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Wenn über Janusz Korczak referiert und seine Pädagogik in Worte gefasst werden soll, finden wir häufig die Wortwahl der „Pädagogik der Achtung“ (Beiner, 2020, S. 25). Was sollen wir darunter verstehen? Janusz Korczak war, wie bereits in Kapitel 2 beschrieben, nicht nur Pädagoge und Arzt, sondern auch ein Verfasser von narrativen Texten. Seine Pädagogik basierte nicht auf theoretischem Denken und theoretischen Ansätzen, sondern auf der Praxis. Durch sein Wirken als Arzt und Leiter zweier Waisenhäuser entstand seine praxisbezogene und gelebte Pädagogik. Er verfasste keine Leitfäden, sondern schrieb seine Beobachtungen, welche er in seinen Waisenhäusern und Sommerkolonien machte, anhand von Beispielen nieder. Er war nicht an Wunschdenken gebunden, sondern hatte einen Blick für die Realität. Um jedoch Korczaks Pädagogik und deren Schwerpunkte zu verstehen, müssen als Erstes seine Sichtweise auf sein Umfeld und seine intrinsische Motivation dargestellt werden. Um diese zu verdeutlichen, bediene ich mich zweier Geschichten. In den Jahren 1934 sowie 1936 hielt sich Janusz Korczak mit Stefa Wilczynskas in Palästina im Kibbuz „Ejn Harod“ auf. Im Rahmen seines dreiwöchigen Aufenthalts im Kibbuz führte er mit Mosche Tabenkin ein Gespräch über die Frage „Wer kann Erzieher werden?“ (Korczak et al., 2004, S. 433). Dieses Gespräch zeigt, wie er Kinder und deren Bedürfnisse in Bezug auf Erziehung sah. „Mosche Tabenkin fragte Korczak nach dem Unterschied zwischen der Erziehung von Waisenkindern und Kindern im Kibbuz, welche Eltern haben“ (ebd.). Dieser vertrat die Meinung, dass die Erziehung von Waisenhauskindern doch einfacher sei als jene in einer Familie. Korczak antwortete ihm wie folgt.

„Ich erziehe keine Waisenkinder. Ich erziehe Menschen. Ich kann keinen Vergleich ziehen, ich kann nur allgemein sagen, wer für die Erziehung von Kindern geeignet ist. Wer Kinder nicht liebt, kann sie nicht erziehen. Wer sich mit sich selbst beschäftigt, für den interessieren sich Kinder nicht. Und der, für den sich Kinder nicht interessieren, ist nicht geeignet, sie zu erziehen.“ (Korczak et al., 2004, S. 433)

Im weiteren Verlauf des Gesprächs begann Korczak von einer Familie zu erzählen. Diese bestand aus Vater, Mutter, Großvater und drei Geschwistern. Über den Tag verteilt wurden alle Familienmitglieder traurig. Dies geschah aufgrund von unterschiedlichen Vorkommnissen wie dem Herunterfallen einer Brille, der Scham, mit dem Bus zur Arbeit zu fahren, oder einer Beleidigung. In der Geschichte reagierte die Mutter empört auf das Weinen des Großvaters über sein heruntergefallenes Brillengestell, welches er nicht selber aufheben konnte, da er gelähmt im Rollstuhl saß. „Wegen so einer Kleinigkeit!“ (ebd., S.

434). Denn warum wegen so etwas weinen? Alle Familienmitglieder weinten in dieser Geschichte. Jeder hatte seinen Grund. Die Gründe, welche die einzelnen Personen zum Weinen brachten, wogen für sie schwer. Für die Nichtbetroffenen waren sie jedoch lächerlich. Korczak beendete die Erzählung mit den Worten: „Alle Tränen sind salzig, wer das begreift, kann Kinder erziehen, wer das nicht begreift, dem gelingt es nicht, sie zu erziehen“ (ebd., S. 434f.). In dieser Geschichte von Korczak wird schnell deutlich, dass es für ihn keinen allgemeinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern gab. Alle Tränen sind salzig. Alle Gründe zum Weinen wiegen gleich schwer. Es spielt keine Rolle, wer die Tränen vergießt, ein Erwachsener oder ein Kind. Sie sind beide gleichwertig. Das Kind ist von Beginn an ein vollwertiger Mensch, genauso wie wir (Korczak et al., 1999a, S. 417). Dies ist mit der Pädagogik der Achtung gemeint. Um diese Pädagogik umsetzen zu können, betrachtete Korczak auch die Sicht der Betreuer_innen. Er appellierte an deren Vernunft, die Kinder zu beobachten, nicht zu versuchen, die „Hieroglyphen“ (ebd., S. 13) des Kindes komplett auszuradieren, nein vielmehr einzelne Passagen zu entziffern und mit weiterem Wissen zu füllen (Hebenstreit, 2017, S. 170). Sein Grundsatz der Beobachtungsmethode war es, so wenig Einfluss wie möglich auszuüben (Korczak et al., 2002, S. 95). Unsere Erfahrungen dürfen nicht über die der Kinder gestellt werden, denn diese denken, durch ihre geringe Lebenserfahrung, anders als Erwachsene (Hebenstreit, 2017, S. 172). Wir wissen, dass Trauer wieder vergeht, das Kind jedoch wird denken, „es würde für immer weinen und für immer sehr unglücklich sein“ (Korczak et al., 1999c, S. 128). Wir können Kinder belehren, jedoch gibt es eines, worüber wir sie nicht belehren können, und zwar über ihre Gefühle. Darin sind Kinder laut Korczak ihre eigenen Experten (Hebenstreit, 2017, S. 173). Wenn wir den Blick auf das Hier und Jetzt lenken, so gilt das Recht, Kinder zu schützen. Seit 1989 gilt die UN-Convention on the Rights of the Child (OHCHR, 1989). Lange Zeit davor, bereits 1919, publizierte jedoch Korczak in seinem Werk

„Das Kind in der Familie“, auch bekannt unter dem Titel „Wie man ein Kind liebt“, bereits seine eigenen Grundrechte für die Kinder. Diese werden im Folgenden vorgestellt und erläutert.

Abb. 3: Korczaks Rechte der Kinder; Magna Charta Libertatis.

Quelle: In Anlehnung an Korczak et al., 1999a, S. 45.

4.1.1 Das Recht des Kindes auf den Tod

Das erste Recht nach Korczak mag zunächst erschrecken, jedoch stehen viele Überlegungen und Begründungen hinter seiner sehr direkten Formulierung. Korczak stellte fest, dass Kinder meist der Überfürsorge der Erzieher_innen oder der Eltern ausgesetzt werden. Er empfand dies als nicht richtig, denn ein Kind sollte seine eigenen Erfahrungen machen dürfen – darunter gute wie schlechte. Es sollte zudem Freiheit erleben und seiner Selbstbestimmung nachgehen dürfen (Beiner, 2020, S. 26). Korczak erzählt in „Das Kind der Familie“ von dem einjährigen Jedrek, einem Kind aus einem Dorf, das sich zum größten Teil selbst überlassen ist. Zwar ist die Mutter da, hat aber viel zu tun. Sie beaufsichtigt ihn, ist aber nicht jede Minute an seiner Seite. Dadurch kann er viele Erfahrungen sammeln.

Niemand sagt ihm, dass die Katze kratzt, dass er nicht die Treppe hinuntergehen kann. Er probiert sich aus, stolpert und steht wieder auf. Er erhält Beulen und Narben. Er ist erst ein Jahr alt, aber er lebt das Leben. Korczak berichtet im Vergleich zu Jedrek von einem weiteren Kleinkind, das jedoch namentlich nicht erwähnt wird. Im Gegensatz zu Jedrek wird dieses Kleinkind behütet, ja sogar überbehütet. Wo Jedreks Mutter ihn gewähren lässt und in Kauf nimmt, dass er sich verletzen kann, da nimmt die andere Mutter ihrem Kind die Chance auf Selbstbestimmung und Selbstentfaltung. Wo die eine zu sorglos ist und Jedrek zu wenig beaufsichtigt, da ist die andere Mutter zu ängstlich und beaufsichtigt ihr Kind permanent. Dadurch kann dieses Kind sich nicht entfalten. Es hat nicht die Möglichkeit, eigene Erfahrungen zu sammeln, gute oder schlechte. Dieser Chance wird es durch seine Mutter beraubt. Sie versucht alles Schädliche und Schmerzliche von ihm fernzuhalten.

Jedrek, der Dorfjunge, erkundet von Beginn an seine Welt selbst, ohne weitreichende Aufsicht. Das andere Kind wird in eine Richtung gelenkt – in die Richtung, welche seine Mutter ihm vorgibt. Seine Wünsche und Interessen darf es nicht ausleben. Was ist nun für die Entwicklung des Kindes besser? Keine oder wenig Aufsicht oder ein Zuviel an Aufsicht?

Am Ende der Geschichte resümiert Korczak:

Das Recht des Kindes auf Achtung 1. Das Recht des Kindes

auf den Tod 2. Das Recht des Kindes

auf den heutigen Tag 3. Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist

Aber nein: Ich möchte ein Übermaß an Aufsicht nicht gegen ihr völliges Fehlen austauschen. Ich weise nur darauf hin, dass das einjährige Kind auf dem Dorf schon lebt, während bei uns erst der reife junge Bursche zu leben anfängt. Mein Gott – Wann? (Korczak et al., 1999a, S. 53)

Ein Kind soll von Beginn an anfangen können zu leben. Fürsorge und Aufsicht sind wichtige Bestandteile eines glücklichen Aufwachsens, jedoch kann zu viel davon genau das Gegenteil bewirken. Das Kind hat ein Recht darauf, sein Leben selbst zu bestimmen und seine Erfahrungen zu machen (ebd., S. 49ff.).

Eine sehr ähnliche Meinung vertrat zu früherer Zeit schon der Schriftsteller, Pädagoge und Philosoph Jean-Jacques Rousseau: „Diejenigen, welchen ihre erste Leitung anvertraut ist, sollten doch wissen, dass die kalte Luft ihnen nicht schädlich ist, sondern sie im Gegenteil stärkt, und dass die warme Luft sie schwächt, sie in fieberhaften Zustand versetzt und geradezu tötet“ (Rousseau, 2015, S. 53). Die erziehende Kraft muss sich dessen bewusst sein, dass ihre Ansprüche sowie die des Kindes immer abgewogen werden müssen, um ein gerechtes Miteinander in der Erziehung zu schaffen. So, wie Korczak schon bemerkte:

Es müssen Grenzen zwischen den beiden Parteien gezogen werden (Korczak et al., 1999a, S. 52). Somit strebt Korczak mit diesem Gesetz nach der Freiheit des Kindes. Im Polnischen besitzt das Wort Freiheit zweierlei Bedeutungen. „Swoboda“ (Besitz) und

„Wolnosc“ (Wille). Das Kind besitzt und bestimmt sein Leben. Sein Wille geschehe. Es tut, was es will (Korczak et al., 1999a, S. 47). Korczak äußert seine Kritik daran, dass Kinder meist zu „willenlosen und lebensuntüchtigen“ (ebd., S. 19) Menschen heranwachsen. Dies will er mit diesem Gesetz unterbinden (ebd.). Damit rebelliert er gegen die Bevormundung vonseiten der Erzieher_innen sowie gegen alle Arten von Drohungen zur Manipulierung des Verhaltens von Kindern. Korczak regt an, die Handlungsfähigkeit der Kinder zu fördern, damit diese selbstständig positive sowie negative Erfahrungen machen können (Beiner, 2020, S. 28). „Die Forderung nach Selbstbestimmung des Kindes, nach Zubilligung eines angemessenen Spielraumes für Erfahrungen am eigenen Leibe – zugespitzt zu einem Recht auf Tod“ – bedeutet jedoch nicht die Ablehnung jeder erzieherischen Fürsorge (ebd., S. 22). Eine weitere interpretative Dimension von Korczaks erstem Recht ist unmittelbar mit seinem Ableben im Konzentrationslager Treblinka verbunden. Er behielt bis zu seinem Tod seinen Stolz und entschied selbst, wann sein Leben zu Ende ging.

4.1.2 Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag

Das zweite Gesetz Korczaks, das Recht auf den heutigen Tag, bezieht sich, wie man aus dem Titel entnehmen kann, auf die Zeitfrage in der Erziehung. Bilden wir das Kind aus,

damit es zukünftig ein normales Leben bestreiten kann? Oder bilden wir das Kind aus, damit es gegenwärtig alles Nötige für seinen Weg erhält? Das sind vermutlich Fragen, über die Korczak philosophierte, denn seine Sichtweise zu diesem Thema ist nicht einheitlich (Beiner, 2020, S. 28). Wenn wir das Ziel der Erziehung betrachten und dieses einer Zeit zuordnen müssten, wäre vermutlich die Zukunft die Antwort. Wir neigen dazu, die Kinder so zu erziehen, dass sie auf ihr späteres Arbeitsleben und ihr Erwachsendasein vorbereitet sind. Fehler, fragwürdige Verhaltensweisen sowie Handlungen gegen die Norm werden aberzogen, um so den Schützling bestmöglich auf die Zukunft vorzubereiten. Wir scheinen uns im Klaren darüber zu sein, welche Verhaltensweisen einen weitbringen und welche essenziell für unsere Schützlinge sind (ebd., S. 29). Korczak war nicht der erste Philosoph sowie Pädagoge, der sich mit diesem Thema auseinandersetze. Schon Rousseau griff in seinem Werk „Emil oder über die Erziehung“ dieses Thema auf. Darin beschreibt er die zukunftsorientierte Erziehung als eine Art Fesseln, die das Kind unglücklich stimmen und es nur auf etwas in der Zukunft vorbereiten, das es vielleicht niemals erreichen wird (Rousseau, 2015, S. 55). Somit rückte Rousseau erstmals die Zukunft des Kindes in den Hintergrund und schrieb der Gegenwart einen maßgebenden Wert zu. Korczak teilte mit Rousseau einerseits die dargestellte Sichtweise, dass die Zukunft im Hintergrund stehe, jedoch waren Korczaks Gedanken weitestgehend andere. Das Kind hat das Recht auf den heutigen Tag und der Erziehende ist für diesen auch verantwortlich. „Ich bin verantwortlich für den heutigen Tag meines Zöglings, es ist mir recht gegeben, sein zukünftiges Schicksal zu beeinflussen und mich da einzumischen“ (Korczak et al., 2004, S. 250). Er sieht diese Zeit der Entwicklung eines Lebens als eine wichtige an. Das Kind hat das Recht, genauso in dieser Zeitspanne ernst genommen zu werden wie als Erwachsener Teil der Arbeitsgesellschaft. „Lasst uns Achtung haben vor der gegenwärtigen Stunde, dem heutigen Tag. […] Es gibt kein unreifes Heute, keine Hierarche des Alters, keinerlei höheren oder niedrigeren Rang des Schmerzes und der Freude, der Hoffnungen und Enttäuschungen (Korczak et al., 1999a, S. 404f.). Korczak möchte mit diesen Worten dafür sensibilisieren, dass Kinder auf Augenhöhe betrachtet werden sollen. Das Kind ist bereits ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft und muss nicht erst eines werden (ebd., S. 49).

So wichtig wie unsere eigenen Bedürfnisse am Tage sind, so wichtig sind die Bedürfnisse des Kindes. Das kurze Spielen mit dem Hund, das Grüßen von anderen Kindern oder einfach malen – all das ist kein „unreifes Heute“ (ebd., S. 404), sondern etwas Wichtiges im Hier und Jetzt (ebd., S. 404f.).

4.1.3 Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist

„Wir haben den Wunsch, dass die Kinder besser werden, als wir es sind. Wir träumen vom perfekten Menschen der Zukunft“ (Korczak et al., 1999a, S. 406). Korczak stellte diese Forderung durch sein drittes Gesetz. Dadurch soll die Individualität eines jeden Kindes geachtet und unterstützt werden. Wir wollen doch auch nicht aus einer „jungen Eiche eine poetische Birke“ (Korczak et al., 2004, S. 26) machen. Es ist das gute Recht des Kindes, dass seinem Kummer und seinen Ängsten Gehör geschenkt wird, obgleich sie als ‚dumm‘

oder als Lappalie empfunden werden (Korczak et al., 1999a, S. 167). Korczak ist an dieser Stelle bewusst, dass das Verhalten der Allgemeinheit nicht diesen Anforderungen entspricht und wir eher dazu neigen, ein Kind zu verdächtigen, ihm zu misstrauen, es zu tadeln, zu bestraften etc. (ebd., S. 394). Korczak beschreibt schon vor seinen Kinderrechten, dass die Wesenszüge eines Kindes nicht gleichzusetzen sind mit Missetaten. Nur weil das Kind klaut, sieht Korczak nicht unbedingt einen Dieb; er sieht die Tat (Korczak et al., 1996, S. 366). Er achtet das Leid, die Sorgen, die Bedürfnisse oder gar Wünsche. Er achtet die Meinungsfreiheit der Kinder und ihre Handlungstätigkeit, egal ob er diese sofort nachvollziehen kann. Denn das Kind wird seinen Grund haben, egal ob es diesen uns mitteilen möchte oder nicht. Ungeachtet dessen hat das Kind es verdient, geachtet zu werden um seiner selbst willen. Es darf einfach nur ein Kind sein und muss nicht unseren gedanklichen Traumvorstellungen entsprechen (Beiner, 2020, S. 36f.).

„Erlaube den Kindern Fehler zu machen und frohen Mutes nach Besserung zu streben. […]

Erzieher, wenn für dich das Leben ein Friedhof ist, so erlaube wenigstens ihnen, das Leben für eine Wiese zu halten.“ (Korczak et al., 1999a, S. 187) Auch negative Verhaltensweisen gehören zur Entwicklung und Entfaltung der eigenen Individualität. Korczak selbst befürwortet schädigendes Verhalten nicht, jedoch appelliert er an die Erzieher_innen, die Kinder selbst nach Besserem streben und daraus ihre Lektionen ziehen zu lassen (Beiner, 2020, S. 37).

4.1.4 Das Recht des Kindes auf Achtung

„Die Wärme des mütterlichen Herzens — ist heute nur noch eine Phrase. Ich fordere eine durchdachte, konkrete wissenschaftliche Definition“ (Korczak et al., 1997, S. 24). Mit diesem Zitat beendet Korczak eine Erzählung in einem seiner Werke, „Der Frühling und das Kind“. Die Geschichte handelt von einer Familiensituation, welche er an einem Bahnhof mitansieht. Er beobachtet drei Frauen und ein Kind, wie sie dabei sind, in einen Zug einzusteigen. Das Kind bewegt sich von der Gruppe weg, da es anscheinend zu seiner Tante gehen will. Die Mutter entgegnet darauf, dass das Kind nichts zu wollen habe und

gibt ihm eine Ohrfeige. Die Konversation der Gruppe wird fortgeführt und dem Geschehen wird keine Beachtung geschenkt. Korczak fragt sich nun beim Beobachten des Hergangs der Geschichte, was wohl geschehen würde, wenn ein erwachsener Mensch, welcher schon vieles im Leben erlebt hat und zudem empfindlich veranlagt ist, eine Ohrfeige im Gemenge erhielte – wie dieser Mensch sich wohl aufregen würde. Korczak findet weitere Antworten darauf: „Das Geheimnis liegt darin, dass man sich erst durch einen ganzen Müllhaufen von Unrecht und Ohrfeigen hindurchwühlen muss, um die menschlichen Gefühle eines erst zehnjährigen Menschen zu ertasten“ (ebd.). An dieser Stelle mag es nun verwundern, warum Korczak nicht auf seine Magna Charta Libertatis eingeht, die er drei Jahre zuvor an die Öffentlichkeit trug. Diese besagt, dass das Kind einen Anspruch auf die Rechte der großen Freiheitsurkunde der Menschheit hat. Doch wie oben erwähnt, fordert er etwas anderes. Ihm reichen seine formulierten Rechte nicht mehr, denn sie scheinen in seinen Augen die Kinder nicht genug zu schützen. Wie wird nun so eine Definition verfasst?

Korczak konnte darauf erst einige Jahre danach eine Antwort präsentieren (ebd.). Seine Antwort findet sich in einem seiner bekanntesten Werke, dem Buch „Das Recht des Kindes auf Achtung“, welches 1929 erschien (Korczak et al., 1999a, 385ff.). Ein Jahr zuvor erhielten die Kinderrechte in Polen ihren wohl höchsten Bekanntheitsgrad, es wurde vermehrt Aufmerksamkeit auf obdachlose, ärmliche, hungernde, frierende etc. Kinder gelegt, was Korczak wohl als Inspiration diente, um sein Werk zu verfassen (Beiner, 2020, S. 139f.). Dieses Werk beginnt mit der Überschrift „Missachtung – Misstrauen; Von früher Kindheit an wachsen wir mit dem Bewusstsein auf, dass das, was größer ist – wichtiger ist als das Kleine“ (Korczak et al., 1999a, S. 387). Im Nachfolgenden veranschaulicht Korczak eindrücklich durch mehre Beispiele, was er damit meint. In unserem Leben zählt die Meinung des Größeren und dementsprechend des Stärkeren mehr als die der Kleinen. Er möchte dies ändern. Er möchte nicht, dass wir unsere Macht und Stärke gegenüber den Kleinen missbrauchen und dadurch die Mühen und Anstrengungen des Gegenübers zunichtemachen. Wir können ein Kind herumwirbeln, es aufhalten oder gegen seinen Willen handeln, irgendwann wird es resignieren, da es weiß, dass es mit seiner noch geringen Stärke nicht gegen uns ankommen kann. Kinder schlagen Erwachsene? Ein eher untypisches Bild. Jedoch wirkt die Ohrfeige oder der Klaps eines Erwachsenen gegenüber einem Kind vertrauter, denn seit wann darf sich ein Kind gegenüber seinen Erzieher_innen wehren? (ebd., S. 387f.). Bis heute wurden dem Kind nicht dieselben Rechte wie Erwachsenen zugeschrieben. Mit der neuen Erkenntnis und der Forderung Korczaks nach einer klaren wissenschaftlichen Definition für das Problem wurde jedoch keine Definition formuliert, sondern durch sein Bestreben eine Rechtsnorm ins Leben gerufen: das Recht des Kindes auf Achtung (Beiner, 2020, S. 41). Denn Kinder sind, wie Korczak in seinen zahlreichen Texten darlegen wollte, nicht nur Kinder, sondern sie sind „Dichter und

Philosophen“ (Korczak et al., 2000, S. 362), Sie fühlen mit, sind zornig und lieben (ebd.).

Sie sind keine ‚Puppen‘, sondern Menschen, in denen „Keime aller Gedanken und Gefühle“

(Korczak et al., 2004, S. 50) sich entwickeln (ebd.). Sie erfragen, freuen sich, vertrauen und glauben, denn ihre Gedanken umfassen alles (Korczak et al., 1999a, S. 12). „Es gibt keine Kinder – es gibt nur Menschen; aber Kinder haben eine andere Begriffsskala, einen anderen Erfahrungsschatz, andere Impulse, eine andere Gefühlswelt.“ (ebd., S. 147f.)

4.1.5 Weiterführende Rechte des Kindes

Korczaks Hauptkinderrechte wurden im vorigen Kapitel ausführlich besprochen und dargelegt. Wenn wir nach Korczaks Schriften recherchieren, finden wir meist auf Anhieb nur diese vier Rechte. Jedoch bedeutet dies nicht, dass diese die einzigen Rechte waren, die Korczak versuchte an die Öffentlichkeit zu tragen. Weshalb finden wir aber nicht weitere Rechte? Er schrieb diese nicht systematisch nieder oder druckte sie ab, damit sie schnell aufgefunden werden können (s. 4.4). Seine weiteren Rechte können in all seinen Büchern, vor allem in seinem Werk „Das Recht des Kindes auf Achtung“ gefunden werden. Korczak schrieb oft davon, wie die Welt aussieht und dass sie so, wie sie ist, nicht richtig ist. Er zeigte Beispiele, wie die Sicht auf das Kind ist und weshalb dies nicht der richtige Weg ist.

Im Folgenden habe ich einige Rechte Korczaks formuliert, die in seinen Geschichten nicht als solche betitelt werden, jedoch als Rechte formuliert werden könnten. Es ist nur eine Auswahl an Rechten, weitere können weiterführender Literatur entnommen werden.

➢ Das Kind hat das Recht auf seine eigene Gefühlswelt. „Die kindlichen Zweifel und Einwände erscheinen uns nicht seriös.“ (Korczak et al., 1999a, S. 389).

➢ Das Recht des Kindes, nicht alles zu wissen. „Lasst uns Achtung haben vor seiner

➢ Das Recht des Kindes, nicht alles zu wissen. „Lasst uns Achtung haben vor seiner