A 2716 Deutsches Ärzteblatt
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16. Dezember 2011RISIKOMANAGEMENT AM ARBEITSPLATZ
Prävention für Schichtarbeiter
Unternehmen und Deutsche Rentenversicherung erproben in Rheinland-Pfalz das Präventionsprojekt „KomPAS“. Es soll chronischen Krankheiten vorbeugen, die durch verschobene Schlaf-Wach-Rhythmen entstehen.
S
törungen der endogenen Schlaf-Wach-Rhythmik sind mit erheblichen Gesundheitsrisiken verbunden. Als typische Risiken gelten Schlafstörungen, Fatigue, Vigilanzstörungen, gastrointesti - nale Syndrome, kardiovaskuläre Er- krankungen, das metabolische Syn- drom und nach Einstufung der In- ternational Agency for Research on Cancer wahrscheinlich auch Krebs- erkrankungen. Etwa jeder siebte Schichtarbeitende entwickelt imLauf der Jahre ein Schichtarbeiter- syndrom (siehe Kasten). Schichtar- beit erschwert die Teilnahme am Sozialleben, kann zu familiären Problemen und depressiven Erkran- kungen führen.
„Mit Rehabilitationsmaßnahmen kommen wir häufig schon zu spät“, sagt die Betriebsärztin Dr. med.
Margit Emmerich, Leiterin des Be- reichs „Medizin und Prävention“
der Schott AG in Mainz. Der Tech- nologiekonzern stellt unter ande- rem Cerankochfelder und Spezial- glas für pharmazeutische Verpa- ckungen wie Ampullen her. Die Er- fahrungen der Firma, aber auch Fehlzeitenstatistiken und Mitarbei- terbefragungen belegen: Wenn Be- schäftigte abwechselnd früh, spät, nachts, sowie sonn- und feiertags tätig sind, stellt das eine besondere Belastung dar.
Seit einem Jahr erproben die Schott AG, der Aluminiumherstel- ler Aleris und neuerlich auch Boeh- ringer Ingelheim eine „Kombinierte Präventionsleistung für Arbeit mit Schichtanteilen“ (KomPAS). Ziel-
gruppe sind noch gesunde Mitarbei- ter, die in Gruppen von etwa zwölf Personen ein stationäres Programm in der Drei-Burgen-Klinik in Bad Münster am Stein durchlaufen. Sie sollen befähigt werden, „bereits ersten Anzeichen gesundheitlicher Störungen ohne psychischen oder organischen Krankheitswert entge- genzuwirken“, erläutert der Ärztli- che Leiter Dr. med. Michael Keck.
Für die folgende achtwöchige am- bulante Phase erhält das beteiligte Rehazentrum Nachsorgeempfeh- lungen. So kann jeder Teilnehmer weiter individuell unterstützt wer- den.
Stressbewältigung und Schlafhygiene
Die inhaltlichen Schwerpunkte des Programms liegen auf Stressma - nagement, gesunder Ernährung und Bewegung, flankiert von Ergono- mie- und Sozialberatung. Zentraler Baustein ist die Stressprävention: In fünf aufeinander aufbauenden, psy- chologisch geleiteten Sitzungen sollen die psychische und psycho- Symptome der „Zirkadianen Rhythmus-Schlafstörung,
Typus Schichtarbeit“ gemäß Internationaler Klassifikation von Schlafstörungen (ISCD-2)*:
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Insomnie und/oder Tagesmüdigkeit●
Schlafzeit nur 1–4 Stunden mit schlechter Schlafqualität●
Geminderte Leistungsfähigkeit am Tage●
Beschwerden auch nach Beendigung der Schichtarbeit●
diagnostisch gesichert, wenn die Symptome einen Monat anhalten und nicht anderweitig erklärbar sind*in ICD 10 unter Z56 einstufbar
Quelle: angelehnt an: D. Lischewski, T. Penzel, I. Fietze, Charité Berlin, Vortrag GfA-Herbstkonferenz 2011
SCHICHTARBEITERSYNDROM
Foto: dapd
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16. Dezember 2011 somatische Widerstandskraft ge-stärkt werden, die Schichtarbeiter aufgrund der besonderen Stressfak- toren und Anforderungen, ange- messene Ausgleichsressourcen zu mobilisieren und ausreichend Schlaf zu finden, benötigen (Steigerung der Resilienz).
Zunächst geht es in einer Einfüh- rung um Stressphänomene. Die Teilnehmer erlernen dabei unter an- derem die progressive Muskelent- spannung nach Jacobsen. Im weite- ren Verlauf wird das Thema Schlaf- hygiene aufgegriffen. „Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um Ih- ren Schlaf zu bekommen?“, heißt dabei die Leitfrage.
Schlafforscher haben festge- stellt, dass der Schlaf bei Wechsel- schichten nach Nachtarbeit nur knapp sechs Stunden und wenig länger vor Frühschichten andauert.
Berliner Mediziner haben in einer aktuellen Pilotstudie sogar nur Me- diane von circa 5,5 bis sechs Stun- den gefunden. Im KomPAS-Semi- nar werden daher schlaffördernde Maßnahmen diskutiert, von Schlaf- brille, Ohrenstöpseln, gesenkter Raumtemperatur und Verdunkelung bis zum Schlafen in Etappen (zum Beispiel morgens vier, am frühen Abend drei Stunden). Um die Ein- schlaflatenz nach Nachtschichten zu verkürzen, werden Alternativen zum morgendlichen „Feierabend- bier“ empfohlen – etwa leichte Lektüre oder Musik.
Ein wichtiges Thema ist darüber hinaus die Work-Life-Balance: Wie werde ich zufriedener? Wie kann ich genügend Zeit für meinen Ehe- partner, für Familie und Freunde gewinnen? Nach kurzen „Warming- Up-Statements“ entwickeln die Teilnehmer in einem Erfahrungs- austausch dazu persönliche Ideen.
Die bisherigen Erfahrungen zei- gen: Auch wenn die körperliche Ar- beit im Beruf schwer ist, verhilft das noch lange nicht zu guter sport- licher Ausdauer. Das Klinikteam hat bislang nur ein Viertel der Teil- nehmer als „fit“ eingestuft. Diese konnten eine Laufstrecke von 3,25 Kilometern mit 65 Höhenmetern in einer halben Stunde bewältigen, was einer Leistung von knapp zwei Watt pro Kilo Körpergewicht ent-
spricht. Ein Bewegungsprogramm soll Sport als wichtige Primärprä- vention ins Bewusstsein rücken.
Das Programm beinhaltet tägliches Gerätetraining, Nordic Walking, Wassergymnastik und eine Bewe- gungsschule.
Die Ernährungsberatung richtet sich auf mehr Sicherheit beim Aus- wählen von Lebensmitteln zuguns- ten einer „wohlschmeckenden und leicht zu praktizierenden gesund- heitsgerechten Mischkost“. Die Teilnehmer üben, die Hinweise auf
Verpackungen zu nutzen, um den Gehalt an Fetten, Kohlehydraten und unerwünschten Zusatzstoffen zu erkennen. In Einkaufstrainings und der Lehrküche wird das Ge- lernte gefestigt. Darüber hinaus werden Empfehlungen der Deut- schen Gesellschaft für Ernährung für Schichtarbeitende vorgestellt – zum Beispiel während der Nacht- schicht eine leichte warme Mahlzeit einzunehmen.
Der Zugang zum KomPAS-Kurs erfolgt über die werksärztlichen Dienste, die – mit Einwilligung der Beschäftigten – Präventionsanträge und Arbeitsplatzbeschreibungen bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Rheinland-Pfalz einreichen.
Sie führen zuvor auch ein Scree-
ning (unter anderem mit dem Work- Ability-Index) und Teile einer Ba- sisdiagnostik durch, die in der Kli- nik fallweise durch Risikochecks erweitert wird. Dazu zählen 24- Stunden-Blutdruckmessung, Lang- zeit-EKG, Duplexsonographie der hirnversorgenden Gefäße und ein Schlafapnoe-Screening.
Bislang haben etwa 40 Personen an dem Projekt KomPAS teilge- nommen. Schon der Gesundheits- check kommt nach bisherigen Er- fahrungen bei den Beschäftigten,
die zur stationären Phase vier bis fünf freie Tage beisteuern, gut an.
Auch Verhaltensänderungen wer- den berichtet: „Der Hebel im Kopf hat sich umgelegt“, hat etwa ein Teilnehmer mit neuen Essgewohn- heiten formuliert. Welche Effekte insgesamt für die gesundheitsbezo- gene Lebensqualität der Teilnehmer erreicht werden, untersuchen Reha- wissenschaftler vom Universitäts- klinikum Freiburg bei mehreren KomPAS-Gruppen.
Die medizinisch-therapeutischen Leistungen trägt die DRV Rhein- land-Pfalz. Der Träger kann prä- ventiv bei Versicherten tätig wer- den, „die eine besonders gesund- heitsgefährdende, ihre Erwerbsfä- higkeit ungünstig beeinflussende Beschäftigung“ ausüben (Sonstige Leistungen nach § 31 Abs. 1, Satz 1 Nr. 2 SGB VI). „Durch die frühzei- tige Intervention soll ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben vermieden werden“, erläutert Dr.
phil. Barbara Kulick, Leiterin des Dezernats Grundsatz Rehabilitati- on/Qualitätssicherung, DRV Rhein- land-Pfalz, das Anliegen. Die Aus- gaben für diese und andere Leistun- gen nach § 31 sind jedoch gede- ckelt. Es kann maximal ein Betrag in Höhe von 7,5 Prozent des Bud- gets für originäre Rehabilitations- und Teilhabeleistungen aufgewen-
det werden.
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Leonie von Manteuffel Die „Kombinierte Präventionsleis-
tung für Arbeit mit Schichtanteilen“
(KomPAS) im Überblick:
●
Zehntägige stationäre Phase:Präventionsorientierte Diagnos- tik, ärztliche Visiten, Präventi- onsmodule
●
Achtwöchige ambulante Nach- sorge: Ein- bis zweiwöchentliche Termine von je 90 Minuten in einem ambulanten Rehazentrum●
Auffrischungstag in der KlinikKOMPAS-MODULE
„ Durch die frühzeitige Intervention soll ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben vermieden werden. “
Barbara Kulick, DRV Rheinland-Pfalz