Religion und Sittlichkeit nach den Anschauungen der Babylonier.
Von Wolfram von Soden').
Für das Verständnis der religiösen Anschauungen eines
Volkes ist es von grundlegender Bedeutung, ihr Verhältnis
zu den in diesem Volke lebendigen sittlichen Wertungen zu
kennen. Denn eine jede Religion nimmt in irgendeiner Weise
auch zu dem unter den Forderungen der Sittlichkeit stehenden
Verhalten des Menschen zum Menschen Stellung, nicht nur,
weil sie ihrem Wesen nach den Menschen in seiner Ganzheit
beansprucht, sondern auch darum, weil die Erhaltung
menschlicher Gemeinschaft ein sittlichem und religiösem
Tatwillen gemeinsames Anliegen ist. Ihre gestaltende Kraft
haben diese und andere innere Gemeinsamkeiten religiöser
und sittlicher Haltung in der Geschichte oft erwiesen; immer
wieder einmal konnte sich im Laufe der Zeit die Rehgion
aus den Kraftquellen echter Sittlichkeit erneuern, und immer
erneut empfängt die Sittlichkeit aus den Tiefen religiösen
Glaubens Antriebe zu ihrer weiteren Vertiefung. Bei allen
Völkern, deren Geschichte uns bekannt ist, können wir diese
Wechselwirkungen beobachten; ihre Art und lebendige Ge¬
stalt ist freilich bei den einzelnen Völkern ebenso verschieden
wie der Inhalt der religiösen Anschauungen und der sittlichen
Wertungen selbst. Wir müssen daher diese Beziehungen für
jedes Volk besonders herauszuarbeiten suchen.
Von der Einstellung der babylonischen Religion sitt¬
lichen Normen gegenüber übermittelt uns die religiöse Lite¬
ratur der Babylonier ein zunächst verwirrend uneinheitliches
Bild. Manche Stücke atmen einen tiefen sittlichen Ernst,
1) Vortrag vor dem 7. Deutschen Orientalistentag in Bonn, mit
einigen Änderungen und Zusätzen.
Zeitschrift d. D. M. O. Neue Folge Bd. XIV (Bd. 89) 10
144 W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
andere Texte berichten unbedenklich sogar von den Göttern
unsittliche Handlungen, und wieder andere lassen die Reli¬
gion als in ödem Ritualismus erstarrt erscheinen. Eine über¬
zeugende Auflösung dieser scheinbaren Widersprüche ist
bisher noch nicht gegeben worden; daher wird die Bedeutung
sittlicher Forderungen für die babylonische Religiosität auch
bis heute noch recht verschieden beurteilt. So hat, um nur
einige bekannte Namen zu nennen, Heinrich Zimmern in
seinen grundlegenden Arbeiten den sittlichen Antrieben in
der babylonischen Religion kein sehr großes Gewicht bei¬
gelegt i), während demgegenüber z. B. E. Dhorme*), J. Hehn*)
und M. Jastrow*) den Ernst der sittlichen Forderungen in
vielen religiösen Texten stark unterstrichen haben. Wenn
trotz vieler wertvoller Beobachtungen keine der genannten
Arbeiten dem Quellenbefund ganz gerecht zu werden ver¬
mochte, so lag es vor allem daran, daß in keiner von ihnen
die Ordnung der literarischen Quellen als unumgängliche
Voraussetzung religionsgeschichtlicher Untersuchungen er¬
kannt worden ist. Es ist daher heute notwendig, ehe wir an
unser Thema selbst herantreten, erst einmal ganz knapp die
wichtigsten Grundsätze herauszustellen, nach denen eine
solche Ordnung der Quellen zu erfolgen hat. Drei Gesichts¬
punkte vor allem heischen hier Berücksichtigung: die
Sprache der Quellen, ihre Entstehungszeit und ihre
literarische Gattung.
Das wichtigste Ordnungsprinzip ist die Sprache, d. h. wir
müssen zunächst einmal die bisher meist unterschiedslos
benutzten Quellen in sumerischer und akkadischer Sprache
streng auseinanderhalten*). Machen es doch die tiefgreifenden
1) Vgl. dafür besonders den kurzen Abschnitt über „Moral" in
KAT» 612 f.
2) Vgl. etwa „La religion assyro-babylonienne" (1910) S. 211ff.
3) Vgl. vor allem „Biblische und babylonische Gottesidee" (1913) S. 340L
4) Vgl. „Religious Belief in Babylonia and Assyria" (1910) S. 377 ff.
5) Die sog. zweisprachigen Texte sind dabei — mit ganz wenigen
Ausnahmen — natürlich der sumerischen Literatur zuzuzählen. Immer¬
hin wird auch dort nachzuprüfen sein, ob die akkadischen Übersetzungen
W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl. 145
Unterschiede zwischen Sumerern und semitischen Babyloniern
auf den Gebieten der Sprache und der Kunst von vorn¬
herein unwahrscheinlich, daß ihre religiösen Anschauungen
von so verwandter Art gewesen sein sollen, wie es bisher von
den meisten angenommen wurde. Tatsächlich zeigt sich auch
bei einer Scheidung der literarischen Quellen nach ihrer
Sprache bald, daß die akkadisch sprechenden Babylonier
wohl Pantheon, Mythologie und Kultgebräuche zum großen
Teil von den an geistiger Schöpferkraft und reicher Über¬
lieferung überlegenen Sumerern entlehnt haben, daß sie dies
alles aber ihrer ganz andersartigen religiösen Veranlagung
folgend weitgehend umgedeutet und mit ihnen vertrauten
Vorstellungen durchsetzt haben. Zumal in der religiösen Be¬
wertung der sittlichen Haltung haben sie sich offenbar er¬
heblich von den Sumerern unterschieden, denn es kann doch
kein bloßer Zufall sein, wenn in der religiösen Literatur der
Sumerer von sittlichen Forderungen der Götter nur selten
die Rede ist, während ein großer Teil der akkadischen reli¬
giösen Texte dem Verhalten des Menschen zum Menschen
eine entscheidende religiöse Bedeutung beimißt. — Weniger
wesentlich in diesem Zusammenhang sind die Unterschiede
zwischen babylonischen und assyrischen Vorstellungen;
immerhin verlangen aber auch diese Beachtung.
Sehr viel schwieriger durchzuführen ist bei dem gegen¬
wärtigen Stande der Forschung die weitere Ordnung der
Quellen nach ihrer Entstehungszeit. Denn nur sehr wenige
religiöse Texte lassen sich nach äußeren Merkmalen datieren,
und die Erarbeitung innerer Gesichtspunkte für die Zeit¬
bestimmung steht erst in den Anfängen. Trotzdem lassen
sich heute wenigstens die Umrisse einer babylonischen Lite¬
raturgeschichte schon zeichnen, wobei wir uns vor allem auf
eindeutige Beobachtungen sprachlicher, stilistischer und
metrischer Art stützen könnenDabei ergibt es sich aus
nicht gelegentlich einschneidende Umdeutungen des sumerischen Textes
vorgenommen haben.
1) Einige für die Literaturgeschichte wichtige sprachliche Be¬
obachtungen sind in meiner Arbeit „Der hymnisch-epische Dialekt des
146 W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
der fast ausnahmslos anonymen Überlieferung der babylo¬
nischen Literatur, daß eine solche Literaturgeschichte im
wesentlichen Gattungsgeschichte sein muß. Für unsere
religionsgeschichtliche Fragestellung vermittelt aber gerade
die Literaturgeschichte als Gattungsgeschichte besonders
wichtige Erkenntnisse, da sie uns nicht nur den Wandel der
religiösen Vorstellungen in der Geschichte zu verfolgen er¬
möglicht, sondern uns auch das gleichzeitige Vorhandensein
verschiedener Vorstellungskreise in ein und demselben Zeit¬
abschnitt zu verstehen helfen kann. Wir beobachten nämlich,
daß die verschiedenen literarischen Gattungen oft auch ver¬
schiedenen religiösen Gedanken Ausdruck geben. Wenn es
nun gelingt, Herkunft, Entwicklung und ,,Sitz im Leben')"
einer bestimmten Gattung auf dem Wege literaturgeschicht-
hcher Forschung herauszuarbeiten, so ist damit auch für die
diese Gattung beherrschenden religiösen Vorstellungen der
,,Sitz im Leben" gefunden, und wir können mit Hilfe der
vergleichenden Untersuchung aller in einer bestimmten Zeit
lebendigen Gattungen noch weiter ermitteln, welche Kraft
und Bedeutung diese Gedanken im Verhältnis zu anderen
Ideen der gleichen Zeit hatten. Daß bei der damit als Ideal
aufgezeigten Verbindung von gattungsgeschichtlicher und
religionsgeschichtlicher Forschung religiöse Texte, die in
irgendeiner Weise aus dem üblichen Schema einer Gattung
herausfallen, eine besonders sorgfältige Beachtung erfordern,
versteht sich von selbst; recht würdigen können wir das
Einzigartige an solchen Texten aber erst dann, wenn die
Normalgestalt der Gattung, von der sie sich abheben, zuvor
klar herausgestellt ist.
Akkadischen" (ZA. 40, 163ff. und 41, 90ff.) zusammengestellt; für die Entwicklung von Stil und Metrum muß ich auf eine noch unveröffent¬
lichte Arbeit von mir verweisen, die auch die Begründung für die hier vorgeschlagenen Datierungen wichtiger religiöser Dichtungen geben wird.
1) Mit Absicht verwende ich hier diesen von Hebhann Gunkel
in die alttestamentliche Wissenschaft eingeführten Ausdruck; ist doch die Arbeit dieses Forschers auch für die Erforschung der babylonischen Religion und Literatur von richtungweisender Bedeutung.
W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl. 147
Um die auf diesem Wege zu gewinnenden religions-
gescfiicfitlichen Erkenntnisse wirklich fruchtbar zu machen,
bedarf es natürlich noch einer langen und geduldigen Klein¬
arbeit. Trotzdem ist es vielleicht nicht nutzlos, wenn wir
heute an der oben angeschnittenen Einzelfrage nach dem
Verhältnis von Religion und Sittlichkeit einmal, ohne uns
mit in Einzelheiten gehenden Nachweisen aufzuhalten, an¬
zudeuten versuchen, was mit Hilfe der gekennzeichneten
Forschungsgrundsätze geleistet werden kann. Gewiß können
noch keine nach allen Seiten gesicherten und abgerundeten
Ergebnisse dargeboten werden; nur die Hauptlinien der Ent¬
wicklung bestimmter religiöser Gedanken können in groben
Umrissen aufgezeigt werden, im einzelnen muß manches vor¬
läufig noch Vermutung bleiben. Aber auf die einzelnen Er¬
gebnisse kommt es hier auch nicht so sehr an; wesentlich
ist vielmehr, gegenüber der weitverbreiteten Ansicht, daß
eine Geschichte der babylonischen Rehgion nicht ge¬
schrieben werden könnte, darzutun, daß eine geschichtliche
Betrachtung der überlieferten religiösen Vorstellungen der
einzige Weg ist, auf dem ein wirkliches Verstehen möglich ist.
Nun zu unserem Thema selbst. Es ist nicht das Ziel der
folgenden Ausführungen, den Inhalt der babylonischen
Sittenlehre darzustellen; die Aufgabe ist vielmehr nur, zu
untersuchen, wie weit die sittlichen Forderungen in Baby¬
lonien im religiösen Glauben verankert sind. Wenn wir dabei
Sittlichkeit als gemeinschaftsgemäßes Verhalten im weitesten
Sinne fassen'), so genügt es nicht, festzustellen, wie weit die
Götter nach babylonischem Glauben ein solches Verhalten
von den Menschen verlangten, sondern wir müssen darüber
hinaus noch fragen, in welchem Umfang die babylonischen
Götter selbst als sittliche Wesen aufgefaßt wurden. Die
1) Diese Definition des Wortes Sittlichkeit ist für unsere Begriffe unzureichend, da wir auch um Pflichten des Menschen gegen sich selbst wissen. Wir haben aber bisher keinen Anhalt dafür, daß die Pflichten
gegen sich selbst, die wir vor allem in dem Begriff Ehre umfassen,
auch von den Babyloniern als sittliche Pflichten aufgefaßt worden
sind. Überhaupt müssen wir uns hüten, unsere Vorstellungen von
sittlichen Pflichten ohne weiteres auf Babylonien zu übertragen.
148 W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
Quellen, die uns zur Beantwortung der damit verbundenen
Fragen zur Verfügung stehen, sind vorläufig noch recht un¬
zureichend. Vor allem gilt dies für die sumerischen Quellen;
denn hier fällt nicht nur der Mangel an Texten mancher
Gattungen ins Gewicht, sondern vielleicht noch stärker unser
unzureichendes sprachliches Verständnis der vorhandenen
Quellen. Aus diesem Grunde erscheint es angezeigt, auf eine
zusammenhängende Darstellung der sumerischen Anschau¬
ungen über das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit zu
verzichten; unser Wissen davon ist zu lückenhaft. Bei der
Behandlung der Anschauungen der akkadisch sprechenden
Babylonier wird aber Gelegenheit sein, auf einige besonders
auffällige Unterschiede zwischen sumerischen und babylo¬
nischen Vorstellungen hinzuweisen. Wenn auch die Darstel¬
lung der babylonischen Anschauungen etwas ungleichmäßig
ausfallen wird, so liegt das vorwiegend an dem verfügbaren
Quellenmaterial, das für manche Perioden nur sehr spärlich
fließt; die weitere Durchforschung der vorhandenen Quellen
wird aber gewiß noch manche Lücken unserer Kenntnisse zu
schließen ermöglichen.
Bei einer geschichtlichen Betrachtung der rehgiösen Vor¬
stellungen der akkadisch sprechenden Babylonier heben sich
deutlich zwei Hauptperioden heraus: Die erste von ihnen
umfaßt die altbabylonische Zeit (etwa 2200—1750 v. Chr.),
die in der Regierung des Königs Hammurabi von Babylon
ihren Gipfelpunkt hat, und die zweite die spätere Zeit bis
zum Aufhören der politischen Selbständigkeit des Landes,
für deren geistiges Gepräge die Zeit der späteren Kassiten-
herrscher zwischen 1500 und 1100 richtunggebend gewesen
zu sein scheint, da in ihr der Kanon der maßgeblichen reli¬
giösen Literatur zusammengestellt wurde'). Innerhalb der
1) Daß die geschlossenen Tafelserien der jüngeren Zeit, wie sie vor allem in den Resten der Bibliothek von Nineveh zutage getreten sind,
den Rang einer kanonischen Literatur hatten, hat zuerst Lands¬
beboeb in einem (nicht gedruckten) Vortrag ausgesprochen. Ich hoffe
auf diesen grundlegenden Begriff des Kanons bald einmal an anderer
Stelle zurückkommen zu können.
W. V. Sodbn, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl. I49
zweiten Periode kann man gelegentlich auch schon Unter¬
schiede zwischen den Anschauungen der Zeit der Kanon¬
bildung und denen der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends
feststellen; einen Wendepunkt, der dem Bruch am Ende der
altbabylonischen Zeit entspräche, bezeichnet die Zeit um
1000 herum aber gewiß nicht. Von den religiösen Anschau¬
ungen der Babylonier in der voraltbabylonischen Zeit, also
vor allem der Zeit der sagenumwobenen Könige von Akkad
um 2500, wissen wir noch fast nichts, da eine akkadische
religiöse Literatur mit schriftlicher Uberlieferung in jener
Zeit anscheinend noch nicht ausgebildet war. Erst in der alt¬
babylonischen Zeit, zumal in ihrer zweiten Hälfte, kommt die
akkadisch geschriebene Literatur zu einer ersten Entfaltung.
Das, was uns von dieser ältesten akkadischen Literatur be¬
kannt ist, reicht aber zur Gewinnung eines auch nur in den
wesentlichen Zügen vollständigen Bildes von den religiösen
und sittlichen Anschauungen der damaligen Babylonier nicht
aus; vor allem für die individuelle Frömmigkeit und die ihr
gemäße sittliche Haltung fehlen noch jegliche eindeutige
Zeugnisse. Daß aber grundsätzlich auch in der altbabylo¬
nischen Zeit schon die Uberzeugung bestand, daß die Götter
sich nicht mit einer rein kultischen Verehrung begnügten,
sondern außerdem ein sittliches Leben verlangten, können
wir der Staatsethik dieser Zeit entnehmen. Für die baby¬
lonische Staatsethik besitzen wir nämlich eine ganz einzig¬
artige Urkunde in dem berühmten Gesetzeskodex des Königs
Hammurabi etwa aus dem Jahre 1920 v.Chr.'). In diesem
Denkmal sind die Gesetzesbestimmungen von einem in dich¬
terischer Sprache abgefaßten Rahmen umkleidet, in dessen
Einleitung Hammurabi sagt (Kol. I, 27—49):
„. . . Damals haben Hammurabi, den aufmerksamen
Fürsten, der die Götter fürchtet, mich, um Gerechtigkeit
im Lande walten zu lassen, den Ruchlosen und den Böse¬
wicht zu vernichten, auf daß der Starke den Schwachen
1) Die neueste Übersetzung der Gesetzesstele ist die von Eilebs
in AO., Band 31, Heft 3/4, wo auch eine eingehende Einführung ge¬
geben ist.
150 W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
nicht entrechte, damit er wie die Sonne über den Schwarz-
köpfigen aufgehe und das Land erhelle, — (haben) Anu
und Ellil') für das Wohlergehen der Menschen meinen
Namen ausgesprochen."
In ganz ähnlichen Wendungen begründet der König seine
Berufung auch noch an anderen Stellen der Inschrift (Kol.
V, 14 ff.; Kol. Rs. XXIVf.). Wir lernen aus solchen Selbst¬
aussagen, daß sich ein König wie Hammurabi den Göttern
nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie^) für die Pflege
ihres Kultus und ihrer Tempel verantwortlich wußte, sondern
vor allem für die Aufrechterhaltung der von ihnen geschaf¬
fenen irdisch-sittlichen Ordnung unter den Menschen des
Landes'). Den Begriff dieser irdisch-sittlichen Ordnung als
des Idealzustandes auf Erden faßte der Babylonier in die
Wortverbindung kittu u miSaru, die wir am besten wohl
durch ,, Stetigkeit und Gerechtigkeit" wiedergeben; aller¬
dings müssen wir dabei beachten, daß diese Begriffe wie alle
theologischen Hochbegriffe (parsu ,, kosmische Ordnung",
Simtu ,, Schicksal" u. a. m.) für die Babylonier einen sehr
starken numinosen Gehalt hatten, der in einer Übersetzung
nicht auszudrücken ist, weil wir ihn vorläufig zu uns leben¬
digen Gehalten noch nicht recht in Beziehung setzen können.
Um praktisch wirksam zu werden, bedurfte eine solche Idee
vom Sinn des Königtums der Ergänzung durch eine ent¬
sprechende Auffassung von den Pflichten des Beamtentums,
die den Beamten an seinem ihm vom König verordneten
Platz vor allem dafür verantwortlich machte, daß jeder
Untertan sein Recht fand. Daß auch diese Verantwortung
unter einem Hammurabi sehr ernst genommen wurde, zeigen
1) Die beiden höchsten Götter des babylonischen Pantheons.
2) Es verdient Beachtung, daß Hammurabi in keiner seiner In¬
schriften den Bau von Tempeln als den Sinn oder auch nur einen
Zweck seiner Berufung erklärt und daß in seinen Selbstberichten
überall die kultischen Bauten hinter den Werken zum Wohl der Men¬
schen zurücktreten.
3) Für das ,,Land" (akk. mätu, sum. kalam) als Inbegriff von Ord¬
nung und Gesittung (Gegensatz: „Feindesland" = Unordnung), vgl.
A. Schott in ZDMG. 88, 313f. und „Die Welt als Geschichte" I, 62ff.
W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl. 151
uns die amtlichen Briefe des Königs und seiner hohen Be¬
amten allenthalben.
Eine ähnliche religiös gegründete Auffassung von den
Aufgaben eines Königs wie Hammurabi hatte auch schon
der sumerische König Urukagina von Lagas (um 2600 v.Chr.);
denn er berichtet uns in seinen Inschriften'), daß er im Auf¬
trage seines Gottes Ningirsu der unter seinen Vorgängern
eingerissenen Ausbeutung des Volkes durch die Habgier
pflichtvergessener Priester und Beamter ein Ende gemacht
und genau festgesetzt habe, wieviel diese für ihre Dienst¬
leistungen zu fordern berechtigt seien. Wie weit die in diesen
Reformen und ihrer Begründung zum Ausdruck kommende
Deutung der gottverordneten Pflichten des Königtums in der
sumerischen Zeit schon Allgemeingut gewesen ist, wissen wir
noch nicht. In ihren Inschriften erzählen jedenfalls die
meisten Herrscher lediglich von der Erfüllung ihrer kultischen
Verpflichtungen gegen die Götter, und das hier und da an¬
klingende Ideal einer friedlichen Segenszeit für die Men¬
schen^) tritt uns nicht als eine unbedingt Verwirklichung
heischende Forderung der Götter an den König entgegen.
Für die späteren babylonischen Könige hingegen können wir
aus gewissen in den Inschriften immer wiederkehrenden
Formeln schheßen, daß sich das Ideal vom Königtum jeden¬
falls nach Hammurabi nicht mehr wesentlich geändert hat.
In den Vordergrund stellen allerdings die späteren Könige
durchweg ihre kultischen Verpflichtungen').
1) Vgl. dazu besonders die Bearbeitung durch Thdkeau-Danoin
in VAB. 1, S. 42ff. Deimel, Anal. Or., Nr. 2, 75 ff., führt Urukaginas Reformen im wesentlichen auf realpolitische Motive zurück. Diese sind z. T. gewiß anzuerkennen, reichen aber zur Erklärung der Maßnahmen
und ihrer Begründung m. E. nicht aus. Daß Urukagina durch Er¬
mordung seines Vorgängers auf den Thron gekommen ist, wird durch
die Urkunden gegen Deimel nicht bewiesen, ja nicht einmal wahr¬
scheinlich gemacht.
2) Vgl. vor allem die Inschriften von Lugalzaggizi und Gudea in
VAB. I.
3) Die Rückwendung zum vorwiegend kultisch bestimmten
Königtum tritt schon in den Inschriften von Hammurabis Nachfolger
Samsuiluna mit auffälliger Deutlichkeit zutage. Es darf hier aber
152 W. V. Sodbn, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
Anders lagen die Verhältnisse in Assyrien. Hier glaubten
sich die Könige, wie wieder aus ihren Selbstaussagen in ihren
Inschriften hervorgeht, vor allem dazu berufen, die ganze
Welt der Herrschaft ihres Gottes Assur zu unterwerfen. Die
Aufgabe der inneren sittlichen Ordnung des Reiches und das
Wohl der Untertanen wurde dabei bestenfalls als eine Pflicht
zweiter Ordnung angesehen').
Die eben geschilderte babylonische Auffassung vom Sinn
des Königtums als gottverordnetem Dienst an den Menschen,
die unter den uns bekannten Königen Hammurabi sicher am
reinsten verkörpert hat und daher auch am überzeugendsten
in Worte kleiden konnte, ist nur auf dem tragenden Grunde
einer sittlich geläuterten Gottesidee verständlich; die Götter,
an die ein Hammurabi glaubte, haben sich in ihrem Walten
gewiß nicht durch irgendwelche Launen und Willkür be¬
stimmen lassen, sondern nur durch den Willen, die Schöp¬
fung in der ihr seit alters gesetzten Ordnung zu erhalten.
Damit unterscheidet sich Hammurabis Gottesidee allerdings
sehr wesentlich von einer älteren Gottesvorstellung, die die
Mythologie seiner Zeit anscheinend noch weitgehend be¬
herrschte. In den altbabylonischen Mythendichtungen näm¬
lich, die ihre Stoffe offenbar meistens dem reichen Mythen¬
schatz der Sumerer entnahmen, suchen wir vergebens nach
einer der Haltung des Kodex Hammurabi entsprechenden
betont werden, daß die sehr oft vollzogene Gleichsetzung von orienta¬
lischem Königtum und schrankenlosem Despotismus weder den sume¬
rischen noch den babylonischen Auffassungen vom Sinn des König¬
tums gerecht wird; der König gilt nirgends als Selbstzweck, sondern
immer nur als Träger von Aufgaben Göttern und Menschen gegen¬
über. Natürlich sind bisweilen babylonische Könige in der Wirklich¬
keit den Weg des Despotismus gegangen; ihr Tun wurde dann aber
auch imnier als schwere Sünde verdammt.
1) Es wird eine dankbare Aufgabe der weiteren Forschung sein,
den religiösen Wurzeln des vielfach maßlosen assyrischen Expansions¬
dranges nachzuspüren; denn so viel ist sicher: ohne die treibende Kraft politischer und religiöser Ideen hätten sich die anfangs kleinen Heere
Assyriens nie gegen die Übermacht der Gegner durchsetzen können.
Die Geschichte zeigt, daß Babylonien solchen Ideen nichts gleich
Starkes entgegensetzen konnte.
W. V. Sodbn, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl. 153
sittlichen Gottesvorstellung. Die Götter treten hier vielmehr,
meist recht menschlich gezeichnet, als kraftvolle Krieger¬
gestalten oder auch als kluge Ränkeschmiede auf, die zur
Erweiterung ihrer Macht auch die Bekämpfung anderer
Götter mit List oder Gewalt nicht scheuen'). Selbst dort,
wo sie als Verteidiger der Weltordnung gegen Mächte der
Unordnung gedacht sind, ist die Motivierung der einzelnen
Handlungen des Mythos oft merkwürdig primitiv-mensch¬
lich*). In ihrem Verhalten gegen die Menschen sind diese
Götter manchmal recht launenhaft; sie erschaffen die Men¬
schen erst zu ihrer eigenen Bequemlichkeit, um durch den
Dienst der Menschen eigener Arbeit überhoben zu sein*),
vernichten sie dann aber auch wieder durch die Sintflut, weil
das menschliche Treiben ihnen lästig geworden ist, nicht
etwa, weil wie in der biblischen Sintfluterzählung deren
Sündhaftigkeit sie empört*). Wenn die Vernichtung der
1) Vgl. hierfür besonders das Aguiajalied und den — nur durch
eine Abschrift aus El-Amarna erhaltenen — Mythus von Nergal und
Ereskigal. Daß dem letztgenannten Mythus vielleicht astralmytholo¬
gische Gedankengänge zugrundeliegen, ist in diesem Zusammenhang
nicht von wesentlicher Bedeutung; entscheidend ist, daß die den Göttern untergelegten Motive überall rein menschliche sind.
2) Der Gedanke, daß die Ordnung erst aus dem Kampf gegen das
Chaos entstanden sei, ist offenbar sumerischen Ursprungs. Die Ver¬
bindung der Idee des Kampfes für die Weltordnung mit jugendlicher
Herrschsucht zeigt in besonders charakteristischer Weise die Gestalt
Marduks im Weltschöpfungsepos. Die Anerkennung seiner Oberherr¬
schaft z. B. nötigt er den anderen Göttern in dem Augenblick ab, wo
diese nicht nur in schwerer Notlage, sondern dazu auch noch trunken sind !
3) Diese Motivierung der Menschenschöpfung findet sich in ver¬
schiedenen Schöpfungsmythen; vgl. z.B. die VI. Tafel von Enüma
elis und den Anfang des altbabylonischen Bruchstückes von der
Menschenschöpfung der Nin^ursag (bearbeitet zuletzt bei EsELDia,
Tod und Leben I, Nr. 37).
4) Das altbabylonische Atram^asismythusbruchstück Bab. Re¬
cords Morgan IV, Nr. 1, führt die Sintflut auf den Ärger der Götter
über das Lärmen der Menschen zurück, während die 11. Tafel des
Gilgameschepos einfach konstatiert, daß es den Göttern beliebte, eine
Sintflut zu machen (Z. 14). Erst Z. 180 der 11. Tafel deutet einen
Zusammenhang zwischen Sintflut und Sünde an; der Vers erweckt
aber den Eindruck eines späteren Zusatzes.
154 W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
Menschen damals nicht ganz gelang, so lag das nur an der
freundlichen Gesinnung des Gottes Ea, der in Auflehnung
gegen den Befehl des Götterherrn ein besonders frommes
Paar durch List vor dem Verderben rettete.
Es wäre nun gewiß verfehlt, aus den Göttergestalten
dieser Mythen die sittlichen Ideale der Sumerer oder der
ältesten Akkader erschließen zu wollen'). Wir lernen aus
ihnen nur, daß es der ältesten Zeit noch nicht möglich war,
in den Göttern makellos reine Wesen zu sehen, sondern daß
sie sich die Götter nur als in guten wie auch manchmal
schlechten Eigenschaften gesteigerte Wesen von menschlicher
Artung denken konnte, denen trotz des ewigen Lebens und
der Aufgabe des Weltregiments nichts Menschliches fremd
war. Es kann aber auch kein Zweifel darüber aufkommen,
daß eine Religion auf dieser Stufe wirklich wesentliche sitt¬
liche Antriebe noch nicht zu vermitteln vermag. Demgegen¬
über ist es die geschichtliche Leistung Hammurabis, daß er
einer sittlich geläuterten Gottesauffassung, deren Ent¬
stehungszeit wir nicht kennen, zum Durchbruch verhalf.
Diese Gottesauffassung sah in den Göttern Wesen von einer
den Menschen grundsätzlich nicht erreichbaren Vollkommen¬
heit und Güte, Wesen, aus deren Anbetung der Mensch auch
sittliche Antriebe schöpfen mußte, weil er wußte, daß diese
1) Die Unmöglichkeit eines solchen Schlusses muß gerade für die
Sumerer sehr stark betont werden. Wir können zwar der sumerischen
Literatur schon heute mit einiger Gewißheit entnehmen, daß die Su¬
merer im allgemeinen dem sittlichen Verhalten des Menschen keinen
wesentlichen Einfluß auf die von den ewigen Gesetzen einer über allem
stehenden Weltordnung bestimmten Maßnahmen der Götter zuschrieben ;
damit ist aber keineswegs gesagt, daß man nicht doch an irgendeinen göttlichen Schutz der Bindungen menschlicher Gemeinschaft geglaubt
hätte, und noch weniger ist damit eine abwertende Beurteilung der
sumerischen sittlichen Grundsätze an sich gegeben. Unser Wissen von
der sumerischen Religion ist heute eben noch so gering, daß wir über
eine negative Abgrenzung der sumerischen Vorstellungen gegen die
babylonischen meistens nicht hinauskommen; was die Sumerer den
andersartigen babylonischen Anschauungen positiv gegenüberzu¬
stellen hatten, entzieht sich gerade bei den hier behandelten Fragen noch ganz unserer Kenntnis.
W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl. 155
in ihrem Willen zur Erhaltung der Schöpfung von den Men¬
schen unerbittlich auch sittliches Verhalten forderten. Ham¬
murabi hat es nicht vermocht und als Realpolitiker wahr¬
scheinlich auch nicht ernstlich versucht, dieser seiner reli¬
giösen Überzeugung, aus der er seine Regierungsgrundsätze
herleitete, in Babylonien die alleinige Herrschaft zu ver¬
schaffen. Die Weiterüberlieferung der alten Mythen — z. T.
sogar in neuem Gewände')! — zeigt vielmehr, daß die in
ihnen lebendige Auffassung der Götter zu seiner Zeit auch
in weiten Kreisen der Priesterschaft noch als durchaus un¬
anstößig empfunden wurde.
In der auf den Zusammenbruch des altbabylonischen
Reiches folgenden Zeit wird das anders: Die priesterlichen
Gelehrten der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends nahmen
an den Mythen der gekennzeichneten Art so starken Anstoß,
daß sie einen großen Teil von diesen einfach unterdrückten
und nicht mehr weiterüberlieferten*). In den damals ent¬
stehenden Kanon der religiösen Literatur wurden von den
Mythen, die Götterkämpfe behandelten, nur diejenigen auf¬
genommen, in denen die Kämpfe der Götter um die äußere
Macht auf die Ebene von Kämpfen der Götter als Schützer
der Weltordnung gegen die uralten Mächte des Chaos ge¬
hoben waren'). Gewiß blieben an den Göttern auch in diesen
1) Das Agusajalied z. B. scheint in seiner vorliegenden Gestalt
erst zur Zeit Hammurabis für ihn gedichtet worden zu sein.
2) Unterdrückt wurden von den Dichtungen aus altbabylonischer Zeit, soweit wir sehen können, z. B. das Agusajalied sowie Mythen von
der Art des in CT. XV, 5f. veröffentlichten altbabylonischen Bruch¬
stücks, das von der Verführung der Ninlil und der Ningal in recht
derber Form erzählt. Gegen die an sich gegebene Möglichkeit, daß
spätere Abschriften dieser und ähnlicher Mythen nur zufällig nicht
erhalten sind, spricht außer den religionsgeschichtlichen Erwägungen noch die Tatsache, daß die Unterdrückung älterer Literaturgattungen
in Babylonien gar nichts so Ungewöhnliches war; wenn z. B. auch die
sumerischen Königshymnen in nachaltbabylonischer Zeit verschwunden
sind, so schließt hier der Umfang der Gattung jeden Zufall aus.
3) Zu den Mythen dieser Art gehören außer dem Weltscböpfungs-
epos, das gewiß nicht zum wenigsten aus politischen Gründen zum
wichtigsten Kultepos wurde, noch die Mythen vom Vogel Zü, Ellils
Kampf gegen den Labbu u. a. m.
156 W. V. Sodbn, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
Mythen noch manche recht menschhche Züge haften; ihre
Menschhchkeiten waren aber nun nirgends mehr die treiben¬
den Kräfte des mythischen Geschehens, sondern nur noch
dichterische Ausschmückungen einer Handlung, die den
sicheren Sieg der Götter der Ordnung über alle Widersacher
veranschaulichen sollte'). Lediglich das Gilgameschepos
zeigte sich allen Umgestaltungsversuchen mit theologischer
oder moralisierender Zielsetzung gegenüber unzugänglich;
wenn es trotzdem weiterüberliefert wurde, so lag das wohl
an der unzerstörbaren Volkstümlichkeit dieser Dichtung; zu
der als maßgeblich voll anerkannten Literatur hat es in der
späteren Zeit aber allem Anschein nach nicht gehört*).
Dieses Verhalten gegenüber den alten Mythen zeigt uns
schon, daß der Gottesglaube der Babylonier nach der alt¬
babylonischen Zeit tiefgehende Wandlungen durchgemacht
hat. Der plötzhche Zusammenbruch des einst so fest gegrün¬
deten altbabylonischen Reiches hatte den gläubigen Baby¬
lonier vor Fragen gestellt, denen gegenüber die etwas massiv-
naturhafte Religiosität des Glaubens an die Götter der
Mythen versagte. Die allen brennende Frage nach der Ur¬
sache des sich in der Fremdherrschaft der Kassiten offen¬
barenden göttlichen Zorns konnte auch von den Priestern,
die den den Laien verborgenen tieferen Sinn der Mythen zu
deuten wußten, nicht einleuchtend beantwortet werden; die
Antworten, die diese aus ihrer Mythentheologie heraus etwa
hätten geben können, konnten den semitischen Babyloniern
ja auch schon deswegen nicht viel sagen, weil sie den von
1) In dem Augenblick, wo auch eine geringe Vermenschlichung
der Götter schon als anstößig empfunden wird, ist der Mythus tot.
Babylonien hat diese Stufe nie ganz erreicht, kam ihr nach 1000 aber doch so nahe, daß jedenfalls die Neuschöpfung von Mythendichtungen unterblieb.
2) Auf eine niedrige Einschätzung des Gilgamesepos durch die
babylonischen Priester weist einmal die im Vergleich zum Weltschöp- fungsepo^ dürftige Überlieferung der Dichtung außerhalb der Bibliothek von Nineveh, sodann aber noch stärker das Fehlen von literarischen Entlehnungen aus dem Gilgamesepos in der übrigen Literatur. Näheres hierüber später in anderem Zusammenhang.
W. V. SoDBN, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl. 157
sumerischen Vorstellungen genährten Geist dieser Theologie
nicht verstanden. Hier bewies nun der Gottesglaube, der uns
zuerst auf der Gesetzesstele des Hammurabi entgegen¬
getreten ist, seine gerade in Notzeiten überlegene Kraft; er
wußte, daß die Götter, die weit über allen menschlichen
Gelüsten stehen, in ihrem unbedingten Willen zur Erhaltung
der Schöpfung von den Menschen die Erfüllung aller ihrer
Forderungen verlangten, und diese Forderungen bezogen
sich keineswegs nur auf den Kult und alles, was damit zu¬
sammenhängt, sondern in gleicher Weise auch auf das sitt¬
liche Verhalten der Menschen untereinander. Wenn nun das
Unglück langdauernder Fremdherrschaft über das Land kam,
so lag seine Ursache für einen solchen Glauben klar auf der
Hand: Die Babylonier hatten sich gegen den Willen der
Götter vielfach vergangen und wurden dieser ihrer Sünden
wegen so hart mitgenommen. Diese Überzeugung, daß Leiden
Sündenstrafe sei, wurde in den alles Bisherige umwälzenden
ersten Jahrhunderten der Kassitenherrschaft den Babylo¬
niern so nachdrücklich eingehämmert, daß sie zu einem der
Kernpunkte der Religion der späteren Zeit werden konnte').
Um die Bedeutung dieser Überzeugung gerade auch für die
1) Die hier vorgetragene Annahme, daß für die Durchsetzung des
Sündenbewußtseins in der babylonischen Religion gerade die ersten
Jahrhunderte der Kassitenherrschaft entscheidend gewesen seien, läßt sich infolge des Fehlens jeglicher Quellen für diese Zeit vorläufig nicht
beweisen. Folgende Tatsachen sprechen vor allem dafür: 1. Den Ge¬
beten und Hymnen aus altbabylonischer Zeit ist der Sündengedanke
noch ganz fremd. Da die Zahl der erhaltenen Gebete bisher noch sehr
gering ist, soll damit nicht behauptet werden, daß das Sündenbewußt¬
sein der altbabylonischen Zeit ganz gefehlt hätte; da aber später auch
in den Hymnen Hinweise auf die Sünden des Beters recht häufig sind,
kann das völlige Feblen des Sündengedankens in den alten akkadischen
Hymnen kein bloßer Zufall sein. 2. In der späteren babylonischen
Literatur ist der Sündengedanke voll ausgebildet und hat sich in den
verschiedensten Gattungen durchgesetzt. Da manches dafür spricht,
daß die wesentlichen Grundgedanken dieser kanonischen Literatur
schon gegen Ende der Kassitenzeit literarisch gestaltet worden sind,
liegt es nahe, die Entwicldungszeit dieser Gedanken in den Anfang
der Kassitenzeit zu verlegen. Ich hoffe auf diese Fragen später einmal
ausführlicher zurückkommen zu können.
1 1
158 W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
religiöse Wertung der Sittlichkeit ganz zu verstehen, ist es
notwendig, auf den Inhalt des babylonischen Sündenbegriffs
etwas näher einzugehen. Ein ergiebiges Quellenmaterial hier¬
für steht uns in den zahlreichen akkadischen Gebeten und
Beschwörungen zur Verfügung, die aus der späteren Periode
des babylonischen Schrifttums erhalten sind').
Die beherrschende Stellung, die der Sündengedanke in
den meisten der späteren Gebete, Hymnen und Beschwö¬
rungen einnimmt, läßt sich vielleicht am besten durch die
knappe Analyse einer ihrer wichtigsten Gattungen, der so¬
genannten Handerhebungsgebete oder Gebetsbeschwörungen
veranschaulichen*). Diese Gebete beginnen stets mit dem
hymnischen Preis des angerufenen Gottes. Es folgt dann ein
Hinweis auf das Leiden, das Veranlassung zu dem Gebet
gewesen ist. Als Ursache dieses Leidens erkennt der Beter
reuig seine Sünden auch dann, wenn ihm diese als solche
nicht bewußt geworden sind. Er bittet daher den Gott herz¬
lich, seine Sünden zu vergeben und das ihretwegen verhängte
Leiden fortzunehmen. Als Dank verspricht er, die Größe des
Gottes stets vor allen Menschen preisen zu wollen.
Wir dürfen hier die merkwürdige Tatsache nicht über¬
gehen, daß die Babylonier selbst diese Gebete als Beschwö-
1) Auf die Gebete und Beschwörungen vor allem stützt sich auch
die neueste wertvolle Untersuchung des babylonischen Sündenbegriffs
von VAN Selms (De babylonische Termini voor Zonde, Wageningen
1933), in der die mit dem babylonischen Sündenbegriff verknüpften religionsgeschichtlichen Probleme zum erstenmal umfassend behandelt
sind. Zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit ihren reichen Er¬
gebnissen, denen ich nicht immer zustimmen kann, ist hier leider kein Platz. Die etwas ältere Arbeit von Jean, Le Peche chez les Babyloniens et les Assyriens (Paris 1925), behält daneben nur noch als Stoffsamm¬
lung für eine Darstellung der Forderungen der babylonischen Moral
ihren Wert. In beiden Arbeiten ist zu den im folgenden nur summarisch behandelten Fragen ein umfängliches Belegmaterial ausgebreitet.
2) Eine ausführliche Analyse dieser Gattung bietet W. Kunst¬
mann, Die babylonische Gebetsbeschwörung (Leipz. Sem. Studien
NF. II); der Aufbau der Gebete und der zugehörigen Rituale ist dort
durch zahlreiche Beispiele erläutert, auf die hier ausdrücklich ver¬
wiesen sei.
W. V. Sodbn, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl. 159
rungen bezeichneten und zu ihnen fast immer noch ein be¬
stimmtes Opfer vorschrieben, das in Verbindung mit der
richtigen Rezitation die Erhörung des Gebetes gewährleisten
sollte. Diese in sich widerspruchsvolle Einspannung eines
reinen Bittgebetes in einen magischen Opferritus ist be¬
zeichnend dafür, wie stark auch in die höheren Formen
babylonischen Gottesglaubens noch uralte magische Vor¬
stellungen hineinwirkten.
Für unsere Feststellung, daß die Babylonier jedenfalls in
der späteren Zeit Krankheit und jegliches Leiden als Sünden¬
strafe auffaßten, bieten uns diese und andere nicht als Be¬
schwörungen bezeichnete Gebete eine Fülle von eindrucks¬
vollen Belegen. In sumerischen Gebeten fmden wir nur ver¬
hältnismäßig selten Hinweise auf eine ähnliche Erklärung des
Leidens'); denn die sumerische Religion führte das Leiden
im allgemeinen auf das Einwirken böser Dämonen zurück,
die ohne ersichtlichen Grund den Menschen angreifen"),
während diese Dämonen nach dem Glauben der späteren
Babylonier erst dann über einen Menschen Macht gewinnen
konnten, wenn diesen sein Schutzgott aus Zorn über seine
Sünden verlassen hatte. Die Sünden, die diese Gefahr herauf¬
beschwören konnten, waren von recht mannigfacher Art, wie
allein schon die Tatsache zeigt, daß dem Akkadischen zur
Kennzeichnung sündiger Handlungen oder Unterlassungen
eine ganze Anzahl von Ausdrücken recht verschiedener Her¬
kunft und Grundbedeutung zur Verfügung stehen. Einige
dieser Wörter wie Setütu, anzülu, ikkibu und asakku sind im
kultischen Bereich beheimatet und bezeichnen vorwiegend
1) Die meisten Beispiele hierfür finden sich in den sog. Bußpsalmen der Gattung „Klage zur Herzensberuhigung" (erSagbunga), die zumeist bei Langdon, Babylonian Penitential Psalms (Oxford Ed. of cun. Texts Vol. VI) bearbeitet sind. Da fast alle diese Texte nur durch späte Ab¬
schriften erhalten sind, muß mit der Möglichkeit gerechnet werden,
daß in ihnen gelegentlich Umgestaltungen aus babylonischem Geist
vorgenommen worden sind.
2) Diese Feststellung hat zuerst A. Falkenstein gemacht (vgl.
seine Arbeit „Die Haupttypen der sumer. Beschwörung" in Leipz.
Sem. St. NF. I, S. 56 und 61).
Zeitaobrilt d. D. M. G. Nene folge Bd. XIV (Bd. 89) 11
160 W. V. Soden, Religion u. Sittliclikeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
Verletzungen der göttlichen Heiligkeit durch Verunreini¬
gungen und Übertretungen aller Art. Verschiedene andere
Ausdrücke meinen aber zweifellos vor allem auch sittliche
Verfehlungen, wobei oft noch ein Unterschied gemacht wird
zwischen der bloßen Nachlässigkeit in der Erfüllung der
Pflichten gegen Gott und Mensch (egu), der (vielleicht un¬
absichtlich) verfehlten Handlung (hitu, hitltu) und der ge¬
meinen Schandtat {qillatu, qullultu)^). Zu den meisten dieser
Wörter kennen wir auch die sumerischen Entsprechungen,
ohne daß wir damit allerdings den besonderen Gehalt der
sumerischen Vorstellungen von Sünde schon irgendwie be¬
stimmen könnten*). Wenn in den akkadischen Gebeten der
späteren Zeit die verschiedenen Ausdrücke für sündhaftes
Tun oft ziemlich gleichwertig gebraucht sind'), so liegt das
vielleicht manchmal daran, daß der Beter sich scheute, die
Entscheidung über das größere oder geringere Gewicht seiner
Sünden selbst zu treffen, und sich deshalb immer auch
1) Die beiden häufigsten Wörter für „Sünde", arnu (spätere Neben¬
form annu) und Sertu, sind im Text bewußt nicht genannt, weil ihre
Grundbedeutung noch nicht feststeht [Sertu bezeichnet nach Gilgames¬
epos, Tafel I, Kol. V, 20, vielleicht eigentlich die ,, Unart" als Cha¬
raktereigenschaft) ; sie unterscheiden sich von den anderen Wörtern vor allem auch dadurch, daß sie gleichzeitig die Sünde und ihre Strafe bezeichnen. Auf den religiösen Bereich beschränkt sind lediglich die
obengenannten Wörter für Kultsünden; alle anderen werden ebenso
häufig auch für Vergehen gegen menschliche Ordnung und Sitte ge¬
braucht (in altbabylonischen Texten ist meist nur die letztere Ver¬
wendung sicher bezeugt).
2) Diese Tatsache wird auch von van Selms a. a. O., S. III, mit
erfreulicher Deutlichkeit betont. Im Gegensatz zu den Babyloniern
hält der Sumerer übrigens auch Versündigungen von Göttern für
möglich; die Zerstörung von Lagas durch Lugalzaggisi (um 2600)
z. B. wird von einem Priester aus LagaS der Nisaba, Lugalzaggisis
besonderer Schutzgöttin, als schwere Sünde vorgeworfen (vgl. VAB.
1, 58,4, Iff.). Für die (noch ganz unerforschte) sumerische Gottes¬
auffassung sind Gedanken dieser Art außerordentlich aufschlußreich.
3) Beliebt sind Häufungen von bis zu sechs verschiedenen Wörtern
für Sünde; außerdem wird das Vorhandensein von so zahlreichen be¬
deutungsverwandten Wörtern auch zur Abwechselung im Ausdruck
benutzt.
W.V.Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl. Ißl
schwerer Sünden schuldig bekannte. Trotzdem ist es bei der
mangelnden Fähigkeit der Babylonier, zu zusammenfassen¬
den Wesensbestimmungen vorzudringen, anscheinend nie zur
Ausbildung eines alle Abarten deckenden einheitlichen
SündenbegrilTs gekommen').
In welchem Umfang nun gerade auch sittliche Verfeh¬
lungen als Sünden gegen die Götter gewertet wurden, zeigen
uns einige Sündenlisten, die in der kanonischen Sammlung
der Beschwörungen gegen den ,,Bann" erhalten sind, mit
aller Deutlichkeit. In dieser Sammlung, die den Titel Surpu
„Verbrennung" trägt*), wird nämlich eine sehr große Anzahl
von Sünden namhaft gemacht, die den ,,Bann", d. h. den
Ausschluß aus der Gemeinschaft mit dem Gott und infolge
davon die Überantwortung an böse Mächte, nach sich ziehen
können. Diese Sünden umfassen einmal kultische Unterlas¬
sungen und Übertretungen mannigfachster Art, sodann aber
vor allem auch sehr viele sittliche Verfehlungen'). Unter die
hier genannten sittlichen Verfehlungen fallen nun keineswegs
nur gerichtlich strafbare Verbrechen, sondern auch manche
von menschlicher Gerichtsbarkeit gar nicht erfaßbare Ver¬
gehen, vor allem solche, die den Bestand der Familie als
der Keimzelle irdischer Ordnung bedrohen, wie Aufhetzung
der Familienglieder gegeneinander, mangelnde Achtung der
Kinder vor den Eltern und der jüngeren Geschwister vor den
älteren sowie auch umgekehrt Verletzung der elterlichen
1) Auch arnu kann, weil zugleich dem weltlichen Bereich angehörig, nicht als allgemeines Wort für „Sünde" betrachtet werden. Auf die
grundsätzliche Bedeutung des Fehlens eines Wortes, das den Sünden¬
begriff als Ganzes umschließt, hoffe ich bald einmal eingehen zu können.
2) Für ihren Inhalt vgl. Meissner, Babylonien und Assyrien
II, 229 ff.; eine alles Erhaltene umfassende neue Bearbeitung fehlt.
3) Gerade die Serie Surpu zeigt m. E., daß van Selms a. a. O. die
Bedeutung der ethischen Sünden in der babylonischen Religion unter¬
schätzt. Da eine begriffliche Unterscheidung zwischen ethischer und
kultischer Sünde den Babyloniern natürlich fremd war, wird man
keinesfalls von einer ungleichen Bewertung beider Sündengruppen
durch die Babylonier sprechen dürfen; in den Listen gehen die ver¬
schiedenartigen Sünden auch ganz durcheinander.
1 1 *
162 W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
Pflichten durch willkürhche Enterbung'). Ferner stehen
unter der Drohung des ,, Bannes" auch Vergehen wie die
Treulosigkeit gegen Freunde*), die Unwahrhaftigkeit in allen
ihren Formen') und sogar auch die Unbarmherzigkeit gegen
Gefangene*). Gerade diese letzten Beispiele lehren, wie hoch
die sittlichen Forderungen der Götter nach babylonischer
Anschauung waren, somit kann es nicht wundernehmen,
wenn sich angesichts solcher Forderungen sittlich besonders
fein empfindende Menschen den Göttern gegenüber dauernd
schuldig fühlten, auch dann, wenn sie nicht noch durch Leid
besonders zur Selbstprüfung gemahnt wurden. In manchen
Bußgebeten wird daher auch keineswegs irgendein Leiden
oder Unglück als Veranlassung des Gebetes genannt, sondern
lediglich das im Sündenbewußtsein wurzelnde quälende Ge¬
fühl der Nichterhörung, der Nichtbeachtung durch den
Gott*). Gebete dieser letzteren Art finden wir vor allem an
Marduk, den Gott von Babylon, und Samas, den Sonnen¬
gott, gerichtet, beides Götter, denen in der sumerischen
Religion nur recht begrenzte Funktionen zugeschrieben
wurden'), die für die Babylonier aber die eigentlichen Schir¬
mer der menschlichen Gemeinschaft waren. Besonders Samaä,
der wie der Helios der Griechen durch alles hindurchsieht,
galt als der Schützer von Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit
unter den Menschen: Er bringt, wie es in einem großen
akkadischen Hymnus an ihn heißt'), den bestechlichen
1) Vgl. besonders 2. Tafel Z. 20ff., 35ff., 47ff.
2) Vgl. 8. Tafel Z. 41 f.
3) Vgl. z. B. 2. Tafel Z. 38f., 55ff. u. ö. 4) Vgl. 2. Tafel Z. 29ff.
5) Dem Gefühl der Nichterhörung, das in der Erkenntnis der an
menschliches Wesen unablösbar gebundenen Sündhaftigkeit wurzelt,
gibt besonders das u. a. von Zimmebn in AO. VII, 17 übersetzte Marduk- gebet Kino, Magic Nr. 11 ergreifenden Ausdruck.
6) Marduk wurde von den Sumerern unter dem Namen Asariludug
nur als Herr und Schützer der Beschwörungskulte verehrt; Utu, der
dem semitischen Samas entspricht, war wohl vor allem die Sonne als
Spenderin reicher Fruchtbarkeit (vgl. Frankfobt, Iraq 1, 17 ff.), während seine richterlichen Funktionen seltener erwähnt werden.
7) Bearbeitet zuletzt von Jensen in KB. VI, 2, 96 ff. Vgl. dort be¬
sonders Kol. II, 41 ff.
W.v. Soden, Religion u. Sittlichkeit, n. d. Anschauungen d. Babyl. 163
Richter ins Gefängnis und führt den ungetreuen Beamten
der Bestrafung zu; er sorgt auch dafür, daß der Betrüger
seinen unehrlichen Gewinn nicht ernten kann, gibt aber
dafür dem Unbestechlichen und Ehrlichen die Fülle des
Lebens. Derselbe Samashymnus zeigt aber auch eindeutig,
daß der Lohn des Frommen ebenso wie die Strafe des Sün¬
ders nur diesseitig sein konnte; denn an ein wirkliches
Jenseits hat der Babylonier nicht geglaubt. Das unterirdische
Totenreich ist nach babylonischem Glauben für Gute und
Böse gleich trostlos, und das Schattendasein daselbst wird
nie als Leben bezeichnet. Aus diesem Grunde ist auch die
Idee eines Totengerichts, soweit wir sehen können, nie aus¬
gebildet worden'). Die oft erwähnten Unterweltsrichter ent¬
scheiden auf Grund der Taten des Menschen nicht über die
Art des Daseins nach dem Tode, sondern ausschließlich
über Leben oder Tod des einzelnen Menschen.
Die Weltanschauung der Babylonier ist also im allge¬
meinen durchaus eudämonistisch: gute Taten werden mit
irdischem Wohlergehen belohnt, die Missetat und Sünde aber
zieht Unglück, Krankheit und frühen Tod nach sich. Ganz
besonders eindeutig wird diese den meisten Gebeten zu¬
grundeliegende Anschauung in der nach entsprechenden
biblischen Büchern so genannten Weisheitsliteratur ver¬
treten, die in lehrhafter Form meist in kurzen Sprüchen
Anweisungen gibt, wie man leben müsse, damit es einem
immer gut gehe*). Der wesentliche Inhalt dieser Anweisungen
1) Diese Tatsache ist schon von Jastkow, Rel. Belief in Bab. and
Ass. S. 363 f. als Unterscheidungsmerkmal zwischen babylonischer und
ägyptischer Religion stark betont worden. Neuerdings wird wieder von
manchen versucht, auch für Babylonien die Idee des Totengerichts
nachzuweisen; die dafür angeführten Belege muß ich aber durchweg
für mißdeutet halten (vgl. auch OLZ. 1934, 415). Wie die sumerischen
Vorstellungen von dem, was nach dem Tode kommt, gewesen sind, ist
noch nicht klar; es hat aber nicht den Anschein, daß sie sich von den
babylonischen wirklich grundlegend unterschieden haben.
2) Die babylonische Weisheitsliteratur in ihrem Verhältnis zur
ägyptischen und israelitischen ist in letzter Zeit oft behandelt worden ; ich . nenne nur W. Baumgartner, Israelitische und altorientalische
Weisheit (Tübingen 1933), und L. Dürr, Das Erziehungswesen im
164 W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
läßt sich in den Satz zusammenfassen: Gib dem Gott, was
ihm gebührt, und dem Nächsten, was ihm zukommt, dann
werden dir Götter und Menschen stets freundhch gesonnen
sein. Eine rehgiös gegründete echt sittHche Einstellung ist
nur in sehr wenigen dieser Sprüche erkennbar; die meisten
tragen deutlich den Stempel von kühl rechnenden Nützlich¬
keitserwägungen: Das als gottwohlgefällig Erkannte wird
getan, nicht um Gott und der menschlichen Gemeinschaft
pflichtgemäß zu dienen, sondern weil es dem wohlverstan¬
denen eigenen Nutzen dient.
Manche Babylonier machten nun aber die Erfahrung, daß
sie trotz gewissenhafter Befolgung der Lehren der Weisheits¬
sprüche und trotz sorgfältiger Vermeidung alles dessen, was
den „Bann" nach sich ziehen konnte, immer wieder von
Krankheiten und Verfolgungen durch die Menschen heim¬
gesucht wurden. Ein Recht, an der Gerechtigkeit und der
Reinheit des Wollens der Götter zu zweifeln, erwuchs ihnen
daraus nach babylonischem Glauben durchaus nicht, da sie
sich sagen mußten, daß sie gewiß auch, ohne sich dessen
bewußt geworden zu sein, manchmal die Götter durch
sündige Taten oder Unterlassungen gekränkt haben konnten.
Wenn nun aber ein solcher von Leid geplagter Frommer sah,
daß neben ihm ein offenkundiger Bösewicht in vollendetem
Glücke lebte, dann mußten sich Zweifel an der üblichen
Auffassung von der Gerechtigkeit der Götter einstellen, und
sie haben sich, ähnlich wie bei Hiob in der Bibel, auch tat¬
sächlich bei manchen eingestellt. Uns sind, wenn auch leider
nur unvollständig, zwei große babylonische Dichtungen er¬
halten, die das Ringen mit dem Problem der göttlichen
Gerechtigkeit und Reinheit zum Gegenstand haben.
Die erste von diesen, wohl im ausgehenden 2. Jahrtausend
entstanden, ist ein großer Psalm an den Gott Marduk, der
mit den Worten ludlul bei nemeqi ,,Ich will preisen den Herrn
Alten Testament und im antiken Orient (MVAeG. 36, 2 [1932] und
[kürzer] im ,, Handbuch der Erziehungswissenschaft", Band V, 145 ff.
[1934]), wo auch weitere Literatur zu finden ist.
W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl. 165
der Weisheit" beginnt'). In ihm schildert der Dichter, nach
seinen Selbstaussagen anscheinend ein hoher Beamter, in
äußerst kunstvoller und ausdruckgeladener Sprache alle die
Krankheiten und das schwere Unglück, die ihn trotz seiner
redlichen Bemühungen um gottwohlgefälliges Verhalten be¬
troffen haben, und stellt dabei immer wieder verzweifelt die
Frage, ob er solche furchtbaren Leiden wirklich verdient habe.
Er kommt zu dem Schluß, daß kein Mensch wissen kann,
was die Götter eigentlich für gut ansehen und somit von den
Menschen fordern; oft mag in ihren Augen gerade die Tat
verdammenswert sein, die die Menschen für besonders gut
halten*). Er erkennt weiter, daß die von Stimmungen jäh
hin und her gerissenen Menschen nicht wagen dürfen, den
Ratschluß der Götter an ihren irdischen Anschauungen zu
messen; sie haben sich vielmehr im Bewußtsein ihrer durch
eigene Kraft nie zu überwindenden Sündhaftigkeit und
Schwäche in den Willen der Götter auch dann einfach zu
schicken, wenn dieser ihnen unbegreiflich ist. Und der Rat¬
schluß von Marduk ist auch hier unbegreiflich; Klage und
Buße des Dichters rühren ihn nicht, so daß die Krankheit
sich verschlimmert; an eine Belohnung der religiösen Ein¬
sicht des Dichters denkt Marduk nicht. Erst als es mit diesem
zu Ende zu gehen scheint und alle ihn aufgegeben haben,
greift Marduk ein; seine ihre Wirkung nie verfehlende
,, Lebensbeschwörung" macht das Unmögliche möglich: der
Dichter gesundet und wird von nun an mit Gütern aller Art
so gesegnet wie nie zuvor. Die Menschen alle staunen über
dieses wunderbare Geschehen und preisen mit dem Dichter
1) Die erhaltenen Reste der Dichtung, die 4 Tafeln umfaßte, sind
oft übersetzt worden, vollständig zuletzt von Ebeling in Altor. Texte zum AT.*, S. 274ff. (dort weitere Literatur). Da fast die ganze 1. Tafel
und große Teile der 3. und 4. Tafel fehlen, läßt sich der Inhalt der
einzigartigen Dichtung nur sehr unvollkommen herstellen.
2) Der Gedanke, daß die Menschen den Willen der Götter im
Grunde gar nicht kennen können, begegnet auch in manchen Gebeten
(vgl. besonders das oben S. 162' erwähnte Mardukgebet) ; als für die
spätere babylonische Religion selbstverständlich darf er aber gewiß
nicht gelten.
166 W. V. Soden, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
die Güte und Allmacht Marduks, dessen Walten in keiner
menschlichen Berechnung erfaßt werden kann.
Die zweite, ihrer Form nach gewiß erheblich jüngere
Dichtung'), die wir infolge ihrer gekünstelten Sprache und
der vielen Textlücken nur erst teilweise verstehen, zeigt uns
ähnlich dem Buch Hiob zwei Freunde im Gespräch. Der eine
von ihnen verzweifelt gänzlich an der göttlichen Gerechtig¬
keit, da es doch dem Schlechten überall gut gehe, während
der Fromme viel leiden müsse. Diese Verzweiflung verweist
ihm sein Freund als Gotteslästerung; zweifle der Mensch
doch nur deswegen an der Gerechtigkeit Gottes, weil er
Gottes Ratschluß nicht durchschauen könne. Es sei nun
einmal göttlicher Wille, daß es auch schlechte Menschen gebe;
warum das so sei, wissen wir nicht. Leider fehlt uns der
Schluß des leidenschaftlich geführten Streitgesprächs.
In diesen beiden Dichtungen, die die Unzulänghchkeit
aller menschlichen sittlichen Wertungen vor Gott betonen,
ohne diese damit ihres die Menschen verpflichtenden Cha¬
rakters zu entkleiden, ist dem babylonischen Gottesglauben
in seiner höchsten Gestalt Ausdruck gegeben: Die unbedingte
Reinheit des göttlichen Waltens wird als eine durch mensch¬
liches Denken gar nicht anzutastende Gewißheit hingestellt;
die Menschen müssen wohl ihre sittlichen und religiösen
Pflichten so, wie sie sie ihr Erkenntnisvermögen sehen läßt,
gewissenhaft zu erfüllen suchen, müssen die Beurteilung und
Lohnung ihrer Taten aber durchaus Gott überlassen. Die
offizielle Religion der babylonischen Priesterschaft ist zu
dieser Einstellung, die Opfer und Kult zwar keineswegs
leugnete, deren Unzulänglichkeit vor Gott aber doch klar
erkannte, nie durchgedrungen; sie hat die in sich wider-
1) Bearbeitet ist diese Dichtung bisher nur von Ebeling unter
dem Namen „Ein babylonischer Kohelet" (Berlin 1922; neue Über¬
setzung in Altor. Texte zum AT.«, S. 287«.), wo aber weder die Zwie¬
gesprächsform des Ganzen noch der Sinn der Wechselreden erkannt
ist. Eine Neubearbeitung durch Landsberger ist bald zu erwarten.
Daß die Dichtung erst spät (kaum vor 800 v. Chr.) entstanden ist,
wird durch ihre sprachliche Gestalt und die Verwendung der Form
des Akrostichs über allen Zweifel erhoben.
W. V. Sodbn, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl. 167
spruchsvolle Verknüpfung der magischen Vorstellung, daß
durch die Verbindung von Kulthandlungen mit geeigneten
Worten die Götter in irgendeiner Weise zur Erhörung der
Menschen gezwungen werden könnten, mit der echt religiösen
Überzeugung, daß nur die möglichst allseitige Erfüllung ihrer
Forderungen die Gottheit wohlgesinnt erhalten könne, nie
überwinden können, sondern sich im Gegenteil später immer
mehr in einen öden Ritualismus verstrickt, dessen allmähliche
Erstarrung durch ausschweifende theologische Spekulationen
über den Sinn der Riten auch nicht mehr aufgehalten werden
konnte. Wenn dieses Schicksal der priesterlichen Religion
zum Schicksal der gesamten babylonischen Religion werden
konnte, so zeigt uns das deutlich, daß den religiösen Ge¬
danken der beiden zuletzt besprochenen Dichtungen auch
keine wirklich lebenschaffende Kraft innewohnte, und wir
können die Gründe dafür wenigstens teilweise auch schon
erkennen. Vor allem das eine ist wesentlich: Die Erkenntnis,
daß die Maßnahmen der Götter nicht mit den irdischen
sittlichen Maßstäben gemessen werden könnten, mußte zu
einer immer weitergehenden Vertiefung des in der semitisch¬
babylonischen Religion an sich schon sehr starken Abstands¬
gefühls den Göttern gegenüber führen. Damit drohte
zwischen den wesenhaft unvollkommenen und sündhaften
Menschen und den unvorstellbar vollkommenen Göttern eine
schier unüberbrückbare Kluft aufzureißen. Der Dichter von
ludlul bei nemeqi zwar war noch fest genug in dem über¬
lieferten Glauben an die väterliche Güte der Götter verankert,
um einer solchen Gefahr auszuweichen. Dem Verteidiger der
Reinheit des göttlichen Willens im (akrostichischen) Zwie¬
gespräch hingegen ist dieser Glaube offenbar nicht mehr
recht lebendig; er hält die menschliche Sündhaftigkeit für
gottgewollt (vgl. Z. 257 ff.) und kommt dadurch zu einer ge¬
wissen müden Skepsis allem menschlichen Bemühen gegen¬
über, wenn er auch nicht so weit geht, daß er dieses für ganz
sinnlos erklärt. Bei einer solchen Auffassung läuft die im
Sündengedanken verkörperte fruchtbare Verbindung von
Religion und Sittlichkeit Gefahr, auf einer religiös höheren
168 W. V. Sodbn, Religion u. Sittliclikeit n. d. Anschauungen d. Babyl.
Ebene wieder aufgehoben zu werden, da jedenfalls das
religiös einfach und natürlich empfindende Volk hier keine
Verbindung zwischen dem unbegreiflichen Gotteswillen und
dem menschlichen Tun des Alltags mehr herstellen kann.
Soweit wir wissen, ist es keinem religiösen Denker in Baby¬
lonien gelungen, den Gedanken von der Unergründlichkeit
des göttlichen Willens mit dem im Volke lebendigen Bewußt¬
sein von bestimmten Forderungen der Götter an die Men¬
schen zu vereinen; daher ist es nicht verwunderlich, daß sich
die offizielle Kultreligion, die für alle Bedürfnisse ihre Riten
zur Verfügung hatte, trotz aller ihrer inneren Widersprüche
als stärker erwies und länger behauptete. Die Priester, die
den Kult verwalteten, versicherten, den Willen der Götter
ergründen zu können; die höhere Gottesauffassung einzelner
Frommer konnte dieser Behauptung nur die negative Über¬
zeugung entgegenstellen, daß das menschenunmöglich sei;
damit versagte sie aber dem Leben gegenüber, das positive
Zielsetzungen verlangt und sich am Verzicht auf Erkenntnis
nicht genügen läßt.
Wir sind hiermit am Ende unserer Betrachtung des Ver¬
hältnisses von Gottesglauben und sittlichen Wertungen in
Babylonien. Wir haben gesehen, daß eine allmählich fort¬
schreitende Versittlichung der Gottesauffassung in Baby¬
lonien erkennbar ist. Während die alten Mythen den Göttern
noch allerlei menschliche Schwächen zutrauten, setzte sich
seit Hammurabi nach und nach eine Anschauung durch, die
die Götter über menschliche Fehler erhaben wußte und davon
überzeugt war, daß die Götter außer dem Kult auch ein
sittliches Verhalten von den Menschen verlangten. Die Nicht¬
erfüllung dieser Forderung durch die Menschen wurde als
Sünde betrachtet, die göttliche Strafe nach sich zieht. Dabei
wurden zunächst die göttlichen Forderungen einfach mit den
menschlichen sittlichen Wertungen gleichgesetzt. Die reli¬
giöse Erfahrung lehrte aber, daß das nicht richtig sein konnte.
Daher kamen manche Fromme schließlich dazu, nicht nur
das sittliche Tun der Menschen, sondern auch ihre sittlichen
Grundsätze für vor Gott unvollkommen und möglicherweise
w.v. Sodbn, Religion u. Sittlichkeit n. d. Anschauungen d. Babyl. 169
sündhaft zu halten; die wirklichen Forderungen der Götter
erklärten sie als den Menschen nicht erkennbar. Eine solche
Anschauung konnte aber im Volke keine Wurzel fassen, da
sie die rehgiösen Bedürfnisse des Alltages nicht befriedigte;
so kam es, daß die Kultreligion der Priester mit allen ihren
inneren Widersprüchen schließlich die Oberhand behielt, bis
auch sie an dem Ballast einer nicht mehr verstandenen Über¬
lieferung zugrundeging.
Das in diesen Sätzen noch einmal kurz zusammengefaßte
Bild von der geschichtlichen Entwicklung der babylonischen
Gottesauffassung in ihrem Verhältnis zu sittlichen Wertungen
kann, wie ich schon eingangs betonte, natürlich nur ein vor¬
läufiges sein; die weitere Forschung auf dem hier eingeschla¬
genen Wege wird sicher noch eine Menge von neuen Be¬
obachtungen hinzufügen können, die dieses Bild mannigfach
ergänzen und berichtigen. Sie wird dabei auch nach und nach
eine tragfähige Grundlage schaffen können, auf der die hier
bewußt außer acht gelassene Frage nach dem Verhältnis der
religiösen Entwicklung in Israel zu der in Babylonien frucht¬
bar behandelt werden kann ; einen solchen religionsgeschicht¬
lichen Vergleich heute schon durchführen zu wollen, wäre
aber Vermessenheit.
Das Drama
„Eine Kaisertochter wird geschlagen" im Vergleich
zu dem denselben Stoff behandelnden Schattenspiel.
Von Georg Jacob.
Enno Littmann zum 60. Geburtstag gewidmet.
Ablcürzungen.
Ablington, The Chinese Drama, Shanghai 1930.
Bbewitt-Taylob.
O. Fbanke, Geschichte des chinesischen Reiches, 1. Band, Berlin 1930.
Giles, A Chinese Biographical Dictionary, London-
Shanghai 1897.
Mayebs, The Chinese Reader's Manual, Shanghai 1924.
PAUTfflEB, L'inscription syro-chinoise de Si-Ngan-Fu, Paris 1858.
Gebhabd Rosenkbanz, Der Heilige in den chinesischen Klassikern : Missionswissenschaftliche Forschungen, Leipzig 1935.
V. TscHABNEB, Lc thöatrc chinois : Bulletin de l'asso- ciation frangaise des Amis de l'Orient Nr. 18, Paris, avril 1935.
Ablington =
Br-T =
Fbankb =
Giles =
Mayebs =
Paüthieb =
Rosenkbanz
TSCHABNEB
Das in China behebte Schattenspiel Ta tschin-tschih,
Schlag auf ein goldenes Reis, d. h. auf eine Kaisertochter, ist
durch die Aufführungen der Bührmanntruppe San-mei-hua
pan in vielen Städten Westdeutschlands und der Schweiz,
welche mehr als 50 Besprechungen in Zeitungen und Zeit¬
schriften zeitigten, genugsam bekannt geworden. Über die
hohe dramatische Kunst des Stücks habe ich in meiner Ein¬
führung in die altchinesischen Schattenspiele (Stuttgart,
Kohlhammer 1935) gehandelt und möchte das dort Gesagte