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Archiv "Der „unmögliche Hausarzt“" (15.10.1982)

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen

Geben wir uns keinen Täuschun- gen hin: Führungskräfte, Experten in Staat und Wirtschaft, Politiker parteiischer Ausrichtung sind Funktionäre eines Systems. Ob das System mehr oder weniger gut ist, der Bürger findet sich in jedem Fall Einrichtungen ausgeliefert, die unvorhergesehenen eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Davor schützen auch freie Wahlen nicht, die neue, erwünschte und uner- wünschte Zwänge auslösen.

Wer — etwa im Fernsehen — an einem Streitgespräch zwischen zwei feindlichen, aber klugen und verantwortungsbewußten Funktio- nären teilnimmt, erkennt mit Be- klemmung die Sichtenge jeglicher Einbindung in einen besonderen Sachbereich. Das Gesundheitswe- sen macht keine Ausnahme. Wer in dem rein menschlichen Anlie- gen einer körperlichen oder seeli- schen Unordnung Hilfe sucht, ge- rät zwischen die Mühlsteine derer, die sich auf einen Systemauftrag berufen. Ivan Illich sieht in der me- dizinischen Perfektion die Haupt- gefahr für den kranken Bürger.

Dabei übersieht der Kritiker, daß der Perfektionismus längst alle Le- bensbereiche ergriffen hat — auch seinen eigenen. Die zivilisierte Welt wird in immer engere Fach- gruppen aufgeteilt, die eine merk- würdige Abneigung haben, sich in große, nicht spezialisierte Ge- meinschaften fest integrieren zu lassen. Universalbildung im Sinne Humboldts genießt nirgends mehr das Ansehen der Maßgeblichkeit Illich möchte wie jeder ernsthafte Kritiker eine Wende zum Guten auslösen. Dazu wäre das Angebot echter Hilfe nötig. Wer Über- schwemmungen verhindern will, braucht keine Regenschirme zu verkaufen.

FORUM

Sprechen wir einmal offen aus, daß technischer Fortschritt an sich kein Unglück ist. Er wird es dadurch, daß Experten und Funk- tionäre fest umrissene Feindbilder pflegen, die keine natürliche Ent- wicklung, sondern Kampf erfor- dern.

In der medizinischen Massenauf- klärung und leider auch im Dialog der Fachkundigen heißt das Feindbild körperliche und seeli- sche Unordnung. Die etablierten Ordnungshüter verkaufen — dem erwähnten Gleichnis entspre- chend — Regenschirme verschie- dener Konstruktion mit der Beto- nung einer herausragenden Wirk- samkeit.

Kennzeichen der Störung ist ihre Komplexität, Kennzeichen der zahlreichen Hilfsangebote ist ihre Hilflosigkeit. Als ein Beispiel von vielen seien die Mittel gegen

„Grippe" herausgegriffen. Acht- undsechzig Präparate auf dem al- lopathischen Markt, mindestens ebenso viele auf dem homöopathi- schen neben Hausmitteln und Au- ßenseitermethoden überlassen doch im Grunde die Heilung den Kräften der Natur ohne sie nach- weisbar zu unterstützen.

Eine Zeiterscheinung ist die Ab- spaltung der Psychologie und Psy- chotherapie von der kunstgerech- ten Heilkunde, die höchstens noch dann als Heilkunst angesprochen wird, wenn vom Kunstfehler die Rede ist. Um ihr Tätigkeitsfeld zu erweitern, treibt die moderne Er- satztheologie und Ersatzmedizin seltsame Blüten. Psychologen er- teilen Ärzten Unterricht in „ärztli- cher Gesprächsführung", lehren sie „Patienten- und Selbstbeob- achtung" und üben mit ihnen

„Wahrnehmung und Exploration". >

Das wahre Bild

chen. Es ist eine falsche Devise, menschliche Anfälligkeit und menschliches Leiden resignierend zu akzeptieren. Als Programm für die Zukunft der Medizin und der Ärzte kann sie nicht taugen. Im Gegenteil fühlt sich der Arzt ent- sprechend seinem hippokrati- schen Eid aufgerufen, immerwäh- rend gegen Krankheit und Leiden zu kämpfen. Die entscheidenden Waffen dazu kann ihm nur die me- dizinische Forschung geben. Hier hat der bekannte amerikanische Mediziner und Biologe Lewis Tho- mas ein Resumöe gezogen, dem nichts mehr hinzuzufügen ist:

„Wir brauchen mehr Wissen. Das ist die eigentliche Lehre des Jahr- hunderts. Wir haben grundlegen- de Fragen zu stellen gelernt und müssen sie um unserer Zivilissa- tion willen beantworten. Die Ant- wort können wir nicht in uns selbst suchen, denn da gibt es nicht genug zu suchen. Wir kön- nen nicht dort stehenbleiben, wo wir heute stehen, auf dem jetzigen Stande des Wissens. Wir können auch nicht zurück. Wir haben kei- ne Wahl, wir können nur vorwärts gehen. Wir brauchen die Wissen- schaft, mehr und bessere Wissen- schaft, nicht wegen der Technik, nicht als Zeitvertreib, nicht einmal für Gesundheit und langes Leben, sondern um zu der Weisheit zu gelangen, die unsere Kultur erwer- ben muß, wenn sie überleben soll."

Alle Verfasser: Universität Gießen Prof. Dr. med. Konrad Federlin, Leiter der III. Medizinischen Klinik und Poliklinik

Prof. Dr. med. Konrad Fleischer, Leiter der HNO-Klinik

Prof. Dr. med. Dr. med. vet. h. c.

Hanns Gotthard Lasch,

Leiter der I. Medizinischen Klinik Prof. Dr. med. Dr. h. c.

Hans Werner Pia,

Leiter der Neurochirurgischen Klinik

Prof. Dr. med. Karl Voßschulte, em. Direktor der Chirurgischen Klinik

Der „unmögliche Hausarzt"

Kurt Weidner

Ausgabe B DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 79. Jahrgang Heft 41 vom 15. Oktober 1982 83

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iC 1/4113 Spektrum der Woche

Aufsätze • Notizen

Der „unmögliche Hausarzt"

Welcher Hausarzt der alten Schule hätte sich derartiges bieten lassen?

Das expertenfreundliche Feind- bild „seelischer Schaden" soll nun auch auf die Lebenszeit vor der Geburt übertragen werden.

Angeblich umweltbedingte fötale Psychosen werden mit Untersu- chungen belegt, die auf den ersten Blick überzeugender erscheinen als sie tatsächlich sind. Da steht zu lesen (Cushing, bei Hau und Schindler), daß psychische Erre- gung der Mutter den Fötus zu ech- ten Aggressionen veranlasse, er- kennbar an verstärkten Stößen in utero. Glücklicherweise findet aber die Teilung und assoziative Verflechtung der Neuronen im Ge-

hirn erst nach der Geburt statt. Die Markreife des Cortex, der allein Träger psychischer Konflikte sein kann, folgt der fötalen Ausprä- gung des limbischen Systems erst in Monaten post partum. Die junge Wissenschaft von der menschli- chen Psyche nimmt ungern zur Kenntnis, daß Affekte der Mutter über die Adreanalinausschüttung tokotrop wirken können. Die phantasiereichen Seelenforscher seit Sigmund Freud seien daran erinnert, daß schwangere Frauen, die in Luftschutzkellern die Hölle der Bombennächte überstanden haben, keine hoffnungslos gestör- ten Nachkommen zur Welt brachten.

Die Faszination psychologischer Bemühungen hat das öffentliche Interesse vom „Jahrhundert der Chirurgie" abgelenkt, ohne dem Kranken so nützlich zu sein wie dem Therapeuten. Mesmerscher Magnetismus, die Charcotsche Hysteriewelle waren begrenzt be- deutsam. Über die Massenmedien treiben Halbwahrheiten und Pseu- dowissenschaften die Heilkunst des Hausarztes mehr und mehr in das Abseits. Die Einheit der fach- kundig abgesicherten Medizin ist bereits verlorengegangen. Zwi- schen Placebowirkung und kausal induzierter Ordnung wird kaum noch unterschieden. Hausärztli- che Autorität wird von System- funktionären der verschiedenen Heilweisen ebenso angezweifelt wie von den medizinisch halbge- bildeten Patienten. In einem ge- sunden Therapiesystem müßte der Hausarzt selbst das einzige er- laubte Placebo sein. Leider ist die Kritik eines Illich und vieler ande- rer ebenso wenig eine Hilfe wie die Einführung des „Arztes für Allge- meinmedizin" und seine Berufung auf akademische Lehrstühle.

Wer die intensive Ausbildung in allen Fächern der medizinischen Fakultäten durchlaufen hat, kann als Lehrbeauftragter für Allge- meinmedizin nur dann zusammen- fassen, vereinfachen, einen Über- blick bieten, Notwendiges vom Entbehrlichen trennen, wenn er

über viel freie Zeit und ein hohes Berufsalter verfügt. Andernfalls gibt er an die Studierenden wie- derum Detailkenntnisse, Erläute- rungen zum Kassenarztrecht, zur Gesundheitsgesetzgebung, zur Organisation der Sprechstunde weiter. Auf diese Weise werden keine Hausärzte ausgebildet.

Es wäre eine Forschungsaufgabe besonderer Art, das diagnostische und therapeutische Rüstzeug für die große Mehrzahl der psychoso- matisch und der nicht lebensge- fährlich Gestörten zu erarbeiten.

Dazu müßten habilitierte Dozenten gewonnen werden, die vielleicht wenig vom Zitronensäurezyklus wissen und die das mikroskopi- sche Bild eines Naevus nicht vom Melanom unterscheiden können, die aber die „kleine Chirurgie"

ebenso beherrschen wie die per- fekte Perkussion und Auskulta- tion, die Magenspülung und am- bulante Lumbalpunktion. Wenn sie obendrein eine komplizierte Salbe und eine Teemischung re- zeptieren können, als Pfleger in einem Krankenhaus gearbeitet ha- ben, bleibt nur noch eine einzige Voraussetzung zum idealen Haus- arzt zu erfüllen: viel Idealismus und wenig Geschäftssinn.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Kurt Weidner Lechnerstraße 31 8026 Ebenhausen

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84 Heft 41 vom 15. Oktober 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe B

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