• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Nacht" (21.12.1978)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Nacht" (21.12.1978)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Spektrum

der

Woche Aufsätze - Notizen

FEUILLETON

Nacht

Edgar Hilsenrath

Hofers Blick wandert ruhelos durchs Zimmer. Wie leer es ist, denkt er, und er wird sich auf einmal bewußt, daß er das Zimmer noch nie so gese- hen hat.

Es war nicht leicht gewesen, die Leute dazu zu bewegen, das Zimmer zu verlassen. Nicht mal die Autorität Hofers hatte genützt. Erst als Moi- sche den Leuten etwas zu essen ver- sprach, waren sie hinausgegangen.

Die Leute hockten jetzt draußen auf der Treppe und lagerten unten im Stiegenhaus; manche waren zu Dvorski gegangen, und andere hat- ten sich im Gestrüpp hinterm Haus verkrochen ... all das nur für eine halbe Stunde, vielleicht auch vierzig Minuten, solange die Operation dau- ern würde.

Doktor Blum ist anwesend — fett, be- häbig, griesgrämig; außerdem die Operationsschwester, die vor dem Krieg für Blum gearbeitet hatte und jetzt seine Mätresse war — ein jun- ges, unverbrauchtes Ding, das sein blühendes Aussehen Blums guten Geschäften auf dem Schwarzmarkt zu verdanken hatte. Auch Debora ist zur Stelle. Hofer hatte ihr kurz ge- zeigt, was sie zu tun hatte; sie würde die Schwester später beim Überwa- chen der Narkose ablösen.

Auf dem kahlen, breiten Streifen Fußboden, zwischen Pritsche und Wand, steht ein Küchentisch. Hofer hatte ihn rechtzeitig besorgt. Jetzt liegt die Patientin drauf. Drei Petro- leumlampen, ebenfalls Hofers für- sorgliches Werk, hängen an einem Strick über dem Tisch und ersetzen den fehlenden Reflektor.

Hofers Sorge galt vor allem der Ste- rilisation. Sie hatten getan, was sie konnten, soweit es die primitiven

Mittel erlaubten, die ihnen zur Verfü- gung standen, und nicht nur die In- strumente, sondern auch die Hand- schuhe zur Not in Wasser ausge- kocht — auf dem Herd, in separaten, eisernen Töpfen. Mäntel und Lei- nentücher waren frisch gewaschen, aber für Hofer bildeten sie trotzdem ein großes Fragezeichen; dasselbe galt für die Tupfer und Gazekom- pressen. Sie hatten keine Sterilisie- rungstrommeln, und es mußte eben auch so gehen.

Die Narkose ist ungenügend.

„Wir müssen noch warten", sagte Blum mit gleichgültiger Stimme.

Hofer nickt. Er beobachtet Blum, der sich jetzt über die Bewußtlose beugt. Die drei baumelnden Lampen bewegen sich unmerklich hin und her, seitdem Blum vorhin mit seinem wuchtigen Kopf daran gestoßen war.

Jetzt huscht das grelle Licht über sein fettes Gesicht, die wulstigen Lippen wirken blaßgrün ... und in diesem Moment hat Hofer das son- derbare Gefühl, als prüfe Blum nicht den Atem der Frau, sondern die Zäh- ne einer nicht mehr ganz jungen Stute auf dem Schwarzmarkt.

Die Schwester fährt fort, Äther auf die Maske zu träufeln. Debora folgt aufmerksam ihren ruhigen Bewe- gungen; ab und zu nur schweift ihr Blick über die regungslose Gestalt auf dem Küchentisch, um sekunden- lang fragend auf dem Körperteil haf- tenzubleiben, der, unverdeckt, zwi- schen den weißen Tüchern, sich nackt und grau und formlos auf- bauscht, wie der gedunsene Leib ei- ner Ertrunkenen. Es wird bestimmt nichts passieren, denkt sie zuver- sichtlich.

Nur Hofer spürt ein nagendes Unru- hegefühl. Was ist bloß mit dir los?

fragt er sich. Sind deine Nerven be- reits schwach geworden? Bist du wirklich nicht mehr imstande, ein bißchen Verantwortung zu ertra- gen? Die ununterbrochenen Geräu- sche im Treppenhaus steigern Ho- fers Nervosität. Jemand hustet dort draußen. Sonderbar... er hört es ganz genau ... dieses verdammte

Husten. Er versucht, seine Gedan- ken von den störenden Lauten abzu- lenken, und denkt für einen kurzen Augenblick an das städtische Spital zurück, in dem er früher mal gear- beitet hatte. Hofer spürt, wie sich etwas schmerzhaft in ihm zusam- menzieht. Er sieht sich plötzlich wie- der vor dem schmalen Operations- tisch stehen. Er ist nicht allein. Meh- rere Gestalten haben sich unter dem künstlichen Tageslicht des Reflek- tors versammelt: Doktor Lescu, Dok- tor Mihai, Schwester Anisora, Schwester Ruth. Das Gesicht der dritten Schwester sieht er nicht, weil sie etwas abseits steht und sich ge- rade über das Tischchen mit den Requisiten beugt. Es ist Schwester Miriam, die seit Jahren mit ihm zu- sammenarbeitet.

Er fühlt: Sicherheit. Nicht bloß, weil man weiß, daß man was kann . ..

nicht bloß, weil man gut ernährt ist und noch nicht an Kopfschwindel leidet und weil einem die Hände vor Schwäche noch nicht zittern. Es mußte wohl noch etwas anderes ge- wesen sein. Das andere lag in der Umgebung selbst, ging von dem wohlorganisierten Körper des Spi- tals aus.

Er glaubt seine eigene Stimme zu hören: „Schwester Miriam . . . mei- ne Gummihandschuhe!"

„Noch in der Sterilisierungsdose, Herr Doktor!"

„Schwester Miriam ... ich will die Handschuhe. Ich habe um sieben Uhr noch eine zweite Operation .. . und jetzt ist es bereits ... "

„Herr Doktor . . . die Handschuhe müssen noch ein paar Minuten in der Sterilisierungsdose ... "

Er wacht aus seinen Gedanken auf.

Er spürt den Blick Blums ... den Blick der Schwester ... den Blick Deboras. Verflucht, denkt er, du hast Lampenfieber wie ein Anfänger ...

bloß weil du mal auf einem Küchen- tisch operieren mußt. Die Zeiten ha- ben sich eben geändert. Das mußt du doch endlich mal kapieren, du alter Pedant. I>

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 51/52 vom 21. Dezember 1978 3129

(2)

Edgar Hilsenrath in der „Backstube", der Buchhandlung, die der Deutsche Ärzte- Verlag am 1. Dezember 1976 in Köln eröffnet hat (däv-Bücherstube) beim Autorenge-

spräch Foto: Diederichs

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Edgar Hilsenrath: „Nacht"

„Die Schwester ist fertig mit der Nar- kose", knurrt Blum, „alles andere ist vorbereitet. Worauf warten Sie ei- gentlich noch?"

„Was ist mit dem Katgut? Haben wir genug?"

„Mehr als genug. Oder glauben Sie, daß ich schneiden lasse, wenn wir nicht genug Katgut für die Suturen hätten?"

„Nur eine Routinefrage", sagt Hofer leise, „und nicht ganz unberechtigt, unter den Umständen ... "

Blum verzieht höhnisch den Mund.

„Sogar keimfreies Katgut. Oder wol- len Sie sich nochmals überzeugen, ob es wirklich keimfrei ist?" Sein fetter Kopf zeigt nach rückwärts auf den provisorischen Glaszylinder, der auf der Pritsche steht. „Alkohol und Glyzerinzusatz. Ein richtiges Katgut- entnahmegefäß. Haben wir drüben auch nicht besser gehabt."

Hofer nickt. Er sagt nichts. Er starrt mit zusammengebissenen Lippen auf die Gummihandschuhe. Das hat mir noch gefehlt, denkt er.

„Ein bißchen nervös, wie?" Blum grinst tückisch. „Wenn Sie sich

nicht wohl fühlen, dann lassen Sie mich die Operation machen. Sie können ja assistieren."

„Unsinn. Ich mache es schon."

„Ist doch nicht etwa Ihre erste Lapa- rotomie?"

Arschloch, denkt Hofer ärgerlich.

„Die erste auf einem Küchentisch", sagt er kalt, „wenn Sie das meinen."

Als es soweit ist und Hofer das Mes- ser nimmt, ist seine Sicherheit zu- rückgekehrt. Er hatte es ja gewußt.

Im entscheidenden Augenblick ist er wieder der alte. Jetzt existiert nichts mehr; nur der Streifen Fleisch zwi- schen den Tüchern ist noch da, der sich im nächsten Moment wie eine rote Gruft öffnen wird. Hofer beugt sich etwas nach vorn, setzt das Mes- ser unter dem Nabel an — und schneidet.

Moische steht die ganze Zeit drau- ßen vor der Tür. Jetzt preßt er sein Ohr dichter an die Ritzen. Es ist to- tenstill im Zimmer geworden. Sie ha- ben angefangen, denkt er.

Später vernimmt er einen krähenden Schrei. „Der Bankert!" murmelt er leise vor sich hin. Er kann an nichts

anderes denken. Er lauscht in atem- loser Spannung. Das Krähen kommt jetzt aus einer anderen Richtung, als ob jemand das Kind weggetragen hätte. Jetzt: das sanfte Plätschern des Wassers in der Schüssel; in der Nähe der Tür, dort wo der Küchen- tisch steht ... die leisen Stimmen der Ärzte . . . das Scharren ihrer Fü- ße . . . die metallenen Laute wegge- legter Instrumente... das Klappern des Abfalleimers. Er möchte die Tür aufreißen und hineinstürzen, aber er beherrscht sich und bleibt weiter stumm stehen.

Die Zeit vergeht. Mittlerweile ist es draußen stockdunkel geworden. Die Leute im Treppenhaus werden unru- hig. Sie drängen nach oben. Moi- sche dreht sich plötzlich um: „Nie- mand geht rein! Verstanden!"

„Was machen die so lange? Der Balg ist doch schon raus?"

„Wahrscheinlich nähen die noch im- mer", sagt ein anderer.

Jemand lacht im Dunkeln. „Man muß sie doch zunähen."

„Niemand geht rein", sagt Moische wieder. „Niemand . . . bis drinnen nicht alles fertig ist."

n

Der hier wiedergegebene Auszug ist dem Buch „Nacht" von Edgar Hil- senrath entnommen. Der Roman wurde im Literarischen Verlag Braun, Köln, 1978, veröffentlicht;

512 Seiten, in Leinen gebunden, 34 DM. Der Autor, Edgar Hilsenrath, stellte sich im Rahmen einer Lesung Ende Oktober auf Einladung von

„Buchmagazin" in Köln einem Auto- ren-Gespräch mit Ernst Herhaus: Er- fahrungen mit der „inneren Gefan- genschaft". Einen Bericht über die- se Veranstaltung und Informationen über den Autor werden von Gesine von Leers, der Leiterin der Redak- tion des „Buchmagazins für Medi- ziner", auf Seite 3127 in diesem Heft gegeben „Unterhaltendes, Informa- tives, Kritisches". III

3130 Heft 51/52 vom 21. Dezember 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Ich könnte sagen … schon tausende Jahre, aber das weiß ich nicht Lassen wir es also dabei, dass ich sie schon sehr lange

Saras Adoptivvater, Anhänger der Apartheid Antisemit, diskriminiert Sara und Schwarze kommt bei einem Schwarzenaufstand um Maria Letitia Leroux.

Mit 17 Jahren reiste Florence mit ihrer Familie durch Südfrankreich nach Italien, wo sich ihr eine neue Welt erschloss.. Sie wurde strahlender Mittelpunkt vieler Feste, besuchte

„Ich finde, du gehst jetzt unter die Brause, kommst frisch geduscht wieder raus und dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“ Joshua lächelt und Jerry nickt, immer

Die meisten Leute verwenden Bleiche ganz nach Belieben, da sie es für ein Allzweckmittel halten und sich nicht die Zeit nehmen, um die Liste mit den In- haltsstoffen durchzulesen

Unter seinen Opfern befanden sich vor allem ide- alistische Jugendliche, die auf einer idyllischen Insel über eine bessere Welt diskutierten.. Die Mordtat ereignete sich ausge-

Außerhalb der Familie brachten fast alle ihre Erleichterung zum Ausdruck, als sie erfuhren, dass es sich bei der toten Schwester um Catherine handelte und nicht um meine

Sie versuchte mir klar zu machen, dass das Thema Behinderung für viele Menschen noch etwas befremdlich sei und ich lerne müsse, dass viele meine Schwester als „anders“ sehen