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4 © E Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 1, Februar 1996, S. 4-18

Zwischen Islamisierung und Verwestlichung: Junge Frauen in Ägypten

Karin Werner

Graduiertenkolleg Entwicklungssoziologie, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, PF 100131, D-33501 Bielefeld

Z u s a m m e n fa s s u n g : Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrages ist das vielfach beobachtete Erstarken indigenisie- render islamistischer Kulturmuster in der ägyptischen Mittelklasse, das bis heute nur in wenigen empirischen Studien behandelt worden ist. In dem hier vorliegenden Beitrag werden Ergebnisse einer ethnographischen Fallstudie präsen­

tiert, die 1992/93 an der Kairoer Ein Shams Universität durchgeführt wurde. Vor der Präsentation von Fallbeispielen werden zunächst die Folgen der wachsenden Weltmarktintegration auf Wir-Gruppenprozesse in Ägypten seit den 70er Jahren behandelt. Es wird aufgezeigt, daß die Weltmarktintegration bei einem Teil der Mittelklasse eine starke kulturel­

le Westorientierung, bei einem anderen Teil einen Indigenisierungstrend mit dem Selbstverständnis eines religiösen R e­

vivalismus bewirkt hat. Anschließend werden Fallbeispiele von Studentinnen präsentiert, die drei prominente Positio­

nen im gegenwärtig stattfindenden Kulturkonflikt zwischen West- und Ostorientierung darstellen. In der abschließen­

den Diskussion werden die beschriebenen Muster als Folge der Bedeutungsverschiebung von Staat und Markt und des damit einhergehenden Bedeutungsverlusts des modernistischen Konzepts des „Bürgers“ identifiziert, welches die weib­

liche Partizipation am öffentlichen Leben jahrzehntelang getragen hatte. Es wird herausgestrichen, daß unter diesen Umständen insbesondere das islamistische Modell für eine wachsende Zahl von jungen Frauen an Attraktivität ge­

winnt.

1. Problemstellung und Stand der Forschung

Der vorliegende Aufsatz behandelt die Frage nach den Auswirkungen der verstärkten Weltmarktin­

tegration Ägyptens auf die Lebenssituation junger mittelständischer Frauen. Wie in den vergangenen Jahren sowohl von Reisenden, Journalisten als auch von Wissenschaftlern beobachtet worden ist, gibt es in der genannten Gruppe von Frauen eine verstärkte Hinwendung zu islamistischen Kultur­

mustern. Insbesondere unter den Universitätsstu­

dentinnen scheinen Kulturmuster islamistischen Zuschnitts mittlerweile eine große Anhänger­

schaft gefunden zu haben (Ahmed 1992).

Der neue sozio-religiöse Trend in den nah- und mittelöstlichen Gesellschaften ist Gegenstand vie­

ler Untersuchungen sowohl von Soziologinnen als auch von Islamwissenschaftlerlnnen. Besonders nach der Politisierung des Islam und - in Zusam­

menhang damit - der Iranischen Revolution 1979 sind zahlreiche Untersuchungen entstanden, die die verstärkte Hinwendung zum Islam thematisie­

ren (Fluehr-Lobban 1992). Wie in den zum Teil

„politisch saturierten“ Beiträgen (Burke 1988) dargestellt wird, handelt es sich bei dem gegenwär­

tig beobachtbaren Islamismus um eine überregio­

nale anti-westlich orientierte soziale Bewegung, die ihre Mitglieder in starkem Maße aus sozial ab­

wärts mobilisierten Teilen der Mittelklasse rekru­

tiert. Für die ägyptische Gesellschaft wird die star­

ke Beteiligung einer großen Zahl wirtschaftlich defizitär ausgestatteter Akademiker in islamisti­

schen Gruppierungen festgestellt (Hanafi 1982, Haddad 1986, Hussein 1983, Rafee 1983). Vor allem in politikwissenschaftlichen Beiträgen wird die wachsende Bedeutung islamistischer Diskurse als Rhetorik politischer Emanzipation in den tendentiell autokratisch regierten nah- und mittel­

östlichen Gesellschaften hervorgehoben. (Zubaida 1992, Ibrahim 1985, 1988). Neben diesen Studien, die sich vorrangig mit der Frage nach der Motiva­

tion kollektiver Akteure für deren Beteiligung an der erstarkenden islamistischen Bewegung inter­

essieren, erfolgte in bezug auf einige islamistische Gruppierungen in Ägypten auch eine Untersu­

chung ihrer Diskurse (Sivan 1983,1985).

Während die bisherige Forschung relativ umfang­

reiches und präzises Wissen über die hier grob umrissenen Fragen bereitstellt, sind andere Aspekte des gegenwärtigen Islamismus bislang kaum untersucht worden. Unbefriedigend ist vor allem der aktuelle Wissensstand bezüglich der Be­

deutung der sozio-religiösen Orientierung im All­

tag der involvierten Akteure. So ist bis heute nur in sehr wenigen Beiträgen behandelt worden, wie sich die Hinwendung zur islamistischen Subkultur praktisch vollzieht, konkret: was „religiös werden“

(tadayyun) im Alltag bedeutet, wie sich soziales Handeln und Interaktion verändern und wie dies in Selbst- und Fremdbeschreibungen der beteilig­

ten Akteure zum Ausdruck kommt. Zwar kennt

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Karin Werner: Zwischen Islamisierung und Verwestlichung 5

man heute dank der bisherigen Beiträge den Isla­

mismus „wie er im Buche steht“, - der gelebte Isla­

mismus jedoch ist bislang nur wenig erforscht wor­

den.

Eine Ursache für dieses Desiderat liegt in den von den Forscherinnen verwendeten Methoden.

Bedauerlicherweise beherrschen hier bisher ne­

ben oftmals vielschichtigen Textinterpretationen (Shepard 1989, Hoffman-Ladd 1987) Fragebogen­

untersuchungen (Zuhur 1992) und oftmals mit ge­

ringem Zeiteinsatz durchgeführte, oberflächliche qualitative Untersuchungen das Feld (el Guindi 1981, 1982). Dies änderte sich mit einer 1988 in Kairo durchgeführten Studie von A. Macleod. In der ethnografischen Studie wurde erstmals das Alltagsleben von islamistisch orientierten Frauen zum Gegenstand der Untersuchung (Macleod 1991).

Die hier präsentierte Forschung versteht sich als kritische Ergänzung und Erweiterung von Mac- leods Studie, die sich besonders intensiv mit der Situation weiblicher Angehöriger der Unteren Mittelklasse in Kairo befaßt, während die hier ver­

folgte Perspektive das Alltagsleben sozio-ökono- misch sehr unterschiedlich situierter Akteure be­

rücksichtigt. Auch beschränkt sich die hier präsen­

tierte Studie nicht nur auf die Untersuchung isla­

mistisch orientierter Akteure oder Milieus. Viel­

mehr wird die Kommunikation zwischen verschie­

denen sozialen Positionen zum Gegenstand der Untersuchung gemacht.

Sensibilität für verschiedene Positionen oder Stim­

men impliziert jedoch nicht nur die Berücksichti­

gung von Subjektpositionen verschiedener Akteu­

re. Zu berücksichtigen ist ebenfalls der kontext­

spezifische Wechsel von Positionen sozialer Ak­

teure, die während der Feldforschungskommuni­

kation verschiedene Versionen ihres Selbst zum Ausdruck brachten. Da dies nicht bedeutet, daß diese Versionen beliebig changierend, kontextlos und subjektlos produziert werden, wird im Rah­

men dieses Aufsatzes versucht, den verschiedenen Strukturierungsmechanismen solcher Versionen nachzugehen (Clifford 1986). Hierzu wurde wäh­

rend der empirischen Forschungsphase eine Ana­

lytik entwickelt, die sowohl klassen- und ge- schlechts- als auch altersspezifische Gesichtspunk­

te und Ordnungsmomente berücksichtigt. Diese sind empirisch gewonnene Ordnungskriterien, die zentrale im Feld Vorgefundene Taxonomien zu re­

flektieren vermögen.

Der hier verfolgte Ansatz der Fokussierung der praktischen Konstruktion sozio-kultureller Posi­

tionen durch verschieden situierte weibliche Ak­

teure hatte starken Einfluß auf die Form der durchgeführten ethnografischen Forschung, in der nicht nur einzelne Akteure interviewt wurden, sondern darüber hinaus die Teilnahme an deren Alltagspraxis im Vordergrund stand. Das hier­

durch gewonnene Wissen über Selbst- und Fremd­

beschreibungen, Typisierungen und Relevanz­

strukturen der untersuchten Akteure in sich von­

einander abgrenzenden sozialen Kontexten wirft ein neues Licht auf die praktischen Konstruktions­

prozesse des neuen sozio-religiösen Trends und er­

gänzt die bisherige Forschung zum gegenwärtigen Islamismus in den nah- und mittelöstlichen Gesell­

schaften. Konkret wurden über einen Zeitraum von zehn Monaten (Sept. 1992 bis Juli 1993) hin­

weg vier Studentengruppen, ihre Kommunikation auf dem Campus der Kairoer Ein-Shams Universi­

tät, das Freizeitverhalten der Mitglieder sowie de­

ren Alltag im Kontext ihrer Familien und Nach­

barschaftszusammenhänge untersucht.

Nach einer Phase der Orientierung auf dem Uni­

versitätscampus wurde deutlich, daß die hiesigen Studenten und Studentinnen unterschiedlich strukturierte soziale Gruppen bildeten, welche das Geschehen auf dem Campus maßgeblich bestimm­

ten. Wie sich relativ schnell herausstellte, spielte bei der Abgrenzung der unterschiedlichen Grup­

pen voneinander die Religiosität eine wichtige Rolle. Die auf dem Campus in verschiedenen Kohorten gleichermaßen Vorgefundene Diffe­

renzierung verlief zwischen vollverschleierten Frauen, die der islamistischen Subkultur angehö­

ren (munaqqabat), moderat-religiösen muhagga- bat (Kopftuch-Trägerinnen) und nicht verschleier­

ten Studentinnen (mingher-higab) (Werner 1995).

Beobachtungen in anderen sozialen Zusammen­

hängen bestätigten, daß diese in religiösen Termen gefaßte Differenzierung von weiblichen Angehöri­

gen der ägyptischen Mittelklasse gegenwärtig sehr weit verbreitet ist und durch sowohl im politischen wie auch kulturellen Feld vorherrschende Diskur­

se weiter aufrecht erhalten wird. Da diese Diffe­

renzierung die Selbst- und Fremdbeschreibungs­

vorgänge der hier behandelten Studentinnen maß­

geblich beeinflußte, folgt dieser Beitrag diesem Verständnis, allerdings nicht, ohne nach den ge­

sellschaftlichen Ursachen für die neuen Positionen zu fragen. Es werden im vorliegenden Aufsatz Auszüge aus drei Fallstudien wiedergegeben, an­

hand welcher wesentliche Aspekte der gegenwär­

tig in der ägyptischen Mittelklasse Vorgefundenen sozio-kulturellen Differenzierung verdeutlicht werden können.

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6 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 1, Februar 1996, S. 4-18

Vor der Präsentation von Fallbeispielen aus den verschiedenen Gruppen werden zunächst die Folgen der wachsenden Weltmarktintegration auf Wir-Gruppenprozesse in Ägypten seit den 70er Jahren behandelt. Bei der skizzenhaften Be­

trachtung werden klassen-, alters- und ge­

schlechtsspezifische Gesichtspunkte besonders berücksichtigt.

2. Ägypten zwischen West- und Ostorientierung

Nach dem Tod Präsident Nassers, 1970, und der Amtsübernahme Präsident Sadats erfolgte eine wirtschaftliche und politische Neuorientierung Ägyptens. Die bisherige regionale Rolle des Lan­

des als Motor des Arabischen Sozialismus wurde zugunsten neuer Orientierungen aufgegeben (Ibrahim 1982). Diese beinhalteten die Aufgabe bisheriger Restriktionen gegenüber privaten Wirt­

schaftsformen und, damit zusammenhängend, die Öffnung Ägyptens für den kapitalistischen Welt­

markt (Infitah) (Richards/Waterbury 1990). Diese Maßnahmen erfolgten mit Blick auf zwei neue größere Kontexte, in denen Ägypten sich neu ver- ortete: Zum einen reagierte die ägyptische Regie­

rung mit der Förderung von privaten Wirtschafts­

formen auf die sich in den 70er Jahren rapide wan­

delnde regionale Situation, die „New Arab Social Order“, die durch die neue wirtschaftliche Vor­

machtstellung der arabischen Golfstaaten geprägt ist. Zum anderen schuf die Infitah die Möglichkeit für den Aufbau von intensiven Wirtschaftsbezie­

hungen zu den westlichen Industrienationen, die hierdurch ihre Waren auf dem ägyptischen Markt plazieren konnten (Abdel-Khalek 1981).

Diese zwei neuen Orientierungen, die hier als si­

multan erfolgendes „turning East“ und „turning West“ bezeichnet werden, sind für die aktuell be­

obachtbaren Wir-Gruppenprozesse in der ägypti­

schen Gesellschaft von großer Bedeutung, da der Aufbau der oben genannten neuen Kontexte ne­

ben der ökonomischen auch die symbolische Ord­

nung der ägyptischen Gesellschaft berührt. Die konkurrierenden (aber u.U. auch einander kom­

plettierenden und alltagspraktisch miteinander verknüpften) Identitätsmuster dienen verschiede­

nen gesellschaftlichen Gruppen zur Gestaltung von distinktiven Lebensstilen und somit zur Mar­

kierung der eigenen Position im lokalen, regiona­

len und globalen Kontext. Im folgenden werden einige Konsequenzen der doppelten Neuorientie­

rung Ägyptens dargestellt.

Ägyptens Integration in die „New Arab Social Or­

der“ war zu Beginn der 70er Jahre durch die Ab­

sicht gekennzeichnet, am Ölreichtum der Golf­

staaten zu partizipieren. Mit der neuen privatwirt­

schaftlichen Orientierung wurde die Hauptvoraus­

setzung für eine intensive regionale Verflechtung unter den Bedingungen der Hegemonie der Öl­

staaten geschaffen. Die neue Wirtschaftsmacht der Ölstaaten, und hier besonders Saudi Arabiens, hatte auch politische Konsequenzen: Das Saudi Regime, das in den 70er Jahre enge Verbindungen zur US-Regierung knüpfte, nutzte seine wirt­

schaftlichen Ressourcen in der politischen Arena zu ständigen Interventionen in die Angelegenhei­

ten der ärmeren Nachbarstaaten (Kerr/Yassin 1982). Die neuen Verhältnisse artikulierten sich auch kulturell. Der in starkem Maße vom Saudi Arabischen Herrscherhaus propagierte Islamis­

mus löste die zuvor regional dominierende Identi­

tät des Arabischen Sozialismus weitgehend ab.

Das Selbstverständnis des Petro-Islam ist das einer Religion des „Erfolgs“, da materieller Wohlstand mit einer religiös legitimierten Normativität und einer purifizierenden Expressivität verknüpft wer­

den.

Die islamistische Orientierung spielt innerhalb der Vernetzungen auf regionaler Ebene eine nicht zu unterschätzende Rolle und ist auch in der ägypti­

schen Gesellschaft auf vielen Ebenen gegenwärtig.

Hier ist der wachsende Einfluß des Islamismus we­

sentlich auf die große Zahl von ägyptischen Ar­

beitsmigranten zurückzuführen, die zeitlich be­

grenzt in den Arabischen Golfstaaten arbeiten und nach ihrer Rückkehr ihren Lebensstil an der Er­

folgsreligion „made in Saudi Arabia“ orientieren (Amin 1991, Stauth 1986). Dieses Phänomen der

„rising middle dass“, die ihren Wohlstand mit ei­

ner religiösen Semantik verbindet, ist eine wichti­

ge Folge der ägyptischen Integration in die Neue Arabische Wirtschafts- und Sozialordnung. Doch nicht nur die Arbeitsmigration fördert die wach­

sende Popularität des neuen regionalen Identitäts­

angebots in Ägypten, sondern auch die zahlrei­

chen Interventionen Saudi Arabiens, durch welche der Versuch unternommen wird, die religiöse Er­

folgs-Semantik in vielen Bereichen der ägypti­

schen Gesellschaft zu etablieren. Vor allem die Medien und der Universitätscampus sind Arenen der Saudi Arabischen Intervention: So finanzierte Saudi Arabien eine der prominentesten ägypti­

schen Fernsehsendungen zu Islam und Wissen­

schaft. Auch der mondän anmutende neue Cam­

pus der Al-Azhar Universität in Nasser City wurde von dieser Seite finanziell unterstützt (Cantori

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Karin Werner: Zwischen Islamisierung und Verwestlichung 7 1981). Neben solchen Großprojekten engagierten

sich die zahlungskräftigen Sponsoren vom Golf in der Förderung islamistischer (Studenten)-Grup- pen (Davis 1984, Ayubi 1980). Auch die islamisti- sche Frauengruppe, die in Fallbeispiel 3.3 geschil­

dert wird, empfängt saudi-arabische Mittel. (Die Unterstützung erfolgt konkret durch Bücher, Pro­

spekte, Poster, Musik- und Videocassetten sowie durch Geldspenden).

Neben dem „turning East“ erfolgte im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung Ägyptens auch die Inten­

sivierung der Beziehungen mit wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Institutionen der west­

lichen Industrienationen. Ein wesentlicher Aspekt dieser intensivierten Kommunikation ist der Zu­

strom westlicher Produkte auf den ägyptischen Markt und damit einhergehend auch die Präsenta­

tion von Bildern und Narrativen, die die distinkti­

ve Aura der Konsumgüter unterstreichen. Die neuen Bilder, die verschiedene Konsumenten­

gruppen ansprechen, sind inzwischen fester Be­

standteil der symbolischen Ordnung der ägypti­

schen Gesellschaft. Etabliert sind mittlerweile auch westliche TV-Serien und Spielfilme, die feste Sendeplätze im ägyptischen Fernsehen besetzen.

Die Etablierung neuer Kommunkationsschienen zwischen Ägypten und den westlichen Industrie­

gesellschaften impliziert auch eine Aufwertung westlicher Fremdsprachen. Diese sind einerseits Teil der Aura eines exklusiven Lebensstils und da­

her Objekt des Begehrens, andererseits aber auch notwendig, um im expandierenden privaten Wirt­

schaftssektor eine Stelle zu bekommen. Teuer und exklusiv ist ein Studium an einer privaten Lan­

guage-School oder an der American University in Cairo (AUC), die nach der wirtschaftlichen Öff­

nung einen rapiden Anstieg der Studentenzahlen verzeichnete. Auf dem Campus der AUC domi­

niert die Baseballkappenfraktion, d.h. diejenigen Studenten, die eine original US-amerikanische Ba­

seballmütze tragen. Als 1993 der US-amerika­

nische Musik-Sender MTV erstmals auch in Ägyp­

ten via Satellit zu empfangen war, wurde eine Rie­

senparty auf dem Campus gefeiert. Es wurde ein Großbildschirm auf einer Bühne installiert, und etwa 1000 Studentinnen feierten ihre neue Con­

nection zur „coolen“ US-Jugendkultur.

Eine zentrale Komponente der intensivierten Kommunikation zwischen ägyptischen und westli­

chen Akteuren bzw. Institutionen betrifft den Tou­

rismussektor, der sich in den vergangenen Jahr­

zehnten zu einem der wichtigsten Wirtschaftszwei­

ge des Landes entwickelt hat. Auch die Zahl der

Ägypter, die ins westliche Ausland reisen, ist wäh­

rend dieser Zeit beträchtlich angestiegen.

In die Entwicklung beider Orientierungen, „tur­

ning East“ und „turning West“, die partiell kon­

kurrierende Identitätsangebote bereitstellen, greift der ägyptische Staat ein. Ziel der staatlichen Politik ist es einerseits, die Verbindungen zum mächtigen Nachbarn Saudi Arabien zu pflegen und auszubauen, andererseits aber auch die Mög­

lichkeiten auszuschöpfen, welche die Kommunika­

tion mit den westlichen Industrienationen bietet.

Ergebnis des Doppelengagements ist ein politi­

sches Hin- und Herlavieren, das sich u.a. an der pluralen Medienpolitik des ägyptischen Staats be­

obachten läßt (Springborg 1989). Der hohe Stel­

lenwert der regional integrativen islamistischen Identität wird durch eine Vervielfachung der Sen­

dezeit religiöser Beiträge in den 70er und 80er Jah­

ren repräsentiert (Ibrahim 1988, Hanafi 1982).

Aber auch der Anteil US-amerikanischer und eu­

ropäischer Medienprodukte nahm zeitgleich stark zu. Während derartigen Identitätsangeboten (Sen- de)Platz eingeräumt wird, zeigt die genauere Be­

trachtung jedoch auch, daß vor allem im Fernse­

hen eine geschickte Strategie praktiziert wird, die man als visuelles „Nachhauseholen“ bezeichnen kann. Damit ist gemeint, daß beispielsweise die täglich ausgestrahlte US-amerikanische Serie

„The Bold and the Beautiful“ von dynamischen Zusammenschnitten der imposantesten Kultur- und Natureignisse Ägyptens eingerahmt wird. Der Betrachter wird so „aus der Fremde“ in die „ägyp­

tische Heimat“ geholt. Die gleiche Technik wird im Monat Ramadan angewendet, wenn die ägypti­

sche Fernsehnation einen Monat lang Tagesausflü­

ge nach Saudi Arabien und zurück unternimmt. In den letzten Minuten vor dem Fastenbrechen wer­

den Filmsequenzen aus Mekka gezeigt, doch nach dem Ruf des Muezzins wird dieser Raum verlas­

sen, um nach Ägypten zurückzukehren, wo die na­

tionale Ikone des Islam, Sheik Mitwalli Sha’rawi, zu den Gläubigen spricht. Wie bereits angedeutet, zielt die staatlicherseits betriebene Politik der Schnitte, Verbindungen und Hybridisierungen dar­

auf ab, die verschiedenen grob beschriebenen Identitätsangebote zu verwalten. Um das „sowohl als auch“ zu ermöglichen, wird von einem Stand­

punkt aus operiert, der für sich beansprucht, Diffe­

renzen wie „nah und fern“, „vertraut und fremd“

etc. von einer zentrierten nationalen Position aus zu kontrollieren. Dabei agieren staatliche Organi­

sationen in Konkurrenz mit gesellschaftlichen Gruppen, die die hier grob beschriebene kulturelle Klaviatur gerne anders spielen würden und die

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den staatlicherseits propagierten Mix aus Mo­

schee, Pharao und Baseballkappe ablehnen.

Die verstärkte Weltmarktintegration Ägyptens be­

wirkte die Umverteilung ökonomischer Güter und veränderte somit das Verhältnis zwischen den sozi­

alen Klassen. Die wirtschaftliche Öffnung Ägyp­

tens führte zu verstärkten sozialtopografischen Polarisierungen. Die hier fokussierte Mittelklasse betreffend, ist ein Auseinanderklaffen der Situa­

tion von Erwerbstätigen des privaten und des öf­

fentlichen Sektors zu beobachten (El-Shagi 1980).

Zur Gruppe der aufwärtsmobilisierten Mittelklas­

seangehörigen zählen auch die oben bereits er­

wähnten Arbeitsmigranten. Abwärtsmobil sind hingegen die zahlreichen Beschäftigten des öffent­

lichen Sektors, von denen viele jedoch nach Feier­

abend auch im privaten Sektor arbeiten.

In bezug auf die Zuordnung der auf- bzw. abwärts­

mobilisierten Fraktionen der Mittelklasse zu den oben beschriebenen Orientierungen kann festge­

stellt werden, daß sowohl die kulturellen Muster des „turning West“ als auch die des „turning East“

zur Ausprägung distinktiver Lebensstile genutzt werden. Dabei verlaufen die Grenzen der neu sich abzeichnenden Lebensstile quer durch die sich materiell und kulturell diversifizierende Mittel­

klasse.

Auch die soziale Kategorie Alter betreffend (hier auf das Verhältnis von verschiedenen Generationen bezogen), ist ein Wandel durch die wachsende Welt­

marktintegration zu verzeichnen. Hier ist zu beob­

achten, daß sich die Generationskluft vertieft, da durch materielle Heiratshandicaps (fehlende Res­

sourcen für Wohnungen etc.) die Jugendphase eines wachsenden Teils der Mittelklasse um Jahre verlän­

gert wird. In jungem Alter heiraten und, damit ein­

hergehend, „erwachsen sein“ wird mehr und mehr zum Privileg saturierter Mittelklassefraktionen. In­

nerhalb der übrigen Mittelklasse aber verlängert sich die Abhängigkeit der jungen von der Elternge­

neration, was mit der wachsenden Bedeutung patri­

archalischer Familienmodelle einhergeht. Der Be­

deutungsgewinn von patriarchalischen Modellen des Zusammenlebens wird auch als Teil des „tur­

ning East“ kontextualisiert, d. h. über eine islamisti- sche Semantik legitimiert (siehe hierzu auch Shara- bi 1988). Diese Entwicklung wird auch vom Staat unterstützt, der die Kultivierung der patriarchali­

schen Familie propagiert, da diese Institution aktu­

ell ökonomische Funktionen übernimmt, die vor­

mals der nasseristische „patron state“ abdeckte.

Neben dem Bedeutungsgewinn patriarchalischer Modelle in der Ausgestaltung des Verhältnisses

der Generationen durch Familie und Staat ist auch die gegenläufige Tendenz zu beobachten, die vor allem von Marktagenturen unterstützt wird. Diese gegenläufigen Entwicklungen werden hier als Au- tonomisierungsbestreben der Jugend bezeichnet.

Es steht unter dem Einfluß von medial vermittel­

ten, meist westlich orientierten Bilderwelten, die jugendliche Horizonte prägen und Vorstellungen von jugendlichem Leben als „frei von elterlichen Zwängen“ unterstützen. Die symbolische Allianz von Marktinstitutionen und Jugendlichen beinhal­

tet auch die Etablierung von sozialen Räumen, in denen jugendliche Konsumenten ihre Zeit ver­

bringen können (Fastfoodrestaurants, Kinos, Dis­

kotheken etc.). Die Etablierung dieser Räume be­

günstigt die Entwicklung jugendlicher sozialer Zu­

sammenhänge mit eigenen sozialen Normen.

Die neuen Orientierungen berühren auch das Ge­

schlechterverhältnis. Hierbei ist, einhergehend mit dem gesellschaftlich an Einfluß gewinnenden Pa­

triarchalismus, eine Tendenz der Verdrängung der Frauen von außerhäuslicher Erwerbstätigkeit zu beobachten, die durch komplementarisierende Geschlechterdiskurse islamistischen Zuschnitts le­

gitimiert wird (Hatem 1986,1988,1992, Hoffman- Ladd 1987). In diesen wird Bezug auf geschlechter- segregierende Normen genommen, die die Kom­

munikation zwischen Männern und Frauen sowohl innerhalb wie außerhalb der Familie neu zu regeln suchen. Neben der Verdrängung der Frauen vom außerhäuslichen Arbeitsplatz ist als zweiter Kern­

aspekt der patriarchalischen Geschlechterpolitik das Erstarken der Virginitätsnormen und die da­

mit einhergehende zunehmende normative Ein­

schnürung des Handelns insbesondere junger Frauen zu bemerken.

Die Genese dieser islamistischen Modellen ver­

pflichteten Komplementarisierung der Geschlech­

ter ist auch in der Relation der sozialen Klassen und der Altersklassen miteinander signifikant:

„Religiös sein“ und als junge Frau den higab tra­

gen ist ein expressives habituelles Vorhaben, das die individuelle Mitgliedschaft zur umma als einer Gemeinschaft der „gebildeten“, „zivilisierten“ und

„erwachsenen“ Muslime von sozialem Rang mar­

kiert.

Gegenläufig zu den patriarchalischen Tendenzen, die vom Staat unterstützt werden, fördern Markt­

agenturen den Aufbau von beidgeschlechtlich un­

terhaltenen Kommunikationskontexten außerhalb der Familie. Dieser Prozeß geht einher mit der Entwickung von Symbolen, welche die Interaktion innerhalb der neu entstehenden Räume vermit­

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Karin Werner: Zwischen Islamisieiung und Verwestlichung 9

teln, die zumeist von jugendlichen Angehörigen der Oberen Mittelklasse vereinnahmt werden. Ins­

besondere die Präsentation des jungen heterose­

xuelle Paars, das sowohl klassiert als auch ge­

schlechtlich signifiziert wird, steht im Mittelpunkt der hier prominenten westlich orientierten Bilder­

welten. Zentrale Komponente des „aging/classing/

gendering“ in diesen Kontexten ist die Erotisie- rung des weiblichen Körpers, der als erotisch ge­

zeichneter in die Bilderwelt der Oberen Mittel­

klasse eingeschrieben wird.

Es soll im folgenden anhand von Fallbeispielen dargestellt werden, inwiefern diese Dynamiken die Lebenssituation von Kairoer Studentinnen be­

rühren. Es geht dabei um die Frage, welche Identi­

tätsmuster sich an verschiedenen Positionen her- auskristallisieren und wie die oben beschriebenen Spannungen zwischen wachsenden ökonomischen, Alters- und Geschlechterdifferentialen von einzel­

nen Studentinnen praktisch bewältigt werden.

Hierbei wird sich zeigen, daß das von zwei gesell­

schaftlichen Strömungen aus erfolgende Einge­

sponnenwerden in partiell widersprüchliche Er­

wartungen zu einer Feminisierung der Folgen der Infitah im Sinne einer gesellschaftlichen Balance­

verschiebung zu Ungunsten der jungen Frauen führt.

3. Fallbeispiele

3.1 Mayada: Soziale Facetten der modernistischen Jugendkultur

Zunächst wird die Situation einer 18-jährigen Stu­

dentin beschrieben, die im Obere-Mittelklasse- Viertel „Misr al-Gadida“ (Heliopolis) wohnt und deren Lebensstil sich stark an westlichen Normen und Bildern orientiert. Mayadas Familie (in der dritten Generation mit staatlichen Bildungstiteln ausgestattet) pflegt einen „modernen“ Lebensstil.

Ihr Vater ist als Architekt selbständig, ihre Mütter, die stolz auf ihren Magisterabschluß hinweist, ist offiziell Studentin an der gleichen Fakultät wie ihre Tochter, der Übersetzungsfakultät der Ein Shams-Universität. In verschiedenen Gesprächen erklärt Mayadas Mutter die Struktur der ägypti­

schen Gesellschaft wie folgt: „Ägypten ist wie eine Pyramide. Ganz unten sind die Fellachen, deren Leben sich seit Jahrtausenden nicht verändert hat, in der Mitte sind die ungebildeten Leute in der Stadt, und an der Spitze der Pyramide Ägypten sind wir modernen und gebildeten Ägypter.“ Sie betont die Modernität ihres Stadtviertels, das „ge­

nauso“ sei wie Europa. „Wir haben hier alles, was Ihr Europäer auch habt: Kino, Restaurants, Clubs...“. Ihre Zugehörigkeit zum modernen Viertel wird noch dadurch unterstrichen, daß sie ihre Hilflosigkeit außerhalb seiner Grenzen be­

tont. Sie beschreibt sich im heruntergekommenen Kairoer Stadtzentrum gar als „so verloren wie eine Touristin“. Sie ist stolz auf ihre in teuren Bou­

tiquen gestylte exklusive Weiblichkeit, die sie mit dem Begriff „lady“ (in Englisch) umschreibt. Auf die wachsende gesellschaftliche Verbreitung isla- mistischer Attribute von Weiblichkeit angespro­

chen, die mittlerweile auch die Schaufenster von Misr al-Gadida als eine Kleideroption erreicht ha­

ben, reagiert sie mit starker Ablehnung. Sie er­

klärt: „Meine Großmutter legte den higab (islami- stische Kopfbedeckung) ab, warum soll ich ihn wieder anlegen? Ich bin eine gebildete Frau, die weiß, was sich gehört und brauche mich nicht hin­

ter Äußerlichkeiten zu verstecken. Der higab ist etwas für kulturlose Fellachen und Terroristen.“

Mayadas Familie ist Teil eines Freundeskreises, der aus Obere-Mittelklasse-Familien besteht, die regelmäßig Zusammenkommen und Nachmittage gemeinsam verbringen. Gemischt(geschlechtlich)e Kontexte sind auch außerhalb des Freundeskreises der Familie wichtig für Mayada. Seit ihrer frühen Kindheit ist sie Mitglied in einer gemischten Cli­

que, deren Mitglieder sich fast täglich treffen und ihre Freizeit gemeinsam verbringen. Neben dem exklusiven Shams-Sportclub stellen Marktinstitu­

tionen eine wichtige Komponente der Freizeitge­

staltung dar: Die vielen Fastfood-Restaurants, Eis­

cafes, Kinos und Geschäfte von Misr al-Gadida bilden den räumlichen Rahmen von Freizeitaktivi­

täten. Dort trifft man andere Cliquen, mit denen man dann etwa Autofahrten quer durch Kairo un­

ternimmt. Neben diesen Räumen, die sich in ihrer Werbung explizit als adäquates räumliches Umfeld solcher Cliquen präsentieren, ist eine weitere Insti­

tution wichtig zum Verständnis für die wachsende Bedeutung der gemischten Jugendgruppen. Dies ist die gemischte Privatschule, in der ein elitäres Klassen- und Altersgruppenverständnis kultiviert wird. Diese doppelte Distinktion findet ihren Aus­

druck in einer starken Orientierung vor allem an US-amerikanischen kulturellen Vorbildern. Dazu gehört auch, US-amerikanischen Slang zu spre­

chen, „coole“ Sonnenbrillen zu tragen und Aspek­

te US-amerikanischer Hippykultur zumindest in leisen Anspielungen zu inkorporieren. Es soll hier nochmals unterstrichen werden, daß die elitären Symbole Distanz sowohl zu weniger elitären ju­

gendlichen Lebensformen vermittlen, die als „un­

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cool“ abgelehnt werden, als auch zu denen der An­

gehörigen der älteren Generation, deren Lebens­

weise als „von gestern“ abgelehnt wird.

Strukturelle Grundkomponenten von Mayadas Clique sind vor allem Freundschaftsbeziehungen (sie werden losgelöst von und teilweise gegen den Willen der Familie unterhalten), und in anderen Kontexten nicht legitime heterosexuelle Paarbe­

ziehungen, die im folgenden näher betrachtet wer­

den.

Die Paarbeziehung ist innerhalb der Cliquen in das Verhältnis zweier geschlechtlich differenzier­

ter Subgruppen eingebettet, die tendentiell von der männlichen (erheblich kohärenteren) Sub­

gruppe dominiert wird. Als ein Grund für diese Asymmetrie können Legitimitätsvorschüsse der männlichen Gruppenmitglieder in dieser histo­

risch als männlich definierten halböffentlichen Arena genannt werden, zu der Frauen erst un­

längst Zutritt erhalten haben.

Geschlechterasymmetrische Strukturen werden auch in der körperlichen Beziehung der heterose­

xuellen Paare deutlich, die trotz ihrer Situiertheit in einem an materiellen und symbolischen Res­

sourcen gewinnenden jugendlichen Sonderraum patriarchalischen Normen verpflichtet bleibt. Für die beteiligten jungen Frauen hat dies zur Konse­

quenz, daß sie sich in einer vorehelichen Bezie­

hung in einer schwierigen Situation befinden, da sie zwischen den widersprüchlichen Normen der gemischten Clique und denen der Familie vermit­

teln müssen.

Am Beispiel der untersuchten Jugendgruppe läßt sich zeigen, daß die Position der jungen Männer der Oberen Mittelklasse innerhalb der gegenwär­

tig sich entwickelnden gemischtgeschlechtlichen Jugendkultur eine Stärkung erfährt, da sie weniger stark als die Frauen von Restriktionen und Wider­

sprüchen belastet die Angebote der Marktagentu­

ren annehmen können. Demgegenüber ist die Teil­

nahme junger Frauen an der westlich orientierten Jugendkultur aufgrund ihres fragilen und halblegi­

timen Status neben den nach wie vor gültigen pa­

triarchalischen Normen der Institution Familie mit speziellen Risiken verbunden. Der fragile Status der gemischten Jugendinstitutionen wird auch durch die Tatsache belegt, daß voreheliche Intim­

beziehungen, die zentraler Teil der gemischten Ju­

gendinstitutionen sind, in den meisten Fällen nicht in eheliche Beziehungen überführt werden. Wäh­

rend die Männer relativ risikolos zwischen vorehe­

lichen und ehelichen Beziehungen wechseln kön­

nen, sind für die jungen Frauen entwürdigende,

riskante und verletzende Praktiken wie Abtrei­

bung und Wiederherstellung ihres Hymens die Konsequenz ihrer Teilnahme an der gemischten Jugendkultur.

Wie der Fall Mayadas verdeutlicht, ist die westlich orientierte Jugendkultur ein sozialer Raum, in welchem Normen gelten, die mit denen in anderen sozialen Umgebungen zumindest partiell konfli- gieren. Ein Austragungsort dieser normativen Konflikte ist der weibliche Körper, der in den ver­

mehrt entstehenden Jugendgruppen aus der Virgi- nitätsnorm entlassen wird, da die Integration von Männern und Frauen hier über heterosexuelle Paar- d.h. hier auch: Intimbeziehungen organisiert wird. Da die Überführung vorehelicher Paarbezie­

hungen in eheliche bislang eher selten ist - die Gründe hierfür liegen in mangelnden Handlungs­

spielräumen sowohl der jungen Männer als auch der jungen Frauen gegenüber ihren intervenieren­

den Familien - ist die Teilnahme an der gemisch­

ten Jugendkultur für die jungen Frauen tendentiell mit sozialem Prestigeverlust verbunden. Sie blei­

ben außerhalb des jugendlichen Sozialraums wei­

terhin der Virginitätsnorm verpflichtet.

3.2 ’Abir: Manövrieren zwischen den sozio- kulturellen Positionen

Der zweite hier präsentierte Fall behandelt die Si­

tuation der Studentin ’Abir (21), deren Familie im Untere-Mittelklasse-Viertel Dar al-Salam wohnt.

’Abirs Vater arbeitet als Busfahrer, ihre Mutter in einer nahegelegenen Näherei. Abir hat drei Brü­

der, die, ebenso wie ihre Schwester, höhere Bil­

dungsinstitute besuchen. Die Familie ist stolz auf den Erfolg der Kinder in den Bildungsinstitutio­

nen. Man betont, daß man den Erfolg „ehrlich“, d.h. nicht durch Privatstunden erkauft, errungen habe. ’Abir trägt bereits seit ihrer frühen Jugend den higab. In ihrem Fall ist der higab ein größeres Kopftuch in dezenten Farben, das mit Nadeln un­

ter ihrem Kinn befestigt ist. Neben dem Kopftuch trägt ’Abir Kleidung, die sie als „in Überstimmung mit den religiösen Vorschriften“ bezeichnet. Auch klassifiziert ’Abir ihre Straßenkleidung als „lady“- like und „chic“ (in Englisch).

Bei der Beschreibung ihrer Lebensbedingungen bzw. ihrer persönlichen Orientierung bezieht sich

’Abir auf islamistische, ägyptianisierende als auch auf westlich orientierte kulturelle Muster. Sie be­

tont, daß in ihrem Stadtviertel die „richtigen Ägypter“ leben. Anders als einige ihrer Kommili- toninnen, deren Verkehren in gemischten Cliquen

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Karin Werner: Zwischen Islamisierung und Verwestlichung 11 sie als moralisch verwerflich ablehnt, wüßten die

Bewohner ihres Viertels, was sich gehöre. Auch betont sie, daß in ihrem Viertel Familien- und Ver­

wandtschaftsbeziehungen von primärer Bedeu­

tung seien. Freundschaften werden als zweitrangig eingestuft. Eine feste Mitgliedschaft in einer ge­

mischten Clique unterhält ’Abir nicht. Während etliche der wohlhabenderen Kommilitonen nach­

mittags in die Stadt oder in den Sportclub fahren, um dort ihre Freizeit zu verbringen, fährt ’Abir nach den Vorlesungen mit dem Fakultätsbus nach Haus, um das Abendessen für die Familie zuzube­

reiten.

Eine wichtige Rolle in ’Abirs Selbstdarstellung nimmt der higab ein. Wenn sie über den higab spricht, verortet ’Abir sich zunächst durch eine Af­

filiation zur islamischen umma (Gemeinschaft al­

ler Muslims). Sie betont, daß der higab die Pflicht einer jeden Muslimin sei. Darüber hinaus verortet

’Abir sich selbst zwischen der imaginierten Grup­

pe der „schlechten Mädchen“, d.h. denjenigen, die keinen higab tragen, und den „Fanatikerinnen“, d.h. den Anhängerinnen der islamistischen Sub­

kultur.

’Abir vermittelt zwischen beiden Positionen, in­

dem sie zur religiösen noch die nationale Identität hinzunimmt, um ihre Position zu legitimieren. So bezeichnet sie die Angehörigen der islamistischen Subkultur als „von Saudi Arabien oder dem Iran beeinflußt“. Diese Strömung wird von ’Abir, die sich in ihrer Argumentation auf den oben bereits genannten Sheikh Sha’arawi bezieht, als „falsch in­

terpretierter Islam“ abgelehnt. Dennoch übt der niqab (Gesichtsschleier) der weiblichen Angehöri­

gen der islamistischen Subkultur Ägyptens auf sie eine große Faszination aus, und sie respektiert die großen Anstrengungen der Vollverschleierten für die Religion. Ebenfalls als „fremd“ („Imitatorin- nen des Westens“) werden diejenigen Frauen be­

wertet, die keine Kopfbedeckung tragen. In Schil­

derungen stellt ’Abir sich selbst als den Imitatorin- nen überlegen dar: „Als wir Kinder waren, gingen meine Brüder und ich öfter in die Stadt, um die großen Hotels und die glänzenden Touristenbusse anzuschauen. Staunend sahen wir Leute aus Euro­

pa und Amerika. Ihr Anblick faszinierte uns, und wir wollten auch so schön aussehen ( . . . ) aber als ich älter war, erkannte ich durch Bücher, die ich las und eine gute Lehrerin, die ich hatte, daß das Imi­

tieren schlecht ist, und nicht nur schlecht, sondern auch dumm.“

Das Motiv des vielen Lesens und Erkennens, der inneren Reife und des Erwachsenwerdens ist bei

’Abir und auch bei anderen befragten muhaggabat (/z/gab-Trägerinnen) ein zentrales und dient der Artikulation ihrer Überlegenheit gegenüber den

„Imitatoren des Westens“. Wie diese Zitate nahe­

legen, ist mit dem higab neben der Betonung der religiösen und nationalen Identität auch der Status einer erwachsenen jungen Frau gekoppelt, die sich dadurch auszeichnet, daß sie „ihre Grenzen kennt“. Die Hauptinhalte dieser Normen werden von ’Abir auf die Kommunikation mit Männern bezogen. So betont sie ihre Qualifikation als Frau, deren innerer Reifegrad dem einer verheirateten Frau entspricht. Durch das Einnehmen dieser vir­

tuellen Ehefraudisposition distanziert ’Abir sich von den unverschleierten „Imitatorinnen“, die sich in ihren Augen als zukünftige Ehefrauen dadurch disqualifizieren, daß sie durch das öffentliche Zur­

schaustellen ihres Körpers ihrem späteren Ehe­

mann untreu sind, als dessen exklusiver Besitz „die weibliche Schönheit“ angesehen wird. Selbst Makeup, weiße Stöckelschuhe und feminine Ko­

stüme tragend, betont ’Abir in ihrer Selbstdarstel­

lung die Differenz zu Frauen ohne Kopfbe­

deckung. In häufigen Gesprächen werde ich ge­

nauestem über den weiblichen Körper als erogen gezeichnetem Körper informiert. Ich werde einge­

hend über die Mikropolitik der „Kompromisse“

zwischen der als „westlich“ klassifizierten „sexy“- Norm und der religiös begründeten „Höflich- keits“-Norm aufgeklärt, so z.B. wieviel von wel­

chem Makeup noch im Rahmen des Erlaubten liegt und wie oft eine muhaggaba ein solches Makeup anlegen kann, ohne ihren guten Ruf zu verlieren. Bei meinen Aufenthalten an der Fakul­

tät beobachtete ich, daß sich die muhaggabat von

’Abirs Jahrgang gegenseitig kontrollieren und in intensiven Verhandlungen die Grenze zu den un­

verschleierten Mitstudentinnen verteidigen.

Der starke Bezug auf patriarchalische Normen wird von den muhaggabat als Position gegen die erotisierenden Geschlechternormen der gemisch­

ten Jugendkultur gerichtet. Junge Männer werden von den muhaggabat als „Kameraden“ geschlecht­

lich neutralisiert oder aber als ernstzunehmende Heiratskandidaten betrachtet. Die innerhalb der gemischten Cliquen gepflegten (Intim)Freund- schaften zwischen den Geschlechtern werden von

’Abir und anderen muhaggabat kategorisch abge­

lehnt. Damit einhergehend wird ein abwertender Diskurs über „verantwortungslose junge Männer“

geführt, die sich aufspielten als seien sie erwach­

sen, die tatsächlich aber nur versuchten, junge Frauen zu betören, um sie später wieder fallenzu­

lassen.

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12 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 1, Februar 1996, S. 4-18

Die zweite Gruppe, von der ’Abir sich auch mit Hinweis auf ihren higab distanziert, sind die „ein­

fachen“ oder „ungebildeten Frauen“. Diese wer­

den von ihr mit einer Rhetorik beschrieben, die zwischen Jovialität und Verachtung wechselt. In Gesprächen betont ’Abir die wichtige Bedeutung ihrer Bildung. Mit Blick auf die weniger gebildete Frauen in ihrer Umgebung äußert sie, daß diese kein Wissen über gesellschaftliche und religiöse Angelegenheiten hätten. Sich selbst als Teil der

„gebildeten Elite Ägyptens“ beschreibend, nimmt sie Bezug auf ein Verständnis von Staatsbürger­

tum, das der offiziellen Zeitungsdiktion ent­

spricht. In diesem werden nationale Entwick­

lungsziele und religiös begründete ethische Vor­

stellungen individuellen Handelns verbunden.

Wie ’Abir betont, bedeutet Bildung für sie ganz zentral die Erlangung handlungsrelevanten reli­

giösen Wissens.

Damit sind die Bezüge, die /i/gab-Trägerinnen bei ihrer Selbstdefinition entwickeln, jedoch nicht er­

schöpft. Während die higab-Disposition im vor­

hergehenden Absatz als Teil einer weiblichen Loyalität mit patriarchalischen Normen und die damit verbundenen normativen Einschnürungen weiblichen Handelns beschrieben wurde, kristalli­

sierte sich im Verlauf der Feldforschung heraus, daß diese Loyalität den involvierten Frauen ande­

rerseits auch neue Handlungsspielräume eröffnet.

Den aus ihrer symbolischen Affiliation zu patriar­

chalischen Geschlechternormen abgeleiteten Bo­

nus der „moralisch besseren Frauen“ versuchen muhaggabat für sich dahingehend umzusetzen, von der Position der symbolisch Alliierten aus die Gültigkeit gewisser normativer Postulate des pa­

triarchalischen Trends außer Kraft zu setzen (A. Macleod 1991). Diese Position des „accommo­

dating protest“ bzw. des „feminism in reverse“

(Watson 1994) wird u.a. an der Haltung der muhaggabat zur Frauenerwerbstätigkeit deutlich:

Hier vertraten muhaggabat zunächst den offiziel­

len Standpunkt, daß Frauen nach ihrer Ehe besser nicht erwerbstätig sein sollten. Anschließend wur­

de jedoch mit Hinweis auf ihre moralische Überle­

genheit gegenüber Nichtverschleierten ein Son­

derrecht eingefordert: „Wir muhaggabat wissen, was sich gehört und sind keine Gefahr für männli­

che Arbeitskollegen, da sie unsere Schönheit nicht sehen können.“ Auch ein zweites Argument wur­

de zu Felde geführt. Dieses zielt darauf ab, daß muhaggabat als gebildete und wohlerzogene Frauen die Pflicht gegenüber der ägyptischen Na­

tion hätten, dieser ihr Wissen in Form von Er­

werbstätigkeit bereitzustellen.

Dieses Prinzip des Sichbekennens zu patriarchali­

schen Normen einerseits und dem praktischen Un­

terlaufen dieser Normen andererseits ist auch in der Kleiderpolitik vieler muhaggabat sichtbar. Hy­

bride Kombinationen von higab mit Jeans und Turnschuhen können etwa als passende Kleidung für die „moderne junge Frau, die weiß was sich ge­

hört“, interpretiert werden, d.h. kulturelle Kapita- lia des „turning West und des „turning East“ wer­

den hier miteinander verschmolzen.

3.3 Randa: Die praktische Konstruktion einer islamistischen Subkultur

Die dritte hier behandelte Disposition ist die eines weiblichen Mitglieds der islamistischen Subkultur.

Randa (19) wohnt mit ihrer Mutter, die Lehrerin ist, und ihrer Schwester im modernen Mittelklasse­

viertel ’Aguza. Randas Vater, der Bauingenieur gewesen war, starb vor acht Jahren, nachdem die Familie fünf Jahre lang in Saudi Arabien gelebt hatte.

Um Randas Orientierung darzustellen, wird im folgenden eine Kurzversion ihres Konversionsnar- rativs wiedergegeben. Dieses Narrativ war ein Dauerbestandteil sowohl von Randas und meiner Kommunikation als auch der Kommunikation Randas mit anderen Studentinnen. Randa unter­

teilt ihr bisheriges Leben in folgende Phasen: Die idealisierte Kindheit in Saudi Arabien, ihren mo­

ralischen Niedergang in Ägypten und ihren reli­

giösen Wandel. In bezug auf ihren moralischen Niedergang beschreibt Randa sich als „Imitatorin des Westens“, als „von falschen und gefährlichen Idealen fehlgeleitet“. Sie stellt sich in dieser Phase als „Opfer einer westlichen Traumwelt“ dar und als von westlicher Popmusik betört, die sie als

„Droge“ beschreibt. Auch sei sie „fernsehabhän- gig“ gewesen. Als ihre engste Komplizin bei diesen Handlungen nennt Randa ihre frühere beste Freundin, die aus einer sehr „modernen Familie“

stamme, d.h. einer Familie, die Aspekte ihres Sta­

tusverhaltens an westlichen kulturellen Formen orientiert. Gemeinsam mit ihrer Freundin habe sie viele „schlechte Dinge“ getan wie das Durchblät­

tern von Aufklärungsbüchern, in denen Bilder von nackten Männern und Frauen abgebildet waren, und die Lektüre von Liebesromanen. Vor allem aber habe ihre Freundin sie zum Flirten mit Jun­

gen verleitet. Nach der Trennung von dieser Freundin, die sie als Intervention Allahs interpre­

tiert, fühlte Randa sich sehr allein. Sie schildert, daß es ihr nicht gelang, eine neue Freundschaft zu

(10)

Karin Werner: Zwischen Islamisierung und Verwestlichung 13

knüpfen bis sie eines Tages auf dem Schulhof von einer älteren Mitschülerin angesprochen wurde, die Mitglied einer islamistischen Mädchengruppe der Schule war. Sie lud Randa in ihre Gruppe ein, der etwa ein gutes Dutzend Schülerinnen angehör­

te. Das soziale Geschehen in dieser Gruppe be­

schreibt Randa als hochmotivierten Solidaridari- tätszusammenhang, dessen Mitglieder einander beständig darin unterstützten, „religiös zu wer­

den“. In der Darstellung ihres Religiöswerdens fo­

kussiert Randa vor allem auf das Verhältnis der beiden Geschlechter. Religiös werden bedeutet hiernach vor allem, einer strengen Keuschheits­

norm zu entsprechen. Das Erreichen eines hohen Grades an Religiosität wird mit der Adaption ei­

ner methodischen Lebensführung gekoppelt, de­

ren Grundmotiv der individuelle Fortschritt, das kontinuierliche Sichverbessern ist. Hierbei be­

kommt der weibliche Körper, der als Repräsentant des inneren Selbst der Frau begriffen wird, den Stellenwert eines Vehikels individueller Verbesse­

rung. Randas Darstellung zufolge sind eingehende Selbstobservierungsprozeduren zentraler Be­

standteil des Gruppenzusammenhangs, in dem sich die Schülerinnen gegenseitig darin unterstütz­

ten, ihr „sexy“-Aussehen gegen eine selbstpurifi- zierende Form der Selbstpräsentation auszutau­

schen. Sie schildert, daß sie durch das Einwirken der anderen Gruppenmitglieder und durch Texte, die sie las, allmählich ein kritisches Bewußtsein ih­

res Körpers als Objekt erotischer Männerphanta­

sien erlangte und daß sie in gleichem Maße metho­

dische Anstrengungen unternahm, diese Wahr­

nehmung ihres Körpers Schritt für Schritt zu de­

montieren. Sie berichtet, daß sie zuerst ihre kurz­

ärmeligen Blusen durch solche mit langem Arm ersetzte; im zweiten Schritt verschwanden die knielangen „Miniröcke“ aus Randas Straßenout- fit. Einige Monate nachdem sie in die Schülergrup­

pe eingetreten war, beschloß Randa, den higab an­

zulegen. Sie beschreibt ihre erste higab-Erfahrung auf der Straße als „wohltuend und beruhigend“.

Gleichzeitig intensivierte Randa ihr Beten. Sie be­

tete zunächst die vorgeschriebenen fünf Mal, spä­

ter erhöhte sie die vorgeschriebenen Gebete (raka) um einen Grad, den sie „die sunna prakti­

zieren“ nennt. Ein weiteres zentrales Element der neuen Orientierung beinhaltet den systematischen

’Entzug’ der als verwestlicht geltenden Kulturakti­

vitäten, konkret: alle Art von Musik (mit Ausnah­

me von religiösen Liedern und Wiegenliedern), vor allem vom Femsehkonsum, was Randa als ex­

trem schwierig schildert (siehe hierzu auch Sivan 1985). Oft sei sie rückfällig geworden und habe

sich selbst verachtet, doch nach Monaten habe sie es schließlich gemeinsam mit ihrer Schwester Dina geschafft, den „Fernsehanschalteknopf zu kontrol­

lieren“. Der nächste Schritt in ihrer religiösen Ent­

wicklung bestand für Randa darin, sich auf einen höheren Grad von Kopf- und Körperbedeckung vorzubereiten. In der islamistischen Kleiderhierar­

chie folgt auf den higab der khimar, ein Kleidungs­

stück, das an ein Nonnengewand erinnert. Randa betont, daß sich während dieser Zeit der Zusam­

menhalt ihrer im schulischen Umfeld überaus er­

folgreich agierenden Gruppe intensivierte und ver­

schiedene Gruppenmitglieder einander bei der k/i/mar-Entscheidung unterstützten. Randa be­

schreibt die Entscheidung für den khimar als ein allmähliches Hineinwachsen. Übereilte Entschei­

dungen, übergroßer Eifer wird als „riskant“ be­

wertet, denn ein evtl. Rückfall birgt Gefahren für das Prestige der Trägerin. In ihren Schilderungen betont Randa das starke Durchhaltevermögen, das notwendig sei, um destruktive Außeneinflüsse abzuschirmen. In Randas Fall (und in allen Fällen von k/wraar-Trägerinnen, die ich kennenlernte) waren die Eltern zunächst strikt gegen die neue Kleidung. So berichtet Randa, daß ihre Mutter und ihr Onkel ihren khimar als „Zirkuszelt“ ver­

spotteten als sie ihn das erste Mal trug. In diesem Zusammenhang schildert sie, daß die Mädchen­

gruppe spezifische Hilfen gegen die elterliche Ab­

lehnung bot, die man einkalkulierte. Randa drückt ihre Dankbarkeit gegenüber ihrer Mutter aus, die ihr das Tragen des khimar nicht kategorisch ver­

bot, wie dies viele andere Eltern taten. Nach weite­

ren zwei Jahren und nach intensiver Vorbereitung wagte Randa schließlich den Schritt zur Vollver­

schleierung (niqab).

Es werden im folgenden einige der zentralen Kate­

gorien der Wir-Gruppenbildung der islamistischen Subkultur behandelt, die in Randas Narrativ ihres Religiöswerdens bereits angeklungen sind. Eine imaginierte gesellschaftliche Gruppe, von der sich die Mitglieder der islamistischen Jugendkultur ab­

grenzen, sind die „normalen Teenager“, die als

„westlich beeinflußt“, als „Bastarde“ islamischer, ägyptischer und westlicher Kulturmuster und dar­

über hinaus als „schwach“ und „unreligiös“ degra­

diert werden. Diesen niedrigen ethischen Standard zu überwinden, ist erklärtes Programm der sich selbst als kleine sozio-religiöse Elite verstehenden Islamistlnnen, die kulturelle Reinheit, Stärke und Überlegenheit für sich beanspruchen.

Neben der Grenzziehung zu Mitgliedern der glei­

chen Altersgruppe („normale Teenager“) ist in

(11)

14 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25, Heft 1, Februar 1996, S. 4-18

Randas Umgang mit ihrer Mutter (und anderen erwachsenen Personen) der Versuch der Umkeh­

rung der Senioritäts- und Autoritätsverhältnisse zu beobachten. Diese Tendenz, den Einfluß der El- terngeneration abzuwerten und den eigenen auf­

zuwerten, ist eine weitere Facette des elitären Selbst Verständnisses der Islamistlnnen. Während Randa sich einerseits von den als „respektlos“ de­

gradierten „normalen Teenagern“ dadurch ab­

grenzt, daß sie von sich behauptet, die elterliche Autorität anzuerkennen, setzt sie andererseits ihr Wissen über „das richtige Leben“ gegenüber ihrer Mutter ein, um diese „religiöser zu machen“, was eine umfassende Belehrung der Mutter in vielen Dingen des täglichen Lebens beinhaltet. Randa schilderte z.B., wie sie und ihre Schwester ihrer Mutter das Fernsehgucken abgewöhnten, indem sie sie über Monate hinweg beschuldigten, eine schwere Sünde zu begehen, für die sie nach ihrem Tode mit Höllenqualen bestraft werde. Während der Feldforschung wurde ferner beobachtet, daß Randa ihre Mutter täglich dazu ermahnte, im qur’an zu lesen und mehr raka zu beten als vorge­

schrieben.

Die Haltung der Mutter zu der Orientierung ihrer beiden Töchter war ein ständiger Streitpunkt zwi­

schen beiden Generationen. Wie die Mutter des öfteren betonte, empfindet sie den niqab (Ge­

sichtsschleier) als „seltsam“ oder „fremd“. Diese Empfindung stützt sie durch den Bezug zu offiziel­

len Stellungnahmen ägyptischer islamischer Ge­

lehrter ab, die besagen, der niqab sei im Islam nicht vorgeschrieben. (Vorgeschrieben sei viel­

mehr der khimar.) In heftigen Diskussionen zwi­

schen Mutter und Tochter wertet Randa den Standpunkt ihrer Mutter ab, indem sie ihn als „ty­

pisch für die ältere Generation, die unter Nasser ihre Religion verloren habe“ bezeichnet. Dem­

gegenüber nimmt sie für sich in Anspruch, einer neuen muslimischen Generation anzugehören, die wieder zum reinen und einzig richtigen Islam zu­

rückkehre.

Ein weiterer imaginierter Zusammenhang, von der die Mitglieder der islamistischen Subkultur sich vehement abgrenzen, ist „der Westen“, der in der untersuchten Gruppe als kulturelle Negativ­

folie nahezu omnipräsent ist. Eine wichtige Kom­

ponente dieser Grenzziehung sind negativ besetzte Diskurse über den ökonomischen, politischen und kulturellen Imperialismus des Westens, gegen den die Islamistlnnen durch ihre methodische Lebens­

führung praktisch opponieren. Als Begründung dafür, warum „der Westen“ schließlich „verlieren“

würde und die USA „versinken“ würden, wird die

moralische Korruptheit der westlichen Gesell­

schaften angeführt, welche zwar den islamischen Gesellschaften technisch überlegen seien, aber durch ihre moralische Unterlegenheit nach und nach ihren Vorsprung verlieren würden. In der Be­

wertung des Verhältnisse von Westen und Islam wird von Randa und anderen Islamistinnen beson­

ders der Umstand betont, daß die westliche Kultur in die Kapillaren der islamischen Gesellschaften eindringe und hier besonders den weiblichen Kör­

per angreife. Zentraler Aspekt dieser Feminisie­

rung der westlichen Bedrohung ist die extreme Fo­

kussierung des weiblichen Körpers, dem in dieser Sicht Symbolcharakter zukommt. Der „gezeichne­

te weibliche Körper“ wird in den polarisierenden Kategorien der islamistischen Identitätspolitik les­

bar und zu einem zentralen symbolischen Austra­

gungsort des Kulturkampfes zwischen West und Ost.

Als eine weitere imaginierte Gruppe taucht immer wieder die „Mehrzahl der faulen Muslims“ auf.

Diese Gruppe, welche die Mehrheit der ägypti­

schen Bevölkerung umfasse, wird von Randa als Objekt von „Missionierungen“ begriffen. Konkret sieht sie eine Missionierungskonkurrenz zwischen dem westlichen Kultureinfluß und dem Einfluß der „gläubigen Muslims“, d.h. den Angehörigen der islamistischen Subkultur. Ihrer Ansicht nach verfügen beide Seiten über Ressourcen der Ein­

flußnahme. Während sie als Verbündete des We­

stens die ägyptische Oberklasse und die Regierung und damit die Medien identifiziert, benennt sie als Ressource der Islamisten („fleißige Muslims“) ihre Vorbildfunktion gegenüber den „faulen Muslims“.

Die „faulen Muslims“ werden von Randa auf der Seite der religiösen Orthodoxie des Landes veror- tet, die aus „Philosophen“ bestünde, die zum einen korrupt und zum anderen nicht „modern“ und „ef­

fektiv“ genug sei. Randa betont die religiöse Ver­

antwortung des einzelnen Individuums, das sich selbst religiös bilden solle und könne. In diesem Zusammenhang nennt sie die Grundprinzipien des Islam „einfach“ und „klar verständlich“, womit sie die Notwendigkeit von islamischen Gelehrten als Mittler zwischen Allah und den Gläubigen negiert.

Der individuelle Gläubige trägt ihrer Meinung nach die Verantwortung für sein Leben selbst und wird in dieser Weise auch am Jüngsten Tage von Allah bewertet.

Der göttliche Panoptizismus ist eines der zentralen Themen des Diskurses von Randas Gemeinschaft und bildet die Grundlage von Selbstbeobachtungs­

und Fremdbeobachtungsprozessen und damit ein­

(12)

Karin Werner: Zwischen Islamisierung und Verwestlichung 15 hergehenden Regulierungen, die virtuell das ge­

samte Leben des Individuums umgreifen. Die da­

mit einhergehende Selbstoptimierungsorientie­

rung spiegelt sich auch in der Bewertung der sozi­

alen Handlungen des Individuums in „Punkten“

wieder. „Gott zu gefallen“ und ergo viele Punkte bei Allah zu erwerben, wird von Randa als ihr Le­

bensziel benannt. Bei der praktischen Umsetzung lassen sich verschiedene Regulierungen des All­

tagslebens der Mitglieder der islamistischen Sub­

kultur identifizieren:

Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammen­

hang die optimale individuelle Verwertung von Zeit, d.h. die systematische Vermeidung von

„Zeitvergeudung“. Möglichst viel Zeit soll für Ak­

tivitäten aufgewandt werden, die als religiöse aner­

kannt werden. Hoch bewertet werden vor allem Beten, im Koran lesen, zweimal wöchentlich fa­

sten und religiöse Vorlesungen besuchen. Neben den großen Techniken gibt es auch kleine Techni­

ken, so der extensive Gebrauch eines religiösen Idioms, das Aussprüche für verschiedenste Situa­

tionen, Örtlichkeiten und Lebenslagen bereitstellt.

Eine weitere wichtige Norm berührt die sozialen Aktivitäten der Mitglieder der islamistischen Sub­

kultur, die angehalten sind, sich möglichst oft und intensiv mit anderen Islamistlnnen auszutauschen, um einander gegenseitig darin zu unterstützen,

„noch religiöser zu werden“ (siehe Shepard 1989).

Ein zentraler Teil der Normen der islamistischen Bewegung dreht sich um das Verhältnis der Ge­

schlechter (Zakaria 1988). Dieses wird in ein Nor­

mengefüge eingebunden, das auf eine Tiefenstruk­

tur komplementarisierender Wesensbeschreibun­

gen von Männern und Frauen bezogen wird.

Grundkomponente dieses Normengefüges ist die strenge Segregation von Männern und Frauen au­

ßerhalb der Familie. Innerhalb der Familie, die als gesellschaftliche Kerninstitution betrachtet wird, werden Männern und Frauen einander ergänzen­

de Betätigungsfelder zugewiesen. In dieser Ord­

nung werden als zentrale Betätigungsfelder der Frau die Unterstützung ihres Mannes als Ehefrau sowie die Mutterschaft betrachtet. Der islamisti- sche Diskurs über den weiblichen Werdegang als Ehefrau und Mutter umfaßt im wesentlichen zwei Stränge: Einer behandelt die erotischen Leistun­

gen der Frau gegenüber dem Ehemann, die als es­

sentiell für den dauerhaften Erfolg einer Ehe gel­

ten, da die Männer auf der Straße den Verführun­

gen von „sexy Minirockträgerinnen“ ausgesetzt seien und die Ehefrauen diesen durch gleichfalls

„sexy“ Kleidung etwas entgegensetzen müßten

(Domestizierung der ,,sexy“-Norm). Der andere beinhaltet die Tätigkeiten der Hausfrau, die das Haus in Ordnung hält, damit die Familie sich wohl fühlt. Von sehr großer Bedeutung für die weibli­

chen Angehörigen der islamistischen Subkultur ist Mutterschaft, welche in zahlreichen Schriften als Kernaspekt weiblichen Lebens bewertet wird. Das Gebären und Aufziehen von möglichst vielen Kin­

dern wird als wichtige Funktion der Frauen beim Aufbau einer „wirklich islamischen Gesellschaft“

betrachtet und bestimmt somit zentral die Selbst­

beschreibung der weiblichen Mitglieder der islami­

stischen Subkultur als „Mütter der Gesellschaft“.

4. Vergleichende Diskussion

Die wachsende Weltmarktintegration Ägyptens hat zu Verschiebungen im sozialen Raum der Klas­

sen, der Altersgruppen und der Geschlechter ge­

führt. Diese kann man mit Hatem als Heterogeni- sierung der Mittelklasse bezeichnen (Hatem 1988). Wie die obigen Fallbeispiele belegen, ist die von Hatem nur auf die materielle Situation bezo­

gene Heterogenisierung auch in bezug auf die kul­

turelle Orientierung beobachtbar. Mit der Zer­

splitterung der während der Nasserära geformten relativ homogenen Staatsklasse in verschiedene Segmente geht auch die kulturelle Heterogenisie­

rung der ägyptischen Mittelklasse einher. So ist als eine gravierende Folge des Rückzugs des Staates und des damit einhergehenden Bedeutungsge­

winns von Marktagenturen die Erschütterung der einst so bedeutenden Selbstbeschreibung der Mit­

telklasse als „moderne Bürger“ hervorzuheben.

Der um den modernen Bürger zentrierte Diskurs, der Individuum und Staat geschlechtlich indiffe­

rent relationierte und Männer wie Frauen in ähnli­

cher Weise zur Teilnahme am umfangreichen Mo­

dernisierungsprojekt nasseristischer Prägung mo­

bilisierte, ermöglichte einer großen Zahl von Frauen den Eintritt in öffentliche Sozialräume, zog jedoch nicht die Erosion komplementarisierender Geschlechterpraktiken nach sich. Es entwickelte sich vielmehr eine doppelte Semantik, die das In­

dividuum sowohl geschlechtsindifferent als Staats­

bürger beschreibt, wie auch als geschlechtlich dif­

ferenzierte Männer und Frauen. Mit dem im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung erfolgten Bedeu­

tungsverlustes des ägyptischen Staats als Motor gesellschaftlicher Modernisierung veränderten sich diese Muster aus Gleichheit und Differenz, da der geschlechtsindifferente Begriff des Staatsbür­

gers in zunehmendem Maße von einem islamisch

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