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§ 43. Der König.

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philosophische Analogie, was ist sie anders als die Anlehnung extra- legaler, auswachsender sozialer Gebilde an schon bestehende Staats- einrichtungen ? Die Staatsweisheit besteht dann eben darin, für das organisch ausgewachsene soziale Gebilde die passendste Anlehnung in dem gegebenen S t a a t s Organismus zu finden. Und nach dieser Richtung haben die Engländer, das muß man Burke zugestehen, stets in genialer, praktischer Weise vorzugehen verstanden. Ja, diese philosophische Ana- logie hat England vor Revolutionen bewahrt, diese philosophische Ana- logie ist die Grundlage der Konventionalregeln, welche wieder die Unter- lage des englischen Verfassungsbaus sind. Seitdem Burke diesen Geist philosophischer Analogie verherrlicht hat, wird der Glaube an die Kon- ventionalregeln in England und ihr heilsames Wirken unerschütterlich.

»The English constitution has not been made, but has grown.«

§ 42. Stände and Parteien.

L i t e r a t u r .

Das Hauptwerk über die Geschichte der Parteien unserer Epoche ist noch immer C o o k e G. W., History of Party, 3 Bde., 1836. Außerdem sind zu nennen:

B o l i n g b r o k e , Dissertation on Parties, 2. ed., 1735. — H u m e , Essays and Treatises 1769, I. — L e w i s C., Essays on the Administration of Great Britain from 1784—1830, London 1864. — M a y a. a. O. II, Kap. 8. — J e p h s o n , The rise and progress of the Platform, 1912. — H a r r i s , The History of Radical Party in Parliament, 1885. — O s t r o g o r s k i , Democracy and Or- ganisation of Political Parties, vol. I (London 1902). — K e b b e 1 T. E., History of Toryism 1783—1881, London 1886. — K e n t Roylance, The Early History of the Tories, London 1908. D e r s e l b e , The English Radicals 1899. — L o r d W. F., The Development of Political Parties during the Reign of Queen Anne, in Trans, of Roy. Hist. Soc. N. S. XIV (1900), p. 69-121. - H o l l a n d Lord H. R., Me- moirs of the Whig Party during my time, 2 vols., 1852 ff. (Parteigeschichte aus dem Anfang des 19. Jahrh.). — Wertvolle Daten auch bei M a c a u l a y , History of England, und bei L e c k y , History of England during XVIII. century, 1892, 7 vols.

— Memoirs of John Horne T o o k e (by A. Stephen, London 1813). — Über Pitts des Jüngeren Auffassung der Parteien siehe namentlich: S a l o m o n Felix, Wil- liam Pitt der Jüngere I, S. 47 ff. und II, 165 f. — Über die philosophischen Radi- kalen und über Benthams Philosophie: S t e p h e n L., The English Utilitarians, London, 3 vols, 1900. — D i c e y , Law and Public Opinion in England during the XIX. Cent., Londonl905. — H a l é v y E., La formation du radicalisme philo- sophique, insbes. vol. III, Paris 1904. — Über Pa i n e: C o n w a y M. D., Thomas Paine et la Révolution dans les Deux Mondes, Paris 1900,' traduit de l'Anglais par F. Rabbe. — The Writings of Paine collected and ed. by M. D. Conway, vol. I to IV, London u. New York 1894-1896.

I. Im allgemeinen.

Das große Kunstwerk, das England schon in der vergangenen Verfassungsperiode begonnen, in der unserer Betrachtung nun vorliegen- den zum großartigen Abschluß gebracht hat, war seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Zusammenfassung der Stände zu zwei großen Parteien. In dieser Verwandlung der Stände zu Parteien liegt vor allem das Großartige, daß die Parteien, weil aus v e r s c h i e d e n e n Ständen zusammengesetzt, sich nicht

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§ 42. Stände und Parteien. 587 in kleinherzigen, egoistischen, dem Staatswohl fremden Interessen ver- loren, sondern, wenigstens in der ersten Zeit nach ihrer Entstehung, jedenfalls bis zum Beginne des 18. Jahrhunderts, das gemeine Wohl vor Augen hatten. Zum zweiten ist durch die Umwandlung der Stände in Parteien das eigentümliche Charaktermerkmal der englischen Verfas- sungsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert entstanden, das wir noch im folgenden näher verfolgen wollen. Es ist die Wichtigkeit der Partei- o r g a n i s a t i o n gegenüber den wechselnden Partei p r o g r a m m e n . Ausschlaggebend ist in England seit dieser Zeit bis auf den heutigen Tag die Parteiorganisation. Das Programm kann sich ändern und sich sogar in sein Gegenteil verkehren, die Organisation ist bleibend. Diese Tatsache hat, wie wir gleich sehen werden, ihre Schattenseiten, aber eine große Lichtseite. Sie bewirkt, daß in England sich nicht über- flüssige Parteien bilden, da der Zwiespalt in der Partei viel ärger empfunden wird als eine Abkehr von dem ursprünglichen Parteidogma.

Diese Charaktereigentümlichkeit der englischen Parteiengeschichte ist nur darauf zurückzuführen, daß die Stände von den Parteien aufgesogen worden sind, in den Parteien aufgegangen sind. Wäre die Parteibildung direkt aus der Ständebildung hervorgegangen, wären Parteien mit Ständen identisch geblieben, statt, wie sie es wirklich sind, über den Ständen stehend, sie zusammenfassend, dann wäre das Parteiprogramm, weil mit den Interessen des einen oder andern Standes identisch, das Wichtigste geblieben; die Parteienbildung hätte sich je nach der Zahl der Stände zersplittert. Daß dies nicht geschehen, ist der große Vorzug, das große Kunstwerk der englischen Parteiengeschichte.

Aber wie war es möglich, diese verschiedenen Stände, die wir in der vorigen Periode näher kennen gelernt haben, zu großen Parteien zusammenzufassen ? Die Umwandlung hatte schon in der vorigen Periode begonnen. Dadurch, daß die Tudors einen sog. landed interest schufen, der aus einer Reihe von Ständen, wie wir sahen, bestand; aus den großen Landbaronen, weiter der gentry, den yeomen, war die

Grundlage der einen Partei, der Tories, gegeben. Der landed interest wurde das Hauptelement der Torypartei, der Konservativen.

Aber wie bildete sich die Gegenpartei ? Wie entstanden die Whigs, die Liberalen ? Wie war hier eine Zusammenfassung der Stände zu einer großen Partei möglich ? Die Antwort ist: durch die großartige Ent- wicklung des Handels und Verkehrs, der in England ungefähr um die- selbe Zeit einsetzte wie die Entstehung des landed interest, genauer etwas später, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als Deutschland durch den Dreißigjährigen Krieg verwüstet wurde. Von der großartigen Entwicklung dieses Handels machen wir uns am besten eine Vorstellung, wenn wir in Erwägung ziehen das, was Petty in seiner politischen Arithmetik (um 1676) uns versichert, daß nämlich innerhalb der letzten 40 Jahre der Wert der Häuser von London sich verdoppelt, die

Kohlenverschiffung sich vervierfacht, der Wert der Zölle sidi ver- dreifacht, die Zahl der Briefe sich verzwanzigfacht hatte und daß infolge des Kapitalreichtums der Zinsfuß von 8 auf 6 % gefallen war.

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Nach Davenant soll das Tonnengewicht der Kauffahrteischiffe von 1666—1680 sich verdoppelt haben. Derselbe Davenant versichert in einem 1698 geschriebenen Werk (Discourses on the public revenue and trade of England)1), daß der E r t r a g von Grund und Boden in England seit Beginn des 17. Jahrhunderts bis zum Ausgang desselben von 6000000 Pfund auf 14000000 gestiegen war und daß der Wert des Grund und Bodens sich von 72 000 000 Pfund auf 252 000 000 Pfund in der- selben Zeit erhöht hatte.

Hand in Hand mit dieser Steigerung von Handel und Verkehr geht die Erhöhung des öffentlichen Kredits durch Begründung der Bank von England, die Verminderung der Monopolien durch Beseitigung der großen Handelsgesellschaften. Der Handel nach Afrika wurde 1698 freigegeben und im folgenden Jahre der Handel nach Rußland. Die politischen Wirkungen dieser Steigerung von Handel und Verkehr machten sich nun nach doppelter Richtung geltend. Zunächst fanden sich auf (Jem Gebiete des Handels und der Industrie die verschiedensten Emigranten anderer Länder zusammen, namentlich waren es religiöse Emigranten. Man lernte einander näher kennen und schätzen und vergaß infolgedessen die religiösen Differenzen. Der Geist der Toleranz atmete, weil durch den Handel veranlaßt, in allen großen Verkehrszentren frei auf. Wenngleich man die Toleration nicht auf die Katholiken aus- dehnte, war man doch für Toleranz zwischen den protestantischen Parteien.

Es war natürlich, daß der Handel sich so der liberalen und von religiösen Vorurteilen weniger beeinflußten Whigpartei anschließen mußte. Dazu kam aber noch eine zweite Wirkung der gesteigerten Handels- und Ver- kehrsverhältnisse. Der öffentliche Kredit und mit ihm der Handel hing von der Stabilität der Verfassungsverhältnisse ab. Oberstes Grund- dogma des Handels war, daß die durch die glorreiche Revolution ge- schaffenen Verhältnisse nicht berührt werden durften. Da die Whig- partei die Revolution durchgeführt hatte, so war der Handel von vorn- herein an die Whigpartei gefesselt, und umgekehrt suchte die Whigpartei durch ihre längere Herrschaft in der Zeit der ersten zwei George durch Kompanie- und Handelsgesellschaften, durch gesteigerte Eröffnung neuer Handelsgelegenheiten immer mehr wirklich kräftige Interessenten für die Sache der regierenden Dynastie aus dem Hause Hannover zu inter- essieren. So sehr kamen der Handel und seine Interessen zur politischen Geltung, daß die großen Handelskompanien, wie z. B. die Ostindische, direkt Wahlsitze kauften, ebenso zu Patronen korrupter Wahlflecken wurden wie die großen Landbarone. So sagt Davenant bei Gelegenheit der parlamentarischen Untersuchungen im Jahre 1701, bei denen her- vorkam, daß in verschwenderischer Weise Summen von Seiten der Ost- indischen Kompanie zur Bestechung der Unterhausmitglieder verwendet wurden: »Man sagt, daß es bekannte broker gibt, welche versucht haben, mit Wahlen an der Börse zu handeln, und daß es für bestimmte Städte einen Börsenpreis gebe.« Ein anderer Schriftsteller, Atterbury, sagt

l) Zitiert bei Macaulay, History of England in the 18. Century, vol. I, p. 194.

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§ 42. Stände und Parteien. 589 (Somers, Tracts 13, p. 535): »Städte werden an der königlichen Börse ebenso behandelt wie Wertpapiere. Der Preis einer Stimme ist ebenso wohl bekannt wie der eines acre Landes, und es ist kein Geheimnis, wer die begüterten Leute, und daher kein Geheimnis, wer die besten Abnehmer sind.«

Der Handel nimmt also andere Stände ebenso in Beschlag wie der landed interest. Dem landed interest gegenüber entsteht ein funded interest. Selbst die Aristokratie verbindet sich mit dem Handel. Die großen Grundbarone verschmähen es nicht, ihre zweitgeborenen Söhne zu Handelslehrlingen zu machen. So sagt Pope in seinen Moral Essays:

»Boastful and rough your first son is a squire, the next a tradesman meek, and much a liar.« Und in einer Flugschrift aus dem Jahre 1 7 2 2 h e i ß t es:

»Nun bestreben sich sogar die angesehensten gentlemen, ihre jüngeren Söhne zu Kaufleuten nach der Türkei (Turkey merchants) zu schicken.

Und während der fleißige Sohn sich einen Grundbesitz durch über- seeischen Handel im Ausland erwirbt, verwendet der weise Vater zu Hause sein Talent, um über die Fremden (sc. im Parlament) zu schimpfen.«

Mitten durch die Berufe, ja selbst mitten durch die Familie geht, wie wir sehen, die Parteischeidung. Das ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Sie zeigt, wie wenig egoistischen Interessen allein diese Partei- bildung dienlich ist. Der funded interest der Kapitalisten spannt aber nicht bloß Städter, Handelsleute, Aristokratie, zweitgeborene Söhne der gentry an seinen Wagen, sondern auch die nonkonformistische Kirche. Auch sie ist, weil auf Toleranz angewiesen, eine Verbündete des Handels, der ohne Toleranz nicht leben kann, und sie spielt innerhalb der Whigpartei eine viel angesehenere Rolle als die »Leviten«, die Priester- kandidaten der anglikanischen Kirche, im Haushalt des torystischen Landedelmannes. Sie gibt ihr immer neue Impulse zur Lösung poli- tischer Fragen im freiheitlichen Geiste.

Große Glaubens-, Wirtschafts- und Verfassungsgrundsätze lagen als Gegensätze den Parteien bei ihrer Entstehung zugrunde, das Parteiprogramm stand nicht in unverhältnismäßiger Kleinheit den Staatszwecken gegenüber. Wo es das Allgemeinwohl verlangte, standen die beiden großen Parteien im Kampfe zusammen, so als Jakob II.

vertrieben wurde, um die Rechte des Glaubens und des Parlaments zu wahren. Das Merkwürdige aber an der englischen Parteientwicklung in unserer Periode, also von 1760—1837, ist, daß sie das, was seinerzeit am Ausgange des 17. Jahrhunderts so groß begonnen hatte, so klein enden läßt.

Wie kommt es, daß die Parteigrundlagen, die Programme, im Laufe des 18. Jahrhundert so unansehnlich gegenüber dem Staatszweck, so egoistisch und koterieartig werden ? Wie kommt es, daß die unter den Auspizien der Freiheit begonnene Vorherrschaft des Parlaments im 18. Jahr- hundert zur Herrschaft einer Oligarchie der großen Grundbesitzer und Landmagnaten und einiger reicher Finanzbarone wird ?

*) Zitiert bei Macaulay a. a. O. I, p. 193.

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Die Antwort sei schon vorausgeschickt: Das Unglück wollte es, daß die Technik der parlamentarischen Regierung sich der beiden großen Parteien bemächtigte und sie in Beschlag nahm. Diese Technik wird Hauptsache, das Parteiprogramm Nebensache. An zwei bedeutsamen Punkten zeigt sich dies. Vor allem tritt die Parteiorganisation und ihre Wichtigkeit in den Vordergrund, so daß alles andere vernachlässigt wird, insbesondere die Rücksichtnahme des Programms auf neu aufstrebende Lebensinteressen. Sodann entwickelt sich die Parteiorganisation in engster Anlehnung an die vorhandene Staatsorganisation. Die Parteien werden hierdurch immer mächtiger, die Organisation erstarkt, aber es ist keine Frage, ob der einzelne Parteiangehörige innerhalb der Partei zur Geltung kommt. Die Hauptsache ist, daß die Leaders führen. Die Parteiorganisation wird in ihrem Innern ebenso oligarchisch wie die Staatsverfassung auf der Grundlage des beschränkten Wahlrechts.

Dieses Hervortreten der Parteiorganisation auf Kosten des Parteipro- gramms, diese Verknüpfung von Partei- und Staatsorganisation hat aller- dings die Technik des parlamentarischen Regierens auf eine von keiner Nation erreichte Höhe gebracht; der Staatsbürger als Parteimann befand sich aber dabei sehr übel, denn ihm war es als Individuum ver- sagt, sein Quentchen Teilnahme an der Staatsherrschaft den Führern gegenüber durchzusetzen. Die Führer waren und blieben alles, der ein- fache Parteimann bedeutete im Staate nichts.

II. Schon Hume sagt in seinen »Essay on Parties« von den zeit- genössischen Parteigruppierungen: »Nichts ist gewöhnlicher zu sehen, als daß Parteien, welche mit einer wirklichen prinzipiellen Differenz begonnen haben, noch weiter fortdauern, nachdem die ursprüngliche Parteidifferenz längst verschwunden ist.« Für die englischen Parteien- geschichte, namentlich von 1760—1837, trifft dies ganz besonders zu.

Die Geschichte der wechselnden Herrschaft der Parteien zeigt in England eine gewisse gesetzmäßige Entwicklungsfolge, welche man das G r a v i t a t i o n s g e s e t z der englischen Parteiorganisation nennen könnte. Eine Partei mit einem bestimmten in sich geschlossenen Parteiprogramm kommt zur Herrschaft. Das Programm der Partei wird im Verlaufe der Zeit durch Realisierung verbraucht, und ihr Zerfall in Sektionen ist wahrzunehmen. Dies gibt der andern Partei, gleich- gültig, ob sie nun ein bestimmtes entwicklungsfähiges Programm hat oder nicht, die nötige Einheit durch Konzentration, bringt sie zur Herrschaft, bis schließlich auch sie denselben Verbrauch ihres Pro- gramms und ihrer Kraft aufzuweisen hat, in Sektionen zerfällt und in der Regierung des Reiches der erstarkten Gegenpartei Platz macht.

Bei alledem fällt aber die eine Tatsache auf, d a ß e s a u f d a s V o r h a n d e n s e i n e i n e s e n t w i c k l u n g s f ä h i g e n P r o g r a m m s g a r n i c h t a n k o m m t . Eine Partei kann sich auch ohne solches halten, ja eine andere zu Fall bringen, weil sie in ihrer Kohärenz und im Zusammenhalten der Leaders stärker ist als die andere. D i e P a r t e i e r h ä l t s i c h d u r c h d i e S c h w e r e i h r e r O r g a n i s a t i o n . Die Tatsache deutet eben an, und die

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§ 42. Stande und Parteien. 591 äußere Parteigeschichte wird dies zur Genüge beweisen, daß im eng- lischen Parteisystem die O r g a n i s a t i o n d i e H a u p t s a c h e , d a s P a r t e i p r o g r a m m d i e N e b e n s a c h e i s t .

Sehen wir nun näher zu, wie sich dies Gesetz bestätigt.

Die beiden großen Parteien, welche seit dem Ende des 17. Jahr- hunderts England beherrschten, waren die Whigs und Tories, oder, wie sie seit den 30 er Jahren1) des 19. Jahrhunderts heißen, die Li- beralen und Konservativen. Ihre Entstehungszeit fällt in eine Epoche, die von Bürgerkriegen durchwühlt war, die Zeit der Stuarts (siehe Trevelyan, England under the Stuarts, 1904, ch. VII).

In einer Flugschrift aus dem Jahre 1675 (»A Letter from a Person of quality, to his friend in the country«, abgedruckt in State Tracts . . . relating to the Government. Privately printed in the reign of King Charles II., London 1689) wird als Programm der »Great Church-Men«

angeführt:

»1. Eine von dem übrigen Teil der Nation besondere P a r t e i . . . aus den hochkirchlich gesinnten Männern und den »alten Kavalieren«

zu bilden (»to m a k e a d i s t i n c t P a r t y from the rest of the Nation of the High Episcopal Men, and the old Cavaliers«).

2. Ihre nächste Absicht ist, ein Kirchenregiment einzurichten, welches als unabänderlich beschworen wird und das als göttlichen Ursprungs gilt (»next they design to h a v e t h e G o v e r n m e n t o f t h e C h u r c h S w o r n t o , a s U n a l t e r a b l e ; and so tacitly owned to be of D i v i n e R i g h t ; . . . « ) .

3. Dann erklären sie zur Belohnung der Krone die Staatsregierung für absolut und nach freier Willensentschließung handlungsfähig und gestatten der Monarchie und dem Bischoftum göttliches Recht und durch menschliche Gesetze nicht begrenzt und nicht gebunden zu sein (»then in requital to the Crown, they declare the Government A b - s o l u t e a n d A r b i t r a r y , and allow Monarchy as Episcopacy, to be J u r e d i v i n o , and not to be bounded or limited by human Laws«).

4. Und um all dies zu sichern, beschließen sie, die Macht und Ge- legenheit der Parlamente, irgend etwas in Kirche oder Staat zu ändern, hinwegzuräumen und sie nur als Instrument zur Gelderhebung und zur Erlassung solcher Gesetze zu belassen, wie Hof und Kirche es wünschen. Der Versuch einer andern Parlamentswirksamkeit, mag er noch so notwendig sein, soll ein Verbrechen sein nicht weniger als Meineid (»and to secure all this, they resolve to take away the Power and Opportunity of P a r l i a m e n t s to alter any thing in Church or State, only to leave them as Instrument to raise Money and to pass

*) Der Ausdruck »konservativ« zur Bezeichnung der Tories soll (siehe Low and Sanders, History of England during the Reign of Victoria [1837 — 1901], London 1907, p. 61) von Canning bei einem Dinner der City von London verwendet worden sein. Croker gebraucht ihn dann in der Quarterly Review im Januar 1830 und Macaulay nennt jenen Ausdruck bei Besprechung des Buches von Dumont's »Mi- rabeau« (Juli 1832) ein neu entstandenes Schlagwort.

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such Laws as the Court and Church shall have a mind to: The Attempt of any other, how necessary soever, must be no less a Crime than Perjury.«)

5. Als der oberste Baustein des ganzen Gebäudes soll ein Vorwand aus dem Mißtrauen, das sie selbst hervorgerufen haben, und aus einer wirklichen Notwendigkeit infolge der kleinen Zahl ihrer Parteigänger, hergeholt werden, um die ständige Armee zu vermehren und zu erhalten (»and, as the Top-stone of the whole Fabrick, a Pretence shall be taken from the Jealousies they themselves have raised, and a real necessity from the smallness of their Party, to encrease and keep up a standing Army;...«).

Man nannte diese Partei, die die Rechte des Königs vertrat, Kava- liere. Diejenige Partei, die die Rechte des Parlaments verfocht, nannte man die Rundköpfe. Sie bildeten sich etwa im Dezember 1641 nach der Rückkehr des Königs aus Schottland (Trevelyan, England under the Stuarts, p. 220). Man setzt1) die Entstehung des englischen Partei- systems in die Zeit des Parlaments von 1667, das nach dem Sturze Ciarendons zusammentrat. Um diese Zeit fanden auch zum ersten Male Reisen der Parteifreunde statt. Auf einer Rückübertragung seiner eigenen zeitgenössischen Auffassung wird es daher wohl beruhen, wenn Prynne in seinem »Plea for the Lords« (p. 413) von dem Unterhaus Elisabeths sagt: Daß man damals die Ausschließung von gewählten Abgeordneten begann unter dem Vorwand, sie seien nicht gehörig gewählt, daß dies aber mehr geschah »rather to strengthen or weaken a p a r t y in t h e House«. Unter Karl II., in der Hitze des Kampfes um die »Exclusion Bill«, wodurch der Bruder des Königs (später

Jakob II.) von der Thronfolge ausgeschlossen werden sollte, in der Zeit der darauffolgenden Prorogierung des Parlaments 1679 bis 1680, sind die Parteinamen der Whigs und Tories entstanden (Cooke I, p. 137 ff.).

»Whigs« bedeutete eine schottische Presbyterianersekte, »Tory« das Mitglied einer irischen Räuberbande. Die Namen waren als Spitz- namen entstanden. Zuerst erhielten ihn die Tories, dann die Whigs von ihren Gegnern (Kent, Early History, p. 264).

Seit ihrer Entstehung vertraten nun die beiden Parteien grund- sätzlich verschiedene Programme: die Whigs die Volksfreiheit und die damit zusammenhängenden, mitunter wohl an einen republikanischen Staat erinnernden Prinzipien, wie z. B. den Widerstand gegen ungesetz- liche Königsakte und namentlich die Auflösung der Staatsreligion in eine rationalistische, atheistische Ethik und Sittenlehre; die Tories unbe- dingte Königstreue, den Glauben an das Gottesgnadenkönigtum und die Theorie des passiven Gehorsams und Nichtwiderstandes. Die Angriffe des letzten Stuarts auf die Staatskirche, die den Tories nicht minder heilig war als das Königtum, die Furcht vor der Wiedereinführung der katholischen Religion (no popery!) veranlaßten sie zum Aufgeben un- bedingter Königstreue. Tories und Whigs verbanden sich gemeinsam

l) Siehe Abbot in E. H. R. X X I (1906), 43 f.

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§ 42. Stände und Parteien. 593 zur Absetzung Jakobs II. Nach dieser sog. glorreichen Revolution (1688) traten aber auch die alten Parteigrundsfitze mit neuer Kraft wieder auf. Hume definiert in seiner oben angeführten Schrift den Tory dieser Zeit als »lover of monarchy, though without abandoning liberty«, gleichzeitig als Parteimann der Stuarts im Exil, den Whig als

»a lover of liberty, though without renouncing monarchy«, aber als Parteigänger der neuen Herrscher (Wilhelm und Marie). In bezug auf staatsbürgerliche Freiheit und Schranken der königlichen Gewalt näherten sie sich im Laufe der Zeit, aber in religiösen Fragen waren die Tories intransigente Anhänger einer allmächtigen Staatskirche, die Whigs nahmen dagegen die dissenters unter ihre Fittiche und waren namentlich diesen gegenüber Vertreter umfassender Toleranz.

Wilhelm III. und Anna wußten sich dieser Parteigegensätze ge- schickt zu bedienen, sie gegeneinander auszuspielen und ihren monarchischen Willen allenthalben durchzusetzen.1) Noch herrschte der König, nicht die Parteien im Lande. Aber innerlich erstarkten dieselben namentlich in ihren Programmen. Es ward der revolutionäre Anstrich den Whigs gegeben. Der frühere Parteigegensatz von Königs- und Volksrechtlern wandelte sich nunmehr in den von Anhängern der Stuarts und der neuen Dynastie um. Das Dogma des unbedingten Gehorsams gegenüber dem König (passive obedience, non-resistance)' wurde durch die Tories und die gegenteilige Ansicht durch die Whigs vertreten, die ja mit Erfolg gezeigt hatten, wie man einem Könige der Willkür Widerstand leisten könnte2). Daß aber die Tories zunächst wenigstens bis 1690 in eine Reihe von Fraktionen (Jakobiten, Hoch- kirchler und Non-jurors, d. h. Personen, welche den Untertaneneid dem neuen Monarchen nicht leisten wollten) zerfielen, schadete ihrer Re- gierungsfähigkeit (siehe Kent, Early History, p. 391).

Von 1690—1708 wissen sie die unter ihnen bestehenden Partei- gegensätze zu verdecken und beherrschen infolgedessen Unterhaus und Kabinett. Aber die Eifersüchteleien zwischen Harley (später Earl of Oxford) und St. John (Viscount of Bolingbroke) schwächen zunächst die Parteikohärenz (»you broke the party — schreibt St. John an Harley 1708 — unite it again«)3) und bewirken, daß dann mit der han- noverschen Dynastie 1714 die Whigs dauernd zur Herrschaft gelangen.

Unter der neuen Dynastie verstand es diese Partei, sich zur unbe- dingten Herrschaft im Staate aufzuschwingen. Denn machtlos standen ihr Monarchen gegenüber, die der Landessitte und Sprache unkundig, sich in alles fügen mußten, was ihnen die Partei, die ihnen auf den

') Uber Annas Stellung zum Parteiwesen insbes. Lord a. a. O. 118 f.

2) Diese Parteigegensätze charakterisiert am besten ein Brief S h r e w s b u r y s an Wilhelm I I I . : »Your Majesty and the government are much improbable and remoter than the Tories. Though 1 agree them (the Tories) to be the properest instrument to carry the prerogative high, yet I fear, they have so unreasonable a veneration for the monarchy as not altogether to approve the foundation that yours is built upon«. Coxe, Shrewsbury Correspondence p. 15.

3) Siehe Portland Manuscripts, in Reports of the Historical Manuscripts Commission IV, p. 511.

H a t s c b e k . Engl. Verrassungszescbichte. 3 8

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Thron verholfen hatte, vorschrieb. Seit der Zeit Georgs I. regiert in England nicht mehr der König, sondern die Partei.

Zuerst waren die Whigs, welche die Hannoversche Dynastie auf den Thron gesetzt, zur Herrschaft berufen. Sie stellten die Ka- binettsminister und besetzten die Spitzen der Verwaltung der beiden ersten George, mit oder gegen deren Willen. In ihren Hauptteilen aus Interessenten des Handels und Kapitals zusammengesetzt sowie durch die sog. dissenters oder Nonkonformisten verstärkt1), hatten sie von der ruhigen Entwicklung des Landes und der Stabilität der hannoverschen Dynastie alles, von der Wiederkehr der Stuarts nichts zu erwarten.

Daher suchten sie sich mit allen Mitteln in dem Besitz der Herrschaft zu halten, und es gelang ihnen wirklich, von 1715—1760 die Zügel der Regierung zu führen. Durch die lange Herrschaft der Whigs bildete sich das wichtigste Element des Parteisystems heraus: d i e O r g a n i - s a t i o n d e r P a r t e i . Denn nichts trägt dazu mehr bei als die lange Herrschaft einer Partei, die sich mit allen Mitteln in dieser Herr- schaft behaupten will und gerade diese Mittel und Praktiken zu einem Regierungssystem entwickelt. D i e Z e i t W a l p o l e s2) u n d P e l h a m s i s t d e m n a c h d i e G e b u r t s s t ä t t e d e r s y s t e - m a t i s c h e n e n g l i s c h e n P a r t e i o r g a n i s a t i o n u n d d e s P a r t e i k o n v e n t i o n a 1 i s m u s, w e n n g l e i c h s i c h s c h o n A n s ä t z e h i e r z u am A u s g a n g e d e s 17. J a h r h u n d e r t s z u z e i g e n b e g o n n e n3) h a t t e n .

Freilich, die Reaktion gegen diese unausgesetzte Herrschaft der Whigs blieb nicht aus. Ihre Korruption ward angegriffen. Schon von Bolingbroke in seiner Dissertation »On Parties« (1728) und in »On the Idea of a Patriot King« (1749), worin er darauf hinweist, daß eine Parteiherrschaft im damaligen Staat überflüssig sei, da den Partei- gruppen jeglicher innerer Grund fehle. Die Gefahr der Rückkehr der Stuarts sei nun vorüber. Man müsse sich gegenwärtig gegen ein System der Korruption zusammenschließen — gemeint war unter dem letztern Walpole und die Whigregierung —, da man in England doch Parteien haben müßte. Viel besser sei aber ein patriotischer König, der über den Parteien stehe, selbst regiere und den Parteien keine Möglichkeit der Herrschaft übriglasse. Der politische Hintergrund dieser Flugschriften war die Tatsache, daß die Whigpartei nach dem Falle von Walpole durch die Dyarchie Pulteney-Townshend notdürftig zusammengehalten, später zwischen den Anhängern Carterets und der beiden Pelhams zersplittert war. Nun setzt die oben genannte literarische Tätigkeit Bolingbrokes ein. Der Prinz von Wales will die Partei der Königsfreunde (sog. Lei- cester house party) schaffen, um die Whigpartei zu sprengen. Diese erhält sich trotzdem bis 1760 in der Herrschaft, weil ein kräftiges

1) Lecky, History of England during the XVIII. Century, 1892, vol. I, p. 233 ff.

s) Siehe auch Blauvelt, The development of Cabinet Government in Eng- land, 1902, p. 199 ff.

») Porritt I., p. 263 ff.

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§ 42. Stände und Parteien. 595 Bindeglied ihr im älteren Pitt erstanden ist. Die Parteizerfahrenheit und die heillose Parteiwirtschaft kannte dieser zur Genüge, er suchte sich seit 1760 von jedem Parteianhang unabhängig zu machen. Ohne Frage war er hierbei von Bolingbrokes Ideen erfüllt. Auch er wollte die Par- teienherrschaft im Staate durch die kraftvolle Hand eines Monarchen überflüssig machen1). Aber erst in Georg III. finden diese Maximen Bolingbrokes und Pitts ihre scheinbare Realisierung. Georg III. ist es, welcher sich selbst für einen solchen Patrioten-König hält und, als erster seiner Dynastie in England geboren, sich für einen solchen auch halten darf. Die herrschenden Whigverbindungen, die er im Staat vor- findet, sollen in Trümmer geschlagen werden. Dies gelingt ihm durch Verhetzung der liberalen Führer untereinander und durch Einführung der bisher unbekannten Spezies der »Königsfreunde« in das Parlament, einer Schar von Pensionären und abhängigen Kreaturen, auf die er sich immer verlassen darf. Dadurch versteht er es, sich mit Ministern zu umgeben, die keinen Parteigrundsätzen oder höchstens torystischen huldigen.

Pitt der Jüngere, der ohne Parteiverbindungen sich gegen den Ansturm einer Koalition von Parteien (1784) zu halten weiß, ist es, der die Grundsätze seines Vaters und die Georgs III. in die Praxis um- setzt. Er will nicht als Parteihäuptling angesehen werden2). Den Grundsatz der Unabhängigkeit von jeder Partei behauptet er mit kleinen Unterbrechungen bis 1801, als er wegen der Katholikenemanzi- pation, für die er eintritt, sich die königliche Gunst verscherzt. Nun- mehr kommen die Tories ans Ruder. Die Gefahr der französischen Revolution für die alten Staatsordnungen, die konvulsivischen Zuk- kungen derselben auf dem Kontinent bis in die 30 er und 40 er Jahre des 19. Jahrhunderts geben den Tories in England einen wirksamen Hintergrund und die Möglichkeit langjähriger Herrschaft. In ihr er- halten sie sich mit wenigen Ausnahmen bis 1830, da die Katholiken- emanzipation von 1829 die innere Zersetzung der Partei herbeiführt.

Die folgende Herrschaft der Whigs bringt in den 30 er und 40 er Jahren die wichtigen Reformgesetze, wodurch das alte torystische Programm:

Erhaltung der Autorität des Königtums, gestützt durch mächtigen Landadel, Unterhaltung der alten Staatskirche, in seinen Grundfesten stark erschüttert wird. Freilich, die letzte Stütze der Torypartei, die Kornzollgesetze, werden erst 1846 durch ein Tory-Ministerium (Sir R. Peel) niedergerissen. Das veranlaßt, dieses Datum als den Zeitpunkt des Zerfalls der Torypartei und ihres alten Programms zu bezeichnen.

Die Whigpartei hat durch die ihre Reihen füllenden sog. Radikalen mannigfache Anregung zu Reformen in der Folge erhalten. Aber gerade ihr Verhältnis zu den Radikalen zeigt, wie sehr alles auf die Organisation der Partei und wie wenig es auf das politische Programm ankommt, um

M Lecky History a. a. O. I, 442 und III, 177 ff., 282 und Ruville, William Pitt, Stuttgart und Berlin, 1905, III, S. 12.

') Siehe Historicai Manuscripts Commission 12. Rep. App. IX., p. 373.

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Anteil an dem parlamentarischen Regime zu erhalten. Schon in den ersten Regierungsjahren Georgs III. — nach Lecky etwa im Jahre 1769 (History of England III, 174; siehe auch Cooke III, 188 ff.) — ent- stand ein Häuflein Reformer, welche dem Volke zur Selbstregierung in England verhelfen wollten. Im Jahre 1780 begründeten sie in den wichtigsten Grafschaften sog. committees of correspondence, welche sich die Reform des Parlaments und seine Befreiung aus der bisherigen Parteioligarchie zum Ziele setzte. Die Hauptprogrammpunkte dieser neuen Gruppe von Politikern deckten sich ungefähr mit dem, was nachträglich als die wichtigsten Forderungen der Chartisten bezeichnet wurde, nämlich: allgemeines Wahlrecht, geheimes Wahlrecht, gleich- mäßige Wahlkreise, Taggelder der Abgeordneten, Abschaffung des Vermögenszensus für das Wahlrecht. Hervorragende Führer der Whigs wie Fox, Sheridan u. a. waren Mitglieder des hervorragendsten dieser committees, nämlich des committee of Westininster. In der ersten Zeit ihrer Wirksamkeit begnügte sich die neue Gruppe damit, hervor- ragende Unterhausmitglieder zu Sachwaltern ihrer Forderungen zu machen. Der jüngere Pitt dankte seine ersten Erfolge zweifellos der von jener Gruppe für ihn entwickelten Propaganda. Erst um 1815, als nach der Besiegung Napoleons das englische Reich zur Ruhe kam und sich auf seine neue Aufgabe besann, die Kriegslasten zu tilgen, ohne die Wohlfahrt des Landes für alle Zukunft zu ersticken, traten

•die Mitglieder der neuen Gruppe, oder wie sie seit 1819 hießen, die Radikalen (siehe Martineau, History of the Thirty Years Peace I, 226) mit einem festen Programm der Volkswohl fahrt im Gegensatz zu beiden -Parteien der Tories und der Whigs hervor. Sie wollten nichts von der

Erhöhung der Kornzölle und indirekter Steuern der Regierung wissen, um die großen Kriegslasten abzuzahlen, sondern ihr Programm war:

zunächst Parlamentsreform, damit eine wirkliche Volksrepräsentation diejenige Besteuerungsform und -reform fände, welche dem Volke am zuträglichsten wäre. Dadurch entwickelte sich ihr Gegensatz nicht bloß zu den damals am Ruder befindlichen Tories, sondern auch zu den Whigs, die damals wie auch später für einen »mittleren Kurs« einge- nommen waren. Der Gegensatz zwischen den ehemaligen Freunden wäre unüberbrückbar geworden, wenn nicht etwa seit 1821 verbindende Glieder zwischen Whigs und Radikalen erstanden wären, welche, wenn- gleich äußerlich der Whigpartei angehörig, innerhalb derselben Pro- paganda für die radikalen Forderungen gemacht hätten, wie z. B.

Lambton, der nachmalige Lord Durham u. a. Auch die sog. philo- sophischen Radikalen, allen voran Bentham, dann Hume, Molesworth, Gibbon, Grote, wirkten auf die Verbindung hin, hatten sie doch ein- flußreiche Schüler im Lager der Whigs, so z. B. Romilly u. a.

Dem vereinigten Wirken der Whigs und Radikalen gelingt es, die Parlamentsreform von 1832 durchzusetzen, die Radikalen fassen zum ersten Male festen Fuß im Parlament. Aber zu einer besonderen Par- lamentspartei werden sie weder damals noch in der Folge. Dazu fehlt ihnen die besondere Parlamentsorganisation, die Verbindung ihrer

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§ 42. Stande and Parteien. 597 Leaders mit den wichtigsten Amtsstellen im Kabinett, die be- sondere Rücksicht, die man auf eine wirkliche Parlamentspartei nimmt. Und außerdem wirkt das eherne Gravitationsgesetz der eng- lischen Parteien. Wenn die Radikalen besondere Reformen durchsetzen wollen, die Whigführcr darauf nicht eingehen, so müssen die Radikalen nachgeben. Denn sie haben nur die Wahl, dies zu tun, oder durch ihre Opposition die jeweilige Whigherrschaft zu untergraben, d. h. den Tories zum Siege zu verhelfen, was ihre Wünsche noch mehr vernichtet hätte. In dieser Zwangslage befinden sie sich z. B. 1835 (siehe Harris p. 270 f.) und 1859 (Harris a. a. 0 . 438). Unter solchen Umständen bringen sie es in dieser Zeit nur dazu, vorgeschobene Posten der Whigs zu sein und Agitation für whigistische Reformfragen zu machen. Ein- fluß auf das Kabinett bekommen sie erst seit 1867, seit der zweiten großen Parlamentsreform. Zu einer selbständigen Partei haben sie es in Eng- land nie gebracht, trotzdem es ihnen an einem umfassenden politischen Programm wahrlich nicht gefehlt hat. Die Schwerkraft der politischen Parteiorganisation war eben mächtiger als ihr Programm. So wechseln seit 1832 Tories und Whigs oder, wie sie nunmehr heißen, Konservative und Liberale (Morley, Gladstone I, 422) unter merkwürdiger Einhaltung des oben bezeichneten Gravitationsgesetzes der Parteien: eine Partei kann sich auch ohne festes Programm erhalten, wenn sie nur eine feste und einflußreiche Organisation aufweist, und sie verliert die Zügel der Parlamentsregierung aus den Händen, weil sie einen Zerfall der Führer aufweist, während ihre Gegner fest und geschlossen zusammenhalten.

Eine Partei ohne Organisation kann allein durch ihr Programm nicht zur Herrschaft gelangen, weil ihr die parlamentarische Parteiorgani- sation fehlt, d. i. der Zusammenhang ihrer Leaders mit den wichtigen Stellen im Staat und Ministerkabinett. Das lenkt uns auf den zweiten Punkt der englischen Parteientwicklung, wie er seit dem 18. Jahr- hundert in den Vordergrund tritt: in der Parteiorganisation bedeuten die Führer alles, das einzelne Parteimitglied nichts. Wie kam es dazu ?

III. Die Geschichte der Parteiorganisation.

Burke sagt in seiner Flugschrift: »Thoughts on the Present Dis- contents« (Gedanken über die gegenwärtige Unzufriedenheit): »Eine Partei ist eine Vereinigung von Männern, welche durch ihre gemeinsamen Bestrebungen das Nationalwohl fördert und auf einem besonderen Prinzip, in welchem sie übereinstimmen, beruht. Ich meinesteils kann unmöglich begreifen, wie jemand an seine eigene Politik glauben oder vermeinen kann, daß sie von irgendeiner Bedeutung sei, der es ver- schmäht, die Mittel anzunehmen, um jene politischen Grundsätze in Praxis umzusetzen. Es ist die Aufgabe des spekulativen Philosophen, die besonderen Endzwecke des Staats abzugrenzen. Es ist Sache des Politikers, der ein Philosoph in Aktion ist, die besonderen Mittel zu jenen Endzwecken herauszufinden und diese Mittel wirksam zu verwenden.

Deshalb wird jede ehrenwerte Parteiverbindung bekennen, daß ihr oberster Zweck sei, jede anständige Methode anzuwenden, um jene Per-

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sonen, die sich zu ihrer politischen Ansicht bekennen, in eine solche Stellung zu bringen, daß sie befähigt werden, ihre gemeinsamen Pläne auszuführen m i t a l l e r M a c h t u n d A u t o r i t ä t d e s S t a a t s . I n s o f e r n e a l s d i e s e S t a a t s m a c h t g e k n ü p f t i s t a n g e w i s s e S t e l l u n g e n , so i s t es i h r e P f l i c h t (d. i. der Partei), um d i e s e S t e l l u n g e n z u k ä m p f e n (»as this power is attached tb cer- tain situations, it is their duty to contend for these situations«). Ohne die andern zu verdammen, sind sie verpflichtet, ihrer eigenen Partei den Vorzug in allen Dingen zu geben und auf keinen Fall aus egoisti- schen Rücksichten irgendwelche. Anerbietung von Machtstellungen an- zunehmen, in welchen nicht die ganze Partei eingeschlossen ist. A u c h s i n d s i e v e r p f l i c h t e t , s i c h n i c h t l e i t e n , k o n t r o l - l i e r e n o d e r ü b e r s t i m m e n z u l a s s e n w e d e r i m A m t n o c h i m R a t d u r c h d i e j e n i g e n , w e l c h e i h r e n f u n - d a m e n t a l e n P a r t e i g r u n d s ä t z e n o d e r j e n e n G r u n d - s ä t z e n w i d e r s p r e c h e n , b e i d e n e n j e d e a n s t ä n - d i g e P a r t e i v e r b i n d u n g s t e h e n m u ß . «

Wenngleich nun diese Flugschrift den Verhältnissen ihrer Ent- stehungszeit angepaßt ist, — der Hauptteil der Schrift ist gegen den

»Einfluß« der sog. »Königsfreunde« gerichtet, der Schlußteil gegen die bureaukratische Autokratie eines Chatham, wobei die Fremdheit, mit der sich Minister und Subalternbureaukratie gegenübertreten, ver- spottet wird, — so charakterisiert jenes Zitat doch genügend die beiden Eigentümlichkeiten der parlamentarischen Parteiorganisation, wie sie England am Schlüsse des 18. Jahrhunderts kannte, nämlich:

Verbindung der Parteiorganisation mit den wichtigsten Staatsämtern und unbedingte Unterordnung des Parteimitglieds unter die Partei- grundsätze. Was in den obigen Ausführungen Burkes nicht betont wird, was aber im fügenden zu erweisen sein wird, ist, daß die Subordination unter die Parteigrundsätze nur eine notwendige Folge der Verbindung der Parteihäupter mit den wichtigsten Amtsstellen im Staate war.

Diese Verbindung schuf die innere Stärke der englischen Parteiorgani- sation, schaltete aber infolge der Führersuprematie die individuelle Freiheit des einzelnen Parteimitglieds, insbesondere des einer Partei angehörigen Unterhausabgeordneten aus.

Die Organisation der englischen Parteien beginnt mit der Regierung Georgs I., insbesondere mit dem Ministerium Walpole, das die Mittel der Korruption von Parlament und Wählern zum System erhebt. Die Whigpartei, als die damals herrschende, zeigt zuerst eine Partei- organisation, die sich dann auch der in der Opposition befindlichen Torypartei mitteilt.

Die erste Organisationsbildung ist die Verbindung der Parteiführer im Kabinett, das ist einem Unternehmersyndikat der damals durcli Korruption besonders stark gewordenen Whigpartei. Robert Walpole pflegte sich und den neben ihm mächtigen Townshend als die »Firma«

zu bezeichnen, welcher der König die Regierung anvertraut habe.

Diese »Firma« verbindet sich mit dem privy council, dem alten Staats-

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§ 42. Stände und Parteien. 599 rat, in der Weise, daß die hervorragendsten Parteiführer Träger der hohen Staatsämter und Staatsräte werden. Das Amt des Chefs des Schatzamts (First Lord of the treasury) wird insbesondere dazu aus- ersehen, um durch die in seine Kompetenz fallenden Hilfsmittel des Amtspatronats, der Verfügung über die Geheimdienstgelder (secret services fund), und durch die Unterstützung der damals mächtig empor- strebenden Handelsgesellschaften, z. B. Südsee - Gesellschaft, sich Parteianhänger zu schaffen. In diesem Bestechungswerke wird noch der Finanzminister durch seinen ersten Sekretär, den patronage secre- tary des Schatzamts unterstützt. So wird in den Memoiren von Wraxall (ed. 1815, vol. II, p. 498—500) von dem Finanzminister Henry Pelham, dem Nachfolger Walpoles, berichtet, daß der Sekretär des Finanz- ministers, Roberts, am Ende der Session den einzelnen Mitgliedern des Unterhauses Summen zwischen 500—800 £ in die Hände drückte, je nach dem Werte der dem Ministerium in der Session geleisteten Dienste, und daß zu diesem Zweck ein eigenes Buch im Finanzministerium geführt wurde. Diese bevorrechtigte Stellung in der Verwendung der »Parteimittel« machte den »ersten Lord des Schatzamts« zum geborenen Leader der Regierungspartei im Unterhause. Der Leader der Commons stand aber nicht isoliert an der Spitze der Partei. Er hatte noch andere Mitglieder des Unternehmersyndikats, welches das Kabinett darstellte, zu befriedigen. Diese waren ebenfalls Parteiführer, allerdings nicht bedeutend genug, wie der Hauptführer, aber dennoch an der Leitung der Partei beteiligt. Es waren die Vertreter hervor- ragender Adelsfamilien, mitunter auch Bürgerliche, die zu hohem Vermögen gelangt waren. Vorbedingung für solche Leadereigenschaft war die Innehabung und Disposition über eine Reihe von Unter- haussitzen. Dieser sog. »interest« bestand darin, daß der Leader, ver- möge großen Grundbesitzes oder vermöge von Familienverbindungen, die Wahl innerhalb eines Stadtfleckens oder einer Grafschaft beein- flussen und die Wähler zur Wahl eines bestimmten ihm genehmen Abgeordneten kommandieren konnte.

Nicht nach der Fähigkeit, sondern nach der Anzahl der verfüg- baren Sitze im Unterhause wurde der Leader der Partei gewählt. In der Weise herrschten die Familien der Walpoles, der Pelhams, der Pitts (von denen nicht weniger als sieben Mitglieder beinahe um die- selbe Zeit ins Unterhaus gewählt waren), der Bedfords, Grenvilles u. a.

Es gab auch Unterhaussitze, über welche der König, bzw. die Regierung, auf jeden Fall verfügen durfte. Die Städte von Cornwallis gehörten hierher. Denn auch Georg III. verschmähte es nicht, sich einen solchen

»interest« zu verschaffen.

Die wichtigsten Parteiabmachungen fanden in den Klubs statt, die seit dem 17. Jahrhundert in England zu blühen begannen. Hier in den Klubs erfolgte namentlich die Verständigung mit jenen Leaders, welche nicht im Kabinett Sitz und Stimme hatten.

R. Walpole hatte gezeigt, wie man die Organisation einer parla- mentarischen Regierungspartei durchführen konnte. Jede Gegenpartei

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mußte, wenn sie wirksam werden wollte, sich ähnlich organisieren, sie mußte ihre Leaders, ihre Whips, ihre Parteiagenten haben. Der- jenige, der am frühesten sich über das Wesen einer parlamentarischen Oppositionspartei äußerte, war Bolingbroke, der heftigste Gegner Walpoles und seiner Parteiregierung. In seinen »Spirit of Patriotism«

schreibt er: »Diejenigen, welche so tun, als ob sie eine Opposition führen oder in ihr eine Rolle spielen, müssen zum mindesten gleich- kommen denjenigen, welche sie bekämpfen: ich meine nicht bloß in einzelnen Punkten, sondern im Eifer und Fleiß und den Früchten beider Eigenschaften, die da sind Wohlinformiertheit, Kenntnis und eine gewisse Schlagfertigkeit für alle möglichen Zufälle. Jede Regierung ist eine Art von Wohlverhalten, die Opposition muß deshalb ebenfalls ein System von Wohlverhalten sein, und zwar ein entgegengesetztes, nicht abhängiges System. . . . Nach der gegenwärtigen Form unserer Verfassung ist jedes Parlamentsmitglied Mitglied eines ständigen Nationalrats, geboren oder vom Volke gewählt, um gute Regierung zu fördern und schlechter Regierung zu opponieren, und wenn auch nicht ausgerüstet mit der Macht eines Staatsministers, dennoch ausgerüstet mit der höhern Gewalt, diejenigen zu kontrollieren, die von der Krone zu jenem Amte bestellt sind. Daraus folgt, daß diejenigen, welche sich zu einer Opposition verbinden, eine ebenso große Pflicht haben, sich selbst zu dieser Kontrolle vorzubereiten, wie diejenigen, welche der Krone dienen, sich auf die Führung der Verwaltung vorbereiten.«

Was diesem Gegner der Parteiregierung vorschwebt, ist das im englischen Parteileben so wichtige Prinzip der Reziprozität. Die Partei- regierung als solche will er nicht. Wenn sie aber schon existiert, dann muß sich auch die Opposition eben infolge jenes Prinzips ähnlich organi- sieren und in vollständig reziproker Weise ebenso alles bekämpfen, was die Regierungspartei administriert. Nach diesem Prinzip ist auch die Opposition in England entstanden, und so waren am Ausgange des 18. Jahrhunderts die Parteizentralstellen in London etabliert. In der Provinz erfolgte ebenfalls die Organisation der Parteien.

A u c h h i e r f i n d e n w i r i m 17. u n d 18. J a h r h u n d e r t d i e V e r b i n d u n g v o n P a r t e i - u n d s t a a t l i c h e r O r - g a n i s a t i o n , w i e s i e i n d e r Z e n t r a l l e i t u n g z w i s c h e n K a b i n e t t u n d S t a a t s r a t b e s t a n d e n . Die Friedensrichter und die Sheriffs in Grafschaften, die Bürgermeister (mayors) oder Stadt- verordnete in den Städten sind es, welche sich als Komitees in den Dienst der Partei stellen. Mitunter kommen sogar Klubbildungen in den Städten, z. B. der christliche Klub oder der blaue Klub in Bristol u. a.

vor (s. Ostrogorski I, p. 126 Note 1). Diese werktätigen Provinzial- agenturen der Partei werden von dem Generalagenten, dem »under- taker« der Partei, geleitet (s. Porritt I, p. 380 ff.). Der Generalagent holt dann seine Weisungen von der Zentrale der Parteiorganisation.

Das war die »Squirearchie«, die Parteihierarchie des Grundbesitzes im 18. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.

Diese Organisation beider Parteien hatte einen vorherrschenden Grund-

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$ 42. Stände und Parteien. 601 zug. Sie war kein auf demokratischer Gleichberechtigung der Partei- mitglieder ruhender Genossenverband, sondern ein sozialer Herrschafts- verband, in welchem die Leaders das Wort der Entscheidung führen.

Der einzelne Abgeordnete hatte nur den Winken seines Leaders zu folgen und danach zu stimmen. Bob Dodington, der berüchtigte Partei- agent aus der Zeit R. Walpoles, schrieb um 1741 in sein Tagebuch:

»Wir sind bloß die Miliz, bestenfalls mit einem gewissen Elan, die wohl- disziplinierten, regelmäßig besoldeten Truppen, die sich in den Prin- zipien und dem Dienste ihres Herrn eins wissen, gedrillt zu denken, daß jedes Ding, das vorteilhaft ist, auch recht sei.« Ein anderer Ab- geordneter, der unter der Führerschaft des jüngern Pitt diente, äußerte sich über seine Parlamentstätigkeit folgendermaßen: »Ich war niemals bei einer Debatte anwesend, wenn ich's vermeiden konnte, oder bei einer Abstimmung abwesend, die ich mitmachen konnte. Ich hörte manche Argumente, welche mich überzeugten, aber niemals eines, das meine Abstimmung beeinflußte. Ich stimmte nur einmal nach meiner Überzeugung, und das war das schlechteste Votum, das ich je gab. Ich fand bald, daß der einzige Weg, ruhig im Parlament zu bleiben, der war, daß man immer mit den Ministern stimmte« (Crabb, Robinsons Diary II, 316). Sich gegen die Parteidisziplin im Parlament aufzu- lehnen, galt gesellschaftlich als Ungezogenheit. Jemandem dies zum Vorwurf machen, war gleichbedeutend mit dem Vorwurf, nicht als Gentleman zu gelten. Als Pitt der Jüngere im Jahre 1798 — er war damals Premier — dem Abgeordneten Tierney einen ähnlichen Vor- wurf machte, mußte er sich mit ihm schlagen.

Je stärker die Parteidisziplin auf den Abgeordneten wirkte, desto weniger ward er durch andere Rücksichten, namentlich die Rücksicht auf seine Wählerschaft in seiner Handlungsweise kontrolliert. Eine öffentliche Meinung außerhalb der parlamentarischen Kreise gab es wohl, aber sie hatte wenigstens bis in das dritte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts keine gesetzlich garantierten Mittel, um sich durch- zusetzen (s. oben § 40). Dazu kam noch, daß für gewöhnlich die Abstimmungslisten des Unterhauses nicht veröffentlicht wurden, so daß die Wählerschaft eigentlich gar nicht in der Lage war, die Tätigkeit ihres Abgeordneten wirksam zu kontrollieren.

Wie lange mußte sich das englische Volk die Beherrschung des Parlaments durch oligarchisch organisierte Parteiengruppen gefallen lassen ? So lange, als niemand in England vorhanden war, der die For- derung aufstellte, daß dem Volke Teilnahme an der Staatsregierung zugestanden werden müßte. Die bisherige Parlamentsregierung ruhte auf einer Kollektivtätigkeit der beiden Parteien, in welcher das Indi- viduum, der Staatsbürger gar nicht zum Worte kam. Am Ausgange des 18. Jahrhunderts traten nun Verkündiger eines neuen Evangeliums auf, welche die unmittelbare Teilnahme des Staatsbürgers an der Staats- regierung verkündeten und die Herrschaft des durch Majoritätsbeschluß zu erkundenden Volkswillens auf ihr Panier schrieben. Vorbereitet wurde diese Bewegung durch den Pietismus eines Wesley und seiner An-

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hänger1). Diese Lehre verhieß jedem das Seelenheil durch die alleinige Macht des individuellen Glaubens an Gott. Das protestantische Dogma von der unmittelbaren Teilnahme an göttlicher Gnade für jeden Gläubigen war in England durch das unheilvolle Wirken Lauds und der Hoch- kirche in Vergessenheit geraten. Nun erwachte es zu neuem Leben.

Der Appell an das Individuum und sein Gewissen blieb nicht wirkungs- los auf religiösem Gebiete. Sie stärkte das Verantwortlichkeitsgefühl der Gläubigen. Auf das politische Gebiet übertragen, bedeutete diese Stärkung des Verantwortlichkeitsgefühls das Verlangen des Individuums, sich als mündig und selbständig in der Staatsregierung zu betätigen. Dazu kam nun die Rousseausche Lehre vom »contrat social«. Eifrig wurde sie in England aufgegriffen. So sagt Priestley (Essay ont the First Principles of Government 1768, p. 17): »Jedermann lebt in der Gesell- schaft zur Unterstützung seines Mitmenschen, so daß die Wohlfahrt und das Glück der Mitglieder der staatlichen Gesellschaft, d. i. der Majorität der Staatsmitglieder, der große Maßstab sind, nach welchem alles, was sich auf den Staat bezieht, am Ende bestimmt werden muß.«

Manche, wie Paley («Moral and Political Philosophy»), Paine («Rights of Man») und der Anarchist William Godwin («Political Justice»), gehen noch über Rousseau hinauss). Sie erklären vom Standpunkt des allein den Geboten ewiger Gerechtigkeit nachlebenden Individuums Regierung und Staat für überflüssig. Schließlich kam Bentham daher und gab für das zum Mittelpunkt des Staats erhobene Individuum einen neuen Maß- stab, wonach es seine staatsbürgerlichen Beziehungen einzurichten hätte:

das g r ö ß t m ö g l i c h e G l ü c k d e r g r ö ß t m ö g l i c h e n Z a h l v o n M e n s c h e n , die zum Staatswesen verbunden sind. Benthams Militaris- mus schwankte zwar zwischen dem Prinzip staatlichen Eingreifens zu- gunsten der Interessenmajorität und deren spontaner harmonischer Ent- wicklung. Trotzdem lief dies am Ende auf die Vorherrschaft des Majo- ritätsprinzips hinaus, wie denn auch das Staatsideal, das Bentham in seinem »Constitutional Code« zeichnet, eine Verbandshierarchie über- einandergeschachtelter kommunaler und parlamentarischer Versamm- lungen ist, welche durchwegs nach dem Prinzip des allgemeinen Wahl- rechts zusammengesetzt, nach dem Prinzip der absoluten Majorität zu entscheiden haben. Nun begreifen wir den großen Widerwillen Burkes gegen das französische Vorbild und gegen die französische Revolution, wie er ihn in seinen »Reflections on the French Revolution« zum Ausdruck bringt. Jene Lehren, die von Frankreich aus ihren Grundzug erhalten hatten, unterwühlten die Staatsform, die England durch sein bisheriges parlamentarisches Parteiregime in Bewegung erhalten hatte.

Das Individuum in die Staatsmaschine als selbstätige, selbstverant- wortliche, selbstregierende Wesenheit einführen, bedeutete eine Ver- urteilung des bisherigen Parteiregiments in England, und dies war

') Über Wesley und die von ihm eingeführte Organisation der Kirchenver- waltung siehe Halévy a. a. O. 387 ff.

*) Siehe über ihre Lehren besonders Veitch a. a. O. p. 160 ff.

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f 42. Stände und Parteien. 603 doch eben von Burke als die Vollendung staatsmännischer Weisheit ge- priesen worden!

Die Lehren der am französischen Vorbilde orientierten Demokraten waren aber mächtiger als Burke. Sie fanden zunächst in der Organi- sation von Vereinen Nachahmung, deren Wirken wir schon an anderer Stelle (oben § 40) erwähnt haben, deren wir aber auch hier kurz ge- denken müssen.

Schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war es in England üb- lich, in besonderen Vereinen und Gesellschaften öffentliche Zwecke zu propagieren, die die beiden herrschenden Parlamentsparteien nicht durchsetzen wollten. Diese Gesellschaften oder Vereine bekamen durch die französische Revolution in ihrer Kluborganisation besondere An- regung. Sie schössen trotz der strengen gesetzlichen Verbote (von 1796—1817) gegen die Vereinsbildung wie Pilze empor (siehe Ham- mond, Fox 1903, ch. V.). Die bekanntesten sind: »Die Gesellschaft der Volksfreunde«, der Whigklub in London, der »Hampden-Klub«, desgleichen die »London Corresponding Society«, welche 1793/94 die Reform des Parlaments von Pitt erzwingen wollte, u. a. m. Sie hatten meist einen parlamentarischen Zweck, den sie mit Energie verfolgten.

War dieser erreicht, dann verschwanden sie von der Bildfläche. Mit- unter wurden untereinander korrespondierende Klubs gegründet, z. B.

diejenigen, welche sich in den 80 er Jahren des 18. Jahrhunderts bil- deten, um die durch den amerikanischen Krieg hervorgerufenen Steuer- lasten der Bevölkerung zu mindern und eine Reform der staatlichen Verwaltungsorganisation u. a. m. herbeizuführen. Sie traten mit- einander in Verbindung, und man nannte sie »caucus«1), eine Bezeich- nung für korrespondierende Organisationen, die in den Vereinigten Staaten von Nordamerika zu Beginn der Erhebung gegen England in Boston (1772) aufgekommen war. Das Muster dieses amerikanischen

»caucus« wurde auch späterhin befolgt (im Anfange der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts) bei Errichtung der katholischen Assoziation in Irland zur Durchsetzung der Katholikenemanzipation, der politischen Unionen zur Durchführung der Parlamentsreform von 1832, der Anti- kornzollige etc. Das charakteristische Merkmal dieser »Unionen«, oder wie sie sonst heißen mögen, war, daß sie Delegierte nach London entsandten, gewissermaßen zu einem extralegalen und außerhalb der Verfassung stehenden Parlament, das unter dem anspruchslosen Namen Zentralkomitee zu einem Vergleiche mit dem legalen Parlament, zum Nachteil des letzteren, herausforderte. Denn dessen Tätigkeit war auf der Parteioligarchie begründet, während die Tätigkeit eines solchen Zentralkomitees auf allgemeinem Wahlrecht der ihm unter- stehenden Vereine, Klubs usw. ruhte. Unwillkürlich lenkte der Blick von dem einen zum andern. Der Ersatz des parlamentarischen Regimes der Parteien durch eine Volksherrschaft auf der Basis des allge-

*) Der Name »caucus« stammt vom englischen Worte calker oder caulker

= Kalfaterer. S. Ostrogorski I, p. 110.

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meinen Wahlrechts, diese Möglichkeit lehrten die extralegalen Parla- mente, Zentralkomitees, Unionen etc.

Doch es kam nicht dazu, weil England eben das Land der Kom- promisse ist; die Parlamentsparteien lernten von den Vereinen die Organisation. Auch sie trieben nun politische Vereinsbildungen auf breiter demokratischer Basis. Um sich nämlich den Boden ihrer Exi- stenzberchtigung zu sichern, versuchten sie jenen Vereinsbildungstrieb für ihre Zwecke, das ist die abwechselnde Herrschaft im Staate, zu nutzen. Nach der Reformakte von 1832 sind es zuerst die Liberalen und dann die Konservativen, welche für ihre Parteizwecke solche Vereinsbildungen in ihren Dienst stellen1). Von da an beginnt nun die

Demokratisierung der bestehenden beiden Parteiorganisationen, ein Prozeß, der bis 1886 dauert und merkliche Spuren nur in der unteren Parteiorganisation, nicht in der zentralen Parteileitung hinterläßt, im Effekt aber nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, die Leaders durch demokratisch gewählte »Parteiräte« ersetzt, sondern nach einer Periode des Hin- und Herschwankens zum Instrument der Leaders wird.

§ 43. Der König.

L i t e r a t u r .

An Impartial Report of all the Proceedings in Parliament on the late Im- portant subject of a Regency, London 1789. — A T r a n s l a t i o n of such Parts of the Rolls of Parliament as are refered to in the Schedule annexed to the Report of the Committee oppointed to search for Precedents, London 1788, p. 19—77. — B l a c k s t o n e , Commentaries I, ch. 3—8. — C h i t t y , Law of the Prero- gatives of the Crown, London 1820. — J ä g e r G., Das englische Recht zur Zeit der klassischen Nationalökonomie und seine Umbildung im 19. Jahrhundert, S. 89 ff., Leipzig 1909, in Staats- und sozialwissenschaftlichen Forschungen, herausgegeben von Gustav Schmoller und Max Sehring. Heft 137. — F o r s y t h W., Cases and Opinions on Constitutional Law, London 1869. — F r i e d m a n n , in den kirchenrechtlichen Abhandlungen, herausgegeben von Stutz, Heft 5, p. 5—52. — G n e i s t , Englische Verfassungsgeschichte § 4 0 f. — H a t s c h e k i n Grünhuts Zeitschrift für privates und öffentliches Recht, Bd. 27, p. 1 ff. '— L o c k e , Two Treatises, ch. XIV. — M a y a. a. O. I, Kap. 1—4. — The parliamentary Opinions of Lord Mansfield and others on the Choice of Regency or Regent, London 1788, p. 37.

Der Gegensatz zwischen Rechtsnormen und Konventionalregeln, wie wir ihn oben geschildert haben (§ 41), wie er namentlich unter der Herrschaft der parlamentarischen Regierung sich herausbildet, kommt in keinem Rechtsinstitut so zur Erscheinung wie in dem des Königtums.

Was das Common Law dem König gibt und was die parlamentarische Praxis daraus macht, sind ganz verschiedene Dinge. Blackstone schil- dert den Umfang der königlichen Machtbefugnisse so in seinen Com- mentaries, wie ihn das Common Law angibt, aber die Praxis des Par- laments ignoriert Blackstone, und infolgedessen erscheint in seiner Dar- stellung der englische König beinahe mit den Machtbefugnissen Wil- helms des Eroberers ausgestattet. Die Parlamentspraxis hatte aber

M S. Ostrogorski I, p. 128 ff.

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