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Institut für Erziehungswissenschaft Abteilung angewandte Erziehungswissenschaft Master-Studiengang of Education

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Academic year: 2022

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Master-Studiengang of Education

Janusz Korczak: Analyse seiner Pädagogischen Leitlinien und deren Integrierung in das Konzept der freien Janusz-Korczak-Schulen, exemplarisch

an ausgewählten Schulen

1. Betreuer: Dr. Hartmut Schröder 2. Betreuerin: Dr. Marlene Kowalski

Vorgelegt von:

Vorname, Nachname:

Studiengang:

Abgabedatum:

Marielle Paloma Tank

Master of Education – Lehramt an Haupt- und Realschulen

19.07.2021

(2)

An dieser Stelle möchte ich mich bei Herrn Dr. Hartmut Schröder sowie Frau Dr. Marlene Kowalski für die Unterstützung und Betreuung während meiner Masterarbeit bedanken.

Ein weiteres Dankeschön geht an die Schulen, die mich trotz Ihrer gering verfügbaren Ressourcen während der Coronapandemie bei meiner Masterarbeit in Form eines Interviews unterstützt haben. Daher danke ich Frau Cornelia Rüthlein, Leiterin des Korczak-Hauses in Freiburg, Frau Kerstin Wode, Rektorin, und Frau Sabine Carstens, stellvertretende Schulleiterin der Janusz-Korczak-Förderschule in Kaltenkirchen, Herrn Jürgen Bernroth, Rektor, und Heinz Schmidt, stellvertretender Schulleiter der Janusz- Korczak-Förderschule in Ibbenbüren, sowie Frau Birgit Bünger, Rektorin der Janusz- Korczak-Realschule in Schwalmtal.

Ohne Ihre Unterstützung hätte diese vorliegende Masterarbeit nicht in diesem Umfang entstehen können. Daher vielen Dank für Ihre Mitarbeit!

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Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis ... V Tabellenverzeichnis ... VI Abkürzungsverzeichnis ... VII

Einleitung ... 1

Die Person Janusz Korczak ... 3

Janusz-Korczak-Schulen in Deutschland ... 5

Korczaks pädagogische Leitlinien ... 6

4.1 Die Pädagogik der Achtung ... 6

4.1.1 Das Recht des Kindes auf den Tod ... 8

4.1.2 Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag ... 9

4.1.3 Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist ... 11

4.1.4 Das Recht des Kindes auf Achtung ... 11

4.1.5 Weiterführende Rechte des Kindes ... 13

4.2 Korczaks Sicht auf Kinder mit Einschränkungen ... 14

4.3 Erziehung im Heim ... 17

4.3.1 Das Kameradschaftsgericht ... 20

4.3.2 Das Kinderparlament ... 20

4.4 Kritik an Korczaks Pädagogik ... 21

Methodik und Forschungsdesign ... 24

5.1 Kriterienanalyse ... 24

5.2 Interviewdesign ... 26

5.3 Ausgewählte Janusz-Korczak-Schulen in Deutschland ... 28

5.3.1 Janusz-Korczak-Förderschule in Kaltenkirchen ... 29

5.3.2 Korczak-Haus in Freiburg ... 30

5.3.3 Janusz-Korczak-Förderschule in Ibbenbüren ... 30

5.3.4 Janusz-Korczak-Realschule in Schwalmtal ... 31

5.4 Durchführung der Studie ... 32

5.4.1 Begutachtung der Schulwebseiten ... 32

5.4.2 Durchführung und Auswertung der Experteninterviews ... 32

Ergebnisse der Kriterienanalyse und der Experteninterviews ... 36

6.1 Ergebnisse der Kriterienanalyse ... 36

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6.1.1 Schule in Kaltenkirchen ... 36

6.1.2 Schule in Freiburg ... 37

6.1.3 Schule in Ibbenbüren ... 38

6.1.4 Schule in Schwalmtal ... 40

6.2 Ergebnisse der Experteninterviews ... 42

6.2.1 Codierung... 42

6.2.2 Ergebnisse der Codierungen ... 50

Interpretation der Ergebnisse ... 51

7.1 Diskussion ... 51

7.1.1 Kriterienanalyse... 51

7.1.2 Inhaltsanalyse nach Kuckartz ... 57

7.1.3 Zusammenfassende Ergebnisse der Kriterienanalyse und der Experteninterviews ... 72

7.2 Limitationen ... 77

Fazit und Ausblick ... 78

Literaturverzeichnis ... 79

Anhang ... 83

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Henryk Goldszmit/ Janusz Korczak mit einem Kind aus seinen Waisenhäusern.

... 4

Abb. 2: Standortkarte der Janusz-Korczak-Schulen in Deutschland. ... 5

Abb. 3: Korczaks Rechte der Kinder; Magna Charta Libertatis. ... 8

Abb. 4: Janusz-Korczak-Förderschule in Kaltenkirchen. ... 29

Abb. 5: Korczak-Haus in Freiburg. ... 30

Abb. 6: Janusz-Korczak-Förderschule in Ibbenbüren. ... 31

Abb. 7: Janusz-Korczak-Realschule in Schwalmtal. ... 31

Abb. 8: Vorgehen bei der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz. ... 35

Abb. 9: Ergebnis der Codierungen der Experteninterviews. ... 50

Abb. 10: Interpretationen der Kategorie „Hauptkinderrechte“ der befragten Schulen. . 73

Abb. 11: Interpretationen der Kategorie „Kinder mit Einschränkungen“ der befragten Schulen. ... 73

Abb. 12: Interpretationen der Kategorie „Instanzen“ der befragten Schulen. ... 74

Abb. 13: Interpretationen der Kategorie „Recht des Kindes auf Verteidigung“ der befragten Schulen. ... 75

Abb. 14: Interpretationen der Kategorie „Selbstreflexion“ der befragten Schulen. ... 76

Abb. 15: Interpretationen der „weiteren Rechte Korczaks“ der befragten Schulen. ... 77

(6)

Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Die Instanzen des „Dom Sierot“. ... 18 Tab. 2: Interviewfragen des Experteninterviews ... 27 Tab. 3: Befunde der Kriterienanalyse der Janusz-Korczak-Förderschule in

Kaltenkirchen. ... 36 Tab. 4: Befunde der Kriterienanalyse des Korczak-Hauses in Freiburg... 37 Tab. 5: Befunde der Kriterienanalyse der Janusz-Korczak-Förderschule in Ibbenbüren.

... 38 Tab. 6: Befunde der Kriterienanalyse der Janusz-Korczak-Realschule in Schwalmtal. 40 Tab. 7: Erklärungen der Codierungen der Experteninterviews. ... 42

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Abkürzungsverzeichnis

Abb. Abbildung

AG Arbeitsgemeinschaft

Aufl. Auflage

BBB BigBlueButton

BFDler Person im Bundesfreiwilligendienst Bufdi Person im Bundesfreiwilligendienst

ebd. ebenda

et al. und andere

Hrsg. Herausgeber_in

LiV Lehrer_in im Vorbereitungsdienst

s. Siehe

Swbs Schulwebseite

Tab. Tabelle

Wbs Webseite

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Einleitung

Janusz Korczak – wer ist das eigentlich? Den Namen werden einige nicht ebenso oft gehört haben wie den von Johann Heinrich Pestalozzi oder Maria Montessori. Trotz seines in der breiten Öffentlichkeit geringen Bekanntheitsgrades ist Janusz Korczak eine wichtige Persönlichkeit der historischen Pädagogik. Einige verbinden mit ihm lediglich seinen Tod im Konzentrationslager Treblinka in Polen. Dort begleitete er seine Waisenkinder in die Gaskammer und schied gemeinsam mit ihnen aus dem Leben. Er hätte sich in Sicherheit bringen können, entschied sich aber aus Liebe und Achtung seinen Schützlingen gegenüber, diesen Weg mit ihnen zu gehen. Mir war der Name Janusz Korczak vor meinem Studium ebenfalls nicht bekannt, wohingegen mir die Namen Pestalozzi und Montessori geläufig waren. Durch ein Seminar an der Universität Hildesheim hörte ich erstmals von seinem Ableben und davon, für welche Grundsätze er in der Pädagogik stand. Seine Hingabe den Kindern gegenüber und die starke Fokussierung auf sein Ziel, dem Kind verpflichtet zu leben, haben mich tief berührt, weshalb ich mich dazu entschloss, meine Abschlussarbeit über ihn zu schreiben und dadurch mehr über ihn in Erfahrung zu bringen sowie seinen Einfluss auf die heutige Zeit zu hinterfragen. Gibt es überhaupt einen Einfluss von ihm, im Hier und Heute an den Schulen? Auf der Suche nach Spuren von Korczak finden sich Schulen in Deutschland, die ihn zu ihrem Namenspatron gemacht haben. Da aber Korczak nicht dafür bekannt war, seine Pädagogik in genauen Leitfäden festzuhalten, fragte ich mich, wie wohl diese Schulen lehren? Lassen sich Bruchstücke seiner Grundsätze an diesen nach ihm benannten Schulen finden? Oder wurde sein Name lediglich willkürlich gewählt? Nach langem Überlegen kam ich zu meiner Forschungsfrage, die in dieser Arbeit beantwortet werden soll: „Wie werden die pädagogischen Leitlinien Janusz Korczaks exemplarisch an ausgewählten Janusz-Korczak-Schulen integriert und interpretiert?“ Wie kann ich dieser Frage auf den Grund gehen? Ich konnte nicht davon ausgehen, dass ein Rektor oder eine Rektorin das Wissen eines Korczak-Historikers oder einer Korczak-Historikerin aufweisen, geschweige denn, dass sie Zitate Korczaks aufsagen können. Daher entschied ich mich in der nachfolgenden Arbeit als Hauptanalysemittel für Experteninterviews. Narrative Interviews laden zum Erklären und Erläutern ein, somit kann eine große Bandbreite an Wissen von den befragten Expert_innen abgedeckt werden.

Zudem sind Interviews gut dazu geeignet, explorative Forschungsdesigns zu ergründen. In diesem spezifischen Bereich liegen keine Kenntnisse vor, daher ist das Forschungsdesign explorativ und das Gebiet wird somit mit dieser Studie beginnend erforscht. Diese kann als Fundament für weiterführende Forschungen dienen. Allgemein soll es in dieser Arbeit darum gehen, wie die jeweiligen Schulen die Leitgedanken für ihre Schule interpretiert haben. Somit geht es nicht darum, ob jede Schule alle Aspekte von Korczaks Pädagogik

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abdeckt, sondern darum, in welcher Form diese integriert sowie ob sie auch von den Schulen unterschiedlich interpretiert werden. Neben dem Experteninterview habe ich eine Kriterienanalyse mittels Begutachtung der Schulwebseiten (Swbs) der befragten Schulen durchgeführt. Diese diente anfangs als eine Vorbereitung auf das Interview, aber auch, um Ergänzungen zum Interview zu finden. In welche Richtung ein Interview gehen würde, konnte nur anhand der Leitfragen gesagt werden. Diese geben zwar die Richtung vor, jedoch werden die Antworten und Ansichten niemals identisch sein. Faktoren wie die Nervosität oder auch die gekonnte Gesprächsführung und Erfahrung des Interviewers sowie der interviewten Person sind ein entscheidender Faktor. Um diesem entgegenzuwirken, wurden die Webseiten (Wbs) mittels der erarbeiteten Kriterien verglichen und dadurch schon vorab die ersten Erkenntnisse hinsichtlich der Forschungsfrage herausgefiltert. Die Kriterien dafür wurden durch Recherche von Korczaks Büchern und weiterer Sekundärliteratur erarbeitet, die die essenziellen Leitgedanken Korczaks widerspiegeln. Somit kann es sein, dass ein Korczak-Kenner andere Leitgedanken für wertiger erachten mag, als ich es getan habe. In der Studie werden anhand der Antworten der Expert_innen auch weitere Rechte Korczaks aufgenommen, jedoch können nicht alle Rechte abgedeckt werden. Denn Korczak hat eine unbekannte Menge an Rechten in seinen Schriften verfasst. Eine Auswahl kann im theoretischen Teil dieser Arbeit nachgelesen werden. Im Allgemeinen lässt sich die Arbeit in folgende Abschnitte gliedern.

Der theoretische Teil beginnt damit, dass über die Person Janusz Korczaks berichtet wird und Parallelen und Unterschiede gegenüber Pestalozzi erläutert werden. Im Anschluss werden die Standorte von Janusz-Korczak-Schulen in Deutschland anhand einer Karte aufgezeigt. Diese Schulen kamen als potentielle Interviewpartner_innen in Betracht, sofern auf deren Wbs. der Leitgedanke Korczaks zu finden war. Anschließend folgt der eher fachliche Aspekt der Erarbeitung von Korczaks Leitgedanken, aus denen im Methodik- und Forschungsdesign-Kapitel die jeweiligen Kriterien hervorgehen. Mit den erarbeiteten Kriterien werden die Swbs begutachtet und kategorisiert bevor sie für die Interviews genutzt werden. Im Kernstück dieser Arbeit werden die Befunde der Kriterienanalyse und der Interviews mittels Analyseberichten und der Inhaltsanalyse nach Kuckartz ausgewertet. Ein zusammenfassender Überblick über die Integrierungen und Interpretationen der Schulen sowie ein kurzer Ausblick auf weiterführende Fragen und ein abschließendes Fazit schließen die Masterarbeit ab.

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Die Person Janusz Korczak

Janusz Korczak wurde als Henryk Goldszmit am 22. Juli 1878 oder 1879 in Warschau geboren. Bekannt wurde er später jedoch unter seinem Pseudonym Janusz Korczak (Dauzenroth, 1981, S. 13 ff.). Er verstarb im Jahre 1942, zusammen mit den Kindern seines Waisenhauses, im Konzentrationslager Treblinka (Biewend, 1974, S. 7). Von Berufs wegen war er kein Pädagoge, sondern Arzt. Ihn verband jedoch die Liebe zum Kind mit der Pädagogik. Eine weitere Leidenschaft war das Schreiben, welches ihn als einen Schriftsteller narrativer Texte auszeichnete. Korczak, der als angesehener Arzt in Warschau arbeitete, gab seine Anstellung auf, um 1911 ein neu gegründetes Waisenhaus zu leiten, das „Dom Sierot“. Im Polnischen bedeutet der Name ‚Waisenheim‘ (Pelzer, 1987, S. 32 f.). In diesem nahm er Waisenkinder auf. Neben dem Leiten des „Dom Sierot“ schrieb Korczak über das Leben im Heim und seine daraus resultierenden Erkenntnisse sowie über Gott. Wenige Jahre nach Übernahme des Heimes wurde Korczak im Ersten Weltkrieg zum Militärdienst als Arzt einberufen. Nach seiner Rückkehr lernte er Maria Rogowska-Falska kennen, auch bekannt als Maryna Falska. Sie war eine Aktivistin und studierte Pädagogin mit Lehrerdiplom. Mit ihr übernahm er das zweite Waisenhaus, das „Nasz Dom“, was übersetzt ‚unser Haus‘ bedeutet. Gelegentliche Militäreinberufungen als Arzt hielten Janusz Korczak nicht vom Schreiben ab und so brachte er in den darauffolgenden Jahren Werke wie „Der Frühling und das Kind“, „Allein mit Gott“ oder auch Kinderbücher wie das Buch

„König Macius der Erste“ heraus. Neben diesen Werken schrieb er gemeinsam mit seinen Waisen an der „Kleinen Rundschau“, die eine Beilage der Zeitung „Unsere Rundschau“

war. 1929 publizierte Korczak sein bekanntestes Werk, „Das Recht des Kindes auf Achtung“ (s. 4.1), das, wie später in dieser Ausarbeitung erklärt wird, einiges verändern sollte. Weitere wichtige Werke wie „Fröhliche Pädagogik“ folgten, sodass die Sammlung von Korczaks Werken sich bis zum Tode auf 16 Bände erstreckte (Beiner, 2020, S. 154 ff.).

Neben seinen Werken konnte ‚der alte Doktor‘ auch im polnischen Rundfunk gehört werden und eines seiner wenigen vollständig erhaltenen Theaterstücke, „Senat der Verrückten“, konnte im Warschauer Theater gesehen werden (ebd., S. 155).

Oft wird vom ‚polnischen Pestalozzi‘ (Jost, 2007) oder dem ‚Pestalozzi aus Warschau‘

(Hebenstreit, 2017, S. 186) gesprochen. Das suggeriert, dass beide Männer den gleichen pädagogischen Ansatz hatten, sogar, dass beide die gleiche Pädagogik lehrten. Es ist bekannt, dass Korczak die Schriften Pestalozzis gelesen hat. Ihr Grundethos war der Gleiche, trotzdem gibt es Unterschiede in der Auslebung und Ausführung: „Die Erziehung durch Liebe, Erziehung durch die Mutter, Erziehung und Bildung im häuslichem Umfeld“

(Kirchner, 2019, S. 9). Beide fokussieren anfänglich die mütterlichen Figur. Zudem teilen beide den Glauben an das Gute im Menschen und im Kind. Dieses kann im „Stanser Brief“

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von Pestalozzi herausgelesen werden sowie in „Der Frühling und das Kind“ von Korczak (ebd., S. 11f.). Einige Gemeinsamkeiten lassen sich eher zu Beginn von Korczaks großer Reise zur “Pädagogik der Achtung des Kindes“ erkennen. Mit Beginn seiner Tätigkeit als Leiter des „Dom Sierot“ entfernte er sich von Pestalozzis Pädagogik. So schrieb er z. B.

keine Leitfäden, in denen er die Leser belehrte, sondern zeigte auf, dass er genauso wie alle anderen ein Nichtwissender sei. Er wies darauf hin, dass man nur durch das Beobachten und den Versuch des Verstehens zu einer Erkenntnis gelangen konnte.

Pestalozzi hingegen formulierte einen Leitfaden. Dieser Aspekt kann im Vergleich beider Männer unbedeutend wirken, jedoch war es ein Merkmal von Korczaks Schriften, dass er nie versuchte, der Leserschaft Anweisungen aufzuerlegen, sondern sie zum eigenen Denken und Handeln anregte. So verfuhr er auch mit seinen Erzieher_innen im „Dom Sierot“ und „Nasz Dom“. Pestalozzi übergab die Verantwortung der Erziehung der mütterlichen Figur. Korczak hingegen empfand es als wirksamer, wenn weitere Betreuer_innen die Erziehung beeinflussten. Er wanderte nicht weiter auf Pestalozzis Pfaden, sondern schlug einen anderen Weg ein, um selbst seinen Weg der „Pädagogik und Achtung“ zu finden. Jedoch blieben Aspekte wie die „Sorge und Fürsorge für Benachteiligte“

(Jost, 2007) bestehen, wie auch vermehrte Einflüsse Pestalozzis, zum Beispiel die Wichtigkeit der Reflexion und die Ordnung in der Gemeinschaft durch Dienste. Zwar kann man einige Gemeinsamkeiten in der Pädagogik dieser beiden Persönlichkeiten erkennen, wodurch die Bezeichnung ‚polnischer Pestalozzi‘ naheliegt. Dennoch unterscheiden sich ihre pädagogischen Ansätze gravierend voneinander. Allein in der Haltung gegenüber dem Kind kann man den großen Unterschied ihrer Ansichten erkennen. Beide hielten Liebe und Fürsorge für unabdingbar, jedoch war die Stellung des Kindes in beiden Pädagogiken verschieden. Pestalozzi betrachtete das Kind in einer Hierarchie, in der er höher als das Kind angesiedelt war. Korczak hingegen setze sich immer auf die Stufe des Kindes und ließ das Beisammensein nicht zu einer Machthierarchie werden (Kirchner, 2019, S. 16 ff.).

Quelle: https://timenote.info/de/Janusz-Korczak

Abb. 1: Henryk Goldszmit/ Janusz Korczak mit einem Kind aus seinen Waisenhäusern.

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Janusz-Korczak-Schulen in Deutschland

Die nachfolgende Studie wurde an freien Janusz-Korczak-Schulen in Deutschland durchgeführt. Die Wahl fiel auf Schulen im deutschen Raum. Diese Eingrenzung erfolgte aufgrund der Tatsache, dass ich meinen festen Wohnsitz in Deutschland habe, sowie aufgrund der Immatrikulierung an einer deutschen Universität. Die freien Janusz-Korczak- Schulen befinden sich an 49 Standorten in Deutschland. Zwei weitere Schulen befinden sich derzeit in der Auflösung und werden daher nicht in der Schulliste aufgeführt, sind aber noch auf der Karte verzeichnet.

Zu den 49 Schulen zählen 23 Förderschulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, sieben sonderpädagogische Förderzentren, elf Grundschulen, vier Realschulen, drei Gesamtschulen und eine Berufsschule. Schwerpunkte sowie Standorte zu den einzelnen Schulen können dem Anhang A entnommen werden. Einige dieser Schulen wurden unter dem Namen Janusz-Korczak-Schule neu gegründet, andere erhielten nach mehreren Jahren die Benennung nach Korczak. In Abb. 2 wurden die befragten Schulen gelb hervorgehoben.

Quelle: https://www.jk-schule.de/interaktive-karte-der-janusz-korczak-schulen/ (verändert)

Abb. 2: Standortkarte der Janusz-Korczak-Schulen in Deutschland.

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Korczaks pädagogische Leitlinien

In den folgenden Unterkapiteln wird versucht, die sogenannte Pädagogik der Achtung darzustellen, indem näher auf Korczaks Hauptkinderrechte und seinen Grundethos des Erziehens eingegangen wird. Weiterführend wird seine Sicht auf Kinder mit Einschränkungen erläutert und erklärt, weshalb sie für diese Arbeit von Bedeutung ist. Zum Ende des Kapitels wird Korczaks Pädagogik kritisch beleuchtet.

4.1 Die Pädagogik der Achtung

Wenn über Janusz Korczak referiert und seine Pädagogik in Worte gefasst werden soll, finden wir häufig die Wortwahl der „Pädagogik der Achtung“ (Beiner, 2020, S. 25). Was sollen wir darunter verstehen? Janusz Korczak war, wie bereits in Kapitel 2 beschrieben, nicht nur Pädagoge und Arzt, sondern auch ein Verfasser von narrativen Texten. Seine Pädagogik basierte nicht auf theoretischem Denken und theoretischen Ansätzen, sondern auf der Praxis. Durch sein Wirken als Arzt und Leiter zweier Waisenhäuser entstand seine praxisbezogene und gelebte Pädagogik. Er verfasste keine Leitfäden, sondern schrieb seine Beobachtungen, welche er in seinen Waisenhäusern und Sommerkolonien machte, anhand von Beispielen nieder. Er war nicht an Wunschdenken gebunden, sondern hatte einen Blick für die Realität. Um jedoch Korczaks Pädagogik und deren Schwerpunkte zu verstehen, müssen als Erstes seine Sichtweise auf sein Umfeld und seine intrinsische Motivation dargestellt werden. Um diese zu verdeutlichen, bediene ich mich zweier Geschichten. In den Jahren 1934 sowie 1936 hielt sich Janusz Korczak mit Stefa Wilczynskas in Palästina im Kibbuz „Ejn Harod“ auf. Im Rahmen seines dreiwöchigen Aufenthalts im Kibbuz führte er mit Mosche Tabenkin ein Gespräch über die Frage „Wer kann Erzieher werden?“ (Korczak et al., 2004, S. 433). Dieses Gespräch zeigt, wie er Kinder und deren Bedürfnisse in Bezug auf Erziehung sah. „Mosche Tabenkin fragte Korczak nach dem Unterschied zwischen der Erziehung von Waisenkindern und Kindern im Kibbuz, welche Eltern haben“ (ebd.). Dieser vertrat die Meinung, dass die Erziehung von Waisenhauskindern doch einfacher sei als jene in einer Familie. Korczak antwortete ihm wie folgt.

„Ich erziehe keine Waisenkinder. Ich erziehe Menschen. Ich kann keinen Vergleich ziehen, ich kann nur allgemein sagen, wer für die Erziehung von Kindern geeignet ist. Wer Kinder nicht liebt, kann sie nicht erziehen. Wer sich mit sich selbst beschäftigt, für den interessieren sich Kinder nicht. Und der, für den sich Kinder nicht interessieren, ist nicht geeignet, sie zu erziehen.“ (Korczak et al., 2004, S. 433)

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Im weiteren Verlauf des Gesprächs begann Korczak von einer Familie zu erzählen. Diese bestand aus Vater, Mutter, Großvater und drei Geschwistern. Über den Tag verteilt wurden alle Familienmitglieder traurig. Dies geschah aufgrund von unterschiedlichen Vorkommnissen wie dem Herunterfallen einer Brille, der Scham, mit dem Bus zur Arbeit zu fahren, oder einer Beleidigung. In der Geschichte reagierte die Mutter empört auf das Weinen des Großvaters über sein heruntergefallenes Brillengestell, welches er nicht selber aufheben konnte, da er gelähmt im Rollstuhl saß. „Wegen so einer Kleinigkeit!“ (ebd., S.

434). Denn warum wegen so etwas weinen? Alle Familienmitglieder weinten in dieser Geschichte. Jeder hatte seinen Grund. Die Gründe, welche die einzelnen Personen zum Weinen brachten, wogen für sie schwer. Für die Nichtbetroffenen waren sie jedoch lächerlich. Korczak beendete die Erzählung mit den Worten: „Alle Tränen sind salzig, wer das begreift, kann Kinder erziehen, wer das nicht begreift, dem gelingt es nicht, sie zu erziehen“ (ebd., S. 434f.). In dieser Geschichte von Korczak wird schnell deutlich, dass es für ihn keinen allgemeinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern gab. Alle Tränen sind salzig. Alle Gründe zum Weinen wiegen gleich schwer. Es spielt keine Rolle, wer die Tränen vergießt, ein Erwachsener oder ein Kind. Sie sind beide gleichwertig. Das Kind ist von Beginn an ein vollwertiger Mensch, genauso wie wir (Korczak et al., 1999a, S. 417). Dies ist mit der Pädagogik der Achtung gemeint. Um diese Pädagogik umsetzen zu können, betrachtete Korczak auch die Sicht der Betreuer_innen. Er appellierte an deren Vernunft, die Kinder zu beobachten, nicht zu versuchen, die „Hieroglyphen“ (ebd., S. 13) des Kindes komplett auszuradieren, nein vielmehr einzelne Passagen zu entziffern und mit weiterem Wissen zu füllen (Hebenstreit, 2017, S. 170). Sein Grundsatz der Beobachtungsmethode war es, so wenig Einfluss wie möglich auszuüben (Korczak et al., 2002, S. 95). Unsere Erfahrungen dürfen nicht über die der Kinder gestellt werden, denn diese denken, durch ihre geringe Lebenserfahrung, anders als Erwachsene (Hebenstreit, 2017, S. 172). Wir wissen, dass Trauer wieder vergeht, das Kind jedoch wird denken, „es würde für immer weinen und für immer sehr unglücklich sein“ (Korczak et al., 1999c, S. 128). Wir können Kinder belehren, jedoch gibt es eines, worüber wir sie nicht belehren können, und zwar über ihre Gefühle. Darin sind Kinder laut Korczak ihre eigenen Experten (Hebenstreit, 2017, S. 173). Wenn wir den Blick auf das Hier und Jetzt lenken, so gilt das Recht, Kinder zu schützen. Seit 1989 gilt die UN-Convention on the Rights of the Child (OHCHR, 1989). Lange Zeit davor, bereits 1919, publizierte jedoch Korczak in seinem Werk

„Das Kind in der Familie“, auch bekannt unter dem Titel „Wie man ein Kind liebt“, bereits seine eigenen Grundrechte für die Kinder. Diese werden im Folgenden vorgestellt und erläutert.

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Abb. 3: Korczaks Rechte der Kinder; Magna Charta Libertatis.

Quelle: In Anlehnung an Korczak et al., 1999a, S. 45.

4.1.1 Das Recht des Kindes auf den Tod

Das erste Recht nach Korczak mag zunächst erschrecken, jedoch stehen viele Überlegungen und Begründungen hinter seiner sehr direkten Formulierung. Korczak stellte fest, dass Kinder meist der Überfürsorge der Erzieher_innen oder der Eltern ausgesetzt werden. Er empfand dies als nicht richtig, denn ein Kind sollte seine eigenen Erfahrungen machen dürfen – darunter gute wie schlechte. Es sollte zudem Freiheit erleben und seiner Selbstbestimmung nachgehen dürfen (Beiner, 2020, S. 26). Korczak erzählt in „Das Kind der Familie“ von dem einjährigen Jedrek, einem Kind aus einem Dorf, das sich zum größten Teil selbst überlassen ist. Zwar ist die Mutter da, hat aber viel zu tun. Sie beaufsichtigt ihn, ist aber nicht jede Minute an seiner Seite. Dadurch kann er viele Erfahrungen sammeln.

Niemand sagt ihm, dass die Katze kratzt, dass er nicht die Treppe hinuntergehen kann. Er probiert sich aus, stolpert und steht wieder auf. Er erhält Beulen und Narben. Er ist erst ein Jahr alt, aber er lebt das Leben. Korczak berichtet im Vergleich zu Jedrek von einem weiteren Kleinkind, das jedoch namentlich nicht erwähnt wird. Im Gegensatz zu Jedrek wird dieses Kleinkind behütet, ja sogar überbehütet. Wo Jedreks Mutter ihn gewähren lässt und in Kauf nimmt, dass er sich verletzen kann, da nimmt die andere Mutter ihrem Kind die Chance auf Selbstbestimmung und Selbstentfaltung. Wo die eine zu sorglos ist und Jedrek zu wenig beaufsichtigt, da ist die andere Mutter zu ängstlich und beaufsichtigt ihr Kind permanent. Dadurch kann dieses Kind sich nicht entfalten. Es hat nicht die Möglichkeit, eigene Erfahrungen zu sammeln, gute oder schlechte. Dieser Chance wird es durch seine Mutter beraubt. Sie versucht alles Schädliche und Schmerzliche von ihm fernzuhalten.

Jedrek, der Dorfjunge, erkundet von Beginn an seine Welt selbst, ohne weitreichende Aufsicht. Das andere Kind wird in eine Richtung gelenkt – in die Richtung, welche seine Mutter ihm vorgibt. Seine Wünsche und Interessen darf es nicht ausleben. Was ist nun für die Entwicklung des Kindes besser? Keine oder wenig Aufsicht oder ein Zuviel an Aufsicht?

Am Ende der Geschichte resümiert Korczak:

Das Recht des Kindes auf Achtung 1. Das Recht des Kindes

auf den Tod 2. Das Recht des Kindes

auf den heutigen Tag 3. Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist

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Aber nein: Ich möchte ein Übermaß an Aufsicht nicht gegen ihr völliges Fehlen austauschen. Ich weise nur darauf hin, dass das einjährige Kind auf dem Dorf schon lebt, während bei uns erst der reife junge Bursche zu leben anfängt. Mein Gott – Wann? (Korczak et al., 1999a, S. 53)

Ein Kind soll von Beginn an anfangen können zu leben. Fürsorge und Aufsicht sind wichtige Bestandteile eines glücklichen Aufwachsens, jedoch kann zu viel davon genau das Gegenteil bewirken. Das Kind hat ein Recht darauf, sein Leben selbst zu bestimmen und seine Erfahrungen zu machen (ebd., S. 49ff.).

Eine sehr ähnliche Meinung vertrat zu früherer Zeit schon der Schriftsteller, Pädagoge und Philosoph Jean-Jacques Rousseau: „Diejenigen, welchen ihre erste Leitung anvertraut ist, sollten doch wissen, dass die kalte Luft ihnen nicht schädlich ist, sondern sie im Gegenteil stärkt, und dass die warme Luft sie schwächt, sie in fieberhaften Zustand versetzt und geradezu tötet“ (Rousseau, 2015, S. 53). Die erziehende Kraft muss sich dessen bewusst sein, dass ihre Ansprüche sowie die des Kindes immer abgewogen werden müssen, um ein gerechtes Miteinander in der Erziehung zu schaffen. So, wie Korczak schon bemerkte:

Es müssen Grenzen zwischen den beiden Parteien gezogen werden (Korczak et al., 1999a, S. 52). Somit strebt Korczak mit diesem Gesetz nach der Freiheit des Kindes. Im Polnischen besitzt das Wort Freiheit zweierlei Bedeutungen. „Swoboda“ (Besitz) und

„Wolnosc“ (Wille). Das Kind besitzt und bestimmt sein Leben. Sein Wille geschehe. Es tut, was es will (Korczak et al., 1999a, S. 47). Korczak äußert seine Kritik daran, dass Kinder meist zu „willenlosen und lebensuntüchtigen“ (ebd., S. 19) Menschen heranwachsen. Dies will er mit diesem Gesetz unterbinden (ebd.). Damit rebelliert er gegen die Bevormundung vonseiten der Erzieher_innen sowie gegen alle Arten von Drohungen zur Manipulierung des Verhaltens von Kindern. Korczak regt an, die Handlungsfähigkeit der Kinder zu fördern, damit diese selbstständig positive sowie negative Erfahrungen machen können (Beiner, 2020, S. 28). „Die Forderung nach Selbstbestimmung des Kindes, nach Zubilligung eines angemessenen Spielraumes für Erfahrungen am eigenen Leibe – zugespitzt zu einem Recht auf Tod“ – bedeutet jedoch nicht die Ablehnung jeder erzieherischen Fürsorge (ebd., S. 22). Eine weitere interpretative Dimension von Korczaks erstem Recht ist unmittelbar mit seinem Ableben im Konzentrationslager Treblinka verbunden. Er behielt bis zu seinem Tod seinen Stolz und entschied selbst, wann sein Leben zu Ende ging.

4.1.2 Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag

Das zweite Gesetz Korczaks, das Recht auf den heutigen Tag, bezieht sich, wie man aus dem Titel entnehmen kann, auf die Zeitfrage in der Erziehung. Bilden wir das Kind aus,

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damit es zukünftig ein normales Leben bestreiten kann? Oder bilden wir das Kind aus, damit es gegenwärtig alles Nötige für seinen Weg erhält? Das sind vermutlich Fragen, über die Korczak philosophierte, denn seine Sichtweise zu diesem Thema ist nicht einheitlich (Beiner, 2020, S. 28). Wenn wir das Ziel der Erziehung betrachten und dieses einer Zeit zuordnen müssten, wäre vermutlich die Zukunft die Antwort. Wir neigen dazu, die Kinder so zu erziehen, dass sie auf ihr späteres Arbeitsleben und ihr Erwachsendasein vorbereitet sind. Fehler, fragwürdige Verhaltensweisen sowie Handlungen gegen die Norm werden aberzogen, um so den Schützling bestmöglich auf die Zukunft vorzubereiten. Wir scheinen uns im Klaren darüber zu sein, welche Verhaltensweisen einen weitbringen und welche essenziell für unsere Schützlinge sind (ebd., S. 29). Korczak war nicht der erste Philosoph sowie Pädagoge, der sich mit diesem Thema auseinandersetze. Schon Rousseau griff in seinem Werk „Emil oder über die Erziehung“ dieses Thema auf. Darin beschreibt er die zukunftsorientierte Erziehung als eine Art Fesseln, die das Kind unglücklich stimmen und es nur auf etwas in der Zukunft vorbereiten, das es vielleicht niemals erreichen wird (Rousseau, 2015, S. 55). Somit rückte Rousseau erstmals die Zukunft des Kindes in den Hintergrund und schrieb der Gegenwart einen maßgebenden Wert zu. Korczak teilte mit Rousseau einerseits die dargestellte Sichtweise, dass die Zukunft im Hintergrund stehe, jedoch waren Korczaks Gedanken weitestgehend andere. Das Kind hat das Recht auf den heutigen Tag und der Erziehende ist für diesen auch verantwortlich. „Ich bin verantwortlich für den heutigen Tag meines Zöglings, es ist mir recht gegeben, sein zukünftiges Schicksal zu beeinflussen und mich da einzumischen“ (Korczak et al., 2004, S. 250). Er sieht diese Zeit der Entwicklung eines Lebens als eine wichtige an. Das Kind hat das Recht, genauso in dieser Zeitspanne ernst genommen zu werden wie als Erwachsener Teil der Arbeitsgesellschaft. „Lasst uns Achtung haben vor der gegenwärtigen Stunde, dem heutigen Tag. […] Es gibt kein unreifes Heute, keine Hierarche des Alters, keinerlei höheren oder niedrigeren Rang des Schmerzes und der Freude, der Hoffnungen und Enttäuschungen (Korczak et al., 1999a, S. 404f.). Korczak möchte mit diesen Worten dafür sensibilisieren, dass Kinder auf Augenhöhe betrachtet werden sollen. Das Kind ist bereits ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft und muss nicht erst eines werden (ebd., S. 49).

So wichtig wie unsere eigenen Bedürfnisse am Tage sind, so wichtig sind die Bedürfnisse des Kindes. Das kurze Spielen mit dem Hund, das Grüßen von anderen Kindern oder einfach malen – all das ist kein „unreifes Heute“ (ebd., S. 404), sondern etwas Wichtiges im Hier und Jetzt (ebd., S. 404f.).

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4.1.3 Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist

„Wir haben den Wunsch, dass die Kinder besser werden, als wir es sind. Wir träumen vom perfekten Menschen der Zukunft“ (Korczak et al., 1999a, S. 406). Korczak stellte diese Forderung durch sein drittes Gesetz. Dadurch soll die Individualität eines jeden Kindes geachtet und unterstützt werden. Wir wollen doch auch nicht aus einer „jungen Eiche eine poetische Birke“ (Korczak et al., 2004, S. 26) machen. Es ist das gute Recht des Kindes, dass seinem Kummer und seinen Ängsten Gehör geschenkt wird, obgleich sie als ‚dumm‘

oder als Lappalie empfunden werden (Korczak et al., 1999a, S. 167). Korczak ist an dieser Stelle bewusst, dass das Verhalten der Allgemeinheit nicht diesen Anforderungen entspricht und wir eher dazu neigen, ein Kind zu verdächtigen, ihm zu misstrauen, es zu tadeln, zu bestraften etc. (ebd., S. 394). Korczak beschreibt schon vor seinen Kinderrechten, dass die Wesenszüge eines Kindes nicht gleichzusetzen sind mit Missetaten. Nur weil das Kind klaut, sieht Korczak nicht unbedingt einen Dieb; er sieht die Tat (Korczak et al., 1996, S. 366). Er achtet das Leid, die Sorgen, die Bedürfnisse oder gar Wünsche. Er achtet die Meinungsfreiheit der Kinder und ihre Handlungstätigkeit, egal ob er diese sofort nachvollziehen kann. Denn das Kind wird seinen Grund haben, egal ob es diesen uns mitteilen möchte oder nicht. Ungeachtet dessen hat das Kind es verdient, geachtet zu werden um seiner selbst willen. Es darf einfach nur ein Kind sein und muss nicht unseren gedanklichen Traumvorstellungen entsprechen (Beiner, 2020, S. 36f.).

„Erlaube den Kindern Fehler zu machen und frohen Mutes nach Besserung zu streben. […]

Erzieher, wenn für dich das Leben ein Friedhof ist, so erlaube wenigstens ihnen, das Leben für eine Wiese zu halten.“ (Korczak et al., 1999a, S. 187) Auch negative Verhaltensweisen gehören zur Entwicklung und Entfaltung der eigenen Individualität. Korczak selbst befürwortet schädigendes Verhalten nicht, jedoch appelliert er an die Erzieher_innen, die Kinder selbst nach Besserem streben und daraus ihre Lektionen ziehen zu lassen (Beiner, 2020, S. 37).

4.1.4 Das Recht des Kindes auf Achtung

„Die Wärme des mütterlichen Herzens — ist heute nur noch eine Phrase. Ich fordere eine durchdachte, konkrete wissenschaftliche Definition“ (Korczak et al., 1997, S. 24). Mit diesem Zitat beendet Korczak eine Erzählung in einem seiner Werke, „Der Frühling und das Kind“. Die Geschichte handelt von einer Familiensituation, welche er an einem Bahnhof mitansieht. Er beobachtet drei Frauen und ein Kind, wie sie dabei sind, in einen Zug einzusteigen. Das Kind bewegt sich von der Gruppe weg, da es anscheinend zu seiner Tante gehen will. Die Mutter entgegnet darauf, dass das Kind nichts zu wollen habe und

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gibt ihm eine Ohrfeige. Die Konversation der Gruppe wird fortgeführt und dem Geschehen wird keine Beachtung geschenkt. Korczak fragt sich nun beim Beobachten des Hergangs der Geschichte, was wohl geschehen würde, wenn ein erwachsener Mensch, welcher schon vieles im Leben erlebt hat und zudem empfindlich veranlagt ist, eine Ohrfeige im Gemenge erhielte – wie dieser Mensch sich wohl aufregen würde. Korczak findet weitere Antworten darauf: „Das Geheimnis liegt darin, dass man sich erst durch einen ganzen Müllhaufen von Unrecht und Ohrfeigen hindurchwühlen muss, um die menschlichen Gefühle eines erst zehnjährigen Menschen zu ertasten“ (ebd.). An dieser Stelle mag es nun verwundern, warum Korczak nicht auf seine Magna Charta Libertatis eingeht, die er drei Jahre zuvor an die Öffentlichkeit trug. Diese besagt, dass das Kind einen Anspruch auf die Rechte der großen Freiheitsurkunde der Menschheit hat. Doch wie oben erwähnt, fordert er etwas anderes. Ihm reichen seine formulierten Rechte nicht mehr, denn sie scheinen in seinen Augen die Kinder nicht genug zu schützen. Wie wird nun so eine Definition verfasst?

Korczak konnte darauf erst einige Jahre danach eine Antwort präsentieren (ebd.). Seine Antwort findet sich in einem seiner bekanntesten Werke, dem Buch „Das Recht des Kindes auf Achtung“, welches 1929 erschien (Korczak et al., 1999a, 385ff.). Ein Jahr zuvor erhielten die Kinderrechte in Polen ihren wohl höchsten Bekanntheitsgrad, es wurde vermehrt Aufmerksamkeit auf obdachlose, ärmliche, hungernde, frierende etc. Kinder gelegt, was Korczak wohl als Inspiration diente, um sein Werk zu verfassen (Beiner, 2020, S. 139f.). Dieses Werk beginnt mit der Überschrift „Missachtung – Misstrauen; Von früher Kindheit an wachsen wir mit dem Bewusstsein auf, dass das, was größer ist – wichtiger ist als das Kleine“ (Korczak et al., 1999a, S. 387). Im Nachfolgenden veranschaulicht Korczak eindrücklich durch mehre Beispiele, was er damit meint. In unserem Leben zählt die Meinung des Größeren und dementsprechend des Stärkeren mehr als die der Kleinen. Er möchte dies ändern. Er möchte nicht, dass wir unsere Macht und Stärke gegenüber den Kleinen missbrauchen und dadurch die Mühen und Anstrengungen des Gegenübers zunichtemachen. Wir können ein Kind herumwirbeln, es aufhalten oder gegen seinen Willen handeln, irgendwann wird es resignieren, da es weiß, dass es mit seiner noch geringen Stärke nicht gegen uns ankommen kann. Kinder schlagen Erwachsene? Ein eher untypisches Bild. Jedoch wirkt die Ohrfeige oder der Klaps eines Erwachsenen gegenüber einem Kind vertrauter, denn seit wann darf sich ein Kind gegenüber seinen Erzieher_innen wehren? (ebd., S. 387f.). Bis heute wurden dem Kind nicht dieselben Rechte wie Erwachsenen zugeschrieben. Mit der neuen Erkenntnis und der Forderung Korczaks nach einer klaren wissenschaftlichen Definition für das Problem wurde jedoch keine Definition formuliert, sondern durch sein Bestreben eine Rechtsnorm ins Leben gerufen: das Recht des Kindes auf Achtung (Beiner, 2020, S. 41). Denn Kinder sind, wie Korczak in seinen zahlreichen Texten darlegen wollte, nicht nur Kinder, sondern sie sind „Dichter und

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Philosophen“ (Korczak et al., 2000, S. 362), Sie fühlen mit, sind zornig und lieben (ebd.).

Sie sind keine ‚Puppen‘, sondern Menschen, in denen „Keime aller Gedanken und Gefühle“

(Korczak et al., 2004, S. 50) sich entwickeln (ebd.). Sie erfragen, freuen sich, vertrauen und glauben, denn ihre Gedanken umfassen alles (Korczak et al., 1999a, S. 12). „Es gibt keine Kinder – es gibt nur Menschen; aber Kinder haben eine andere Begriffsskala, einen anderen Erfahrungsschatz, andere Impulse, eine andere Gefühlswelt.“ (ebd., S. 147f.)

4.1.5 Weiterführende Rechte des Kindes

Korczaks Hauptkinderrechte wurden im vorigen Kapitel ausführlich besprochen und dargelegt. Wenn wir nach Korczaks Schriften recherchieren, finden wir meist auf Anhieb nur diese vier Rechte. Jedoch bedeutet dies nicht, dass diese die einzigen Rechte waren, die Korczak versuchte an die Öffentlichkeit zu tragen. Weshalb finden wir aber nicht weitere Rechte? Er schrieb diese nicht systematisch nieder oder druckte sie ab, damit sie schnell aufgefunden werden können (s. 4.4). Seine weiteren Rechte können in all seinen Büchern, vor allem in seinem Werk „Das Recht des Kindes auf Achtung“ gefunden werden. Korczak schrieb oft davon, wie die Welt aussieht und dass sie so, wie sie ist, nicht richtig ist. Er zeigte Beispiele, wie die Sicht auf das Kind ist und weshalb dies nicht der richtige Weg ist.

Im Folgenden habe ich einige Rechte Korczaks formuliert, die in seinen Geschichten nicht als solche betitelt werden, jedoch als Rechte formuliert werden könnten. Es ist nur eine Auswahl an Rechten, weitere können weiterführender Literatur entnommen werden.

➢ Das Kind hat das Recht auf seine eigene Gefühlswelt. „Die kindlichen Zweifel und Einwände erscheinen uns nicht seriös.“ (Korczak et al., 1999a, S. 389).

➢ Das Recht des Kindes, nicht alles zu wissen. „Lasst uns Achtung haben vor seiner Unwissenheit“ (ebd., S. 402).

➢ Das Kind hat das Recht auf Misserfolge. „Lasst und Achtung haben vor den Misserfolgen und Tränen.“ (ebd., S. 403).

➢ Das Recht des Kindes auf eigene Besitztümer. „Lasst Achtung haben vor dem Eigentum des Kindes und vor seinem Budget.“ (ebd.).

➢ Das Recht des Kindes auf den Augenblick, die gegenwärtige Stunde und den gegenwärtigen Tag. „Lasst und Achtung haben vor der gegenwärtigen Stunde, dem heutigen Tag. (…) Achtung haben vor jedem einzelnen Augenblick.“ (ebd., S. 404).

➢ Das Recht des Kindes auf Respekt. „Wir fordern Achtung vor den hellen Augen, den glatten Schläfen, (…) Warum sollen denn ein erloschener Blick, eine runzlige Stirn,

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borstiges graues Haar, eine von Resignation gebeugte Gestalt verehrungswürdiger sein?“ (ebd., S. 412).

➢ Das Recht des Kindes auf Freiheit und Natur. „Den Körper des Kindes übergeben wir der Natur, aber nicht der Natur, die die Luft von den Wiesen und Feldern herüberträgt, sondern einer verkümmerten Natur, der stickigen Schulstube …“ (Korczak et al., 2004, S. 72).

➢ Das Recht des Kindes auf Liebe. „Aber wenn es ständig von Liebe umgeben ist und ständig Beweise der Liebe erhält, gelangt es dahin, selbst zu geben.“ (ebd., S. 19).

➢ Das Recht des Kindes auf eine gesunde Entwicklung. „Das Kind sollte frei aufwachsen wie ein Baum. Man sollte dafür sorgen, dass der Boden gesund und nahrhaft ist, die Luft rein, dass viel Sonne und Wärme vorhanden sind.“ (ebd., S. 27).

➢ Das Recht des Kindes zu wollen, zu mahnen, zu fordern, zu wachsen und zu reifen.

„Das Kind hat ein Recht zu wollen, zu mahnen, zu fordern – es hat ein Recht, zu wachsen und zu reifen und, wenn es reif ist, Früchte hervorzubringen.“ (Korczak et al., 1999a, S. 149).

Andere Autoren haben sich auch daran gemacht, die Rechte Korczaks aufzuschreiben, eine davon ist Betty Lifton. In ihrem Buch können weitere Rechte, die sie als solche identifiziert hat, gefunden werden (Lifton, 1990, S. 463 ff.).

4.2 Korczaks Sicht auf Kinder mit Einschränkungen

Wie in Kapitel 3 berichtet wurde, sind 30 der freien Korczak-Schulen in Deutschland Förderschulen (s. Anhang A). Dies könnte daran liegen, das Korczak diesem Thema offen gegenüberstand. Liest man jedoch in den Regeln des „Dom Sierot“ (Korczaks erstem Waisenhaus) nach, so findet sich im Abschnitt C, der die Aufnahme von Neuankömmlingen behandelt, der Satz: „… wobei geistig zurückgebliebene und kranke Bewerber nicht angenommen werden“ (Korczak et al., 2003, S. 542). Zudem kann in früheren Werken Korczaks der Begriff des eugenischen Denkens gefunden werden. In seinem Theaterstück

„Senat der Verrückten“ sagt einer seiner Charaktere: „ohne Eugenik werden wir alle im Sumpf umkommen“ (Korczak et al., 1997). Ob das auch Korczaks Meinung war, kann anhand dieser Passage nicht aufgezeigt werden, da es sich um ein Theaterstück handelt.

Nur weil man über einen Mörder schreibt, macht dies einen nicht zu dessen Verehrer (Hebenstreit, 2017, S. 178). In seinen Werken „Der Frühling und das Kind“ und „Das Recht des Kindes auf Achtung“ finden wir jedoch Passagen, die darauf hindeuten, dass Korczak eugenische Gedanken hatte, jedoch sollte dabei auch berücksichtigt werden, dass Korczak

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diese Werke zu Zeiten des Nationalsozialismus niederschrieb (Hebenstreit, 2017, S. 178).

„Aber wir müssen zählen und aufpassen, …, dass keine blinde Menschheit geboren wird.“

(Korczak et al., 1997, S. 14) Des Weiteren erwähnt Korczak in seiner Beilage der Zeitung

„Unsere Rundschau“: „Völlig verblödete Kinder nehmen wir nicht auf, aber man erkennt das nicht immer und die Mütter beschwindeln uns“ (Korczak et al., 2005, S. 269). Korczaks Aussagen mögen zuerst erschrecken, wenn daran gedacht wird, dass viele Schulen genau diese Kinder betreuen, jedoch kann dieser seine Aussage begründen. In der kleinen Rundschau von 1927 geht Korczak weiter auf das Thema ein und schreibt: „Bei uns muss jeder auf sich selbst aufpassen. Ein geistig behindertes Kind kann sich selbst und den Anderen Schaden zufügen“ (ebd.). Für Korczak bedeutet dies einen Schutz für seine Heimkinder und auch den Schutz für das Kind mit Einschränkungen. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass dies alles vor der UN-Behindertenrechtskonvention (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, 2017) niedergeschrieben wurde und Korczak in einer Zeit aufwuchs, die mit wenig Achtung gegenüber Kindern im Allgemeinen und insbesondere gegenüber Kindern mit Einschränkungen behaftet war. Deshalb mögen seine Worte mit Vorsicht gelesen und interpretiert werden. Trotz seiner festen Regelung zur ausschließlichen Aufnahme von

„normalen“ Kindern lässt sich in dem Kapitel „Die Schicksale ehemaliger Zöglinge des „Dom Sierot“ von 1912 bis 1932“ (Korczak et al., 2004, S. 220) herauslesen, dass in dieser Zeitspanne sieben Kinder die „Sonderschule für geistig Zurückgebliebene“ (ebd.) besuchten, darunter auch vier weitere Kinder, welche als „Schwerhörige, Schwächliche, Nervöse und von Sprachfehlern“ (ebd.) geprägte Kinder betitelt wurden. Weshalb kümmerten sich die Betreuer_innen dennoch um diese Kinder? Laut dem Reglement hätten diese Kinder nicht aufgenommen werden dürfen. Antwort darauf finden wir nur wenige Zeilen weiter unten in der „Kleinen Rundschau“. Hier beschreibt Korczak, dass es nicht selten war, dass überforderte Mütter in ihrer Verzweiflung beim Aufnahmegespräch logen, um die Krankheit ihres Kindes zu verstecken. Eine Folge dessen war eine Aufnahme zur Probe und wenn Auffälligkeiten festgestellt wurden, musste das betroffene Kind wieder zurück ins Elternhaus. In einem Ausnahmefall aber wurde Korczak gebeten, das Kind noch ein weiteres Quartal dortzubehalten. Dieser Bitte konnte er nur nachgeben, wenn sich geeignete Betreuer_innen für das Kind fanden, welche sich der besonderen Umstände bewusst waren. Denn diese wurden an speziellen Schulen ausgebildet. Dennoch durfte in diesem einen Fall der Junge Icek das bedürftige Kind weiterhin betreuen und dem Wunsch der Mutter wurde nachgekommen (Korczak et al., 2005, S. 269). Auf welcher Seite steht nun Korczak? Aus seinen Schriften kann herausgelesen werden, dass er für gesonderte Schulen stimmte, die sich um „geistig behinderte“ (ebd., S. 372f.) Kinder kümmerten, welche aber zu seiner Zeit rar waren. Damit stellt sich Korczak gegen die heutige Inklusion

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und auf die Seite der Separation (Hebenstreit, 2017, S. 287), da er davon überzeugt war, dass diese Kinder spezielle Betreuung erfahren müssen und nicht mit anderen, aus seiner Sicht ‚normalen‘ Kindern zusammen leben und lernen können (Korczak et al., 2005, S. 372 f.). Des Weiteren berichtet Korczak von eigenen Erfahrungen seiner Zeit als Arzt, die er im Berson-Bauman-Spital für Kinder machen konnte. Dort beobachtete er verschiedene Kinder mit Einschränkungen und ging nach vielen Jahren mit der Erkenntnis heraus: „Wer nicht in einer Schule für geistig behinderte, taubstumme oder blinde Kinder Geduld und die Prinzipien der Didaktik gelernt hat, der wird niemals Lehrer sein können…“ (Korczak et al., 2002, S. 435). Somit empfiehlt Korczak, diese Erfahrungen zu machen, denn es sei eine

„Akademie der Geduld“ (Korczak et al., 2004, S. 172) für die Betreuer_innen, sodass das Zusammenkommen mit einem nicht behinderten Kind eine „sanfte Dankbarkeit und demütige Freude“ (ebd.) in den Betreuer_innen hervorruft. Damit steht Korczak für die Separation von Kindern mit Einschränkungen, damit diese die angemessene Aufsicht und Hilfe erhalten, die ihnen, seiner Meinung nach, in normalen Schulen nicht vergönnt wäre.

Daher kann seine damalige Sichtweise mit der Sichtweise der heutigen Förderschulen für emotionale und geistige Entwicklung verglichen werden (Hebenstreit, 2017, S. 289). Denn Korczaks Aussagen mögen harsch klingen, jedoch war es nicht sein Ziel, die

„Zurückgebliebenen“ (Korczak et al., 2004, S. 454) in ein Idealbild eines Kindes zu verwandeln. „Man muss für sie ein andersartiges Ziel und Glück aufbauen; nicht der Natur oder Gott prozessieren.“ (ebd.) Denn wie schon in 4.1.3 niedergeschrieben, hat das Kind das Recht, das zu sein, was es ist. Lassen sich der Begriff der Inklusion und der Name Korczak nicht zusammenführen? Denn separate Förderschulen sind wie im Kapitel 3 beschrieben nicht die einzigen Schulformen, die den Namen Korczak-Schule tragen.

Darunter sind auch integrative Schulen und Gesamtschulen (s. Anhang A), die klar für das Konzept der Inklusion stehen. Ferdinand Klein versucht in seinem Buch „Mit Janusz Korczak Inklusion gestalten“ (2018) die Möglichkeiten aufzuzeigen, wie mit der „Pädagogik der Achtung“ inklusiv gelehrt werden kann. Die Zitate Korczaks, die ausdrücklich die Separation von Kindern mit Einschränkungen fordern, werden hier außer Acht gelassen.

Denn Klein geht es um den Grundgedanken der Korczak-Pädagogik, die Liebe und Achtung, die jedem Kind gebührt. Korczak erkannte jedes Kind mit seinen Stärken sowie Schwächen an. Ihm war die Diversität unter den Kindern bewusst und er lernte in seinen Waisenhäusern individuell auf die Kinder in seine Kinderrepublik einzugehen. Somit schätzte er die Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede seiner Gruppe (ebd., S. 28ff.). Denn jedes Kind hat, egal aufgrund welcher Einschränkungen, den Drang nach „einem geordneten und sicheren Erfahrungsraum“ (ebd., S. 150), den Drang, „aus eigener Kraft sich in die räumliche und zeitliche Strukturierung einzubinden“ (ebd.), und es will „klare Regeln und Absprachen“ (ebd.). Ein weiterer Aspekt, den Klein aufgreift, ist das Recht des

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Kindes auf den Tod (s. 0). Das Kind möchte eigene Erfahrungen machen und wird auch nicht immer Befehlen Folge leisten, sondern baut aus eigener Kraft seine Persönlichkeit und Interessen auf (ebd., S. 164).

4.3 Erziehung im Heim

Da heutzutage Schulen statt Heimen nach ihm benannt sind, kann die Frage aufkommen, weshalb hier von der Erziehung im Heim gesprochen wird. Korczak war kein Lehrer, er zog seine Erfahrungen aus Beobachtungen als Arzt und Betreuer. Er führte keine Schule, er führte Heime, in denen er seine Sichtweisen austestete und ausleben konnte. Zu seiner Lebenszeit leitete Korczak zwei Waisenhäuser mit der Hilfe von zwei Hauptbetreuerinnen, Stefania Wilczynska und Maryna Falska. Frau Stefa, wie sie von anderen genannt wurde, war seine rechte Hand im ersten Waisenhaus, dem „Dom Sierot“ (Biewend, 1974, S. 26), welches er 1911 in Warschau übernahm (Pelz, 1991, S. 112). Mit Frau Falska gründete Korczak nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg, in welchem er als Chefarzt diente, sein zweites Waisenhaus, das „Nasz Dom“ (ebd.). Das „Dom Sierot“ war etwas Neues für Korczak. Wie wird ein Waisenhaus geleitet? Von den Institutionen innerhalb des Heimes, die in den nächsten Abschnitten erläutert werden, fand sich zu Beginn des Aufbaus keine Spur. Es herrschten keine festgelegten Regeln, die aufgegriffen werden konnten, um für ein Gleichgewicht und eine Struktur im Innern zu sorgen. Statt der großen Freude über das neue Anwesen stießen Frau Stefa und Korczak auf Widerstand (Pelzer, 1987, S. 78 f.).

Geschlagen gaben sich die beiden aber nicht. Viele Überlegungen sowie Selbstreflexion standen auf der Tagesordnung, um gemeinsam mit den Kindern ein glückliches Zusammenleben zu ermöglichen. Korczaks Pädagogik entstand nicht von einem Tag auf den anderen, es war ein langer Prozess aus Fehlschlägen, Versuchen und ständigem Beobachten sowie Selbstreflektieren (Hebenstreit, 2017, S. 294). Auffallend bei Korczaks Verwirklichung der Waisenhäuser ist die wenig zielstrebige Planung. Die Kinder sind die Mitgestalter ihrer Umwelt, des Heims. Wenn Probleme entstehen, werden Lösungen gesucht und Veränderungen vorgenommen. „Hausherr, Mitarbeiter und Leiter des Hauses wurde – das Kind. – Alles, was im Folgenden beschrieben wird, ist das Werk der Kinder, nicht unseres“ (Korczak et al., 1999a, S. 256). Korczak hatte auf dem Papier die Stellung des Leiters inne, jedoch ist er sich bewusst, dass ein Waisenhaus, welches den Kindern Freude und Sicherheit schenkt, nur wachsen kann, wenn die darin Wohnenden an der Entwicklung beteiligt sind. Um die Kinder besser zu verstehen, nutzte Korczak das Waisenhaus als einen Ort der Wissensbildung. Durch das Beobachten der Kinder erlangte er mehr Erkenntnisse und konnte lernen, die Kinder besser zu verstehen (Korczak et al.,

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1999b, S. 266 ff.). Somit war Korczak die Gleichberechtigung eines jeden Beteiligten des Waisenhauses wichtig: auch die Nächstenliebe für die Schwachen und damit verbunden die gegenseitige Hilfe. In der folgenden Tabelle werden die wichtigsten Instanzen des „Dom Sierot“ kurz dargestellt.

Tab. 1: Die Instanzen des „Dom Sierot“.

Instanzen Funktionsweise

Die Anschlagtafel Das Anschlagbrett sorgte im Heim „Dom Sierot“ für Ordnung. An diesem fanden sich Suchanfragen zu verlorenen Gegenständen, Bekanntmachungen, Klagen, allgemeine Informationen, die wöchentlichen Gewichts- und Größenkurven aller Kinder usw. Das Brett diente damit als eine Kommunikationsform zwischen den Erzieher_innen und Kindern sowie zwischen den Kindern unter sich (Korczak et al., 1999a, S. 256f.).

Der Briefkasten Der Briefkasten war ein Instrument, um in erster Linie die Erzieher_innen zu unterstützen. Die stetigen Bitten sollten verschriftlicht werden, sodass die am Tage zugewiesenen Erzieher_innen abends sich die Zeit nehmen konnte, um die Fragen der Kinder in Ruhe zu beantworten. Damit sollte der Briefkasten die Kinder lehren, geduldig zu sein, da sie nicht sofort eine Antwort erhalten, und sich Gedanken darüber zu machen, ob ihre Sorge oder Klage wichtig ist. Sie sollten über ihre Sorgen mehr nachdenken beim Verschriftlichen und dies lehrt sie, etwas ‚zu wollen‘ und mitzuteilen (ebd., S.258f.)

Das Regal Im Regal, welches erst im späteren Verlauf eingeführt wurde, fanden sich Nachschlagewerke für die Kinder und Spielmöglichkeiten sowie verschiedene Hefte, in denen die Erzieher_innen und die Kinder z. B.

eigene Witze, Gedichte oder Sorgen niederschreiben konnten (ebd., S. 259f.).

Der

Fundsachenschrank

Ein Ort für verloren gegangenes Hab und Gut der Kinder. Diesem wird eine große Wichtigkeit zugeschrieben, da Korczak darauf Wert legt, dass auch etwas, was augenscheinlich Müll ist, eine Bedeutung für das Kind haben kann. „Eine kleine Muschel ist der Traum von einer Reise ans Meer.“ (ebd., S. 261)

Aufhängehaken für Besen

Die Aufhängehaken repräsentieren die Dienste der Kinder. Korczak empfand es als wichtig, den Gegenständen des Dienstes einen Platz

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zu geben, wodurch diese ebenso geachtet werden wie das eigentliche Tun der Kinder (ebd. S. 263).

Betreuungskommission Jedem Neuankömmling wird ein erfahrenes Kind an die Seite gestellt, um das Einleben im Heim zu erleichtern (Korczak et al., 2003, S. 543).

Die Konferenzen Gemeinschaftliche Konferenzen, um innerhalb der Gruppe Planungsvorschläge zu besprechen und um die Verantwortlichkeit der Gruppe zu stärken (Korczak et al., 1999a, S. 271f.).

Die Zeitung Eine Zeitung, die von Erzieher_innen und Kindern gleichermaßen angefertigt wurde, in welcher sich Sorgen, Missstände, Wünsche und Weiteres wiederfanden. „Die Zeitung ist eine lebendige Chronik seiner Arbeit, seiner Bemühungen, Fehler und der Schwierigkeiten, die er bezwungen hat.“ (ebd., S. 273)

Quelle: Eigene Darstellung.

Die aufgeführten Instanzen und weitere, die in dieser Arbeit nicht näher beleuchtet werden, basierten auf den vier Grundpfeilern der „Kinderrepublik“, in der die Kinder und Erzieher_innen in Korczaks Waisenhäusern gleichgestellt waren. Die Instanzen halfen dabei, dass jedes Kind Anspruch auf die nachfolgenden Rechte hatte (Beiner, 2020, S.

63ff.).

➢ „Das Recht des Kindes auf Klage und Konfliktbearbeitung.“ (ebd., S. 66).

❖ „Kindergericht, Gerichtsrat, Gerichtszeitung, Notariatsbuch“ (ebd., S. 93).

➢ „Das Recht des Kindes auf freie Meinungsäußerung und Kommunikation.“ (ebd., S. 66).

❖ „Die Zeitungen, die Anschlagtafel, der Briefkasten, das Dank- und Entschuldigungsbuch, die Tagebücher, das Regal, die Konferenzen.“ (ebd., S. 93).

➢ „Das Recht des Kindes auf Selbstverwaltung und Selbstgestaltung.“ (ebd., S. 66).

❖ „Das Kinderparlament, der Selbstverwaltungsrat, die Vollversammlungen, Einrichtungen zum Kaufen/ Spielen/ Wiederfinden, Hilfen zur Selbst- und Gruppenerziehung, Maßnahmen zur Sicherung von Privateigentum und Intimsphäre.“ (ebd., S. 93).

➢ „Die Pflicht des Kindes zur Arbeit für sich und die Gemeinschaft“ (ebd., S. 66).

❖ „Schule und Schulaufgaben, die Heimdienste, freiwillige Dienste, Betreuung von Neulingen“ (ebd., S. 93).

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4.3.1 Das Kameradschaftsgericht

Das Kameradschaftsgericht ist neben dem Kinderparlament die bedeutendste Instanz von Korczaks Pädagogik. Allgemein soll es die Kinder zur Selbstverwaltung anregen sowie den Erzieher_innen nicht die vollkommene Machtposition zukommen lassen, da die Erwachsenen kein Stimmrecht besaßen. Das Gericht besteht aus Klägern, Beschuldigten und Zeugen, einem oder einer Erzieher_in und einem oder einer Sekretär_in. Die Richter des Gerichts werden wöchentlich ausgelost, um Fairness zu garantieren. Um in den Lostopf zu gelangen, dürfen die Kinder jedoch keinen Eintrag über einen Verstoß in der letzten Woche erhalten haben. Das Anklagen von anderen Kindern findet über das Anschlagbrett statt, indem der Kläger den Beschuldigten anzeigt und den Grund der Anzeige benennt.

Eine Selbstanzeige war auch möglich sowie die Anzeige von Erzieher_innen. Nach wöchentlicher Tagung wurden die Ergebnisse am Anschlagbrett notiert und die Schwere des Deliktes wurde mit dem eigenen Paragraphensystem des Heimes dargestellt. Je höher die aufgerechnete Anzahl an Verstößen laut Paragraphen, umso größer das Verbrechen.

Das Gesetzbuch umfasste 1000 Paragraphen, die als Maß des Urteils gewählt werden konnten. Die ersten 100 Paragraphen verzeihen dem Angeklagten seine Tat. Alle weiteren Paragraphen zeigen einen Schuldbestand auf und teils Strafen, die daraus folgen. Die Höchststrafe geht bis hin zum Ausschluss aus dem Waisenhaus (Hebenstreit, 2017, S.

315f.). Für Gerichtsurteile ohne einvernehmliches Ende oder komplexere Inhalte wird eine weitere Instanz, der Gerichtsrat, eingeschaltet. Dieser besteht aus gewählten Kindern der Gemeinde und einem oder einer Erzieher_in, welche alle gleichermaßen Stimmrecht erhalten. Diese sind die Gesetzgeber des Gerichtes und die übergeordnete Instanz des Kameradschaftsgerichtes (ebd., S. 311f.).

4.3.2 Das Kinderparlament

Als dritte große Instanz rief Korczak das Kinderparlament ins Leben. Zu diesem durften sich ca. zwölf Kinder zählen, die nur dann von anderen Kindern gewählt werden konnten, wenn sie nicht straffällig geworden waren. Das Parlament regelte feste Ereignisse sowie die Aufnahme von Kindern und deren Ausschluss. Welche Vorteile ziehen diese Instanzen nach sich? Korczak vertrat die Meinung, dass Kinder am besten über sich selbst Bescheid wissen (Hebenstreit, 2017, S. 312 f.). „Wir, die Erwachsenen, wissen viel von einem Kind, doch wir können uns irren. Aber das Kind weiß, ob es ihm gut geht oder schlecht“ (Korczak et al., 2003, S. 393). Die Kinder übernehmen „Selbstverantwortung“ (Hebenstreit, 2017, S. 313), sie werden „ernst genommen“ (ebd.), vor der scheinbaren „Willkür“ (ebd.) der Emotionen von Erwachsenen geschützt sowie vor „unmenschlichen Strafen“ (ebd.). Sie

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erhalten „Schutz“ (ebd.) für sich und ihr Hab und Gut. Damit sorgen diese Einrichtungen innerhalb dafür, dass „das Heim ein glücklicher Lebensort ist“ (Korczak et al., 2003, S. 393).

Die Rolle der Erzieher_innen bleibt wichtig, jedoch ist es umso schwieriger, die damit verbundene Macht ab- und den Kindern dadurch mehr Freiraum zu geben. Besonders dies sieht Korczak sowohl als große Hürde als auch als Stärke an. Für das Heim regeln Instanzen zudem die Ordnung. Alle Kinder müssen zum Erhalt der ‚Kinderrepublik‘ ihre Dienste erfüllen und sorgsam miteinander umgehen. In Einzelfällen, in denen durch Einschränkungen oder die Vorgeschichte des Kindes, zu viele Probleme zu bewältigen sind, kann ein Antrag gestellt werden, welcher dieses Kind dann aus allen Aktivitäten des Gerichtes ausschließt, aus den Verurteilungen wie auch aus den Wahlen. Damit wird das Kind ein Stück weit aus der Gemeinschaft ausgegrenzt (Hebenstreit, 2017, S. 315).

4.4 Kritik an Korczaks Pädagogik

Diese Ausarbeitung dient nicht dazu, Korczaks Werk lediglich im positiven Licht zu präsentieren. In diesem Kapitel werden Kritikpunkte an Korczak und seinen Erziehungsmaßnahmen berichtet. Der erste Kritikpunkt lautet wie folgt: Korczak schrieb nie Leitfäden und nur selten Abschnitte, welche nummeriert waren. Eine Ausnahme sind die Hauptkinderrechte. Die Benennung ‚Haupt‘ deutet darauf hin, dass es noch weitere, untergeordnete Rechte des Kindes gibt, also sekundäre Rechte (Hebenstreit, 2017, S. 236). Jedoch hat Korczak diese nie in der Art der Hauptkinderrechte niedergeschrieben.

Hatte Korczak nur drei Kinderrechte? Diese Frage kann klar mit einem Nein beantwortet werden. Er hatte viel mehr (s. 4.1.5). Diese waren jedoch in seinen Geschichten eingebunden und nur durch ein Auseinandersetzen mit der Thematik ersichtlich. Allein, durch die fehlende Nummerierung von Rechten oder kleinen Leitfäden ist es schwierig, Korczaks Pädagogik in nur wenigen Sätzen zusammenzufassen. Umso mehr orientieren sich viele an den drei Hauptkinderrechten. Alles Weitere ist Interpretationssache. Wer sagt mir, dass ich Korczak in diesem Punkt richtig verstanden habe? Dank der Verschriftlichung von Zeitzeugen können wir auch auf die Meinung derer schauen, die den Arzt Korczak persönlich kannten. Neben vielen guten Erinnerungen an ihn finden wir nur wenige negative. „Ja, bei uns gab es verschiedene Typen, und nach Verlassen des „Dom Sierot“

waren wir nicht auf das Leben vorbereitet.“ (Beiner & Ungermann, 1999, S. 111) „Lieber ein paar Pingpongbälle weniger, dafür mehr Vorbereitung auf das Leben.“ (ebd., S. 112) Diese Bemerkungen von zwei ehemaligen Waisenhauskindern sind nicht vollständig negativ zu betrachten. Dies waren die einzigen Aussagen, die ansatzweise Kritik an Korczaks Methode der Erziehung übten. Vielmehr wird meist das Positive benannt. Ein Beispiel

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hierfür: Korczak brachte ihnen bei, ehrlich zu sein. „Ich bemängele also nicht die bescheidenen Bedingungen, vielmehr möchte ich hervorheben, dass dies ein abgeschiedenes Paradies war, das uns nicht auf das Leben vorbereitete.“ (ebd., S. 115) Diese Gedanken teilten auch andere Zöglinge des Hauses. Auffallend ist, dass Punkte gefunden wurden, die ihnen missfielen, dass sie jedoch tiefsten Respekt gegenüber Frau Stefa, Falska und Korczak hegten. „Das Leben ist nicht Korczaks Haus. Das Leben sieht anders aus.“ (ebd., S. 116) Mit 14 Jahren war das Leben im Waisenhaus vorbei und man wurde in die Welt entlassen. Dass dies kein Alter ist, welches einen ausgereiften Menschen darstellt, steht hier nicht zur Debatte. Jedoch haben sich viele der ehemaligen Zöglinge mehr Vorbereitung auf die wirkliche Welt, außerhalb der geschützten Mauern des Waisenhauses, gewünscht. Sie kannten Rechte und Konfliktbewältigung, aber dass es in der Welt außerhalb nicht immer fair zuging und den Schwächeren keine Hilfe angeboten wurde, war ihnen nicht klar. Dies lag zum einen an Korczaks strengem Regiment und zum anderen an der Abgeschiedenheit des Waisenhauses, welches von einer Mauer und einem Tor mit einem Schloss umgeben war. Viel konnten die Kinder von draußen nicht erkennen (ebd., S. 119). „Korczak hatte vergessen, woher wir gekommen waren und wohin wir zurückkehrten. Wir wuchsen losgelöst vom Milieu auf wie in einem Treibhaus.“ (ebd.) Korczak wollte in seinen Waisenhäusern seinen Gedanken an die bessere Welt verwirklichen, jedoch schien es so, als würde er dadurch auch die Realität, die draußen herrschte, verdrängen, zum Schutz seiner Zöglinge. Es scheint ein Konflikt zwischen Maryna Falska und Korczak geherrscht zu haben, zwischen ihr, die die Kinder eher auf die Wirklichkeit vorbereiten wollte, und dem Arzt, der ihr widersprach. Jedoch, ob dies alles wirklich so war, lässt sich kaum ergründen (ebd.). Aber in einem waren sich die meisten Zöglinge sicher: Sie waren Korczak wichtig. „Korczak gab uns die Wärme eines Erziehers.

Wir wurden in einem Gefühl der Menschenwürde erzogen.“ (ebd. S. 112)

Abschließend zum theoretischen Block dieser Arbeit finde ich, ist es wichtig zu sagen, dass, Janusz Korczak, Maryna Falska und Stefania Wilczynska nicht perfekt waren. Es gibt ebenso wenig perfekte Menschen, wie es die einzig wahre Erziehungsmethode gibt. Diese Kritik soll zum Nachdenken anregen. Hätte er einen anderen Weg gewählt – wäre dieser der bessere gewesen? Wäre dieser perfekt gewesen? Janusz Korczak ging seinen Weg – den, den er für den besten hielt, und den, den er gehen wollte.

„Sei du selbst – suche deinen Weg. – Lerne dich selbst kennen, ehe du Kinder zu erkennen trachtest. – Mache dir klar, wo deine Fähigkeiten liegen, ehe du anfängst, den Kindern den Bereich ihrer Rechte und Pflichten abzustecken. – Unter ihnen allen bist du selbst ein Kind, das du vor allem kennenlernen, erziehen und formen musst.“ (Korczak et al., 1999a, S. 147)

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Dieses Zitat beschreibt noch einmal in Kurzfassung, worum es in der Pädagogik von Korczak geht. Nochmals mit eigenen Worten zusammengefasst: Lerne dich selbst kennen, forme und erziehe dich erst selbst, bevor du Kinder nach deinem Leitbild zu erziehen versuchst. Gehe deinen Weg, egal ob dieser weit und mühsam ist. Nur du selbst weißt am besten, welcher Weg der deinige ist. Als Erzieher_in musst du nicht stur einem Katalog an Regeln folgen. So wie du das Kind Dinge und Regeln lehrst, so kannst auch du im Dialog mit diesem stetig dazulernen. Ein Kind darf nicht in eine Schablone gepresst werden, denn es ist einzigartig in seiner Persönlichkeit, seinem Denken und Handeln. Korczaks Pädagogik setzt also im Unterschied zu anderer Pädagogik primär nicht bei der Erziehung und Formung des Kindes an, sondern bei der Reflexion und Erziehung der erziehenden Person.

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Methodik und Forschungsdesign

Das Forschungsdesign dieser Studie ist explorativ ausgelegt, da in diesem Bereich noch wenig Forschung betrieben wurde. Damit dient diese Forschung als ein exemplarischer Einstieg zu diesem Thema. Um der Frage „Wie werden die pädagogischen Leitlinien Janusz Korczaks exemplarisch an ausgewählten Janusz-Korczak-Schulen integriert und interpretiert?“ auf den Grund zu gehen, werden zwei Analysemethoden ausgewählt. Die erste Methode ist ein selbst erstellter Kriterienkatalog, der mit den Informationen der drei ausgewählten Swbs und Schulleitbildern verglichen wird, um so einen ersten Eindruck zu erhalten, wie die jeweiligen Schulen die Kerninhalte Korczaks auf ihren Wbs darstellen. Im zweiten großen Bereich der Analyse werden qualitative Experteninterviews mit den Rektor_innen der Schulen geführt, um näher auf die Inhalte Korczaks und deren Einbindung in das Schulgeschehen einzugehen, sodass am Ende der Forschung anhand der exemplarischen Schulen ein Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten zu Korczaks Pädagogik aufgezeigt werden kann. Dazu werden in den folgenden Kapiteln die zwei Analysemethoden dargestellt und es wird begründet, weshalb sie für diese Forschung genutzt wurden.

5.1 Kriterienanalyse

Im Folgenden wird der selbst erstellte Kriterienkatalog vorgestellt. Er entstand aus der Erarbeitung der pädagogischen Leitlinien Korczaks, die im Kapitel zuvor ausführlicher dargelegt wurden. Daher wird in diesem Kapitel darauf verzichtet, bereits Erwähntes zu wiederholen. Es werden lediglich Querverweise gegeben. Zudem werden die fünf Kriterien gewählt, die aus eigener Sicht am prägnantesten für Korczak sind. Weitere Rechte, die als Kriterien dienen könnten, können dem Kapitel 4.1.5 entnommen werden. Da Korczaks Pädagogik nur schwer in wenige Worte zu fassen ist und nicht einem Leitfaden gefolgt wird, mussten vorab durch Literaturrecherche die Kernpunkte zu Korczak herausgearbeitet werden, um Anhaltspunkte zu seinem Schaffen zu finden. Die daraus entstandenen Kriterien sind nicht als komplett objektiv zu betrachten, da Korczak viel mehr Rechte und Merkmale als die fünf unten aufgeführten Kriterien hatte, jedoch sind es die Kriterien, die ich für meine Studie als am prägnantesten und zudem am besten überprüfbar empfand.

Sollten weitere Punkte Korczaks in der Schule größere Beachtung finden, werden diese unter dem Punkt weitere Rechte Korczaks, aufgeführt. Anhand der nachfolgenden Kriterien werden die Wbs der ausgewählten Korczak-Schulen bewertet. Bewertet wird, inwiefern die genannten Kriterien auftauchen, und vor allem, wie diese umgesetzt werden. Die Kriterien müssen nicht wortwörtlich vorkommen, sondern können auch neu interpretiert und der

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