Entwicklung und Wandel des Handwerks in Bayern in den vergangenen 100 Jahren
Tag des Handwerks
Nürnberg, 5. Juli 2018
Prof. Dr.
Ulrich Walwei
Gliederung
Alleinstellungsmerkmale des Handwerks
Historische Entwicklung und Langfristtrends
Aktuelle Situation und Herausforderungen
Was bedeutet „Handwerk“?
„Selbständige gewerbliche Tätigkeit, die mit der Person ihres Trägers unlösbar verbunden ist und bei der auf Grundlage individueller, erlernter Handfertigkeit und umfassender Werkstoffbeherrschung produziert wird oder Dienstleistungen angeboten werden.“
Karl-Heinrich Kaufhold 1978 (Wirtschaftshistoriker und Sohn eines Hildesheimer Kunstschmiedes)
Was zeichnet das Handwerk aus?
Berufsstand mit traditionell starker Regulierung
Erheblicher Anteil an volkswirtschaftlicher Leistung
Wichtiger Beitrag zur Humankapitalbildung („Saatbeetfunktion“)
Wirtschaftsbereich mit vielen verschiedenen Produkten
Branche definiert sich im Wesentlichen über Tätigkeitsbereiche
Auf Absatz- und Arbeitsmärkten weitgehend regional orientiert
Kontextfaktoren der Entwicklung des Handwerks
Technischer Fortschritt Konjunktur
Demografischer Wandel Rechtlicher Rahmen Wichtige Determinanten
der Entwicklung
Geschichte des Handwerks bis 1945
Anfang des 19. Jahrhunderts verstärkte Kritik an Zunftzwang
Einführung der Gewerbefreiheit in 1868: durch Industrialisierung Angst vor Niedergang und Abstieg in den Arbeiterstand
Anfang des 20. Jahrtausends setzte Strukturwandel ein
‐ Kleinstbetriebe wurden teilweise verdrängt; andere Handwerksmeister wurden zu Fabrikherrn;
‐ Nicht mehr nur Produktion, sondern vermehrt Dienstleistung/Reparatur
Erster Weltkrieg setzte dem Handwerk schwer zu: Arbeitskräfte gingen verloren; Knappheit bei Lebensmitteln und Rohstoffen
In der Weimarer Republik kämpften viele Handwerksbetriebe ums wirtschaftliche Überleben und forderten effektiveren Schutz
‐ 1935 wurde großer Befähigungsnachweis (wieder) eingeführt
Geschichte des Handwerks nach 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst fast schrankenlose Gewerbefreiheit; Kammermitgliedschaft vorerst freiwillig
Handwerk litt anfangs unter Fachkräfte- und Materialmangel
1953: Handwerksordnung mit Meisterpflicht. Begründungen:
‐ Gefahrengeneigtheit, Verbraucherschutz und Berufsausbildung
Bayerisches Handwerk war bis in die 1960er Jahre noch stark durch Nebenerwerb geprägt (häufig mit Landwirtschaft)
Wachstumsbranchen im „Wirtschaftswunder“ waren vor allem die dem Bau anhängigen Gewerke und das Kfz.-Handwerk
2004: Deregulierung der Handwerksordnung mit Gewerbefreiheit für 53 der 94 Handwerksberufe
Langfristtrends – Handwerksunternehmen
Zahl der Handwerksunternehmen im alten Bundesgebiet seit 1949
861219
750930
659138
614864
494543 482737
528669 534800
0 100000 200000 300000 400000 500000 600000 700000 800000 900000 1000000
1949 1956 1963 1968 1977 1995 2008 2012
Anmerkung: 1949 und 1956 ohne Saarland, 1949 ohne Berlin (West), 2008, 12 ohne Berlin
Jüngere Entwicklung der Handwerksunternehmen
Wachstumsraten in Deutschland und Bayern von 2008 - 2015 (Index)
100,0
99,3
99,8
100,5
101,1
100,1
102,0
100,3
99,8
100,2
99,4
102,0
101,4
103,2
101,0
97 98 99 100 101 102 103 104
2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
Deutschland Bayern
Langfristtrends – Beschäftigung im Handwerk
Zahl der im Handwerk Tätigen (altes Bundesgebiet) seit 1949
3052961
3623560
3972899 4088260
3906532
5124796
4041201
4193218
0 1000000 2000000 3000000 4000000 5000000 6000000
1948/49 1955 1962 1967 1976 1994 2008 2012
Anmerkung: 1949 und 1956 ohne Saarland, 1949 ohne Berlin (West), 2008, 12 ohne Berlin
Anteil und Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung im Handwerk nach Bundesländern, 2015
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (SVB)
Anteil des Handwerks an der Gesamtwirtschaft (Flächen) sowie Veränderung der Zahl der SVB
zwischen 2009 und 2015 (Säulen)
Quelle: IAB-Forum 2018,
Sozialversicherungspflichtige Beschäftigte im Handwerk nach Gewerbegruppen, 2015
Auflistung der größten Gewerbezweige; Anteile in % in Klammern: 2009
24,7
27,9 3,9
15,4 11,6
6,0
10,4
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Handwerk nach Gewerbegruppen mit ausgewählten Gewerbezweigen 2015, Deutschland
(Anteile in %; in Klammern 2009)
Handwerke für den gewerblichen Bedarf
Ausbaugewerbe
Gesundheitsgewerbe
Bauhauptgewerbe
Kraftfahrzeuggewerbe
Handwerke für den privaten Bedarf
Lebensmittelgewerbe
(15,1) (27,3)
(23,4) (11,4)
(6,9)
(12,3)
(3,6)
Elektrotechniker; Installateure und Heizungsbauer; Maler und Lackierer; Tischler; Fliesen-, Platten- und Mosaikleger Gebäudereiniger; Feinwerkmechaniker; Metallbauer; Landmaschi- nenmechaniker; ferner: Informationstechniker; Kälteanlagenbauer
Zahntechniker; Augenoptiker; Orthopädietechniker;
ferner: Hörgeräteakustiker
Maurer und Betonbauer; Straßenbauer; Dachdecker;
Zimmerer; ferner: Gerüstbauer
Kraftfahrzeugtechniker; ferner: Karosserie- und Fahrzeugbauer
Friseure; ferner: Steinmetze und Steinbildhauer; Schornsteinfeger
Bäcker; Fleischer; ferner: Konditoren
Quelle: Handwerkszählung (Statistisches Bundesamt); eigene Berechnung und Darstellung.
Langfristtrends – Ausbildung im Handwerk
Zahl der Auszubildenden in Deutschland(West) seit 1949 und Bayern seit 2005
526.128
446.624
702.786
454.755
448.108
377.104
389.373 383082
357783
334961
317451 316140
88.413 88.474 85.497 78.527 73.682 70.678 71.234
0 100.000 200.000 300.000 400.000 500.000 600.000 700.000 800.000
1949 1960 1980 1998* 2000 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017
Deutschland (West) Bayern
*Anmerkung: ab 1998 ohne Berlin (West)
Berlin Sachsen-
Anhalt
Rheinland-Pfalz
Thüringen Hessen
Saarland
Niedersachsen
Bayern Nordrhein-Westfalen
Brandenburg Hamburg
Bremen
Baden-Württemberg
Sachsen Schleswig-Holstein
Mecklenburg- Vorpommern
24,2 25,6
30,3
25,8 25,2
29,4
30,9
29,2 26,0
26,2 19,0
20,7
25,1
27,2 32,9
26,5
Text
-26,1
-40,8
-16,3
-37,5 -13,2
-21,4
-7,6
-10,3 -12,2
-40,5 -10,7
-12,4
-10,3
-33,3 -12,3
-44,1
-33,6
-47,3
-22,6
-40,4 -16,5
-27,5
-13,1
-18,1 -20,2
-38,7
-16,9
-26,5 -15,3
-42,0
-11,6 -13,8
Anteile in Prozent
19,0 - 24,7 24,8 - 26,4 26,5 - 28,1 28,2 - 29,9
Anteil und Entwicklung der betrieblichen Auszubildenden im Handwerk nach Bundesländern im Jahr 2016
Quelle: IAB-Forum 2018
Datensystem Auszubildende (DAZUBI, Bundesinstitut für Berufsbildung);
Erstelldatum: 14.03.2018, IAB Regional, Zusammenfassung unter Eigenschaften des Kartendokuments
Berlin Sachsen-
Anhalt
Rheinland-Pfalz
Thüringen Hessen
Saarland
Niedersachsen
Bayern Nordrhein-Westfalen
Brandenburg Hamburg
Bremen
Baden-Württemberg
Sachsen Schleswig-Holstein
Mecklenburg- Vorpommern
24,2 25,6
30,3
25,8 25,2
29,4
30,9
29,2 26,0
26,2 19,0
20,7
25,1
27,2 32,9
26,5
Text
-26,1
-40,8
-16,3
-37,5 -13,2
-21,4
-7,6
-10,3 -12,2
-40,5 -10,7
-12,4
-10,3
-33,3 -12,3
-44,1
-33,6
-47,3
-22,6
-40,4 -16,5
-27,5
-13,1
-18,1 -20,2
-38,7
-16,9
-26,5 -15,3
-42,0
© IAB, GeoBasis-DE / BKG 2015,Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2016 -11,6
-13,8
Anteile in Prozent
Veränderungen in Prozent
19,0 - 24,7 24,8 - 26,4 26,5 - 28,1 28,2 - 29,9 30,0 - 40,0
Alle Auszubildenden im Handwerk Alle Auszubildenden
Erstelldatum: 14.03.2018, IAB Regional, Zusammenfassung unter Eigenschaften des Kartendokuments
Berlin Sachsen-
Anhalt
Rheinland-Pfalz
Thüringen Hessen
Saarland
Niedersachsen
Bayern Nordrhein-Westfalen
Brandenburg Hamburg
Bremen
Baden-Württemberg
Sachsen Schleswig-Holstein
Mecklenburg- Vorpommern
24,2 25,6
30,3
25,8 25,2
29,4
30,9
29,2 26,0
26,2 19,0
20,7
25,1
27,2 32,9
26,5
Text
-26,1
-40,8
-16,3
-37,5 -13,2
-21,4
-7,6
-10,3 -12,2
-40,5 -10,7
-12,4
-10,3
-33,3 -12,3
-44,1
-33,6
-47,3
-22,6
-40,4 -16,5
-27,5
-13,1
-18,1 -20,2
-38,7
-16,9
-26,5 -15,3
-42,0
© IAB, GeoBasis-DE / BKG 2015,Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2016 -11,6
-13,8
Anteile in Prozent
Veränderungen in Prozent
19,0 - 24,7 24,8 - 26,4 26,5 - 28,1 28,2 - 29,9 30,0 - 40,0
Alle Auszubildenden im Handwerk Alle Auszubildenden
Karte 2
Betriebliche Auszubildende Anteil des Handwerks an der Gesamtwirtschaft (Flächen) sowie Veränderung der Zahl der Azubi zwischen 2009 und
2016 (Säulen)
Aktuelle Situation
Bei Betriebsgrößenentwicklung im Handwerk haben Ränder vom Strukturwandel besonders profitiert
‐ Kleinst- und Ein-Personen-Unternehmen legten mit Reform der Handwerksordnung und den Arbeitsmarktreformen zu
‐ Auch handwerkliche Großbetriebe nehmen größere Rolle ein
Handwerk erweist sich durch Anpassung an Bedürfnisse des Marktes bis zum aktuellen Rand als flexibel
‐ als Zulieferer/Dienstleister für Industrie und durch Reparaturgeschäft
Zuletzt hohe Zuwachsraten
‐ in bestimmten Tertiarisierungsbereichen (z. B. Gesundheitssektor)
‐ und im Bereich der grünen Technologien
Herausforderungen und Zukunftsperspektiven
Herausforderungen
‐ begrenzte Märkte im Gegensatz zu wissensbasierter Ökonomie
‐ historische Muster intersektoraler Arbeitskräftewanderungen wird durch wissensbasierte Ökonomie in Frage gestellt
‐ Digitalisierung sorgt für neuerlichen Strukturwandel
‐ Mode- und Trendberufe liegen außerhalb des Handwerks
‐ Demografische Entwicklung verändert Arbeitsmarktposition;
Schwierigkeiten bei Rekrutierung)
Chancen durch
‐ Umwelt/Klimawandel
‐ Alterung
‐ Wachsende Präferenz für lokale, wertige Arbeit
Fazit
Handwerk bleibt in der absehbaren Zukunft ein außerordentlich wichtiger Faktor für die Volkswirtschaft insgesamt
Übergänge zur Industrie und zum Handel sind weiterhin fließend
Nachwuchsrekrutierung und Fachkräftebindung werden immer wichtiger, gerade auch im Kontext von Nachfolgeprozessen
Zauberworte für eine erfolgreiche Zukunft lauten weiterhin Qualität und Flexibilität
Back-up
Jüngere Entwicklung der Beschäftigung im Handwerk
Wachstumsraten tätiger Personen in Deutschland/Bayern 2008 - 2015
100,0
99,8
101,3
102,7
103,3
102,7
104,3
104,0 106,1
107,3
108,9
110,7
108,5
112,1
111,8
92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114
2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
Deutschland Bayern
Eckdaten des Handwerks im Bund und in Bayern (2016)
Bund Bayern
Handwerksbetriebe 999,3 Tsd. 203,1 Tsd. (20,3%) Betriebsbesatz
(je 1000 Einwohner 2015) 12,2 15,7 (zweithöchster Wert) Zulassungspflichtige
Betriebe 579,2 Tsd. 113,3 Tsd. (19,6%)
Umsatz 561 Mrd. € 105 Mrd. € (18,7%)
Tätige 5,451 Mio. 921 Tsd. (16,9%)
Auszubildende
(je 100 Tätige) 316,4 Tsd. (5,8) 71,2 (7,7)