• Keine Ergebnisse gefunden

Wer hat Anspruch auf die Wahrheit? Oder: Braucht die Wissenschaft Ethik?

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Wer hat Anspruch auf die Wahrheit? Oder: Braucht die Wissenschaft Ethik?"

Copied!
6
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Wer hat Anspruch auf die Wahrheit?

Oder: Braucht die Wissenschaft Ethik?

Vortrag beim Symposium „400 Jahre Keplers Buch – die Freiheit der Wissenschaft heute“ der Johannes Kepler Universität Linz und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

24. Oktober 2019, Johannes Kepler Universität Linz Johannes Kepler: Priester im Buch der Natur

„Ich bemühe mich deshalb, dies zur Ehre Gottes, der aus dem Buche der Natur erkannt sein will, so bald wie möglich zu veröffentlichen. Je mehr andere daran weiterarbeiten, desto mehr würde ich mich freuen; ich neide es niemandem. So habe ich es Gott gelobt, so steht mein Entschluss. Ich wollte Theologe werden. Lange war ich im Ungewissen. Nun aber sehet, wie Gott durch mein Bemühen auch in der Astronomie gefeiert wird.“1 Kepler widmete seine

„Harmonices Mundi“ König Jakob I. von England, von dem er hoffte, er werde – harmonisch – die konfessionelle Wiedervereinigung herbeiführen. Mit diesem Werk sah Kepler sich am Ziel seiner Bemühungen als „Priester des höchsten Gottes im Bereich des Buches der Natur“

(Nr. 9a1: „Sacerdos Dei altissimi ex parte libri Naturae“). Nachgewiesen werden harmonikale Proportionen in der Geometrie der Flächen, Körper, in der Astrologie und Musik sowie in Hand- lungsbereichen bis hin zur Rechts- und Staatslehre; erst im fünften Buch wendet er sich der Astronomie zu.2 Es geht Johannes Kepler um Harmonie, um kosmische, ästhetische, politi- sche und konfessionelle Harmonie. Johannes Kepler: der Wissenschafter als Priester, Natur- wissenschaft als Gottesdienst. Im fünften Buch behandelt Kepler schließlich die „sehr vollkom- mene Harmonie in den himmlischen Bewegungen.“3 Kepler vergleicht die von der Sonne aus gemessenen Winkelgeschwindigkeiten der Planetenbahnen, ihre Variationen mit sich selbst (die Planeten ändern ihre Umlaufgeschwindigkeiten) und miteinander. Diese Unterschiede stellt er in Form von Tonfolgen dar. Dabei handelt es sich freilich um eine „stille Musica“, die nur der jeweiligen Seele der Himmelskörper vernehmbar ist. Kepler ordnet nämlich allen Him- melskörpern eine „Seele“ zu, auch der Erde. Somit verbinden sich bei ihm die kosmologisch- spekulative und die empirisch-mathematische Betrachtungsweise.

Wissenschaft und Ethos

In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde in der deutschen Soziologie über den Positivismus gestritten. Die Frankfurter Kritiker Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas

1Johannes Kepler, Brief an Michael Mästlin am 3. Oktober 1595, in: M. Caspar, Johannes Kepler in seinen Briefen, 2 Bände, München-Berlin 1930, hier Bd.1. 24.; Vgl. dazu Fritz Kraft, Astronomie als Gottesdienst, in: Mensch und Kosmos. Katalog der Oberösterreichischen Landesausstellung im Schloßmuseum Linz vom 7. Mai bis 4. Novem- ber 1990. Herausgegeben von Wilfried Seipel. Kataloge des Oberösterreichischen Landesmuseums. N.F. 33. – Linz: Land Oberösterreich, Amt der Oberösterreichischen Landesregierung, Abteilung Kultur 1990, 144f.

2 Johannes Kepler, Harmonices Mundi libri V, Linz 1619 (Johann Planck), in: Mensch und Kosmos. Katalog der Oberösterreichischen Landesausstellung im Schloßmuseum Linz vom 7. Mai bis 4. November 1990. Herausge- geben von Wilfried Seipel. Kataloge des Oberösterreichischen Landesmuseums. N.F. 33. – Linz: Land Oberös- terreich, Amt der Oberösterreichischen Landesregierung, Abteilung Kultur 1990, Bd. 2, 91.

3 A. a. O. 160

(2)

haben vor der Halbierung der Vernunft durch den Szientismus gewarnt4. „Es zählt nur, was wir wägen, messen, zählen und machen können.“ In dieser Weise kann man aber Moral und Verantwortung nicht einfach machen. Ethik gerät so ins Hintertreffen und wird im Konzert der Wissenschaften immer mehr zurückgedrängt. In Bezug auf die Medien heißt das, dass quantitative Zahlenangaben von besonderem Darbietungswert sind, während qualitative Aussagen, z. B. über die existentielle Dimension, über den ästhetischen Wert eines Kunstwerkes oder gar über die moralische Qualität bestimmter Handlungen nur schwer vermittelbar sind. Oder: Riesenverluste bei einem Betrugsskandal bzw. in der Finanzkrise suggerieren Verständlichkeit, die sie in Wirklichkeit gerade nicht vermitteln. Was wichtig ist, wird erschlossen über Kennziffern, Benchmarks und Rankings, nicht über die Sprache, auch nicht über Bilder.

Das Streben nach mathematischer Strenge, logischer Exaktheit und theoretischer Gewissheit (René Descartes) ist ein Weg, der in den vergangenen Jahrhunderten zu glänzenden techni- schen Erfolgen und zu den schlimmsten menschlichen Versagen geführt hat. Heute wie vor 300 Jahren garantiert kein technisches System oder Verfahren, dass es menschenwürdig an- gewandt wird. Es ist eine Sache, ein Werkzeug zu vervollkommnen oder auch einen Computer zu perfektionieren, und eine ganz andere, dafür zu sorgen, dass diese auf gerechte, moralisch vertretbare und rationale Weise verwendet werden. Und: Wer hat welches Wissen? Wem ge- hört dieses Wissen? Wie sieht Demokratie aus in der Wissensgesellschaft – und wie Gerech- tigkeit? Denn Wissen ist auch Macht (Francis Bacon). Wer z. B. technologische Forschung betreibt, muss auch die Frage „cui bono?“ stellen: Was bedeutet eine technologische Entwick- lung für die Gesellschaft? Aber auch: Was hieße es, auf diesen technologischen Fortschritt zu verzichten?

„Die Tatsachen gehören alle nur zur Aufgabe, nicht zur Lösung.“5 Die Wirklichkeit ist nicht fertig, die Tatsachen sind nicht abgeschlossen. Und das, was der Fall ist, ist noch lange nicht absolut, sondern kann morgen schon ganz anders sein. Ein pseudowissenschaftlicher, angeb- lich objektiver und vorurteilsfreier Zugang zur Wirklichkeit und zu den Problemen erreicht genau das Gegenteil dessen, was er vorgibt: nicht nüchternen Realismus, sondern Realitäts- verlust und Wirklichkeitsflucht. Eine über ihre Voraussetzungen nicht aufgeklärte Empirie ver- fällt der Gefahr der Selbstbestätigungsmechanismen. Man holt sich mit Statistiken die Bestä- tigung der eigenen Ideologie. Das ist verbunden mit Dialogverweigerung und Gesellschafts- entfremdung.

Wenn wir nach den ethischen Voraussetzungen von Erkenntnis und Wissenschaft suchen, so stellt das auch die Frage nach den dominanten Ideen, nach den herrschenden Meinungen in den Feuilletons, nach der Macht der Überschriften, das stellt die Frage nach „Leit-“Kulturen, auch nach der „Leitwissenschaft“, nach den gemeinsamen Grundlagen einer Gesellschaft und Europas. Was soll untergehen, was wird der Vergangenheit zugerechnet? Was wird systema- tisch ausgeblendet oder auf Zeit bzw. auf Dauer einfach vergessen? In der wissenschaftlichen Biographie der Lehrenden und Forschenden an den Linzer Hochschulen haben sich schon mehrere Wissenschaften als Leitmodell abgelöst: Sozialwissenschaften, Wirtschaft und Mathematik, Rechtswissenschaften, Naturwissenschaft (Physik), Biologie … Es gibt die

4 Theodor W. Adorno, Hans Albert, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Harald Pilot und Karl R. Popper. Der Posi- tivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied und Berlin 1969.

5 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlungen, Frankfurt 101975, 6.4321.

(3)

Hegemonie von Ideen, eine Kolonisierung des Bewusstseins6, so, dass – um es mit Horkhei- mer und Adorno zu beschreiben - die Seelen verhext werden, das Miteinander langfristig ver- giftet, dass auf Sinn und Orientierung verzichtet wird.7 Erkenntnis steht in einem Gefüge von Politik, Wissenschaft, Medien, Ethik, Ökonomie. Es geht um die Reichweite von Theorien, um Ansprüche von Leitwissenschaften.

Der Fall Galilei

Die Auseinandersetzung zwischen Galileo Galilei und der kirchlichen Obrigkeit war der letzte Versuch, Wissenschaft politisch und sozial zu „disziplinieren“. Das ist gescheitert. Aus diesem und anderen Konflikten (Aufklärung und kapitalstarkes Bürgertum) entwickelte sich die säku- larisierte, differenzierte Gesellschaft, die auf der Basis einer menschenrechtlichen Verfassung durch demokratischen Prozesse und Gewaltenteilung) eine „säkulare“ Friedens- und Freiheits- ordnung zu etablieren sucht.

Aktuelle Bedeutung hat die Auseinandersetzung für die Frage: Wohin hat uns die Macht der Wissenschaft und Technik geführt, die nach Bacon und Descartes auch als Heilslehre ange- treten ist (Sieg über Krankheit, Hunger und Tod)?

a) Grundsätzlich sind das Verhältnis von „Wahrheit“ und „Hypothese“ und die Geltungsansprü- che und -bedingungen wissenschaftlicher Aussagen zu beachten: Das Verhältnis von Beobachtungssätzen, von Gesetzen und Regeln, von der „Natur der Dinge“ und der mitein- hergehenden Perspektivität ist zu bestimmen.

b) Es ist auf das Verhältnis von wissenschaftsbasiertem Weltbild und handlungsrelevanter, normativer Weltanschauung zu achten Welche Kriterien der persönlichen und sozialen Lebensgestaltung gibt es? Impliziert dieses heute notwendigerweise die Entscheidung, dieses oder jenes nicht zu tun, ja es zu verbieten? Wie gehen wir mit der Situation einer möglichen, uns drohenden Apokalyptik um? Konkret ist beispielsweise das Verhältnis der Menschen- rechte und Biotechnologie bzw. „digitale Erweiterungen“ zu bedenken.

c) Das Verhältnis von wissenschaftlich-technischer Transformation aller Lebensbereiche und des Menschen selbst und die Frage nach der Normativität und Sinnhaftigkeit dieses Tuns ist zu bestimmen. Woher speist sich unsere Normativität für die notwendigen Entscheidungen, Möglichkeiten nicht zu verfolgen? Wer ist bereit diese Entscheidungen durchzusetzen und lässt sich das in globalisierten Welt überhaupt denken? Daher die Frage: Worin bestehen die verschiedenen Kompetenzen? Wie ist deskriptiv-analytisch vorzugehen, wie normativ? Wie ist das Verhältnis zwischen allgemeiner Beschreibung und dem Einzelnen bzw. der „Erste-Per- son-Perspektive“ zu bestimmen?

d) Der wissenschaftlichen Durchdringung/Kolonialisierung aller Lebensbereiche, die gerade heute mit den Digitalisierungen und Entwicklungen der künstlichen Intelligenz neuen Schub erhalten hat, bleiben folgende Probleme eingeschrieben:

6 Jürgen Habermas spricht hier von der Kolonisierung der Lebenswelt durch systemische Intervention. Besondere Bedeutung kommt hier dem Recht zu, das – als kulturelle Institution –- einerseits die Medien Macht und Geld lebensweltlich verankern kann, auf der anderen Seite – als systemisch verfasster Handlungszusammenhang – auf nicht-kommunikative Art in die Lebenswelt interveniert. (Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Han- deln Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1981, 522ff.)

7 Zum Verzicht auf Sinn durch das neuzeitliche Verständnis von Wissenschaft und zur Verhexung des Bewusstseins vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.

1971, 9.28.

(4)

- wir wissen nicht und können nicht wissen, wohin uns diese Reise führt;

- wir haben nicht die Fähigkeit, alle gewollten und ungewollten Folgen unseres Handelns zu übersehen. Deshalb ist die wissenschaftliche Welt einem höchsten Risiko ausgesetzt; siehe heute: Klimawandel.

- die Wissenschaft ist ein autonomes System, das weder von innen noch von außen gesteuert werden kann und deshalb muss jede ethische Grenzziehung als Mahnung interpretiert werden, die wohl global kaum durchgesetzt werden kann. Bestes Beispiel sind Experimente am Menschen durch die neuesten Entwicklungen der Biotechnologie;

- die Entwicklung der Wissenschaft lässt sich demokratisch nicht eindämmen: weder über die Atomspaltung, noch über die Genforschung wurde demokratisch abgestimmt;

e) Antworten auf solche Fragen und Probleme können in einer offenen Gesellschaft nicht ver- ordnet werden (aus welchen Quellen auch immer), sondern müssen ausgehandelt werden (und damit auch die Basis der Verfassung: die Menschenrechte). Positionen werden sich in einer pluralistischen Gesellschaft aus heterogenen Motiven und Quellen speisen: Das Gemeinsame muss aber mit „vernünftigen“, d. h. in eine gemeinsame Sprache übersetzten Argumenten ausgehandelt werden (siehe Habermas: „postsäkular“; Rawls: überlappender Konsens). Welchen Platz sollen in diesem Kontext Kirche und Theologie einnehmen? Der moderne Verfassungsstaat wird von der Kirche grundsätzlich anerkannt: Aufgabe der Kirche ist es für Würde und Freiheit des Menschen; für Gerechtigkeit und Frieden unter den Völkern;

für Bewahrung der Schöpfung einzutreten. Wir sollten uns nicht wundern, dass derzeit Apoka- lyptiker die Zukunft bestimmen und die Abschaffung des Menschen zu einer fast schon akzep- tierten Möglichkeit geworden ist (siehe: Transhumanismus; aber auch: Anders).

f) Und schließlich: Glaube darf und muss immer als Option angeboten werden (Taylor, Joas, Kaufmann, Thomas-Theorem).

Die Freiheit der Wissenschaften als Verfassungswert kann nach den Erfahrungen des 20.

Jahrhunderts und seinen Totalitarismen, die einerseits wissenschaftlich gestützt wurden (Kom- munismus und wissenschaftliche Weltanschauung) oder sich der Wissenschaft ohne prinzipi- elle Gegenwehr benutzten, nur im Zusammenhang aller Menschenrechte und des Gemein- wohls interpretiert werden. Dieser Zusammenhang wäre heute zu erweitern auf die Bewahrung der Schöpfung. Freiheit ist an die Gerechtigkeit gebunden.

Weil die moderne Wissenschaft (seit Bacon und Descartes) nicht Betrachtung, sondern tech- nische Transformation und Neuschöpfung bedeutet und immer im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten steht, ist die Freiheit der Wissenschaft nicht mit Kritikimmu- nität zu identifizieren. In Zielsetzung, Experimentdesign und Ergebnisevaluation sind daher die entsprechenden anderen Rechte (auch der Tiere und allgemein der Natur) zu berücksichtigen.

Grundpostulate der Wissenschaftsethik8

Wissenschaftliches Handeln, das auf der Idee der Wahrheit, nämlich ihrer Universalität und Allgemeinheit ausgerichtet ist, untersteht vier Grundpostulaten:

8 Ich folge weitgehend Eberhard Schockenhoff, Zur Lüge verdammt? Politik, Justiz, Kunst, Medien, Medizin, Wissenschaft und die Ethik der Wahrheit, Freiburg i. B. 2005, 230–246.

(5)

a) Universalität der Wahrheit

Die Einsicht in die universale Bewandtnis der Wahrheit verbindet das neuzeitliche Wissen- schaftsverständnis mit dem antik-mittelalterlichen Ideal kontemplativer Naturbetrachtung. Das interesselose Betrachten der Dinge steht bei Plato in der Rangfolge menschlicher Lebensfor- men noch über dem Besorgen der gemeinsamen Angelegenheiten durch das politische Han- deln. Die neuzeitliche Konzeption einer methodisch kontrollierten Naturbeherrschung zum Zwecke der Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse bricht zwar mit der Vorstel- lung philosophischer, d.h. „reiner“ Naturbetrachtung, aber sie hält bei aller Machtzuweisung an die neue Wissenschaft daran fest, dass diese sich über alle partikularen Interessen und politischen Grenzen erheben soll. „Eine Lehre, die dem Frieden zuwiderläuft, kann ebenso wenig wahr sein, wie Frieden und Eintracht gegen das Naturgesetz sein können.“9 Wissen- schaftliche Aussagen müssen nach objektiven, sachlichen und unparteiischen Maßstäben anerkannt werden.

b) Der Gemeinbesitz wissenschaftlicher Erkenntnisse

Aus dem freien Zugang zur Idee der Wahrheit folgt der Grundsatz, dass wissenschaftliche Erkenntnisse innerhalb der Forschergemeinschaft einer intersubjektiven Kontrolle unterliegen und in deren öffentlichen Gemeinbesitz übergehen. Daran gebunden ist die Pflicht zur Ver- breitung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Wissenschaftliche Tätigkeitunterliegt der morali- schen Verpflichtung, ihre Errungenschaften mit anderen zu teilen. Der Verbreitungspflicht wis- senschaftlicher Erkenntnisse korrespondiert das Recht ihrer Urheber auf eine angemessene Belohnung durch die Anerkennung, die sie nach den festgesetzten Regeln innerhalb der Forschergemeinschaft erfahren.

c) Uneigennützige Suche nach Wahrheit

Die neuzeitliche Hoffnung, mit der Verwissenschaftlichung der modernen Welt werde auch ihr Gesamtzustand gehoben, so dass mit den natürliche Übeln der Unwissenheit, Krankheit und Armut auch Bosheit und Hass unter den Menschen und in ihrem Gefolge alle moralischen Laster allmählich verschwinden, hat sich nicht erfüllt. Die moralischen Kräfte der Menschheit halten mit dem Fortschritt ihres Wissens und der Ausweitung ihres technologischen Könnens nicht Schritt. Historisch gibt es die doppelte Erfahrung, dass einerseits die Suche nach Wahr- heit moralische Integrität voraussetzt und andererseits das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis eine solche Einstellung nicht von selbst herbeiführt. Im Humanismus am Beginn der Neuzeit gehörten persönliche Bescheidenheit, Rücksichtnahme auf die sozialen Bedürf- nisse der Menschen, Einsatz für das Gemeinwohl sowie Bereitschaft zur Selbstkritik und Einigkeit innerhalb der Gelehrtenzunft zum Selbstverständnis der Wissenschaft (Juan Luis Vives).

Dieses humanistische Wissenschaftsverständnis beeinflusst auch heute Natur- und Sozialwis- senschaftler, die eine moralische Selbstbindung der Forscher fordern. Der Mediziner André F.

Cournand und der Soziologe Harriet Zuckermann nannten bereits vor einigen Jahrzehnten sieben Verhaltensregeln eines persönlichen Wissenschaftsethos: intellektuelle Redlichkeit, Toleranz, Selbstzweifel, Bereitschaft zum Eingeständnis eigener Irrtümer, Selbstlosigkeit, Sinn

9 Thomas Hobbes, Leviathan, hg. von H. Klenner, Hamburg 1996, 150f.

(6)

für die Zugehörigkeit zur Wissenschaftsgemeinschaft und die Anerkennung fremder Leistun- gen.10

d) Skepsis gegenüber sich selbst

Es gehört zu den grundlegenden Regeln einer wissenschaftlichen Vorgehensweise, gegen- über den eigenen Theorien Distanz zu halten und gerade den unbequemen Tatsachen beson- dere Aufmerksamkeit zu schenken. Das erfordert die selbstkritische Überprüfung eigener Voraussetzungen und der unter den gemachten Annahmen gewonnenen Ergebnisse. Freilich enthält die Skepsisregel keine resignative These über den Gewissheitsstatus wissenschaftli- cher Aussagen. Es geht nicht um die Absicherung eines einmal errichteten Gedankengebäu- des gegenüber noch bestehenden Zweifeln, sondern um die Suche nach Fehlerquellen und Schwachstellen, im Aufspüren der möglichen Achillesfersen seiner Theorie, wie Popper diese Dauerhaltung eines selbstreferentiellen Zweifels genannt hat.11

+ Manfred Scheuer Bischof von Linz

10 Vgl. A.F. Cournand / H. Zuckermann, The Code of Science. Analysis and Some Reflections on Its Future, in:

Studium Generale 23 (1970) 941-962.

11 Vgl. K.H. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 101990, 452.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Und auch die Konsequenzen, die Politik und Behörden aus dem NSU-Komplex bislang gezogen haben, sollten uns beunruhigen: Die Strukturen, die in der Polizei die Aufklärung der

Frauen aller Altersstufen liefen ihm noch weit mehr als allen anderen Schlagersängern förmlich die Bude ein, er selber spricht von rund 2 000 Affären, offenbar hatte er

Die Wahrnehmung, die häufig Grundlage des menschlichen Tuns und Denkens ist, gehört zu den Grundfertigkeiten des Menschen, die Wahrheit zu seinen wichtigsten Primärtugenden.

blich in die Struktur dieses Problems zu gewinnen. Der Anhalt an Nietzsche gibt dabei gleichzeitig die Möglichkeit, die gegenwärtige besondere Lage dieses Problems

Das Gute ist, dass diese Manipulationen jetzt immer weniger werden, weil wir Menschen immer mehr aufwachen und wir auch viel Hilfe von positiv schwingenden Wesen

Ziel 16: Förderung der friedlichen und integrativen Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung, den Zugang zu Gerechtigkeit für alle und Schaffung

Wenn man meint, gar nicht mehr sagen zu können, ob oben oben und unten unten ist, ob es Methoden gibt, die Anzahl von Besuchern bei einer Ver- anstaltung zu zählen oder den

Aber bei der Suche nach der Wahrheit haben Wissen durch Denken und Erkennen durch Glau- ben im Laufe der Menschheitsge- schichte immer ihren Platz neben- einander bis zum