturen des dörflichenSozialge-
11Zum
Begriff
der„political
culture"vgl.
dieBegriffsbestimmung
indermittlerweile zumKlassikergewordenen
Studievon: Gabriel Almondu.Sidney
Verba,The Civic Culture.Political Attitudes andDemocracy in Five Nations, Princeton/N.J. 1963, in erster Linie S.14-21; siehe auchDirkBerg-Schlosser,
Politische Kultur,München 1972,vorallem S. 49-53,sowie WolfMichaelIwand,Paradigma
PolitischeKultur,Diss.phil.
Aachen1983,insbes.S.51-84. Der Ansatzder PolitischenKulturforschung
istbislang
vonden sichmitderWeimarerRepublik beschäftigenden
Historikern kaumaufgegriffen
worden;alsAusnahme siehe dieergiebige
StudievonEikeHennigu.ManfredKieserling,
Zwischen Fabrik und Hof-
zwischen
Republik
und Dorf. ZurWahlentwicklung
undpolitischen
Kultur des Landkreises KasselinderWeimarerRepublik,
Kassel1990.12Soauch derBefundvonHennigu.
Kieserling,
Zwischen Fabrik undHof,S.73-78.füges13:
den sozialenFührungskräften
fiel dieAufgabe
zu,die„große
Politik"gewisserma-
ßen für den
Dorfgebrauch
zu übersetzen. DieseUmsetzung
sozialenAnsehens inpoliti-
sche
Meinungsführerschaft unterstreicht,
wiesehrdas deutsche Dorf der20erund frühen 30erJahre
noch einvormoderner, vorgesellschaftlicher Sozialkörper
war.Damitausdemländlichen Sozialmilieu ein bestimmtes
politisches
Verhalten erwachsenkonnte,
mußte alsoeineZwischenstationeingeschaltet
werden: die Dorfautoritäten bilde-ten das
Bindeglied
zwischen Milieu undPolitik,
sie entschlüsselten diepolitischen
Bot-schaften und
speisten
sie in den dörflichenLebensalltag
ein. Diese Erkenntnis bahntunsden
Weg,
umdemErfolgsrezept,
wie einepolitische
Partei das ländliche Sozialmilieuzuokkupieren vermochte,
auf dieSpur
zukommen.Der
Erfolg
vonParteienhing
demnachganzentscheidenddavonab,
in welchem Ausmaßesihnen
glückte, möglichst
vielesolcherMentorenauf ihreSeite zuziehenund derenso-ziales Ansehen in
politische Fürsprache
umzumünzen.Dementsprechend
kann derDurchbruch derNSDAPauf dem Landenurmit
Unterstützung
einerVielzahl der loka- lenDorfgrößen
-
keineswegs
gegenderengeschlossene Ablehnungsfront
-erfolgt
sein.Zu diesen
tonangebenden
Autoritäten zählten in erster Linie Gutsbesitzer(in
denhauptsächlich
in Ostelbien anzutreffendenGutsdörfern), Großbauern, Dorfpfarrer
undLandlehrer. Zu
fragen
istalso nach denpolitischen Dispositionen
dieser dörflichen Füh-rungsschicht:
Ließ siepolitische Neigungen erkennen,
welche siebesondersempfänglich
fürdie BotschaftderHitler-Partei machten?
Auf den ersten Blick fällt es
schwer,
diepolitischen Vorstellungen
von Bauern undGutsherren,
Lehrern und Geistlichen aufeinengemeinsamen
Nennerzubringen.
Wurdedas Binnenverhältnis dieser
ungleichen
Paare nicht durchRivalität und Konkurrenzneidgetrübt?
Hattesichnichtvoralleminderspannungsgeladenen Beziehung
zwischenDorf-lehrer und
Landpfarrer
soviel sozialer Zünstoffangehäuft,
daßpolitische
Parteien immernureinender beiden
Widerparte
für sichzugewinnen vermochten,
niemalsaberbeidezu-sammen?
Auch innerhalb der deutschen Landwirtschaftwar eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Interessen
versammelt,
die einemgeschlossenen
berufsständischen Auftreten imWege
standen. Nicht nur die
Betriebsgröße
trennte den bäuerlichen Kleinstbetrieb von unter 5Hektarvommehr als100HektarzählendenRittergut14;
auchdieverschiedenartige
wirt-schaftliche
Ausrichtung
der landwirtschaftlichenBetriebe sorgte für innereSpannungen
indernuräußerlich
einig
erscheinenden „GrünenFront".Sowaretwaeinnordwestdeutscher Schweinezüchterim
Regelfall
daraufbedacht,
seineFuttermittelzu
möglichst günstigen
Preisenzuerstehen,
weswegenereinausgeprägtes
Ei-geninteresse
amungehinderten Import billiger
ausländischerFuttermittel besaß. Einpom- merscherBauerhingegen,
aufdessenkargen
Böden nurRoggen
und Kartoffelngediehen,
13Karl Rohe hat dafür dieprägnante
Bezeichnung
geprägt, „daßPolitik mehr oder minder als eineAusbuchtung
des normalen zivilen Verkehrsbegriffen"
wird:KarlRohe,ZurTypologie politischer
Kulturen in westlichen Demokratien, in: Heinz
Dollinger,
Horst Gründer, Alwin Hanschmidt (Hg.),Weltpolitik
-
Europagedanke
-
Regionalismus,
Münster1982,S.581-596,Zitat S.588.14Zur
regionalen Differenzierung
derAgrarstruktur vgl.
dieinformative StudievonHeinrichBecker,Handlungsspielräume
derAgrarpolitik
inderWeimarerRepublik
zwischen 1923und 1929,Stutt-gart 1990,vorallemS.53-61.
stand der Einfuhr solcher
Erzeugnisse
ablehnendgegenüber,
weilerdavon einepreissen-
kende
Auswirkung
auf dieeigenen
Produkte befürchtete.Weiterhin hatte die zumTeil bis 1923 andauernde
Zwangswirtschaft
fürZerealien,
eineFolge
derKriegswirtschaft
im ErstenWeltkrieg,
zum Teil tiefe Gräben zwischen Klein- und Großbesitzaufgerissen.
VieleBauernhielten denGutsherrenvor,daßdieseeswegen ihrereingespielten Verbindungen
zurVerwaltung
verstandenhätten,
sichvorderBewirt-schaftung
ihrerErzeugnisse weitgehend
zudrücken,
während die staatlichenRequirie- rungskommandos
dennicht-protegierten
Kleinbauern den letzten Sack Getreideaus demSpeicher geholt
hätten15.Vorallen
Dingen
aber behindertenmentaleBarrierendieHerausbildung
vonlandwirt-schaftlichem Standesbewußtsein. Die
geistige Verschanzung
der meisten Bauern imSchutzraum des Heimatdorfes war der
Sensibilisierung
fürdas Schicksal ihrerauswärti- genBerufsgenossen
alles andere alszuträglich.
Warum sollte sich ein Weidemäster aus Dithmarschen demWohlergehen
eines märkischenRoggenbauern verpflichtet fühlen,
wennsich sein
Solidaritätsempfinden
in seinem engstenLebenskreis-
der
eigenen
Fami-lie,
der Nachbarschaft und derDorfgemeinschaft
-erschöpfte
und selbst das Dorf im Nachbarkreis fürihn bereits strukturelle Fremdheitausstrahlte?Erstunter dem Einfluß derseit 1928/29 immer massiver
durchschlagenden Agrarkrise begannen
die innerenGegensätze
in der deutschen Landwirtschaft allmählich zu ver-schwimmen,
kristallisierte sich einechtes berufsständisches Bewußtsein heraus. Die mei-sten Landwirte hatteneine beträchtliche
gedankliche Wegstrecke zurückzulegen,
ehe siesich zuder Ansicht
durchrangen,
daß daseigene
Wohl untrennbarmitdem Schicksaldes gesamtenBerufsstandes verbundensei. Esbedurfteerstdernachhaltigen Erfahrung
derei-genen
Existenzgefährdung,
um dieeigenbrötlerischen
Landwirte aller Größenklassen in einerständischenFrontzusammenzuführen. AufeinenSchuldigen
fürihre Miserehatten siesichdabei schnellgeeinigt:
derStaatimallgemeinen
mit seinen übertriebenenSteuer-forderungen
und die verhaßte WeimarerRepublik
im besonderen hätten die deutsche Landwirtschaft in denRuingetrieben.
Dabei übersahen die meistenderprotestierenden
Landwirte
geflissentlich,
daß nicht zuletzt ihre in denJahren
1923 und 1924 zumeistleichtfertig eingegangene Verschuldung
denHauptanteil
anihrerprekären
Wirtschaftsla- getrug.DochsiesuchtendieVerantwortung
nicht bei sichselbst,
sondern beimStaat. Improtestantischen
Norden und Ostendes Reiches schlössen sich seit 1928 Hunderttausen- devonBauern zusogenannten„Notgemeinschaften" zusammen16,
die ihre frischerwor- bene berufsständischeSchlagkraft
dadurchdemonstrierten,
daß sie dengemeinschaftli-
chen
Steuerboykott propagierten
und gegen Abweichler aus deneigenen
Reihen scho-nungslos
mitdem Mittel desSozialboykotts vorgingen.
Die Wucht und Militanz dieser
Aktionen,
derdarin zum Ausdruck kommende Gradan
Staatsverachtung
undNötigung
waren ein nicht zu übersehenderFingerzeig dafür,
daß sich die
parochiale Fixierung
vielerBauernlangsam
aufzulockernbegann.
DieAgrar-
15Beispieledafür beiJürgenKocka,
Klassengesellschaft
imKrieg. DeutscheSozialgeschichte
1914-1918,2.Aufl.Göttingen1978,S.98f.
16GründlichsterÜberblicküber diese bäuerliche Protestwelle beiJürgen Bergmannu.Klaus
Megerle,
Protestund Aufruhr der LandwirtschaftinderWeimarer
Republik
(1924-1933). FormenundTy-
pender
politischen Agrarbewegung
imregionalen Vergleich,
in:Jürgen Bergmannu.a., Regionenim historischen
Vergleich.
Studien zu Deutschland im 19. und 20.Jahrhundert,Opladen
1989,S.200-287,inersterLinie S.221-228;siehe auch das StandardwerkvonDieterGessner,Agrarver-
bändeinderWeimarer
Republik,
Düsseldorf1976,S.96-128.krisesetzte bei ihnen einen
Politisierungsschub frei,
derjedoch
nicht instaatsbürgerlich gezähmten
Bahnenverlief,
sondern sich vielmehrinunkontrollierten Attacken gegendieStaatsgewalt entlud,
weil die meisten Bauern von der Stufestaatsbürgerlichen
Bewußt-seins wegen ihrer
quasi
autarkenLebensführung
noch weit entfernt waren. Diese de-struktive
Mobilisierung
wargleichzeitig
ein ersterSchritt auf demWege
ihrerBefreiung
von der
politischen
Vormundschaft desGroßgrundbesitzes,
unter welcher die Bauern-schaft Ostelbiens traditionell
gestanden
hatte. Doch die soziale Hierarchie in den Guts- dörferngeriet
durch diese Aktionen noch nichtinsWanken;
der Gutsherr alsungekrön-
ter
Dorfkönig
wurdevonpolitisierten
BauernnichtvomThronegestürzt.
Denndas Auf-begehren
der Bauern richtete sich in erster Linie gegen die sogenannten landfremdenMächte,
diemaninseltenerEinmütigkeit
für diezuweitenTeilen selbstverschuldete Kri- sisderVerantwortung
zieh: den internationalenKapitalismus
und die als landwirtschafts- feindlich tituliertenpolitischen Bewegungen
imInnern,
vorallem dieLinksparteien.
Das damit verbundene Aufflammen ständischen
Zusammengehörigkeitsgefühls
wirkteinnerhalb der deutschen Landwirtschaft zweifellosin hohem Maße
integrierend
undhalf,
die Kluft zwischen Klein- und Großbesitz
weitgehend
zu schließen. Aufdiese Weiseer-hielt auch der
Großgrundbesitz
in der selbsternanntenKampf-
undSchicksalsgemein-
schaft des deutschen LandvolkeseinefestePosition
zugewiesen,
für die sichaufgrund
sei-nerTradition und seiner
Kapazitäten
nur derSpitzenplatz
anbot. Allem Anschein nachwareinTeil des
Großgrundbesitzes
auchbereit, diejenigen Führungsposten
zubekleiden,
welche die
politisch
erwachte BauernschaftausMangel
angeeignetem
Personal indenei-genenReihen nichtmitbäuerlichen Kräften besetzen konnte.
Das dörfliche
Sozialgefüge
wurde durch diese bäuerlicheMobilisierungswelle
nochnicht zum Wanken
gebracht
-dazu verlief sie zu sehr in berufsständischen Bahnen. Sie brachte zwareine erste
geistige Abnabelung
vielerBauernvon einersich selbstgenügen-
den
Selbstbespiegelung
in denvier Wänden deseigenen
Hofes und zwischen denGrenz- steinen des Heimatdorfes zumAusdruck,
stieß aber von dort nur zur nächsthöherenOrientierungsmarke
deseigenen
Standes vor. Damit trennte das Gros der Bauern vomstaatlichenGemeinwesen undeiner
bürgerlich
verstandenenNation immer nochein tie- fer mentaler Graben.Die meistenLandwirte konstituierten sich ebennurals Stand und nicht als Teil derNa- tion.Wennsich ihre
Agrarverbände
nationalerSchlagworte bedienten,
ließ sich deren be- rufsständischeSchlagseite
nichtverbergen.
Dennwas sieals Heilmittel beschworen-
die Abkehrvoneiner
exportorientierten Außenwirtschaftspolitik
und dieHinwendung
zuei-ner
Binnenmarktpolitik
mitrigoroser Kontingentierung
ausländischerImporte17
-,lief aufeine
privilegierte Sonderbehandlung
derAgrarinteressen hinaus,
der dieBelange
der ex-portorientierten Industriezweige
und der städtischen Verbraucher striktuntergeordnet
werden sollten.
Aus dem
begrifflichen
Arsenal eines dezidiertvorbürgerlichen Agrarkonservatismus
entliehsichdie bäuerliche
Protestbewegung
ein ständisch verformtesNationsverständnis,
welches
agrarische
Partikularinteressen vermittels nationaler Weihezuheiligen suchte,
in-demesden sogenanntenNährstandzum
Urgrund
undQuell
desVolksganzen
aufwertete.Die Landwirtschaft im
protestantischen
NordenundOstenfocht ihrenpolitischen Kampf
17Zu
entsprechenden Forderungen
des Reichslandbundes vomJanuar 1933vgl.
Winkler, Weimar, S.570ff.mitdenselben
ideologischen
Waffenaus,mitdenen sich der„Bund
der Landwirte"knapp vierzig Jahre
zuvorgerüstet
hatte18.Doch sosehr sich dieParolen auch
gleichen
mochten-
die
politische Qualität
dieserzweiten
agrarischen
Protestwelle hatteeinedeutlicheAkzentverschiebung
erfahren.Besa-ßen im
„Bund
derLandwirte" die ostelbischen Gutsherren noch eineindeutiges Überge-
wicht,
so tobte sichEnde der20erJahre
erstmalseingenuin
bäuerlicher Unmut aus,dervom
Großgrundbesitz
nichterzeugtwurde,
sondernden dieserlediglich
invonihm selbstzukontrollierendeBahnenzulenken trachtete.
Dies machte
politisch
insofern einenentscheidenden Unterschied aus, als daßnunun-terschiedlicheParteiendaraus ihrenNutzenziehen konnten.NochbisMitteder20er
Jah-
re konnte der
agrarische
Protest imevangelischen
Deutschland von einer konservativen Parteiaufgefangen
werden: bis 1914ging
der„Bund
der Landwirte" eine engeBindung
mit der
„Deutsch-Konservativen
Partei"ein19;
in derWeimarerRepublik
trat die sozialviel weiter
ausgreifende „Deutschnationale Volkspartei" (DNVP)
das Erbe despreußi-
schen
Agrarkonservatismus
an20.Inbeiden Fällenwarenesdie mitdenjeweiligen
konser-vativen Parteien
personell
liiertengroßagrarischen Führungsschichten,
welche dieimmerwiedereinmalaufflackernden
agrarischen
ProtestesteuertenundunterKontrolle hielten.Endeder20er
Jahre hingegen ging
dieInitialzündung
für dasagrarische Aufbegehren
vonder bäuerlichenBasisaus.Dabeiwich die tradierte
parochiale
PassivitätundUnterwürfig-
keit
gegenüber
demgutsherrlichen
Patron allmählich einem wachsenden bäuerlichen Selbstbewußtsein-
parallel
dazuvollzog
sich einefortschreitendeEmanzipation
vondenehemals
bevorzugten politischen Ansprechpartnern.
Ohne ihrekonservative,
auf Bewah-rung von
„Gemeinschaft"
zielendeGrundorientierung aufzugeben,
wandten sich mehr und mehrBauernvon der„alten
Rechten" ab und der „neuenRechten" zu, in dermaneinesozial
aufgeschlossenere
VersiondesAgrarkonservatismus
zuerblickenvermeinte.Damiteröffnete sicheinerneuen
Rechtspartei,
die ohneBerührungsängste
vorpolitisch
erwachten bäuerlichen Massen
geschickt
auf solchepolitischen
Sehnsüchteeinging,
dieeinmalige Gelegenheit,
die traditionellenRechtsparteien
aufdemevangelischen
Lande zubeerben. Die NSDAPstieß
geschickt
indieseMarktlücke,
weilsie sich alsdiezeitgemäße-
re
Agrarpartei
zuprofilieren
verstand undpeinlichst
den Eindruckvermied,
anden Fun- damentenderdörflichenSozialordnung
rüttelnzuwollen.EinesolchePartei konservativenZuschnittskonnte auch auf die
Sympathien
vielerevan-gelischer Landpfarrer
zählen.Zwarwarendie meistenDorfgeistlichen
weitdavonentfernt,
die
Dorfgemeinschaft
zuverklären-sie
registrierten
imGegenteil
sehrgenau,daßdas christ- licheLiebesgebot
wegenderparochialen Horizontverengung
aufdem LandezueinerExklu-sivmoralzuverkümmern
drohte,
derenVerbindlichkeit sich aufdeneigenen
dörflichenLe-benskreisreduzierte.Doch die nicht selten anzutreffende Verstocktheit derHerzenund die offensichtliche
Ausgrenzung
alles Fremdenausdergeschlossenen Solidargemeinschaft
des18Unentbehrlichzum„Bundder Landwirte" immer nochHans-JürgenPuhle,
Agrarische
Interessen-politik
undpreußischer
Konservatismusimwilhelminischen Reich (1893—1914), Hannover 1966,vorallemS.83-110.
19SiehePuhle,
Interessenpolitik,
S.213-273.20Zur DNVPsieheWernerLiebe,DieDeutschnationale
Volkspartei
1918-1924,Düsseldorf1956,ins-besondereS.12f.;LewisHertzman, DNVP,Lincoln/Neb.1963,S.180-186;Jens
Flemming,
Konser-vatismus als „nationalrevolutionäre Bewegung". Konservative Kritik an der Deutschnationalen
Volkspartei
1918-1933,in: DirkStegmann,Bernd-Jürgen
Wendt,Peter-ChristianWitt(Hg.),Deut- scherKonservatismus im19und20.Jahrhundert,Bonn1983,S.295-311,vorallemS.305.Dorfesließen die Mehrzahl der
Dorfpastoren
nichtvonihrerAuffassung abrücken,
daß dieDorfgemeinschaft
trotzihrerunübersehbarenSchattenseiteneinermilieuangepaßten
Pasto-ral immer noch förderlicherseials
jede
andereFormdes ländlichen Zusammenlebens.Dennzuabschreckendwarenfürsiedie
Erfahrungen,
welche dieevangelischen
Landes-kirchen mitden
gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen gesammelt
hatten. DerVer- weis aufdie Großstädte und industriellenZentren,
in denen die Botschaft des Pfarrersnurnocheineverschwindende Minderheit der Getauften
erreichte,
diente ihnen alsMene- tekelfür den drohenden Zerfall der Volkskirche unterdenBedingungen
einerfortschrei- tendenPluralisierung
der Lebensformen. Daß dieevangelische
KircheVolkskirchezublei- benhabe,
stand fürsiedabeiaußerDiskussion.Denn die
jahrhundertelange
AllianzmitderstaatlichenObrigkeit
hatteinden Landes- kirchen den volkskirchlichenAnspruch befestigt,
obschon es auch im19.Jahrhundert
nichtandeutlichen Anzeichen dafür
gefehlt hatte,
daßchristliche MonarchenanderSpit-
ze vonStaatund Kirche den
Säkukrisierungsprozeß
innerhalb der Gesellschaft nichtwür- denrückgängig
machenkönnen.Nichtsdestoweniger
wardervolkskirchlicheGeltungsan- spruch
derevangelischen
Kirchen beiBeginn
der WeimarerRepublik
nochweitgehend ungebrochen21.
Die Landeskirchengaben
dieAuseinandersetzung
mit den Säkularisie-rungserscheinungen keineswegs verloren;
diePfarrermaßenihrpastorales
Wirken weiter-hinamhohenMaßstab der Volkskirche.
Aus dieser
Perspektive
heraus mußte der soziale Wurzelboden derDorfgemeinschaft
trotzaller ihm innewohnenden
Unzulänglichkeiten
als bewahrenswerterscheinen,
weil erwegenseinerstärkeren Sozialkontrollein weithöherem Maße Kirchlichkeit zu
speichern
imstandewar als das Pflaster der sozialzerrissenen Stadt mit ihrerverlorenen Scharvon
wenigen Überzeugungschristen.
Der Erhalt des dörflichenSozialkörpers
-also eine ge- nuin
politische Aufgabe
-
geriet
auf dieseWeisezu einemseelsorglich begründeten
Anlie-gen;dieDorfkircheverbündete ihr Schicksalmitdemder
Dorfgemeinschaft.
Entsprach
dieSympathie
dermeistenLandpfarrer
fürdiesevorgesellschaftliche
Lebens-form noch traditionell konservativen
Vorstellungen,
sowohnten dempolitischen Engage-
ment vieler
Dorfgeistlicher jedoch
auch Tendenzeninne,
welche über den klassischen Konservatismushinauswiesen.Eswargerade
ihrUnbehagen
ander abweisenden Außen- seitederDorfgemeinschaft,
welchessieAusschau danach haltenließ,
ob nicht dieDorfge-
meinschaft dieser rauhen Schale entkleidet zu werden
vermochte,
ohne daß ihrgemein-
schaftlicher Kern Schaden nahm. Aus
originär pastoralen
Gründen nahmen daher vieleLandpastoren
Zuflucht zumpolitischen Programm
der„Volksgemeinschaft".
Sieerhofften sicheine christliche
Läuterung
dörflicherEngherzigkeit dadurch,
daß dieDorfbewohner sich
geistig
ausderBeschränkung
auf dasHeimatdorflösten.Durch dasEin-flößenvonechtem
„Volksgemeinschaftsgeist"
solltesicheineHorizonterweiterung
vollzie-hen,
damitinden eher verschlossenenHerzendesLandvolkswenigstens
eine Kammerfür dorffremde„Volksangehörige" freigeräumt
würde. Die seit demausgehenden ^.Jahr-
hundertzu
registrierende
nationaleAufladung
desprotestantischen
Konservatismus22 er-hieltausSicht vieler
Dorfpastoren
damiteinezusätzlicheseelsorgliche Legitimation.
21InformativsteÜbersichtdazu bei KurtNowak,Protestantismus und Weimarer
Republik,
in:KarlDietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobsen
(Hg.),
Die WeimarerRepublik
1918-1933,Bonn1987,S.218-237,insbes.S.222.
22Dazusiehe die