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"Den Herrscher Duzen …" : Oder: Geschichten vom Ursprung der Herrschaft

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"DEN HERRSCHER DUZEN

"

Oder: Geschichten vom Ursprung der Herrschaft

GABRIELA SIGNORI

Das Schnabeltiet; das Schnabeltier

voll~!eht den S chn# vom Ich ~tm Wir.

Es spricht nicht mehr tttlr noch von sich, es st~gt nicht mehr: "Dies Bier Jvi/1 ich!"

Es sagt: "Dies Bier, das JJJol/en 1vir!

IPir JVOI!en es, das Schnabeltier!"

Robert Gemhardt (1931-2006)

Mit Hans Blumenberg (1920-1996), Ernst Cassirer (1874-1945), Mircea Eliade (1907-1986) und vielen anderen pflegten die Geisteswissenschaften längere Zeit, die Welt in zwei "Sphären" zu teilen, zwei Sphären, zwischen denen es so gut wie keine Berührungspunkte zu geben scheint: Die eine Hälfte der Welt, dachte man, denke über ihr Sein in Gestalt von Mythen nach, die andere reflektiere ihr Werden in Form von Geschichte. Geschichte bedeute Zivilisation, der Mythos hingegen sei das Denk- und Ausdrucksmittel "primitiver" bzw. "archaischer" Kulturen. Unter Mythos verstand man Erzählungen von der Schöpfung der Welt oder der Entste- hung der Menschheit, Geschichten mit einem Anfang aber ohne Ende in einem zeitlosen Raum.

Der Ethnologe Claude Uvi-Strauss (1908-2009), einer der Väter des französi- schen Strukturalismus, fand die Wertung, die das Zweikulturenmodell impliziert,

"unglücklich", nicht aber das Modell an sich. In seinem 1962 erschienen "Wilden Denken", im Kapitel, das den verheißungsvollen Namen "Die wiedergefundene Zeit" trägt, schlägt er vor, an Stelle von Gesellschaften mit und solchen ohne Ge- schichte, zwischen "warmen" und "kalten" Gesellschaften zu unterscheiden.1 In den warmen Gesellschaften, wie den abendländischen, sei Geschichte an die Stelle des Mythos getreten, habe Geschichte die Mythologie sozusagen abgelöst.

Geschichte ist für Claude Levi-Strauss Auseinandersetzung mit der Differenz zwischen gestern, heute und morgen. Sie fungiere zugleich als Motor der gesell- schaftlichen Entwicklung. Überdies handle es sich dabei um ein offenes Denksys- tem, während die Mythologie statisch und in sich geschlossen sei. Claude Levi- Strauß versteht Mytl1os und Geschichte demnach als zwei verschiedene Denk-

Claude LEVI-STRAUSS, Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1968, S. 251-281. Vgl. Christopher ]OHNSON, Claude Levi-Strauss. The Formative Years, Cambriclge 2003, S. 104-47.

Ersch. in: Abwesenheit beobachten : zu Kommunikation auf Distanz in der frühen Neuzeit / Mark Hengerer (ed.). - Berlin [u.a.] : LIT, 2013. - S. 29-40. - (Vita curialis ; 4). - ISBN 978-3-643-90386-0

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-253509

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systeme, die er zwar in eine zeitliche Abfolge stellt, aber radikal jeder Geschicht- lichkeit entkleidet. Er verkehrt, würden wir heute sagen, Struktur in Essenz.

Seit den frühen 80er Jahren begegneten die Gesellschaftswissenschaften diesen und ähnlichen Dichotomien z.unehmend skeptisch.2 Eingefordert wurde unter anderem, die zahlreichen Mischformen zu berücksichtigen, die sich zwischen den beiden Polen ansiedeln.3 Andere, darunter der Münsteraner Mediävist Gerd Alt- hoff, gingen in den 90er Jahren sogar soweit und postulierten, Mythos und Ge- schichte bzw. Geschichtsschreibung seien dasselbe.4

Eine dieser Mischformen sind Mythen in historischer Gestalt. Die Forschung spricht von fundierenden Mythen. Zu diesen Mythen zählen unter anderem die trojanischen Ur-bzw. Spitzenahnen adliger Geschlechter oder politischer Gemein- schaften;5 dazu zählen aber auch die "Geschichten", die um die Entstehung bzw.

Erfindung der Pluralanrede kreisen, mit denen ich mich folgenden eingehender beschäftigen möchte. Für das mittelalterliche Geschichtsverständnis sind diese Mythen ungleich wichtiger als die Differenzerfahrung von Vergangenem, die ge- häuft erst gegen Ende des Mittelalters und vorzugsweise bei Chronisten, also den Experten der Vergangenheit, in Erscheinung tritt.6 Der Mythos in ätiologischer

2 Johannes FABlAN, Time and the Other. How Anthropology Make Its Objects, New York 1983;

Marshall SAHLINS, Inseln der Geschichte, Hamburg 1992 [engl. 1985]; Bernard S. COHN, An Anthropologist Among the Historians and Other Essays, Dellu 1987; Niebolas THOMAS, Out of Time. History and Evolution in Anthropological Discourse (Cambridge Studies in Social Anth- ropology 67), Cambridge 1989 (Ann Arbor 21996); Don KALB / Herman TAK (Hg.), Critical Junctions. Anthropology and History beyond the Cultural Turn, New York/Oxford 2005.

3 Vgl. u.a. Fritz GRAr (Hg.), Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Rom (Colloqui- um Rauricum 3), Stuttgart/Leipzig 1993; Christoph JAMME, Geschichten und Geschichte. My- d1os in myd1enloser Gesellschaft Qenaer philosophische Vorträge und Studien 22), Erlan- gen/Jena 1997; J an ASSMANN: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 22000; Udo FIUEDIUCH / Bruno QUAST (Hg.), Prä- senz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit (Trends in Medieval Philology 2), Berlin/New York 2004.

4 Gerd ALTHOrr, Formen und Funktionen von Myd1en im Mittelalter, in: Helmut BERDING (Hg.):

Mythos und Nation, Frankfurt am Main 1996, S. 11-33.

5 Frantisek GRAUS, Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter, in: Willi ERZGRÄBER (Hg.), Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter, Sigmaringen 1989, S. 25-43; Gert MELVlLLE, Troja. Die integrative Wiege europäischer Mächte im ausgehenden Mittelalter, in:

Ferdinand SmBT / Winfried EBERHARD (Hg.), Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit.

Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit, Stuttgart 1987, S. 415-433; Elisabeth LlE- NERT, Ritterschaft und Minne, Ursprungsmythos und Bildungszitat Anspielungen in nicht- trojanischen Dichtungen des 12. bis 14. Jahrhunderts, in: Horst BRUNN ER (Hg.), Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters. Materialien und Untersuchungen (Wissensliteratur im Mittelal- ter 3), Wiesbaden 1990, S. 199-243; Hans Hubert ANTON, Troja-Herkunft, origo gentis und die frühe Verfasstheit der Franken in der gallisch-fränkischen Tradition des 5. bis 8. Jahrhunderts, in:

Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 108 (2000), S. 1-30.

6 Vgl. unter anderem Antonia GRANSDEN, Antiquarian Studies in Fifteenth-Century England, in:

The Antiquaries Journal 60 (1980), S. 75-97; I<Jaus GRAF, Retrospektive Tendenzen in der bil- denden Kunst vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Kritische Überlegungen aus der Perspektive des

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Gestalt ist Teil einer "lebendigen Vergangenheit", die ohne scharfe Grenzen in die Gegenwart hineinwirkt und trotzdem fest in einer, wenngleich imaginären Chrono- logie verankert ist. 7

In der Praxis beginnt die Geschichte der Pluralanrede, folgen wir jüngeren ge- schichtswissenschaftlichen Abhandlungen, mit den rhetorisch wenig versierten christlichen Schreibern der spätantiken Welt. 8 Im Folgenden soll es aber nicht um die soziale Praxis gehen, das habe ich an anderer Stelle schon getan9, sondern um die Vorstellungen, die mittelalterliche Gesellschaften mit der Praxis in Verbindung brachten. Über den Ursprung der Pluralanrede begannen sich die Gelehrten erst- mals im ausgehenden 11. Jahrhundert, als Kaiser und Papst im Investiturstreit aufeinander stießen, Gedanken zu machen. Der Kontext steht für eine gesteigerte Sensibilität, politischen Symbolen und Ritualen, auch Sprachritualen gegenüber.

Text und Kontext aber stehen in einem ambivalenten Verhältnis, denn dieser Gründungsmythos entbehrt einer klar definierbaren gesellschaftlichen Funktion. 10 Er scheint, wie bei Claude Levi-Strauss, vielmehr auf andere Mythen zu verweisen.

Gemeint ist in diesem Fall der Mythos von der Entstehung der Herrschaft.

Herrschaft ist im christlichen Verständnis eine unmittelbare Folge des Sünden- falls." Begriffen wird die Geschichte der Herrschaft als eine Abfolge exemplari- scher Figuren, in denen sich verschiedene Herrschaftskonzepte verdichten. So beginnt die christliche Geschichte der Herrschaft mit Ninus, dem Erbauer von

Historikers, in: Andrea LöTHER u.a. (Hg.), Mundus in imagine. Festschrift für Klaus Schreiner zum 65. Geburtstag, München 1996, S. 389-421.

7 Frantisek GRAUS, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und Vorstellung vom Mittelalter, Köln 1975; Klaus GRAF, Exemplarische Geschichten. Themas Lirers "Schwäbische Chronik" und die "Gmünder Kaiserchronik", München 1987.

8 Emile 0-IATELAlN, Du pluriel de respect en Latin, in: Revue de philologie 4 (1880), S. 129-139;

Johan SVENNUNG, Anredeformen. Vergleichende Forschungen zur indirekten Anrede in der drit- ten Person und zum Nominativ für den Vokativ, Uppsala 1958, S. 373-393; Henrik ZlL.Lli\CUS, Anredeformen, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 7 (1964), S. 167-182.

9 Gabriela SIGNORI, Sprachspiele. Anredekonflikte im Spannungsfeld von Rang und Wert, in:

Zeitschrift für Historische Forschung 32 (2005), S. 1-15, sowie Gustav EHR.JSMJ\NN, Duzen und Ihrzen im Mittelalter, in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 1 (1901), S. 117-149.

10 Gerhild S. WlLLlAMS glaubt in der Geschichte, so wie sie im 15. Jahrhundert dann Ulrich Füetrer erzählt, ein Zeichen "der zunehmenden Höfisierung des Adels und damit der subtilen Distanz- schaffung und Reglementierung im Umgang von Fürst und Hofadel" zu erkennen, die dem Be- dürfnis Rechnung trage, "Erklärungen für gesellschaftliche Normen in der autoritätsverheißen- den Vergangenheit zu suchen." In Anbetracht dessen, dass die Geschichte im ausgehenden 11. Jahrhundert in Erscheinung tritt, überzeugt diese Deutung nicht: Gerbild S. WlLLIAMS, Adels- darstellung und adliges Selbstverständnis im Spätmittelalter. Politische und soziale Reflexionen in den Werken J. Rothes und U. Füetrers, in: Peter Uwe HOHENDAHL / Paul Michael LüTZELER (Hg.), Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200-1900 (Literaturwissenschaft und Sozialwis- senschaften 11), Stuttgart 1979, S. 55.

11 Bernhard TöPFER, Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts-und Staats- theorie (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 45), Stuttgart 1999.

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Ninive, ihm folgt Nimrod aus dem Stamm Ham12, der gewöhnlich auf Platz eins der mittelalterlichen "Tyrannenlisten" steht. Manchmal ist die Reihung auch um- gekehrt, und es folgt Ninus auf Nimrod.13 K.yros, Alexander und Caesar, deren

"appetitus dominandi" im Verständnis der mittelalterlichen Gelehrtenwelt quasi unstillbar war, setzen die Serie fort.14 Die Praxis, den Herrscher, also Caesar, in der zweiten Person Plural anzusprechen, markiert in dieser Perspektive eine Zäsur, die man als zweiten Sündenfall bezeichnen könnte.

Der Ursprung: Die Kaiserchronik

Als frühester Textzeuge gilt das (vermutlich) an der Wende vom 11. zum 12. Jahr- hundert entstandene K.ölner "Annolied". 15 Hier finden wir erstmals schriftlich fixiert, dass den Brauch, den Herrscher mit Ihr anzureden, dereinst die Römer ein- geführt hätten.16 Dieses "Ihrzen" verbindet das "Annolied" mit drei Ideen:

1.) Es versteht die Pluralform als Ehrung (Piumlzs reverentiae),

2.) begreift den Plural selbst als einen soziativen, also nicht als einen Pluralis mqjestatis. Explizit wird nämlich darauf hingewiesen, dass Caesar in seiner Person verschiedene Ämter kumulierte, die früher mehrere Personen be- kleidet hätten.

3.) Und es geht davon aus, dass Caesar die Deutschen diese Sitte habe lehren lassen. Der Brauch sei also schon früh von Rom ins Reich gelangt.

Dieselbe Geschichte findet sich fast wörtlich in der "K.aiserchronik" (um 1130-40) wieder, die anders als das "Annolied" in über hundert Handschriften erhaltenen ist.17 Auch in der "K.aiserchronik" steht die Idee im Vordergrund, beim "Ihrzen"

handle es sich um eine Ehrung, also um den Pluralü reverentiae. Allein der Wiener Bürger J an Enikel (t um 1302) setzte in seiner Bearbeitung der "K.aiserchronik"

andere Akzente. Bei ihm ist das Ihr keine freiwillige Ehrerbietung, sondern ein Gebot. Dem, der das Gebot missachtet, droht seine Version der Geschichte gleich

12 Gen 10,8-9: "Kusch aber zeugte den Nimrod. Der war der erste, der Macht gewann auf Erden, und er war ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn. Daher spricht man: Das ist ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn wie Nimrod."

13 TöPFER, Urzustand und Sündenfall (wie Anm. 11), S. 187-260.

14 Gabriela SIGNORI, Schädliche Geschichte(n)? Bücher, Macht und Moral aus dem Blickfeld spät- mittelalterlicher Fürstenspiegel, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 593-623.

15 Zu Datierung und Forschungsgeschichte vgl. Stephan MüLLER, Vom Annolied zur Kaiserchro- nik. Zu Text-und Forschungsgeschichte einer verlorenen deutschen Reimchronik (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 1999.

16 Das Annolied, hg., übers. u. kommentiert v. Eberhard NELl.Mi\NN, Stuttgart 51999, S. 38f. Die ,Kaiserchronik' verwendet den Begriff "irrizen" (ebd., S. 128), vgl. Das Annolied, ed. Max ROE·

DIGER (MGH. Deutsche Chroniken 1), Hannover 1895, S. 125.

17 Deutsche Kaiserchronik, ed. Edward SeHRÖDER (MGH. Deutsche Chroniken 1), Hanno- ver 1895, S. 90, Vers 515-525.

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"Den Herrscher Duzen ... " 33

zweifach mit der Todesstrafe, um dem Gebot in der Wiederholung noch mehr Gewicht zu verleihen. Nicht mit Herrschaft, sondern mit Tyrannei will der Wiener Weltchronist die sprachliche Neuerung assoziiert wissen.18 Die Geschichte vom Ursprung des Ihrs wanderte in der Folgezeit von Chronik zu Chronik. Noch im späten 15. Jahrhundert begegnen wir ihr in Ulrich Füetrers (t 1496) "Bayerischen Chronik". Wie fast alle, die seit dem 12. Jahrhundert vom Ursprung der Pluralan- rede berichten, bezieht Füetrer seine Informationen aber nicht aus dem "Anno- lied", sondern aus der "Kaiserchronik".19

England: Johannes von Salisbury

Nicht allein im Reich, dem Schauplatz des Investiturstreits, wurde die Diskussion um den Ursprung der Pluralanrede geführt, sondern bald auch in ganz Europa.

Um die Mitte des 12. Jahrhunderts tauchte der Stoff erstmals auf den britischen Inseln auf. In seinem "Policraticus" (III, 1 0) schimpft J ohannes von Salisbury (t 1180) gegen all diejenigen, die im Umgang mit Herrschern den Plural benützen. Sie schmückten mit der Ehre der Vielzahl, das Einzigartige. Das sei eine Lüge. Auch bei Salisbury nimmt diese Lüge bei Gaius Julius Caesar ihren Anfang.20

Salisbury greift auf eine Idee zurück, die wir erstmals in den "Adnotationes su- per Lukanum" festgehalten finden, deren älteste Abschriften noch aus dem 10.

Jahrhundert datieren. Im Lukan-Kommentar geht es allerdings noch ausschließlich um die nominale Anredeform: "Wir belügen die Herren" bzw. "wir schmeicheln ihnen", erklärt der Anonmyus, "wenn wir diejenigen, die herrschen, als Herren ansprechen."21 Erst im ausgehenden 12. Jahrhundert wird Arnulf von Orleans

18 Jansens Enikels Werke (Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters), Dublin/Zürich 21972, S. 406f.

19 Ulrich Füetrer, Bayerische Chronik, ed. Reinhold SPILLER (Quellen und Erörterungen zur bayeri- schen und deutschen Geschichte. Neue Folge 2/2), München 1909, S. 11: "Diser kaiserpotauch den reutsehen die eer, das allermenigklich sy hinfüran solt irritzen und nicht tuitzen, wann vor der zeit niemant nie geüritzt ward."

20 Ionnis Saresberiensis Policraticus I-IV, ed. Katherine Stephanie Benedicta KEATS-ROHi\N (CCCM 118), Turnhaut 1993, S. 203: "Voces quibus mentimur dominis dum singularitatem ho- nore multitudinis decoramus natio haec inuenit, et ad finitimos posterosque sui nominis auctori- tate transmisit. Si quando quaeris, illud tibi tempus occurrat quo Gaius Caesar, exuens nescio an perficiens dictatorem, omnia factus omnia occupauit." Vgl. Wilhelm KLEINEKE: Englische Fürs- tenspiegel vom Policraticus Johanns von Salisbury bis zum Basiliken Doron König Jakobs I.

(Studien zur englischen Philologie 90), Halle/Saale 1937, S. 23-47; Claus UI-ILlG, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance (Quellen und Forschungen zur Sprach-und Kul- turgeschichte der germanischen Völker 56), Berlin/New York 1973, S. 39-54; sowie Michael WILKS (Hg.), The World of John of Salisbury (Studies in Church History. Subsidia 3), Oxford 1984; Peter VON Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Anti- ke zur Neuzeit und die historiae im "Policraticus" Johanns von Salisbury (Ordo. Studien zur Lite- ratur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 2), Hildesheim u.a. 1988.

21 Adnotationes super Lucanum, ed. Johannes ENOT, Stuttgart 1969, Nr. 386, S. 177: "Mentimur d.

ut eos, qui imperant, dominos nominemus. Si ,dominis mentimur' legimus, id est his adulamur."

Vgl. Thomas BEI-IRMANN, Zum Wandel der öffentlichen Anrede im Spätrnittelalter, in: Gere!

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wohl unter dem Einfluss der "Policraticus"-Lektüre den Passus dann auf die pro- nominale Herrscheranrede beziehen: "Mentimur dum uocamus aliquem ut plures.

Hec etas scilicet tempus Cesaris."22

Johannes von Salisburys "Policraticus" wurde breit rezipiert, auch auf dem Kontinent, wie die über hundert lateinischen Abschriften aus dem 12. bis 15. Jahr- hundert zeigen.23 1372 übertrug Denis Foulechat auf Wunsch des französischen Königs den Text erstmals in die französische Umgangssprache.24 Und er hielt sich, so gut es ging, an seine lateinische Vorlage.

Frankreich: Petrus Cantor

Früher schon hatte man in Frankreich bzw. an der Pariser Universität über die Frage nachgedacht, wann und weshalb die Pluralanrede entstanden sei.25 Für die Verbreitung der Diskussion sorgte in Frankreich aber vor allen anderen Texten das

"Verbum adbreviatum" des Pariser Magisters Petrus Cantor

(t

1197), eine Art Wörterbuch bzw. Nachschlagewerk für Geistliche.26 Petrus Cantor ordnete den Herrscherplural im Kapitel 43 dem Begriff der Schmeichelei unterY Die Zuord- nung war für Generationen späterer Hofkritiker, darunter auch Erasmus von Rotterdam

(t

1536), wegweisend.28

ALTHOFF (Hg.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 51), Stuttgart 2001, S. 291-317.

22 Arnulfi Aurelianensis Glosule super Lucanum, ed. BertheM. MARTT, Rom 1958, Nr. 386, S. 282.

Vgl. Joachim LEEKER, Die Darstellung Cäsars in den romanischen Literaturen des Mittelalters (Analecta Romanica 50), Frankfurt am Main 1986, S. 337-339.

23 Amnon LTNDER, Tbc Knowlegde of John of Salisbury in the Late Middle Ages, in: Studi Medi- evali IIII18 (1977), S. 319-366, hier 356-361.

24 Denis Foulechat, Le policratique de Jean de Salisbury (1372). Livres I-III, ed. Charles BRUCKER (Publications romanes et fran<;aises 209), Genf 1994, S. 228f. Vgl. Walter ULL.Mt\NN, John of Sa- lisbury's Policraticus in the Later Middle Ages, in: Kar! HAUCK I Hubert MORDEK (Hg.), Ge- schichtsschreibung und geistiges Leben im Mittelalter. Festschrift für Heinz Löwe zum 65. Geburtstag, Köln u.a. 1978, S. 519-545; Max KERNER,Johannes von Salisbury im späten Mit- telalter, in: Jürgen MTETHKE (Hg.), Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert (Schrif- ten des Historischen Kollegs. Kolloquien 21), München 1992, S. 25-48.

25 Franz LEBSANFT, Kontinuität und Diskontinuität antiker Anrede-und Grußformen im romani- schen Mittelalter. Aspekte der Sprach-und Gesellschaftskritik, in: Willi ERZGRABER (Hg.), Kon- tinuität und Transformation der Antike im Mittelalter, Sigmaringen 1989, S. 285-299.

26 John W. BALDWIN, Masters, Princes and Merchants. The Social Views of Peter the Chanter bis Circle, 2 Bde., Princeton 1970, Bd. 2, S. 246-265.

27 Petri Cantoris Parisiensis Verbum abreviatum. Textus conflatus, ed. Monique BOUTRY (CCCM 196), Turnhaut 2004, S. 280-289.

28 Erasmus von Rotterdam, De adulatione vitanda principi [Über die Pflicht des Pürsten, Schmei- chelei zu vermeiden], in: Fürstenerziehung - Institutio Principis Christiani. Die Erziehung eines christlichen Fürsten [1515], Einführung, Übersetzung und Bearbeitung von Anton J. GAIL, Pa- derborn 1968, S. 125-143, vgl. Helmuth KIESEL, ,Bei Hof, bei Höll'. Untersuchungen zur literari- schen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979, S. 50-61; DERS.: "Lang zu hofe, lang zu helle": Literarische Hofkritik der Humanisten, in: HOHENDAHL I LüTZELER (Hg.), Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200-1900 (wie Anm. 1 0), S. 61-81.

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"Den Herrscher Duzen ... " 35

Die "pestis adulationis", die Plage der Schmeichelei, korrumpiere die Sprache, wettert Petrus Cantor. Es verstoße gegen die "natura loquendi", einen einzelnen Menschen in der Pluralform anzusprechen, während man Gott in der Einzahl an- rede. Eine solche Sprachregelung sei, bemerkt er weiter, weder im Alten noch im Neuen Testament belegt, ein gewichtiger Einwand, der mehr Aufmerksamkeit verdiente, als ich ihm in diesem Kontext schenken kann.29

Auch die zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Süden Frankreichs, in Toulouse verfassten "Leys d'amors", ein Rhetorikhandbuch, gehen davon aus, dass Cäsar den Brauch eingeführt habe, den heute aber fast jeder pflege. Auf die "Geschichte"

bzw. den Mythos folgt die Zeitschelte, heute spreche man fast jeden mit Ihr an:

Ja, der Brauch hat sich derart gefestigt, dass wenn man eine andere Wen- dung wählt, etwa ,Gott behüte dich', der Adressat sich verächtlich behandelt fühlt, außer es handelt sich um einen Herren, der sich auf diese Art an sei- nen Vasallen, seinen Diener, seinen Knecht oder an einen anderen Men- schen niedrigen Standes wendet. 30

Einen ähnlichen Kommentar finden wir zweihundert Jahre später in Erasmus' von Rotterdam "Ars epistolandi".31 Anders als das "Verbum adbreviatum" kannte Erasmus die okzitanischen "Leys d'amors" mit Sicherheit aber nicht. Es sind bloß drei Redaktionen erhalten. 32

Italien: Dante

Grundlegend anders verhält es sich mit Dantes

C t

1321) "Divina comedia." Im 16.

Gesang seines "Paradiso" spricht Dante etwas rätselhaft davon, dass zuerst Rom das Ihr, das "voi" erleiden musste ("Dal voi, ehe prima Roma sofferie").33 Geht es hier also um Demütigung an Stelle von Ehrung? Der "Achte Kommentar" der

"Divina Comedia", der auf einen unbekannten Zeitgenossen Dantes zurückgeht,

29 Petri Cantoris Parisiensis Verbum abreviatum (wie Anm. 27), S. 280-289.

30 Las flors del gaysaber estier dichas las leys d'amors. / Les fleurs du gai savoir autrement dites lois d'amour, trad. de MM. d'Aguilar et d'Escouloubre, revue et completee par M. GATIEN-ARNOUL.T, Teil 3, Paris/Toulouse 1842, S. 88: "et es tant en uzatge. que si hom parlava estiers. coma dizen.

Dieu te sal. cel a cuy hom o diria. se reputaria per enjuriat. si donx no era senhors. que parles. per esta maniera a son home. oz a son garso. oz a son cervicial. oz ad autre de sobre bas estamen."

Vgl. John H. MARSHALL, Observations on the sources of the treatment of rhetoric in the Leys d'Amors, in: Modern Language Review 64 (1969), S. 39-52.

31 Erasmus von Rotterdam, De conscribendis epistolis - Anleitung zum Briefschreiben (Auswahl), übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Kurt SMOL.AK (Ausgewählte Schrif- ten 8), Darmstadt 1980, S. 134; Desiderii Erasmi Roterdami opera omnia, Bd. 1, Lyon 1703, Sp. 364. Vgl. Alois Gmu.o, The ,Opus conscribendis epistolis' of Erasmus and the Tradition of the "Ars epistolaria", in: Robert Ralph BOLGAR (Hg.), Classical Influencc on European Culture A.D. 500-1500. Proceedings of an International Conference I-leid at King's College, Cambridge, April1969, Cambridge 1971, S. 103-114.

32 A. ]., Les Leys d'amors. Guilhem Molinier, principal redacteur des Leys d'amors, Bartholomieu Mare etjoan de Saint-Sernin, in: Histoire litteraire de Ia France, Bel. 38, Paris 1949, S. 139-233.

33 Dante Alighieri, La Divina Commeclia, ed. Natalino SAPP.GNO, Florenz 1957, S. 209.

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erläutert dem Leser ausführlich, was der Dichter genau mit "Leiden" gemeint habe.

Der Kommentar greift auf die Geschichte der Anredeform in der Version der

"Kaiserchronik" zurück, in diesem Fall aber um eine Kritik an den Römern erwei- tert, die dies mehr aus Angst und Servilität denn aus aufrichtiger Ehrerbietung getan hätten. 34 Der Pluralis reverentiae wird im Dantekommentar zum Pluralis servilitatis.

Wenig später betitelt auch Benvenuto da Imola (t 1390) in seinem Dantekommen- tar all jene, die Caesar als erste im Plural angesprochen hätten, als Schmeichler, und abermals richtet sich die Spitze gegen Rom.35 Bürgerliche und geistliche Vorbehalte gegenüber der Pluralanrede waren demnach weitgehend dieselben. Beide ver- orteten die Pluralanrede vorzugsweise im hofkritischen Kontext der Schmeichelei.

Ich fasse das bisher Gesagte kurz zusammen: Seit dem ausgehenden 12. Jahr- hundert kursierten auf dem europäischen Kontinent vier Varianten ein und der- selben Narrative, eine höfische, eine städtische, eine geistliche und eine an- ti•römische. Variante eins erklärt die Pluralanrede zum Ehrengeschenk, die zweite Variante sieht darin die Selbstherrlichkeit des Tyrannen gespiegelt, die dritte ver- steht die Pluralanrede als Lüge bzw. Schmeichelei, die vierte verbindet das Laster der Schmeichelei speziell mit der "gens Romana". Alle vier Varianten zeugen von einem ausgeprägten Gespür für die mannigfachen, wenngleich wenig eindeutigen Verstrickungen von Herrschaft und Sprache bzw. Anredeform. Ihrer aller Aus- gangspunkt ist der Übergang vom Du zum Ihr, der den Beginn einer neuen politi- schen Ordnung markiert, in der Herrschaft über Gemeinschaft steht. Über die Jahrhunderte hinweg verändert sich am Erzählrahmen erstaunlicherweise wenig.

Dies betrifft selbst so eigentümliche Auslegungen, wie die, der wir in den Briefen des Enea Silvio Piccolomini

(t

1464), des späteren Papst Pius II., begegnen. Mit seinen Briefen möchte ich meine Ausführungen gleichsam beenden.

E nea Silvio Piccolomini

Piccolomini war der erste und für längere Zeit auch letzte Autor, der sich öffent- lich dafür einsetzte, den Herrscher zu duzen. Gemeint ist sein Erziehungstraktat an den jungen Herzog Sigismund von Österreich aus dem Jahr 1443. Das Du als Herrscheranrede begegnet uns gleich in der ersten Zeile des Briefs: "In Caesaris curiam quam primum migravi, magna me cupido incessit, tibi ut aliquid scribe-

34 L'ottimo commento della clivina commedia, testo inedito d'un contemporaneo di Dante, Pi- sa 1829, S. 365f.: "Ma tornando Giulio Cesare vincitore cl'ogni parte clel mondo, c riccvcndo gli onori cle' triunfi dell' avute vittorie, Ii Romani soffersono primamente cli dire a lui, un uomo, voi;

Ia qua! cosa Ii Romani fecero piu per paura e perservile onore, ehe per affettuosa reverenza."

35 Benevenuti de Rambaldis cle Imola Comentum super Dantis Aldigherij Comoecliam nunc pri- mum integre in lucem editum sumptibus Guiliclmi Warren VERNON curante Jacobo Philippe LACAITA, Florenz 1887, Bel. 5, S. 157: "Romani 1\DUL/\NTER loquebantur illi in plurali, clicentes:

quicl praecipitis, domine imperator, perpetue clictator? quicl manclat vestra maiestas excelsa? et ita de similibus."

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"Den Herrscher Duzen ... " 37

rem."36 Ich benutze im Folgenden die zeitgenössische Übersetzung des Nildas von Wyle

Ct

1478). "Des ersten als jch an den kaiserlichen hofe komen bin, ist mir grosz begird zögestanden Dir etwas zu schreiben."37 Auf den nachfolgenden Seiten begründet Piccolomini dann sehr ausführlich sein ungewohntes Begehren. Heute, ldagt der Sienese, würden fast alle die eine andere Person anredeten, den Plural be- nutzen. Nielas von Wyle übersetzt das "numero utuntur plurali" mit "Jrtzen", und er ergänzt: "Ir vnd nit du sprechende". 38 Der Stadtschreiber von Esslingen tat sich ausgesprochen schwer damit, seine lateinische Vorlage ins Deutsche zu übertragen.

Wyle war ein Verfechter der Wortfürwort-Übersetzung, was häufig den Sinn der von ihm übersetzten Passagen entstellt. 39 In seiner an den Markgrafen von Baden adressierten Widmung der Übersetzung benutzte er im übrigen auch unverdrossen die traditionelle Pluralanrede.

Das Multiplizieren einer Person hielten die Briefeschreiber, so Piccolomini, für ehrwürdiger als die Einzahl: "tanquam multiplicando personas plus honoris adjici- ant reverentioresque videantur", "als ob sy hie durch der selben persone me eeren tügen zöfügen vnd bewysen."40 Die Gewohnheit sei in Deutschland weit verbreitet.

Auch in Italien sei sie lä'ngere Zeit im Schwange gewesen, dann aber außer Mode geraten, als Francesco Petrarca

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1374) damit begonnen habe, die Redekunst der Alten zu imitieren.41 Auf Petrarca folgen die Namen zahlreicher weiterer Vertreter des italienischen Humanismus, die sich gegen das Ihr und für das Du stark ge- macht hätten. 42 Ihre Plädoyers für das Du gelten normalerweise Ihresgleichen. Das Humanisten-Du ist ein soziatives Du, das aus gemeinsamen Bildungsidealen resul- tiert und die Gelehrten als Gemeinschaft auszeichnet. Allein der Florentiner Co- luccio Salutati (t 1406) versuchte (indessen erfolglos) die Verwendung des Du auch in der amtlichen Korrespondenz seiner Heimatstadt zu etablieren. 43 Ausgerechnet den aber erwähnt Piccolimini in seinem Brief an den Herzog Sigismund von Öster-

36 Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, ed. Rudolf WOLKIIN (Fantes rerum austriaca- rum. Diplomata et acta 67), Wien 1912, Nr. 99, S. 223. Vgl. UHLTG, Hoflaitik (wie Anm. 20), S. 175-190; Helmutb KIESEL, ,Bei Hof, bei Höll' (wie Anm. 28), S. 31-38.

37 Translationen von Nielas von Wyle, ed. Adelbert VON KELLER (Bibliothek des Literarischen Vereins 57), Stuttgart 1861, S. 199.

38 Ebd.

39 Vgl. Irene HÄNSCH, Heinrich Steinhöwels Übersetzungskommentare in "De claribus mulieribus"

und ,Asop'. Ein Beitrag zur Geschichte der Übersetzung (Göppinger Arbeiten zur Germanis- tik 297), Stuttgart 1981, S. 51-90.

40 Translationen (wie Anm. 37), S. 199.

41 Vgl. Frank-Rutger HAUSMANN, Francesco. Petrarcas Briefe an Kaiser Kar! IV. als ,Kunstprosa', in: Franz Josef WORSTBROCK (Hg.), Der Brief im Zeitalter der Renaissance (Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung 9), Weinheim 1983, S. 60-80; JV[ichael SEIDLMAYER, Pet- rarca, das Urbild der Humanisten, in: Archiv für Kulturgeschichte 40 (1958), S. 141-93.

42 Translationen (wie Anm. 37), S. 200. Piccolomini nennt Leonardo Aretin, Guarino Veronese, Poggio Florentinum, Aurispam Siculum und Antonius Vicentinum.

43 Ronald G. Wrrr, Coluccio Salutati and his Public Letters (Travaux d'I--!umanisme et Renais- sance 15), Genf 1976, S. 25f. Nach WITr scheiterte Salutati, als er den Singular auch in die amtli- che Korrespondenz einführen wollte, am Widerstand der konservativen Florentiner Kanzleipraxis.

(10)

38 Gabriela Signori

reich nicht. Als weiteres Argument zugunsten des Du wirft Piccolomini in die Waagschale, nicht nur Heiden, sondern auch Christen, Männer wie Hieronymus, Augustinus, Ambrosius und Gregor der Große hätten in ihren Briefen das Du gebraucht. Ja, selbst die göttliche Majestät hätten die besagten Autoren dergestalt mit Du angerufen. 44

Auch er, Piccolomini, habe es sich seit längerem angewöhnt, seine Adressaten konsequent zu duzen. Nun aber sei er unsicher, in welcher Form er sich an Sigis- mund wenden solle. Er befürchte nämlich, der Herzog habe mehr Gefallen an denen, die ihn im Plural anredeten als an seiner Einzahl. Vielleicht folge er lieber seinen eigenen Männern und vielleicht meine auch er, Fürsten und Könige seien nicht anders anzuschreiben als sie von sich selbst schrieben, nämlich im Plural: Wir befehlen, wir wollen, wir machen ... Dieses Wir sei ursprünglich aus Demut heraus entstanden und dürfe nicht zur Prahlerei führen.45 Mit dem Wir wollten die Herr- scher nämlich zeigen, dass sie ihre Beschlüsse - obwohl alles, was ihnen gefällt, Gesetzeskraft habe - nicht allein aus sich, sondern "cum aliorum consilio" fäll- ten.46 Andrerseits sei es als repräsentativer Plural zu verstehen, wenn tieferstehende Fürsten, höherstehende mit Ihr anschrieben: "quia tu illos et me representas."

Nichts aber zwinge Sigismund diese Gepflogenheiten zu übernehmen. Denn, was die Fürsten selbst aus Bescheidenheit täten, eben die Mehrzahl benutzen, ehre sie, von anderen vorgebracht, nicht, sondern vermindere ihre Ehre. Die Mehrzahl erwecke den Anschein, dass der Herrscher ohne seine Untertanen ("subditi") nichts wolle und nichts könne! 47 Daraus folgt der logische Schluss: "Wenn wir den Fürsten wirklich Ehre erweisen wollen, vermeiden wir, was sie selbst aus Beschei- denheit heraus tun"48, das heißt, wir benutzen das Du, das wiederum besagt: Du allein bist mächtig und gewaltig und bedarfst des Ratschlags deiner Räte nicht.

Piccolominis Gedankengänge sind nicht leicht nachzuvollziehen. Ja, sein Plädoyer für das Herrscherdu haben selbst ausgewiesene Humanismusexperten wie der Ro- manist August Buck (1911-1998) missverstanden. 49 Durch seine einleitende Bemer-

44 Der Briefwechsel (wie Anm. 36), S. 223: "gui non solum homines sed ipsam divinam, [gue omnia nutu suo regit,] majestatem adorsi sermonibus, preste, inguiunt, da, fac, concedo, miserere, largi- ri ... "- "Die nit ailain die menschen sunder der götlichen majestät anredende, also sprechent. ver- lieh herre. gib. tu. verheng. erbarm dich. tail vs und desgelychen vil etc."

45 Ebd., S. 224: "sed hoc quod ab 1-JUMILITATE traxit originem, nefas est ad jactantiam ducere." -

"Aber sölichs, das vsz menschlichkait vnd demüt ainen vrsprung gehept hat, wirt vnbillich zu hoffartgezogen und gebruchet."

46 Ebd.: "Etsi dominaturn habeant, ut guicguid eis placet, legis vigorem habeat."

47 Ebd.: "guis enim idcirco pluralitatem principus dedat, quod ipsi ea proter moderationem utantur.

non honorare hoc est, sed deprimere atque contempnere, tanquam nil ipsi sine subditis queant."

- "sölichs ist nit eer erbietten sunder mer den eeren abziechen. glycherwyse als ob die fürsten nützit ane die Iren vermöchten. Darumb wenne wir Inen rechte eere wölten erbieten. so fluchent wir billicher das, das sy durch demtlt getan hant vnd schrib gib fürst, tü. lasz ab, vergib etc., als ob wir sprechen, des bist du ailain mechtig vnd gewaltig, ob es sust wol allen dinen reten wider wer."

48 Ebd.: "quibus, si veilemus reverentiam impartiri, quod ipsi modeste faciunt, nos honorifice fugeremus."

49 August BUCK, Humanistische Bildung. Enea Silvio Piccolomini an Herzog Sigismund von Öster- reich, in: Klaus W. HEMPFER / Gerhard REGN (1-lg.), Interpretation. Das Paradigma der europäi-

(11)

"Den Herrscher Duzen ... " 39

kung, er gehöre zu den Modernen, "cui nichil placet nisi quod est sui simillirnum",

"dero nützit gefelt danne was sich ir aller tUt gelychen" und durch seinen Exkurs zum Humanistendu glaubt man zu wissen, um was es im Folgenden gehen wird, meint man, auch Piccolomini vertrete den humanistischen, in gemeinsamen Bil- dungsidealen begründeten Gleichheitsgedanken und plädiere ebenfalls für das hu- manistische Gleichheitsdu. 50 Das allerdings erweist sich als irreführend. Vielmehr stellt der Sekretär Friedrichs III. die Gleichheitsthese auf den Kopf und verleiht seinem an den Herrscher adressierten Du quasi absolutistische Züge. Piccolomini versteht den Plural, mit dem der Herrscher spricht und angesprochen wird, nicht als Plttralis majestatis, sondern wie ehedem das "Annolied" als einen soziativen Plural, der auf der Vorstellung basiert, der Herrscher sei zwar ein prominentes, aber dennoch nur eines von vielen Gliedern des politischen Körpers. Piccolominis Du ist kein humanistisches Gleichheitsdu; es schließt inhaltlich an einen völlig anderen Traditi- onsstrang an, an die vornehmlich von Juristen getragene Vorstellung des "princeps a legibus solutus". 51 Über die Kritik, welche die geistlichen, in den "artes" geschulten Fürstenberater und Fürstenerzieher seit dem 13. Jahrhundert demselben Rechts- grundsatz entgegenbringen, setzt sich Piccolomini geschickt hinweg. 52

Die meisten späteren deutschen Fürstenspiegel erheben das Erziehungstraktat, das Piccolomini für den jungen Herzog Sigismund von Österreich schrieb, zur Pflichtlektüre ihres Gelehrten-Fürsten. Auch verschiedene "artes epistolandi" be- rufen sich auf ihn. Ob K.irchenmänner wie Jakob Wimpfeling (t 1528) die Ausfüh- rungen des Sienesen wirklich verstanden, scheint mir aber eher fraglich. Ja, Picco- lominis Plädoyer für ein Herrscherdu, das über Räten und Untertanen schwebt, widerspricht Wimpfelings Vorstellungen des idealen Herrschers grundsätzlich. 53 Piccolominis Plädoyer bleibt einzigartig. Dem Prinzip ist zwar eine große Zukunft beschieden, nicht aber der gewählten Anredeform, dem Du. Im Verlauf des 15.

Jahrhunderts werden die Titulierungen immer überschwänglicher und länger, im- mer differenzierter präsentieren sich in der Folgezeit die deutschen Anredeformen, bald auch um das "moderne" Er/Sie erweitert. 54

Aber wie eingangs erwähnt, die Geschichte der Praxis sollte an dieser Stelle hin- ter die Geschichte der Vorstellung treten. Die Geschichte der Repräsentationen

sehen Renaissance-Literatur. Festschrift für Alfred Noyer-Weidner zum 60. Geburtstag, Wiesba- den 1983, S. 394-404; Cary J. NEDERMAN, Humanism and Empire. Aeneas Sylvius Piccolomini, Cicero and the Imperial Ideal, in: Historical Journal 36 (1999), S. 499-515.

50 Der Briefwechsel (wie Anm. 36), S. 223.

51 Ebd.: "reges nanque cum scribunt, etsi dominatum habeant, ut quicquid eis placet, legis vigorem habeat ea tamen moderatione utuntur ... " Vgl. Bernard GUENEE, L'Occident aux XJVc et XVc siecles. Les Etats (Nouvelle Clio 22), Paris 1981, S. 151f.

52 So noch Erasmus von Rotterdam, Fürstenerziehung (wie Anm. 28), S. 134f.

53 Jakob Wimpfeling, Agatharchia, in: Bruno SINGER, Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeital- ter des Humanismus und der Reformation. Bibliographische Grundlagen und ausgewählte Inter- pretationen. Jakob Wimpfeling, Wolfgang Seidel, Johann Sturm, Urban Rieger (Humanistische Bibliothek, Reihe 1, Abhandlungen 34), München 1981, S. 240f.

54 Wemer BE.SCI-1, Duzen, Siezen, TitLilieren. Zur Anrede im Deutschen heute tmd gesten1, Göttingen 1998.

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40 Gabriela Signori

allerdings wirft ein interessantes Licht auf die seit dem 13. Jahrhundert sich aus- breitende Praxis der allgemein verbindlichen Pluralanrede. In diesem letztlich univer- salen Ihrzen zeigt sich meines Erachtens in aller Schärfe, was die spätmittelalterliche von der frühzeitliehen Ständegesellschaft trennt.

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