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und Nationalsozialismus

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(1)

Milieus,

und Nationalsozialismus

(2)

Wolfram Pyta

Ländlich-evangelisches Milieu

und Nationalsozialismus bis 1933

/.

Das

evangelische

Landwar

diejenige Sozialformation,

welche derNSDAP seit 1930weit

überdurchschnittliche

Wahlerfolge

bescherte1.Inden

protestantischen

Dörfernkonntedie

Hitler-Partei aufeinenfesten Wählerstamm

bauen,

dersie indie

Lage

versetzte,demkon-

junkturellen

Auf undAb inder

Wählergunst gelassener gegenüberzutreten

alsvieleihrerpo-

litischen Konkurrenten.Als

Landbevölkerung

wird im

folgenden

die Einwohnerschaftsol- cherOrte

bezeichnet,

die

weniger

alszweitausend Insassenzählten.Einesolche

Landgemein-

de solldann dasKriterium

„protestantisch" verdienen,

wennmindestens70 %ihrer

Mitglie-

dereiner der

evangelischen

Landeskirchen

angehörten.

Einesolche

Unterteilung

nachkon-

fessionellenKriterien

gebietet

dergarnicht hochgenugzu

veranschlagende Umstand,

daß

inderWeimarer

Republik

die konfessionelle

Zugehörigkeit

als der

wichtigste

wahlbeeinflus- sende Faktor einzustufen ist2. So wiesen trotz

weitgehend

identischer Sozialstruktur ge- schlossen katholischeDörfereinvonihren

evangelischen

Nachbardörfernim

Regelfall

kraß

abweichendesWahlverhalten auf.Dennhierdominierte

gewohnheitsmäßig

die Zentrums-

partei,

während aufdem

evangelischen

Landseit 1930/31 dieNSDAPdenTon

angab.

Im

Jahre

1925lebte noch

jeder

dritteDeutsche auf dem

Lande,

wobei

schätzungsweise

zweiDritteldieserLandleute

evangelisch getauft

gewesenseindürften3.

Insgesamt

warda-

mitvermutlichmehrals ein Fünftel der

Gesamtbevölkerung

zum

evangelischen

Landvolk

zu rechnen. Natürlich reichte dieses Elektorat allein nichtaus, damitdie NSDAP anden Wahlurnen zur bei weitem stärksten deutschen Partei aufrücken konnte. Der Schlüssel für diesen

Wählerzuspruch lag

zweifellos

darin,

daß die NSDAP anders als ihre

politi-

schen Mitbewerber

gezielt

und mit

großem propagandistischen

AufwandumWähleraus

allen sozialen Schichten

ungeachtet

deren konfessioneller

Zugehörigkeit

warb und diese auch innennenswertem

Umfang

ansichzubinden vermochte4.

1Dazudie

grundlegende Untersuchung

vonJürgenWFalter,HitlersWähler,München1991,voral-

lemS. 163-167u.S.255.

2

Vgl.

ebd.,insbes.S.177ff.,S.184ff.u.S.278.

3Nach der

Volkszählung

desJahres 1925lebtenvonden 62,4 Millionen Bewohnern des Deutschen Reichesin

Landgemeinden

mitwenigerals2000Einwohnern22,2Millionen(=35,6%);siehedazu

die

Angaben

beiJürgenFalter, Thomas

Lindenberger, Siegfried

Schumann,Wahlen und Abstim- mungen inderWeimarer

Republik,

München1986,S.35. Eine exaktekonfessionelleAufschlüsse-

lung

der

Landbevölkerung

istnicht

möglich,

da die Reichsstatistik

entsprechende Angaben

nicht

ausweist. Man

geht jedoch

nicht fehlinderVermutung,daßdie

Konfessionsverteilung

aufReichs-

ebene

-

64%

evangelisch,

32 % katholisch

-

ungefähr

auch das konfessionelle Verhältnis innerhalb der

Landbevölkerung widerspiegelte.

Damitdürften vermutlichgegen60 %aller Landbewohner ei-

nerder

evangelischen

Landeskirchen

angehört

haben.

4Hierzu Eberhard Kolb, Die Weimarer

Republik,

3.Aufl. München 1993,S.226;HeinrichAugust Winkler,Weimar1918-1933, München1993,S.389f.

(3)

Die

Bedeutung

ihrer

ländlich-evangelischen

Stammwählerschaft

erschöpfte

sich aber

nicht

darin,

daß das

protestantische

Dorf einen erheblichen Anteil am NS-Gesamtstim- menaufkommen

-

etwa30 %

-

beisteuerte.Es bildete obendrein das

politische Rückgrat

der

Hitler-Partei,

auf das diese Partei auch nach

Wahlrückschlägen

wie anläßlich der

Reichstagswahl

vom November1932 bauen konnte. Nurweil dieNSDAPaufdemevan-

gelischen

Land so überdurchschnittliche

Wahlerfolge davontrug,

konnte sie ihr unüber- sehbares Defizit bei der

Erfassung gewerkschaftlich organisierter

Industriearbeiter und kirchentreuer Katholiken

kompensieren.

Hinzu

kam,

daß die

Eroberung gerade

des ländlichen Ostelbienseinen

überproportio-

nalen Nutzenbeim

Ringen

um die

politische

Macht inBerlin abwarf. Denn

Reichspräsi-

dent

Hindenburg

besaßstetsein offenes Ohr für die Partikularinteressen der ostelbischen Grundbesitzer. DieserUmstand verschaffte den

Agrarverbänden

Ostelbiens ein erhebli-

ches

politisches

Gewicht und wirkte sich insofern

positiv

für die Hitler-Partei aus, als der Reichslandbund seit 1932 immer stärker das

politische

Einvernehmen mit der NSDAP suchte. Das bei den

Reichstagswahlen

in Ostelbien

angesammelte Kapital

an

Wählerstimmen warf damit für die Hitler-Partei

gleich doppelte

Rendite ab: zum einen

setztesiesich

gestützt

auf dieses Wählervotuminden

Führungsgremien

der meistenLand-

bundorganisationen

fest-

und dieser

organisatorische

Rückhalt zahlte sichzum anderen

gesamtpolitisch

vorallem bei der

Einfädelung

der

Ernennung

Hitlerszum Reichskanzler

am

30.Januar

1933 aus5.

Gewiß wog die Stimme eines

ostpreußischen

Bauern fürdie NSDAP beim Zustande- kommen der

Wahlergebnisse quantitativ

nicht mehralsdas Votum eines

Leipziger

Indu-

striearbeiters für die SPD oder eines Kölner Handwerkers fürdie

Zentrumspartei.

Aber

in

qualitativer

Hinsichtwar unterden

Bedingungen

eines immer weiterfortschreitenden

Präsidialregimes

von

ungleich größerem Gewicht,

welche

politische

Formation denAn-

spruch geltend

machen

konnte,

die ostelbische

Landbevölkerung repräsentieren

zu kön-

nen.

Welche Parteials

Sprachrohr

des

protestantischen

Landvolksauftreten

konnte,

mußso-

mitalseinPolitikumersten

Ranges eingestuft

werden.Vondaher

gewinnt

die

Frage

nach

den Ursachen der nationalsozialistischen

Verwurzelung

im

evangelischen

Dorf ihre Be-

rechtigung.

Warum vermochte sich

ausgerechnet

die NSDAP als

protestantische Agrar- partei

zu

profilieren,

wodoch die

Ursprünge

dieser

Bewegung

inden Städten des überwie-

gend

katholischen

Bayern lagen

undsie zudemmit der in bäuerlichen Kreisen eher ab- schreckenden

Bezeichnung

einer

„National-Sozialistischen Arbeiterpartei"

aufwartete?

EinBlick auf die Karteder

NS-Hochburgen genügt,

um zudem Befundzu

gelangen,

daßmit

regionalen Spezifika

allein der reichsweite Durchbruch der Hitler-Partei auf dem

evangelischen

Dorf nicht

adäquat

zuerklärenist. DenndieNSDAP erwiessich fast über- all im

evangelisch-ländlichen

Deutschland als

Wählermagnet.

Ob in

Ostpreußen

oder

Holstein,

ob in Mittelfranken oder in Oberhessen

-

in nahezu sämtlichen

evangelischen Landgebieten

vermochte derNSDAP

spätestens

seit 1932 keine andere

politische Grup- pierung

den

Spitzenrang

in der

Wählergunst

abzulaufen6. Zwar

legten

die rein bäuerlich strukturierten

Agrarregionen

eine besondere

Hinneigung

zur Hitler-Partei an den

Tag.

So verzeichnete die NSDAP bei der

Reichstagswahl

vom 31.

Juli

1932 in den überwie-

5ZurRolle derostelbischen

Großgrundbesitzer

bei der

Vorbereitung

derReichskanzlerschaft Hitlers nachdrücklichWinkler,Weimar,S.607.

6

Vgl.

die

entsprechenden Angaben

beiFalter,HitlersWähler,S.163-185.

(4)

Ländlich-evangelisches

gend

bäuerlichenundnahezurein

evangelischen

KreisenMittelfrankens ihre

Spitzenwer-

te7. Aber auch das

gutswirtschaftlich geprägte

Land war ein fruchtbares soziales Terrain für den Nationalsozialismus: in weiten Teilen

Ostpreußens, Pommerns, Brandenburgs

und Schlesiens fuhr dieHitler-Partei bei

Wahltagen

ebenfalls reiche Ernteheim.

DieNSDAPerzieltemithinsoflächendeckende

Wahlerfolge

in der

evangelischen

Land-

bevölkerung,

daß bei der

Ursachenforschung

der Verweis auf

regionale Eigenheiten

nicht

zu

überzeugen

vermag. Dabei istnatürlich

unbestritten,

daß solche Besonderheitenden

allgemeinen

TrendhinzumNationalsozialismus abschwächen oder noch verstärken konn-

ten.

Es bietetsich daheran, auf andere

Erklärungsmuster zurückzugreifen,

wobei vorallen

Dingen

der sogenannte

„Milieuansatz"

einen besonders

reichhaltigen

heuristischen Er- trag

verspricht.

Demnach läßt sichinrelativ

homogenen gesellschaftlichen

Ensemblenpo-

litisches

Verhalten,

insbesondere die

Stimmabgabe

bei

Wahlen,

deuten als Ausdruck der tiefen

Verwurzelung

der Wählerschaftin ihrer soziokulturellen

Umgebung.

DerWahlakt

ist demnach in erster Linie die Manifestation einer engen

Bindung

an eine

bestimmte,

„Milieu"

genannteLebensweise. Verwendetmanin

Anlehnung

an

Lepsius8

einen weit ge- faßten

Milieubegriff,

der die

Beengtheit

eines sozio-ökonomischen

Klassenbegriffs

ver-

meidet und

genügend

Raum

bietet,

umdie kulturell-lebensweltlicheDimensionmenschli- cherExistenz

einzufangen,

dann erweistsich der Milieuansatz als

ergiebig,

um weitrei-

chenden

Erkenntnisgewinn

auch bei der

Untersuchung

desWahlverhaltensindenevange- lischen

Landgebieten

abzuwerfen.

„Milieu"

istalso nicht

gleichzusetzen

mit der

Bezeichnung

einer bestimmtenSozialfor-

mation,

die sich

lediglich

aus der

Verfügungsgewalt

über die Produktionsmittel ableitet.

Derhier verwendete

Milieubegriff greift

über dasrein

Ökonomische

weithinaus. Er

geht

davonaus,daß die

Zuweisung

zueinembestimmten

Sozialgebilde

nacheinemdas

Ökono-

mische

übersteigenden

Kriterium zu

erfolgen

hat: ob deren

Angehörige

eine

spezifische

Lebensweise

teilen,

ob sie sich durch eine relativ

gleichförmige Lebensführung

auszeich-

nen,obsiesichüberdas

Ökonomische

hinaus durch

gemeinsame Wertvorstellungen

und

soziale Verhaltensweisen verbunden fühlen.

„Milieu"

steht damitfürdie

Umschreibung

ei-

ner

homogenen Lebenswelt,

die bei ihrenInsassendie

Ausbildung

einer

spezifischen

Kol-

lektivmoral

begünstigt

und sie auf dieseWeise zu einercharakteristischen

Gleichförmig-

keitder

alltäglichen Lebensgestaltung

erzieht9. InintaktenMilieus bleibteineindividuelle

Abweichung

vom

geltenden

Verhaltenskanon natürlich

möglich,

sie wird

allerdings

durch

den herrschenden Konformitätsdruck erschwert.

„Milieus"

bilden damit feste

Sozialge-

häusemit einem

engmaschigen

Netzsozialer

Regulierungsmechanismen,

die tief indas All-

tagsleben

der Menschen

eingreifen

und derenLebensablauf inhohem Maße strukturieren.

7

Rothenburg

(Tauber) 83% der

abgegebenen

Stimmen;Uffenheim 81%; Neustadt (Aisch) 79%;

Ansbach76%;alle

Angaben

nachFalteru.a.,Wahlen und

Abstimmungen,

S.133.

8

Vgl.

dessenbahnbrechenden Aufsatz:ParteiensystemundSozialstruktur.ZumProblem der Demo-

kratisierung

der deutschen Gesellschaft (zuerst 1966), in: M.Rainer Lepsius, Demokratie in

Deutschland.

Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte

Aufsätze,

Göttingen

1993,S.25-50,hierS.38.

9

Grundlegend

zur

Ergiebigkeit

des Milieuansatzesfür die Wahl- und

Parteiengeschichte

istdieStu-

dievon Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland, Frankfurt/M. 1992, insbes.

S.9f.u.S.13-21.Als

gelungenes Beispiel

für die

Anwendung

des

Milieukonzeptes

in einerhistori-

schen Fallstudie sieheCorneliaRauh-Kühne, Katholisches Milieu und

Kleinstadtgesellschaft.

Ett-

lingen

1918-1939,Sigmaringen1991,vorallemS.16f.

(5)

Fürdie

verhaltensreglementierenden

Effekteeiner fest verankerten

Milieubindung

bietet

vor allem das

evangelische

Dorf der 20er und 30er

Jahre

reiches

Anschauungsmateri-

al10. Dennin den ländlichen Ortschaften

-

fernabvom lebhaftenTreiben der Großstädte und

verkehrsmäßig

nur unzureichend an die

andersartige

Lebenswelt der Städte ange- schlossen

-

hatte sich eine Form sozialen Zusammenlebens

erhalten,

diemitbemerkens-

werter

Zähigkeit

den inden Städten faßbarenTendenzen zu

gesellschaftlicher

Pluralisie- rung und

Individualisierung

zu trotzen suchte: die

Dorfgemeinschaft.

Das Dorf dieser Zeit kann als einsozial weithin

abgeriegelter

Lebensraum

gelten,

in dem die Milieuver-

haftetheit intensiv

ausgeprägt

war und auch in

politicis nachhaltig durchschlug.

Denn

im Geflecht innerdörflicher

Sozialbeziehungen gedieh

eine kollektive Lebensweise im

Regelfall

besonders gut. Dafürsorgte zum einen der eng umgrenzte Schicksalsraum des dörflichen

Siedlungsverbandes.

Die Dorfbewohner standen in solchen überschaubaren Wohneinheiten ineinem

tagtäglichem

Sozialkontakt

miteinander,

dessenDichte nicht sel-

ten das Ausmaß wachsamerSozialkontrolle erreichte und die

Schaffung

von

Rückzugs-

zonen

bürgerlich

anmutender Privatheit erschwerte. Eine funktionierende

Dorfgemein-

schaft schützte gegensoziale

Vereinzelung

und

Vereinsamung;

abersie schnürte dabei in aller

Regel

die Freiheit zu individuellen Lebensentwürfen drastisch ein. Gemeinschaftli- che

Impulse gingen

zum anderen auch von dem innerdörflichen Wirtschaftsverbund

aus,welcher invielen Fällen die

Angehörigen

sämtlicher

Berufsgruppen

umspannte. Un-

geachtet

ihres

Hauptberufes

warendoch vielfach die meisten Dorfbewohner auf die eine oder andere Weiseaufs engste mitder

Bewirtschaftung

vonGrund und Boden befaßt. So

betätigten

sich Handwerker und IndustriearbeiterimNebenerwerb als Landwirte:siebe- stellten ihr

eigenes

Stück Land oder

verdingten

sich als Aushilfskräfte bei den Voller- werbsbauern. Diese Existenz einer

dorfumgreifenden Produktionsgemeinschaft begün- stigte

die

Ausprägung

eines dörflichen

Wertekanons,

der in seinem Kernumeinpronon- ciertesArbeitsethoskreiste.

Bei der

Zuteilung

sozialen Ansehens stand daher die

Arbeitsleistung jedes

einzelnenan

vorderster Stelle. Besitzzählte nurin

Verbindung

mit einem

entsprechenden,

nach außen

gekehrten

und damit

jederzeit überprüfbaren

Arbeitseinsatz.Werausdieser dörflichenSo- zialmoral

ausscherte,

dersetztesich nichtselten dersozialen

Ächtung

aus,riskierte dieso- ziale

Isolierung.

PerSaldo hatte das Dorfder20erund30er

Jahre

trotzaller

Auflösungs- erscheinungen

eine kollektive Lebensweise

konserviert,

dieseine Bewohner

ganzheitlich gefangennahm

und mit

vorgefertigten

sozialen

Deutungsmustern

auszustaffieren suchte.

Indiesergegenäußere Einflüsse

weitgehend abgeschotteten

Lebenswelt konntensich die herrschenden Milieueinflüsse ohne

lästige

Einfälle konkurrierender Lebensstile auch in

politischer

Hinsicht relativ

störungsfrei

entfalten.So waralso dersozialeBoden beschaf-

fen,

dem eine bemerkenswerte

politische Gleichförmigkeit erwuchs,

ausder ab 1930 die

NSDAPden

Hauptnutzen

zog.

10Die

Verzahnung

zwischen

dörflich-protestantischem

Sozialmilieu und Politik hat der Verfasser in seinerHabilitationsschrift nachzuzeichnen versucht:

Dorfgemeinschaft

und

Parteipolitik

1918-

1933.Die

Verschränkung

vonMilieuundParteien inden

protestantischen Landgebieten

Deutsch-

landsin derWeimarer

Republik,

Düsseldorf 1995. Die

Ausführungen

dieses Aufsatzes zu dörf- lichem Sozialmilieu und ländlichem

„policy-making"

stützen sich auf

besagte

Habilitations- schrift,weswegen andieser Stelle auf

gesonderte

Einzelnachweise

weitgehend

verzichtet werden soll.

(6)

Ländlich-evangelisches

Mithin muß

jeder Erklärungsversuch

für den

Aufstieg

desNationalsozialismus auf dem Landezu kurz

greifen,

dervon diesen

Milieubedingungen

absieht. Die Zahl öffentlicher Auftritte der

Hitler-Partei,

dieMasseund

Qualität

dervonihrin den Dörfern verteilten

Flugblätter geben

dazu

wenig

her.Wer

Ursachenforschung

alleinausder

Perspektive

pro-

pagandistisch ausgerichteter Wahlkämpfe betreibt, geht

ander soziokulturellenVerwurze-

lung

der

NS-Wahlerfolge

vorbei. Keine Partei

-

und auchnicht dieNSDAP

-

konnte sich auf dem

protestantischen

Lande dauerhaft

festsetzen,

die sich nicht als

Milieupartei

zu

profilieren

vermocht hätte:als eine

Partei,

derenVotum als

Bejahung

der dörflichen Le- bensweise

aufgefaßt wurde,

als

politisch gefaßtes

Bekenntnis zugunsten des dörflichen

Normensystems.

Die

„große

Politik" waraufdem Lande eben kein von der

Sphäre

des

alltäglichen

Sozialverkehrs

abgenabelter Prozeß,

sieführtekeinvonder

dortigen

Lebens-

welt

abgelöstes Eigenleben.

Dieswirft die

Kardinalfrage auf,

warum es

ausgerechnet

derNSDAPvorbehalten

blieb,

sich in den

evangelisch-ländlichen

Lebensraum als

Milieupartei

so

einzunisten,

daß sich ihre

Wahlerfolge

zu einem GutteilausdenStimmendes

protestantischen

Landvolks

spei-

sten. Wenden wiruns dazu zunächstder

politischen

Beschaffenheit des dörflichenSozial- milieus zu, d.h. der

Nahtstelle,

anwelcher sich die

Umsetzung

der

Milieuverwurzelung

in eine

milieugerechte

Politik

abspielte.

Wirhaben unsere Aufmerksamkeit also auf die dörfliche

Spielart

des Politischenzu richten: Aufwelche Weise fand Politik

Eingang

in

den dörflichen Sozialverkehr? Gab es eine bestimmte

Zugangsweise

der Landbewohner

zur

Politik,

ein

spezifisches Einstellungsmuster

zum Bereich des

Politischen,

wie es in

derPolitikwissenschaftals

„political

culture" definiert wird11?

Diemeisten Dorfbewohner

gingen

zur

Sphäre

des Politischen auf innere

Distanz,

weil die

fürsorgliche,

in sich

gekehrte Dorfgemeinschaft geistige Selbstgenügsamkeit

und

Selbstabschließung hervorbrachte,

die für die

übergreifenden Anliegen

desstaatlichenGe-

meinwesens,

mithin fürdie

große Politik,

in erster Linie

gelangweilte

Indifferenz

übrig

hatten. Im sozial autarken Mikrokosmos des Dorfes dominierte eine

ausgesprochene Kirchtumsperspektive,

wie sie

gering

ausdifferenzierten

Sozialgebilden

üblicherweise an-

haftet. Die

„political

culture" auf dem Lande wies somit einen stark

parochialen Über- hang auf12,

waserhebliche

Auswirkungen

auf die

politische Willensbildung

nachsichzog.

Weil

Politik,

insofernsiedenrein

heimatbezogenen

Rahmensprengte, alsein Fremd-

körper

imdörflichenLebenskreis

erschien,

wurdesieandie

wenigen

Dorfinsassen

„dele- giert",

welche man

aufgrund

ihres Berufs und ihrer

Ausbildung

am besten für den Um- gang mit solchen außerdörflichen Mächten gewappnet hielt. Politik aufdem Landewar

mithinweder eine

Herzensangelegenheit partizipationshungriger Einheimischer,

noch fiel

sie indie

Zuständigkeit

dorffremder

Berufspolitiker.

Der

politische

Prozeß auf demDor- fe verlief vielmehr

entlang

denbestehenden Autoritätsstrukturen des dörflichen

Sozialge-

11Zum

Begriff

der

„political

culture"

vgl.

die

Begriffsbestimmung

indermittlerweile zumKlassiker

gewordenen

Studievon: Gabriel Almondu.

Sidney

Verba,The Civic Culture.Political Attitudes andDemocracy in Five Nations, Princeton/N.J. 1963, in erster Linie S.14-21; siehe auchDirk

Berg-Schlosser,

Politische Kultur,München 1972,vorallem S. 49-53,sowie WolfMichaelIwand,

Paradigma

PolitischeKultur,Diss.

phil.

Aachen1983,insbes.S.51-84. Der Ansatzder Politischen

Kulturforschung

ist

bislang

vonden sichmitderWeimarer

Republik beschäftigenden

Historikern kaum

aufgegriffen

worden;alsAusnahme siehe die

ergiebige

StudievonEikeHennigu.Manfred

Kieserling,

Zwischen Fabrik und Hof

-

zwischen

Republik

und Dorf. Zur

Wahlentwicklung

und

politischen

Kultur des Landkreises KasselinderWeimarer

Republik,

Kassel1990.

12Soauch derBefundvonHennigu.

Kieserling,

Zwischen Fabrik undHof,S.73-78.

(7)

füges13:

den sozialen

Führungskräften

fiel die

Aufgabe

zu,die

„große

Politik"

gewisserma-

ßen für den

Dorfgebrauch

zu übersetzen. Diese

Umsetzung

sozialenAnsehens in

politi-

sche

Meinungsführerschaft unterstreicht,

wiesehrdas deutsche Dorf der20erund frühen 30er

Jahre

noch ein

vormoderner, vorgesellschaftlicher Sozialkörper

war.

Damitausdemländlichen Sozialmilieu ein bestimmtes

politisches

Verhalten erwachsen

konnte,

mußte alsoeineZwischenstation

eingeschaltet

werden: die Dorfautoritäten bilde-

ten das

Bindeglied

zwischen Milieu und

Politik,

sie entschlüsselten die

politischen

Bot-

schaften und

speisten

sie in den dörflichen

Lebensalltag

ein. Diese Erkenntnis bahntuns

den

Weg,

umdem

Erfolgsrezept,

wie eine

politische

Partei das ländliche Sozialmilieuzu

okkupieren vermochte,

auf die

Spur

zukommen.

Der

Erfolg

vonParteien

hing

demnachganzentscheidenddavon

ab,

in welchem Ausmaß

esihnen

glückte, möglichst

vielesolcherMentorenauf ihreSeite zuziehenund derenso-

ziales Ansehen in

politische Fürsprache

umzumünzen.

Dementsprechend

kann der

Durchbruch derNSDAPauf dem Landenurmit

Unterstützung

einerVielzahl der loka- len

Dorfgrößen

-

keineswegs

gegenderen

geschlossene Ablehnungsfront

-

erfolgt

sein.

Zu diesen

tonangebenden

Autoritäten zählten in erster Linie Gutsbesitzer

(in

den

hauptsächlich

in Ostelbien anzutreffenden

Gutsdörfern), Großbauern, Dorfpfarrer

und

Landlehrer. Zu

fragen

istalso nach den

politischen Dispositionen

dieser dörflichen Füh-

rungsschicht:

Ließ sie

politische Neigungen erkennen,

welche siebesonders

empfänglich

fürdie BotschaftderHitler-Partei machten?

Auf den ersten Blick fällt es

schwer,

die

politischen Vorstellungen

von Bauern und

Gutsherren,

Lehrern und Geistlichen aufeinen

gemeinsamen

Nennerzu

bringen.

Wurde

das Binnenverhältnis dieser

ungleichen

Paare nicht durchRivalität und Konkurrenzneid

getrübt?

Hattesichnichtvoralleminder

spannungsgeladenen Beziehung

zwischenDorf-

lehrer und

Landpfarrer

soviel sozialer Zünstoff

angehäuft,

daß

politische

Parteien immer

nureinender beiden

Widerparte

für sichzu

gewinnen vermochten,

niemalsaberbeidezu-

sammen?

Auch innerhalb der deutschen Landwirtschaftwar eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Interessen

versammelt,

die einem

geschlossenen

berufsständischen Auftreten im

Wege

standen. Nicht nur die

Betriebsgröße

trennte den bäuerlichen Kleinstbetrieb von unter 5Hektarvommehr als100Hektarzählenden

Rittergut14;

auchdie

verschiedenartige

wirt-

schaftliche

Ausrichtung

der landwirtschaftlichenBetriebe sorgte für innere

Spannungen

in

dernuräußerlich

einig

erscheinenden „GrünenFront".

Sowaretwaeinnordwestdeutscher Schweinezüchterim

Regelfall

darauf

bedacht,

seine

Futtermittelzu

möglichst günstigen

Preisenzu

erstehen,

weswegenerein

ausgeprägtes

Ei-

geninteresse

am

ungehinderten Import billiger

ausländischerFuttermittel besaß. Einpom- merscherBauer

hingegen,

aufdessen

kargen

Böden nur

Roggen

und Kartoffeln

gediehen,

13Karl Rohe hat dafür dieprägnante

Bezeichnung

geprägt, „daßPolitik mehr oder minder als eine

Ausbuchtung

des normalen zivilen Verkehrs

begriffen"

wird:KarlRohe,Zur

Typologie politischer

Kulturen in westlichen Demokratien, in: Heinz

Dollinger,

Horst Gründer, Alwin Hanschmidt (Hg.),

Weltpolitik

-

Europagedanke

-

Regionalismus,

Münster1982,S.581-596,Zitat S.588.

14Zur

regionalen Differenzierung

der

Agrarstruktur vgl.

dieinformative StudievonHeinrichBecker,

Handlungsspielräume

der

Agrarpolitik

inderWeimarer

Republik

zwischen 1923und 1929,Stutt-

gart 1990,vorallemS.53-61.

(8)

stand der Einfuhr solcher

Erzeugnisse

ablehnend

gegenüber,

weilerdavon eine

preissen-

kende

Auswirkung

auf die

eigenen

Produkte befürchtete.

Weiterhin hatte die zumTeil bis 1923 andauernde

Zwangswirtschaft

für

Zerealien,

eine

Folge

der

Kriegswirtschaft

im Ersten

Weltkrieg,

zum Teil tiefe Gräben zwischen Klein- und Großbesitz

aufgerissen.

VieleBauernhielten denGutsherrenvor,daßdieseeswegen ihrer

eingespielten Verbindungen

zur

Verwaltung

verstanden

hätten,

sichvorderBewirt-

schaftung

ihrer

Erzeugnisse weitgehend

zu

drücken,

während die staatlichen

Requirie- rungskommandos

den

nicht-protegierten

Kleinbauern den letzten Sack Getreideaus dem

Speicher geholt

hätten15.

Vorallen

Dingen

aber behindertenmentaleBarrierendie

Herausbildung

vonlandwirt-

schaftlichem Standesbewußtsein. Die

geistige Verschanzung

der meisten Bauern im

Schutzraum des Heimatdorfes war der

Sensibilisierung

fürdas Schicksal ihrerauswärti- gen

Berufsgenossen

alles andere als

zuträglich.

Warum sollte sich ein Weidemäster aus Dithmarschen dem

Wohlergehen

eines märkischen

Roggenbauern verpflichtet fühlen,

wennsich sein

Solidaritätsempfinden

in seinem engstenLebenskreis

-

der

eigenen

Fami-

lie,

der Nachbarschaft und der

Dorfgemeinschaft

-

erschöpfte

und selbst das Dorf im Nachbarkreis fürihn bereits strukturelle Fremdheitausstrahlte?

Erstunter dem Einfluß derseit 1928/29 immer massiver

durchschlagenden Agrarkrise begannen

die inneren

Gegensätze

in der deutschen Landwirtschaft allmählich zu ver-

schwimmen,

kristallisierte sich einechtes berufsständisches Bewußtsein heraus. Die mei-

sten Landwirte hatteneine beträchtliche

gedankliche Wegstrecke zurückzulegen,

ehe sie

sich zuder Ansicht

durchrangen,

daß das

eigene

Wohl untrennbarmitdem Schicksaldes gesamtenBerufsstandes verbundensei. Esbedurfteerstder

nachhaltigen Erfahrung

derei-

genen

Existenzgefährdung,

um die

eigenbrötlerischen

Landwirte aller Größenklassen in einerständischenFrontzusammenzuführen. Aufeinen

Schuldigen

fürihre Miserehatten siesichdabei schnell

geeinigt:

derStaatim

allgemeinen

mit seinen übertriebenenSteuer-

forderungen

und die verhaßte Weimarer

Republik

im besonderen hätten die deutsche Landwirtschaft in denRuin

getrieben.

Dabei übersahen die meistender

protestierenden

Landwirte

geflissentlich,

daß nicht zuletzt ihre in den

Jahren

1923 und 1924 zumeist

leichtfertig eingegangene Verschuldung

den

Hauptanteil

anihrer

prekären

Wirtschaftsla- getrug.Dochsiesuchtendie

Verantwortung

nicht bei sich

selbst,

sondern beimStaat. Im

protestantischen

Norden und Ostendes Reiches schlössen sich seit 1928 Hunderttausen- devonBauern zusogenannten

„Notgemeinschaften" zusammen16,

die ihre frischerwor- bene berufsständische

Schlagkraft

dadurch

demonstrierten,

daß sie den

gemeinschaftli-

chen

Steuerboykott propagierten

und gegen Abweichler aus den

eigenen

Reihen scho-

nungslos

mitdem Mittel des

Sozialboykotts vorgingen.

Die Wucht und Militanz dieser

Aktionen,

derdarin zum Ausdruck kommende Grad

an

Staatsverachtung

und

Nötigung

waren ein nicht zu übersehender

Fingerzeig dafür,

daß sich die

parochiale Fixierung

vielerBauern

langsam

aufzulockern

begann.

Die

Agrar-

15Beispieledafür beiJürgenKocka,

Klassengesellschaft

imKrieg. Deutsche

Sozialgeschichte

1914-

1918,2.Aufl.Göttingen1978,S.98f.

16GründlichsterÜberblicküber diese bäuerliche Protestwelle beiJürgen Bergmannu.Klaus

Megerle,

Protestund Aufruhr der LandwirtschaftinderWeimarer

Republik

(1924-1933). Formenund

Ty-

pender

politischen Agrarbewegung

im

regionalen Vergleich,

in:Jürgen Bergmannu.a., Regionen

im historischen

Vergleich.

Studien zu Deutschland im 19. und 20.Jahrhundert,

Opladen

1989,

S.200-287,inersterLinie S.221-228;siehe auch das StandardwerkvonDieterGessner,Agrarver-

bändeinderWeimarer

Republik,

Düsseldorf1976,S.96-128.

(9)

krisesetzte bei ihnen einen

Politisierungsschub frei,

der

jedoch

nicht in

staatsbürgerlich gezähmten

Bahnen

verlief,

sondern sich vielmehrinunkontrollierten Attacken gegendie

Staatsgewalt entlud,

weil die meisten Bauern von der Stufe

staatsbürgerlichen

Bewußt-

seins wegen ihrer

quasi

autarken

Lebensführung

noch weit entfernt waren. Diese de-

struktive

Mobilisierung

war

gleichzeitig

ein ersterSchritt auf dem

Wege

ihrer

Befreiung

von der

politischen

Vormundschaft des

Großgrundbesitzes,

unter welcher die Bauern-

schaft Ostelbiens traditionell

gestanden

hatte. Doch die soziale Hierarchie in den Guts- dörfern

geriet

durch diese Aktionen noch nichtins

Wanken;

der Gutsherr als

ungekrön-

ter

Dorfkönig

wurdevon

politisierten

BauernnichtvomThrone

gestürzt.

Denndas Auf-

begehren

der Bauern richtete sich in erster Linie gegen die sogenannten landfremden

Mächte,

diemaninseltener

Einmütigkeit

für diezuweitenTeilen selbstverschuldete Kri- sisder

Verantwortung

zieh: den internationalen

Kapitalismus

und die als landwirtschafts- feindlich titulierten

politischen Bewegungen

im

Innern,

vorallem die

Linksparteien.

Das damit verbundene Aufflammen ständischen

Zusammengehörigkeitsgefühls

wirkte

innerhalb der deutschen Landwirtschaft zweifellosin hohem Maße

integrierend

und

half,

die Kluft zwischen Klein- und Großbesitz

weitgehend

zu schließen. Aufdiese Weiseer-

hielt auch der

Großgrundbesitz

in der selbsternannten

Kampf-

und

Schicksalsgemein-

schaft des deutschen LandvolkeseinefestePosition

zugewiesen,

für die sich

aufgrund

sei-

nerTradition und seiner

Kapazitäten

nur der

Spitzenplatz

anbot. Allem Anschein nach

wareinTeil des

Großgrundbesitzes

auch

bereit, diejenigen Führungsposten

zu

bekleiden,

welche die

politisch

erwachte Bauernschaftaus

Mangel

an

geeignetem

Personal indenei-

genenReihen nichtmitbäuerlichen Kräften besetzen konnte.

Das dörfliche

Sozialgefüge

wurde durch diese bäuerliche

Mobilisierungswelle

noch

nicht zum Wanken

gebracht

-

dazu verlief sie zu sehr in berufsständischen Bahnen. Sie brachte zwareine erste

geistige Abnabelung

vielerBauernvon einersich selbst

genügen-

den

Selbstbespiegelung

in denvier Wänden des

eigenen

Hofes und zwischen denGrenz- steinen des Heimatdorfes zum

Ausdruck,

stieß aber von dort nur zur nächsthöheren

Orientierungsmarke

des

eigenen

Standes vor. Damit trennte das Gros der Bauern vom

staatlichenGemeinwesen undeiner

bürgerlich

verstandenenNation immer nochein tie- fer mentaler Graben.

Die meistenLandwirte konstituierten sich ebennurals Stand und nicht als Teil derNa- tion.Wennsich ihre

Agrarverbände

nationaler

Schlagworte bedienten,

ließ sich deren be- rufsständische

Schlagseite

nicht

verbergen.

Dennwas sieals Heilmittel beschworen

-

die Abkehrvoneiner

exportorientierten Außenwirtschaftspolitik

und die

Hinwendung

zuei-

ner

Binnenmarktpolitik

mit

rigoroser Kontingentierung

ausländischer

Importe17

-,lief auf

eine

privilegierte Sonderbehandlung

der

Agrarinteressen hinaus,

der die

Belange

der ex-

portorientierten Industriezweige

und der städtischen Verbraucher strikt

untergeordnet

werden sollten.

Aus dem

begrifflichen

Arsenal eines dezidiert

vorbürgerlichen Agrarkonservatismus

entliehsichdie bäuerliche

Protestbewegung

ein ständisch verformtes

Nationsverständnis,

welches

agrarische

Partikularinteressen vermittels nationaler Weihezu

heiligen suchte,

in-

demesden sogenanntenNährstandzum

Urgrund

und

Quell

des

Volksganzen

aufwertete.

Die Landwirtschaft im

protestantischen

NordenundOstenfocht ihren

politischen Kampf

17Zu

entsprechenden Forderungen

des Reichslandbundes vomJanuar 1933

vgl.

Winkler, Weimar, S.570ff.

(10)

mitdenselben

ideologischen

Waffenaus,mitdenen sich der

„Bund

der Landwirte"

knapp vierzig Jahre

zuvor

gerüstet

hatte18.

Doch sosehr sich dieParolen auch

gleichen

mochten

-

die

politische Qualität

dieser

zweiten

agrarischen

Protestwelle hatteeinedeutliche

Akzentverschiebung

erfahren.Besa-

ßen im

„Bund

derLandwirte" die ostelbischen Gutsherren noch ein

eindeutiges Überge-

wicht,

so tobte sichEnde der20er

Jahre

erstmalsein

genuin

bäuerlicher Unmut aus,der

vom

Großgrundbesitz

nichterzeugt

wurde,

sondernden dieser

lediglich

invonihm selbst

zukontrollierendeBahnenzulenken trachtete.

Dies machte

politisch

insofern einenentscheidenden Unterschied aus, als daßnunun-

terschiedlicheParteiendaraus ihrenNutzenziehen konnten.NochbisMitteder20er

Jah-

re konnte der

agrarische

Protest im

evangelischen

Deutschland von einer konservativen Partei

aufgefangen

werden: bis 1914

ging

der

„Bund

der Landwirte" eine enge

Bindung

mit der

„Deutsch-Konservativen

Partei"

ein19;

in derWeimarer

Republik

trat die sozial

viel weiter

ausgreifende „Deutschnationale Volkspartei" (DNVP)

das Erbe des

preußi-

schen

Agrarkonservatismus

an20.Inbeiden Fällenwarenesdie mitden

jeweiligen

konser-

vativen Parteien

personell

liierten

großagrarischen Führungsschichten,

welche dieimmer

wiedereinmalaufflackernden

agrarischen

ProtestesteuertenundunterKontrolle hielten.

Endeder20er

Jahre hingegen ging

die

Initialzündung

für das

agrarische Aufbegehren

von

der bäuerlichenBasisaus.Dabeiwich die tradierte

parochiale

Passivitätund

Unterwürfig-

keit

gegenüber

dem

gutsherrlichen

Patron allmählich einem wachsenden bäuerlichen Selbstbewußtsein

-

parallel

dazu

vollzog

sich einefortschreitende

Emanzipation

vonden

ehemals

bevorzugten politischen Ansprechpartnern.

Ohne ihre

konservative,

auf Bewah-

rung von

„Gemeinschaft"

zielende

Grundorientierung aufzugeben,

wandten sich mehr und mehrBauernvon der

„alten

Rechten" ab und der „neuenRechten" zu, in derman

einesozial

aufgeschlossenere

Versiondes

Agrarkonservatismus

zuerblickenvermeinte.

Damiteröffnete sicheinerneuen

Rechtspartei,

die ohne

Berührungsängste

vor

politisch

erwachten bäuerlichen Massen

geschickt

auf solche

politischen

Sehnsüchte

einging,

die

einmalige Gelegenheit,

die traditionellen

Rechtsparteien

aufdem

evangelischen

Lande zu

beerben. Die NSDAPstieß

geschickt

indiese

Marktlücke,

weilsie sich alsdie

zeitgemäße-

re

Agrarpartei

zu

profilieren

verstand und

peinlichst

den Eindruck

vermied,

anden Fun- damentenderdörflichen

Sozialordnung

rüttelnzuwollen.

EinesolchePartei konservativenZuschnittskonnte auch auf die

Sympathien

vielerevan-

gelischer Landpfarrer

zählen.Zwarwarendie meisten

Dorfgeistlichen

weitdavon

entfernt,

die

Dorfgemeinschaft

zuverklären-

sie

registrierten

im

Gegenteil

sehrgenau,daßdas christ- liche

Liebesgebot

wegender

parochialen Horizontverengung

aufdem LandezueinerExklu-

sivmoralzuverkümmern

drohte,

derenVerbindlichkeit sich aufden

eigenen

dörflichenLe-

benskreisreduzierte.Doch die nicht selten anzutreffende Verstocktheit derHerzenund die offensichtliche

Ausgrenzung

alles Fremdenausder

geschlossenen Solidargemeinschaft

des

18Unentbehrlichzum„Bundder Landwirte" immer nochHans-JürgenPuhle,

Agrarische

Interessen-

politik

und

preußischer

Konservatismusimwilhelminischen Reich (1893—1914), Hannover 1966,

vorallemS.83-110.

19SiehePuhle,

Interessenpolitik,

S.213-273.

20Zur DNVPsieheWernerLiebe,DieDeutschnationale

Volkspartei

1918-1924,Düsseldorf1956,ins-

besondereS.12f.;LewisHertzman, DNVP,Lincoln/Neb.1963,S.180-186;Jens

Flemming,

Konser-

vatismus als „nationalrevolutionäre Bewegung". Konservative Kritik an der Deutschnationalen

Volkspartei

1918-1933,in: DirkStegmann,

Bernd-Jürgen

Wendt,Peter-ChristianWitt(Hg.),Deut- scherKonservatismus im19und20.Jahrhundert,Bonn1983,S.295-311,vorallemS.305.

(11)

Dorfesließen die Mehrzahl der

Dorfpastoren

nichtvonihrer

Auffassung abrücken,

daß die

Dorfgemeinschaft

trotzihrerunübersehbarenSchattenseiteneiner

milieuangepaßten

Pasto-

ral immer noch förderlicherseials

jede

andereFormdes ländlichen Zusammenlebens.

Dennzuabschreckendwarenfürsiedie

Erfahrungen,

welche die

evangelischen

Landes-

kirchen mitden

gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen gesammelt

hatten. DerVer- weis aufdie Großstädte und industriellen

Zentren,

in denen die Botschaft des Pfarrers

nurnocheineverschwindende Minderheit der Getauften

erreichte,

diente ihnen alsMene- tekelfür den drohenden Zerfall der Volkskirche unterden

Bedingungen

einerfortschrei- tenden

Pluralisierung

der Lebensformen. Daß die

evangelische

KircheVolkskirchezublei- ben

habe,

stand fürsiedabeiaußerDiskussion.

Denn die

jahrhundertelange

Allianzmitderstaatlichen

Obrigkeit

hatteinden Landes- kirchen den volkskirchlichen

Anspruch befestigt,

obschon es auch im

19.Jahrhundert

nichtandeutlichen Anzeichen dafür

gefehlt hatte,

daßchristliche Monarchenander

Spit-

ze vonStaatund Kirche den

Säkukrisierungsprozeß

innerhalb der Gesellschaft nichtwür- den

rückgängig

machenkönnen.

Nichtsdestoweniger

wardervolkskirchliche

Geltungsan- spruch

der

evangelischen

Kirchen bei

Beginn

der Weimarer

Republik

noch

weitgehend ungebrochen21.

Die Landeskirchen

gaben

die

Auseinandersetzung

mit den Säkularisie-

rungserscheinungen keineswegs verloren;

diePfarrermaßenihr

pastorales

Wirken weiter-

hinamhohenMaßstab der Volkskirche.

Aus dieser

Perspektive

heraus mußte der soziale Wurzelboden der

Dorfgemeinschaft

trotzaller ihm innewohnenden

Unzulänglichkeiten

als bewahrenswert

erscheinen,

weil er

wegenseinerstärkeren Sozialkontrollein weithöherem Maße Kirchlichkeit zu

speichern

imstandewar als das Pflaster der sozialzerrissenen Stadt mit ihrerverlorenen Scharvon

wenigen Überzeugungschristen.

Der Erhalt des dörflichen

Sozialkörpers

-

also eine ge- nuin

politische Aufgabe

-

geriet

auf dieseWeisezu einem

seelsorglich begründeten

Anlie-

gen;dieDorfkircheverbündete ihr Schicksalmitdemder

Dorfgemeinschaft.

Entsprach

die

Sympathie

dermeisten

Landpfarrer

fürdiese

vorgesellschaftliche

Lebens-

form noch traditionell konservativen

Vorstellungen,

sowohnten dem

politischen Engage-

ment vieler

Dorfgeistlicher jedoch

auch Tendenzen

inne,

welche über den klassischen Konservatismushinauswiesen.Eswar

gerade

ihr

Unbehagen

ander abweisenden Außen- seiteder

Dorfgemeinschaft,

welchessieAusschau danach halten

ließ,

ob nicht die

Dorfge-

meinschaft dieser rauhen Schale entkleidet zu werden

vermochte,

ohne daß ihr

gemein-

schaftlicher Kern Schaden nahm. Aus

originär pastoralen

Gründen nahmen daher viele

Landpastoren

Zuflucht zum

politischen Programm

der

„Volksgemeinschaft".

Sieerhofften sicheine christliche

Läuterung

dörflicher

Engherzigkeit dadurch,

daß die

Dorfbewohner sich

geistig

ausder

Beschränkung

auf dasHeimatdorflösten.Durch dasEin-

flößenvonechtem

„Volksgemeinschaftsgeist"

solltesicheine

Horizonterweiterung

vollzie-

hen,

damitinden eher verschlossenenHerzendesLandvolks

wenigstens

eine Kammerfür dorffremde

„Volksangehörige" freigeräumt

würde. Die seit dem

ausgehenden ^.Jahr-

hundertzu

registrierende

nationale

Aufladung

des

protestantischen

Konservatismus22 er-

hieltausSicht vieler

Dorfpastoren

damiteinezusätzliche

seelsorgliche Legitimation.

21InformativsteÜbersichtdazu bei KurtNowak,Protestantismus und Weimarer

Republik,

in:Karl

Dietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobsen

(Hg.),

Die Weimarer

Republik

1918-

1933,Bonn1987,S.218-237,insbes.S.222.

22Dazusiehe die

glänzende

Übersichtbei Thomas

Nipperdey,

Deutsche Geschichte1866-1918,Bd. 1, München1990,S.486^195.

Abbildung

Diagramm 1: NSDAP-Wähler bei den Reichstagswahlen 1930-1933 (zusammengestellt nach den lo- lo-kalen Überlieferungen)
Diagramm 2: WL [= Wahllokal] 79 (im Stadtteil Hannover-Südstadt), kleinbürgerl. Quartier Stimmen 1000 800 600 400 h 200 KPD SPD NSDAP Sonstige H RTW 1930 KX3 RTW 1932 I ETZZl RTW 1932 II 22 RTW 1933
Diagramm 5: WL 22 (in der Nordstadt), sozial gemischtes „Kleine-Leute-Viertel"
Diagramm 6: WL 223 (in Linden-Nord), entfaltetes sozialistisches Milieu Stimmen 1000 800 b 600 r 400 200 KPD i jmm mmSPDNSDAP Sonstige  1 RTW 1930 EX3 RTW 1932 I EU RTW 1932 II Ufö RTW 1933
+2

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