TIEFZINSEN
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Die Begründung, weshalb eine solche Inves- titionsoffensive ausbleibt, ist sodann schnell ge- funden1: Die Schuldenbremsen auf Bundes- und Kantonsebene würden die Handlungsmöglich- keiten der öffentlichen Hand zu stark beschnei- den. Kritiker von (strengen) Schuldenbremsen wollen erkannt haben, dass wesentliche öffent- liche Investitionen zurückgehalten werden, weil Bundes- und Kantonsgesetze einen ausge- glichenen Haushalt für wichtiger erachten als Zukunftsinvestitionen. Sollten die Befürworter der Aufweichung oder Abschaffung von Schul- denbremsen hiermit recht behalten, könnte die zurückhaltende Investitionstätigkeit des Staa- tes einen gesamtwirtschaftlichen Wohlstands- verlust mit sich bringen.
Verhinderte Investitionen?
Im Rahmen seiner Ressortforschung hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) die Ursa- chen und Auswirkungen des Tiefzinsumfeldes in mehreren Studien untersuchen lassen. Im Auftrag des Seco hat das Walter-Eucken-In- stitut aus Freiburg im Breisgau gemeinsam mit der Universität Luzern empirisch untersucht, inwieweit die Kantone und Gemeinden in der Schweiz die Tiefzinsphase nutzen, um ihre In- vestitionstätigkeiten auszuweiten. Darüber hinaus interessiert uns, ob kantonale Schulden- bremsen eine Investitionsoffensive trotz sin- kender Zinsen verhindern.2
Um es gleich vorweg zu sagen: Die Studie kann diese These nicht bestätigen. Vielmehr finden sich Hinweise, dass Kantone mit stren- gen Verschuldungsregeln besonders deutlich auf sinkende Zinsen reagieren, indem sie ihre Investitionen ausweiten. Dieses Ergebnis ist
D
ie Frage nach der angemessenen Höhe öffentlicher Investitionen wird seit je kon- trovers diskutiert – und dies unabhängig von der konkreten gesamtwirtschaftlichen Ent- wicklung und der politischen Gemengelage. In den vergangenen Jahren waren insbesondere niedrige Zinsen und strenge Fiskalregeln der Anstoss zu dieser Debatte. Kritiker der Schul- denbremse argumentieren, dass die günstigen Refinanzierungsmöglichkeiten eine ideale Gelegenheit böten, um zukunftsweisende In- vestitionen zu tätigen. Der Investitionsbedarf ist ihrer Ansicht nach in vielen Bereichen über- fällig. So sei beispielsweise dem Klimawandel entgegenzutreten, und die Digitalisierung der öffentlichen Einrichtungen müsse konsequent vorangetrieben werden; öffentliche Angebote in der Verwaltung und dem öffentlichen Nah- verkehr sollten zudem durch Investitionen an eine zunehmend älter werdende Gesellschaft angepasst werden.Trotz Schuldenbremse: Die öffentliche Hand nutzt die Tiefzinsphase
Hemmen strenge Fiskalregeln die öffentliche Hand, bei einer Zinssenkung Investitionen auszuweiten? Nein, lautet das Fazit einer Studie. Sie entkräftet damit ein altes Vor- urteil. Lars P. Feld, Christoph A. Schaltegger, Yannick Bury, Philipp Weber, Laura A. Zell
Abstract Im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) hat das Walter-Eucken-Institut in Zusammenarbeit mit der Universität Luzern empirisch die Wirkungszusammenhänge zwischen niedrigen Zinsen, Verschuldungsregeln und öffentlichen Investitionen für die Kantone und Gemeinden untersucht. Zwei zentrale Ergebnisse sind hervorzuheben:
Erstens steigen bei sinkenden Verschuldungskosten insbesondere die Bauinvestitionen und die Investitionen in den Bildungssektor. Zwei- tens ist der Vorwurf empirisch nicht haltbar, dass Kantone mit strengen Fiskalregeln die sinkenden Zinsen nicht für Investitionen nutzen wür- den. Im Gegenteil: Diejenigen Kantone mit den strengsten Fiskalregeln reagierten auf die unerwartete Leitzinssenkung der Schweizerischen Nationalbank (SNB) am 15. Januar 2015 mit dem deutlichsten Anstieg der Investitionen. Dies unterstreicht die zielführende Präventivwirkung von Schuldenbremsen, die in der politischen und wirtschaftswissenschaftli- chen Debatte häufig zu kurz kommt. Stattdessen wird in der öffentlichen Diskussion der Befürchtung zu scharfer Restriktionen übertrieben viel Raum gegeben.
1 Siehe die Diskussion von Feld et al. (2019) mit Hüther, Südekum (2019) sowie Fratzscher et al.
(2019).
2 Siehe Feld et al. (2021).
Verfügbar auf Seco.
admin.ch.
3 Zur Wirkung von Fiskalregeln auf (trans- parentere) Verhaltens- weisen von politischen Entscheidungsträgern siehe ergänzend Luechinger und Schaltegger (2013).
4 In der Studie werden Investitionsaus- gaben im Sinne der Kontengruppe 5 des schweizerischen Rechnungslegungs- systems für öffentliche Haushalte (HRM2) definiert.
FOKUS
Die Volkswirtschaft 8–9 / 2021 23 seit 1991 rückläufig. Diese Entwicklung bei den
Kantonen ist im Trend ungebrochen und weist keine aussergewöhnlichen Ausschläge auf. In der deskriptiven Betrachtung der Abbildung lässt sich die These, ob fallende Zinskosten zu steigenden öffentlichen Investitionsaus- gaben führen, allerdings nicht abschliessend untersuchen. Ebenso wenig lässt sich so ein kausaler Zusammenhang zwischen sinkenden Bruttoinvestitionen und der Einführung oder Verschärfung von Fiskalregeln beweisen (bei- spielsweise in den Jahren 1996 oder 2003, als mehrere Kantone ihre Fiskalregeln deutlich ver- schärften). Antworten auf solche Fragen kann nur eine empirische Untersuchung geben.
Die empirische Untersuchung in der Studie konzentriert sich auf die Entwicklung öffentli- cher Investitionsausgaben zwischen den Jah- ren 2009 und 2018: In diesem Zeitraum nach der weltweiten Finanzkrise war der Leitzins der SNB sehr niedrig, teilweise sogar negativ.
ein Hinweis darauf, dass strenge und gesetzlich verankerte Fiskalregeln vielmehr präventiv und weniger korrektiv wirken. Oder anders ausge- drückt: Politiker und Verantwortliche der öf- fentlichen Verwaltung passen ihr Verhalten im Sinne einer Fiskalregel zwar an, dies hindert sie jedoch nicht daran, auf gesamtwirtschaftlich günstige Situationen angemessen zu reagieren (beispielsweise auf eine unerwartete Zinssen- kung durch die Ausweitung von Investitions- ausgaben).3
Rückläufige Kantonsinvestitionen
Von 1991 bis in die Mitte der Nullerjahre waren die Investitionsausgaben4 von Schweizer Ge- meinden rückläufig. Danach, zwischen den Jah- ren 2007 und 2009, stiegen sie an und stabilisier- ten sich auf höherem Niveau (siehe Abbildung auf S. 24.). Anders auf Kantonsebene: Dort sind die durchschnittlichen Investitionsausgaben
Das Theater St. Gallen noch vor der aktuellen Sanierung.
Der Ostschweizer Kanton hat strenge Fiskalregeln.
KEYSTONE
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Untersuchungsgegenstand sind alle 26 Kan- tone sowie alle Gemeinden mit über 5000 Ein- wohnern.
Im ersten Analyseschritt untersuchen wir mit einem linearen Regressionsmodell, ge- schätzt in ersten Differenzen, inwieweit eine Veränderung in den kantons- und gemeinde- spezifischen Fremdkapitalkosten Auswirkun- gen auf die Veränderung der jeweiligen Investi- tionsausgaben hat. Für beide föderalen Ebenen zeigt sich, dass eine Senkung der kantons- oder gemeindeeigenen Fremdkapitalkosten mit einer Erhöhung öffentlicher Investitionsausgaben einhergeht. Besonders deutlich ausgeprägt ist dieser Zusammenhang bei Bauinvestitionen und bei Investitionen im Bildungssektor.
Fiskalregeln nicht hemmend
Doch trotz des Resultats, dass niedrigere Fremd- kapitalkosten mit höheren öffentlichen Inves- titionen korrelieren, bleibt die Frage offen, ob öffentliche Investitionsentscheidungen bei einer Zinssenkung ohne Fiskalregeln umfangreicher ausgefallen wären. Um diese Frage zu untersu- chen, unterteilen wir für eine Differenzen-von- Differenzen-Identifikationsstrategie die 26 Kan- tone in zwei Gruppen: Kantone mit strengen und Kantone mit lockeren Fiskalregeln (siehe Kasten).
Während die Kantone St. Gallen, Wallis und So- lothurn die strengsten Fiskalregeln haben, sind die Schuldenbremsen von Luzern, Jura und Ba- sel-Stadt eher grosszügig. Der Kanton Appenzell Innerrhoden, der als einziger keine gesetzliche Schuldenbremse besitzt, wurde der Gruppe mit weniger strengen Fiskalregeln zugeordnet.
Sodann untersuchen wir, ob die Kantone dieser beiden Gruppen unterschiedlich auf ein unerwartetes Ereignis reagieren, auf des- sen Eintritt und Ausmass sie keinen Einfluss nehmen können. Besagtes unerwartetes Er- eignis war die deutliche Leitzinssenkung der SNB in Zusammenhang mit der Auflösung der
Quantifizierung von Fiskalregeln
Um die Kantone hinsichtlich der Strenge ihrer Fiskalregeln zu sortieren und in Gruppen einzuteilen, müssen die entsprechenden Gesetzestexte in eine quantitative Skala übergeführt werden. Zur Quantifizierung von Fiskalregeln orientieren wir uns an Yerly (2013). Wir greifen die dort definierten sechs Komponenten auf und schreiben den Index bis zum Jahr 2018 fort. Zur konsistenten Bewertung innerhalb des Beobachtungszeitraums weichen wir in einigen Fällen von Yerly (2013) ab.
Die sechs Komponenten bewerten folgende Bereiche: 1) die Rechtsquelle (Ist die Fiskalregel in der Verfassung, einem formellen Gesetz oder einer Verordnung festgeschrieben?), 2) Budget und Jahresrechnung (Berücksichtigt die Fiskalregel die Elemente der Haushaltsplanung und -durchführung gleichermassen?), 3) die Bestandteile der Jahresrechnung/des Budgets, die ausgeglichen sein müssen (Gibt es Ausnahmen für Investitionsausgaben oder Schuldentilgung?), 4) der Zeitpunkt, bis wann ein Haushalt ausgeglichen sein muss, 5) Symmetrie von Abschreibung und Schuldentilgung (Wenn Kredite für Investitionsausgaben erlaubt sind: Müssen dann Kredite jährlich in dem Umfang getilgt werden, in dem das Investitionsobjekt buchhalterisch an Wert verliert?) sowie 6) die Implementierung und Ausgestaltung von Sanktionen, falls eine unerlaubte Verschuldung doch eintritt.
Für jede der sechs Komponenten werden Punkte vergeben;
je restriktiver und umfassender die Fiskalregel ist, desto höher ist die Punktzahl. Die Summe aller Punkte wird in einer Skala von null bis 100 dargestellt. Die Quantifizierung der Fiskal- regeln erfolgt unter der Annahme, dass keine konjunkturelle oder fiskalische Sondersituation vorliegt. Einige Fiskalregeln, die im «Normalzustand» besonders streng sind, ermöglichen umfangreiche fiskalische Spielräume in Krisensituationen (beispielsweise in der Finanz- oder der Corona-Krise).
5 Siehe Grisse, Schumacher (2017) und Lengwiler et al. (2015).
6 Für den zinssenkenden Effekt von Fiskalregeln siehe Feld et al. (2017).
Entwicklung von Investitionsausgaben in Schweizer Kantonen und Gemeinden (1991 bis 2018)
EIDGENÖSSISCHE FINANZVERWALTUNG, FINANZ- STATISTIK [STAND: 15.04.21] / EIGENE DARSTELLUNG DER AUTOREN / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
1800 In Franken pro Kopf In % 32
1500 24
16 8 0 1200
900 600
Investitionsausgaben Gemeinden Investitionsausgaben Kantone Investitionsanteil Gemeinden (rechte Skala) Investitionsanteil Kantone (rechte Skala) 1991
1993 1995
1997
1999 2001
2003 2005
2007
2009 2011
2013 2015
2017
FOKUS
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Lars P. Feld
Professor für Wirtschaftspolitik und Ordnungs ökonomik, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Direktor des Walter Eucken Instituts, Freiburg im Breisgau (D)
Christoph A. Schaltegger
Professor für Politische Ökonomie, Universität Luzern, Direktor des Instituts für Finanzwissenschaft und Finanz- recht, Universität St. Gallen
Yannick Bury
Forschungsreferent, Walter Eucken Institut, Freiburg im Breisgau (D)
Philipp Weber
Forschungsreferent, Walter Eucken Institut, Freiburg im Breisgau (D)
Laura A. Zell
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Lehrstuhl für Politische Ökonomie, Universität Luzern
Literatur
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Feld, L. P. et al. (2017). Sovereign Bond Market Reactions to Fiscal Rules and No-Bailout Clau- ses – The Swiss Experience, Journal of Interna- tional Money and Finance, 70, 319–343.
Feld, L. P. et al. (2019). Öffentliche Investitionen:
Die Schuldenbremse ist nicht das Problem, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 20 (4), 2019, 292–303.
Feld, Lars P., Christoph A. Schaltegger, Yannick Bury, Philipp Weber, Laura Zell und Steffen Zetzmann (2021). Öffentliche Investitionen und Fiskalregeln im Tiefzinsumfeld. Grundla- gen für die Wirtschaftspolitik Nr. 28. Staatsse- kretariat für Wirtschaft SECO, Bern, Schweiz.
Fratzscher, M. et al. (2019). Gut investierte Schulden sind eine Entlastung in der Zukunft, Wirtschaftsdienst – Zeitgespräche, 313–317.
Grisse, C. und S. Schumacher (2017). The Res- ponse of Long-Term Yields to Negative Inte- rest Rates: Evidence from Switzerland, SNB Working Papers (5), 1–37
Hüther, M. und J. Südekum (2019). Die Schul- denbremse – eine falsche Fiskalregel am fal- schen Platz, Perspektiven der Wirtschaftspoli- tik, 20 (4), 284–291.
Lengwiler, C., P. et al. (2015). Gemeinden profi- tieren von tiefen Zinsen, Die Volkswirtschaft (8-9), 88, 54–57.
Luechinger, S. und C. A. Schaltegger (2013).
Fiscal Rules, Budget Deficits and Budget Pro- jections, International Tax Public Finance, 20, 785–807.
Schaltegger, C. A. und M. Salvi (2017). Die Schuldenbremse lebt von der Stabilitätskultur, Wirtschaftliche Freiheit – Das ordnungspoli- tische Journal.
Schaltegger, C. A. und M. Salvi (2019). 10 Ant- worten zur Schweizer Schuldenbremse – Und was Deutschland aus dieser Diskussion mit- nehmen könnte, Wirtschaftswissenschaftli- ches Studium (WiSt) 9, 23–30.
Schaltegger, C. A. und M. Weder (2014). Fiscal Adjustment and the Costs of Public Debt Ser- vice: Evidence from OECD Countries, Applied Economics (22), 46, 2593–2610.
Yerly, N. (2013). The Political Economy of Bud- get Rules in the Twenty-Six Swiss Cantons – Institutional Analysis, Preferences and Per- formances, Thesis, Faculty of Economics and Social Sciences at the University of Fribourg (Switzerland).
Verfehlungen als vielmehr in ihrer präventi- ven Wirkung. Politische Entscheidungsträger passen ihr Verhalten den gesetzlichen Ge- gebenheiten an. Fiskalregeln sind somit dann nachhaltig wirksam, wenn sie als langfristige Gegebenheit wahrgenommen werden.7
Franken-Euro-Wechselkursbindung am 15. Ja- nuar 2015. Wir nutzen die Tatsache, dass der Leitzins einen direkten Einfluss auf die Rendite- entwicklung von schweizerischen Staatsanlei- hen und auf die Konditionen hat, zu denen sich die öffentliche Hand verschulden kann.5
Würden strenge Fiskalregeln eine Auswei- tung von Investitionen bei sinkenden Zinsen verhindern, könnten Kantone mit sehr strengen Fiskalregeln ihre öffentlichen Investitionen nach der Leitzinssenkung kaum oder überhaupt nicht erhöhen. Doch diese These bestätigt sich in keiner Modellspezifikation.6 Im Gegenteil:
Kantone mit strengen Fiskalregeln bauten nach dem Zinsschock ihre Investitionen sogar deut- licher aus als Kantone mit lockeren Fiskalregeln.
Zudem stiegen die Bruttoinvestitionen ab dem Jahr 2015 nur in Kantonen mit strengen Fiskal- regeln steil an; dies ist ein weiteres Argument gegen die genannte Kritik an Schuldenbremsen.
Der grosse Nutzen strenger Fiskalregeln liegt weniger in der Korrektur von fiskalischen
7 Siehe Burret und Feld (2018a); Burret und Feld (2018b); Schaltegger und Salvi (2017); Schal- tegger und Salvi (2019) sowie Schaltegger und Weder (2014).