• Keine Ergebnisse gefunden

Transdisziplinäre Herausforderungen begreifen

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Transdisziplinäre Herausforderungen begreifen"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

1

Interview mit dem Wissenschaftsphilosophen Prof. Dr. Jürgen Mit- telstraß:

Transdisziplinäre Herausforderungen begreifen.

To understand transdisciplinary challenges.

(Dieses Interview fand als ein E-Mail-Interview in drei Phasen zwischen Jürgen Mittelstraß und dem Sh-Redaktionsmitglied Klaus Moegling statt, der die Fragen stellte)

K.M.: Lieber Herr Mittelstraß, zum Beginn unseres Interviews möchte ich Sie zunächst fra- gen, welche Chancen, aber auch welche Probleme in der disziplinären Ausrichtung der Uni- versität und der Schulen lagen?

J.M.: Die Chancen lagen in der Fächer- und Disziplinenvielfalt 'unter einem Dach', die Prob- leme in der weitgehenden Isolierung der Fächer und Disziplinen untereinander. Nicht die Spezialisierung ist das Problem – sie ist auf dem Hintergrund der modernen Wissenschafts- entwicklung unter Forschungsgesichtspunkten unvermeidlich –, sondern der Umstand, dass sich Spezialisierungen im Lehr- und Lernzusammenhang nicht mehr auf ein gemeinsames Wissen beziehen.

K.M.: Was verstehen Sie unter einem gemeinsamen Wissen? Kann es ein gemeinsames Wissen in einer sich pluralistisch ausdifferenzierenden Welt geben?

J.M.: Gemeint ist, aus der Perspektive der Wissenschaft, ein disziplinäres Wissen über alle unvermeidlichen Spezialisierungen hinweg und ein Wissen um die allen Disziplinen zugrun- de liegenden wissenschaftlichen Rationalitätsprinzipien. In dem Maße, in dem das wissen- schaftliche Wissen auch das allgemeine Wissen prägt (Stichwort Wissensgesellschaft), ge- winnen diese Prinzipien allgemeine, damit auch gemeinsame Geltung.

Das vorliegende Interview fand als ein E-Mail-Interview in drei Phasen zwischen dem Wissenschaftsphilosophen Jürgen Mittelstraß und dem Sh-Redaktionsmitglied Klaus Moegling statt, der die Fragen stellte. Jürgen Mittelstraß gibt mit seinen Überlegungen zum disziplinären, interdisziplinären und transdisziplinären Lernen schulischen Bildungs- prozessen eine zukunftsweisende Perspektive und fordert bei gleichzeitiger Wertschät- zung des Disziplinären die Überwindung des Monopols fachlich spezialisierten Wissens für schulische Lernprozesse ein. Hierbei müssten Wissenskulturen in einem gemeinsam geteilten Allgemeinen wurzeln und wieder stärker mit ihrer kulturellen Orientierungsfunk- tion in Verbindung gebracht werden.

The interview at hand was conducted in three stages via e-mail between the economic philosopher Jürgen Mittelstraß and Schulpädagogik-Heute editor Klaus Moegling who was asking the questions. Jürgen Mittelstraß provides a ground-breaking perspective on educational processes in school with his thoughts on disciplinary, interdisciplinary and transdisciplinary learning. Even though he appreciates disciplinary learning he calls for the overcoming of the monopoly of subject-specific knowledge in academic learning pro- cesses. For this purpose cultures of knowledge should root in a generally accepted un- derstanding and be more closely connected to their function as a cultural orientation.

Zuerst ersch. in: Schulpädagogik heute 1 (2010), 2, S. 1-4

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-128769

URL: http://kops.ub.uni-konstanz.de/volltexte/2011/12876

(2)

2

K.M.: Welches sind aus Ihrer Sicht die zentralen wissenschaftlichen Rationalitätsprinzipien, die auch Grundlage des allgemeinen Wissens sind und auf die sich der Unterricht in den Fä- chern wieder beziehen sollten?

J.M.: Begriffliche Klarheit, Argumentationszugänglichkeit, Kontrollierbarkeit (der Ergebnisse und Verfahren), Reproduzierbarkeit (der Ergebnisse), kritische Haltung (gegenüber allen Geltungsansprüchen, die eigenen eingeschlossen), Wahrhaftigkeit.

K.M.: Inwieweit kann die Beschränkung auf fachlich spezialisiertes Wissen in der Schule ge- nügend Orientierungen für das Leben in der Welt bieten?

J.M.: Spezialisiertes Wissen bringt in beruflichen und Arbeitszusammenhängen den Exper- ten hervor. Unsere Welt heute ist eine Expertenwelt, und die Gesellschaft, die sie bevölkert, ist eine Expertengesellschaft. Orientierung wiederum ist weder etwas Spezielles noch etwas Expertengerechtes; sie hat nur dort eine Chance, wo zwischen dem spezialisierten Wissen und dem Expertenwissen das Allgemeine – im Sinne allgemeiner Strukturen, Zwecke und Ziele – wieder erkennbar wird. Nur eine Schule, der diese Vermittlungsaufgabe gelingt, ist eine gute Schule.

K.M.: Könnten Sie anhand eines Beispiels aufzeigen, wie spezialisiertes Wissen bzw. Exper- tenwissen mit einem Allgemeinen verbunden werden kann?

J.M.: Ein Beispiel ist das Thema Umwelt. Hier tun uns die Probleme schon lange nicht mehr den Gefallen, sich selbst fachlich oder disziplinär zu definieren. Nur im Zusammengehen un- terschiedlicher wissenschaftlicher wie nicht-wissenschaftlicher, z.B. politischer, Kompeten- zen, d.h. im Medium allgemein verstandener und organisierter Zuständigkeiten, werden die- se Probleme lösbar.

K.M.: Mit dem Blick auf die gesellschaftliche Zukunft: Welche Argumente gibt es für die Zu- kunft gesellschaftlicher Entwicklung, den Pfad der zunehmenden Spezialisierung in Form fachlichen Expertenwissens in den Bildungseinrichtungen zu verlassen?

J.M.: Der Begriff der Bildung muss, auch in Ausbildungszusammenhängen, vom Begriff des spezialisierten Wissens und des Expertenwissens gelöst und wieder stärker mit dem Begriff der Orientierung verbunden werden. Dieser bezieht sich einerseits auf eine theoretische Kompetenz, mit unterschiedlichen Wissenswelten, deren Basis Wissenschaftswelten sind, umzugehen, andererseits auf eine praktische Kompetenz, die ein Begreifen des Lebenszu- sammenhanges einschließt und sich nicht im Wissen, sondern im Können, ferner in geübter Urteilskraft zum Ausdruck bringt.

K.M.: Worauf gründet sich die von Ihnen häufig kritisierte ‚Orientierungsblindheit’ pädagogi- scher Prozesse? Woraufhin sollte mit welchen Mitteln eine Orientierung in den Bildungsinsti- tutionen gefördert werden?

J.M.: Die Kritik betrifft pädagogische Prozesse, die sich im Fachlichen und Didaktischen er- schöpfen. Orientierung ist weder etwas Fachliches noch etwas Didaktisches, sie operiert gewissermaßen im Rücken der üblichen Wissensbildungs- und Wissensvermittlungsprozes- se und verbindet sich mit dem Werden des rationalen Subjekts. Urteilskraft ist Ausdruck die- ser Verbindung.

K.M.: Welche Ideen haben Sie für eine Neuorganisation schulischen Lernens, das sowohl Fachlichkeit als auch Interdisziplinarität sowie Transdisziplinarität vorsieht?

J.M.: Die Stundenorientierung sollte zugunsten eines Denkens in fachlichen und dis- ziplinären Blöcken aufgegeben werden. Das fachliche und disziplinäre Wissen soll seine Be-

(3)

3

deutung nicht verlieren, aber im Lichte einer ihm zugrundeliegenden Einheit gesehen wer- den: im Falle der Naturwissenschaften der Einheit der Natur, im Falle der Sozialwissenschaf- ten der Einheit des Gesellschaftlichen, im Falle der Geisteswissenschaften der Einheit des Geistes.

K.M.: Was halten Sie von fächerübergreifenden Lernen über disziplinäre Blöcke, wie z.B.

Gesellschaftswissenschaften oder Naturwissenschaften, hinweg? Wie wichtig wäre Ihnen ein solches Lernen für zukünftige Schulreformen?

J.M.: Es sollte allen zukünftigen Schulreformen zugrunde liegen, wobei das Kunststück sein wird, dem fachlichen und disziplinären Wissen auch unter allgemeineren Gesichtspunkten Geltung zu verschaffen. Wer nicht irgendetwas genau, in diesem Falle in fachlich oder diszi- plinär bestimmten Grenzen, weiß, weiß am Ende gar nichts.

K.M.: Was bedeutet dies für die Lehrerbildung an den Universitäten?

J.M.: Stärkung der Inter- und (vor allem) der Transdisziplinarität sowohl in der Forschungs- als auch in der Lehrorganisation. Disziplinarität muss zwar die Basis auch des Inter- und Transdisziplinären bleiben (etwas, das die Wissenschaft weiß, muss jeder genau wissen), sollte aber nicht den Blick auf Problemstellungen verstellen, die sowohl in der Wissen- schaftsentwicklung selbst als auch in der gesellschaftlichen Entwicklung eine zentrale Rolle spielen und in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen werden (Stichworte etwa Energie, Ge- sundheit und noch einmal: Umwelt). Dies muss sich auch in der Lehrerbildung spiegeln (transdisziplinäre neben disziplinärer Kompetenz).

K.M.: Woher sollen die Lehrerbildner kommen, die in der Lage sind, transdisziplinäre Kom- petenzen zu fördern. Die meisten Hochschullehrer und Didaktiker sind doch selbst äußerst fachspezialisiert mit Abgrenzungstendenzen zu anderen Fächern. Die Hochschule ist in der Regel ausgesprochen segmentiert eingerichtet. Die Fachbereiche igeln sich ein.

J.M.: Das ist im großen und ganzen richtig, muss aber nicht so bleiben (vgl. die Antwort auf die folgende Frage). In dem Maße, in dem Wissenschaft selbst ihre transdisziplinären Ar- beitsmöglichkeiten und Lösungspotentiale entdeckt, werden diese auch in Lehr- und Lernzu- sammenhängen zunehmend an Bedeutung gewinnen.

K.M.: Welche gesellschaftlichen Widerstände wird es aus Ihrer Sicht geben, die eine solche Verwirklichung von Ideen hin zu einer Zunahme universalistischen und transdisziplinären Lernen zu verhindern suchen?

J.M.: Widerstände sind allenfalls aus der Schulorganisation und Schulverwaltung zu erwar- ten. Die Wissenschaft hat die transdisziplinären Herausforderungen längst begriffen (Trans- disziplinarität als Forschungsprinzip), auch wenn die universitäre Lehre dem in vielen Fällen noch nicht entspricht. Schule und Schulverwaltung folgen diesem Begreifen nur zögerlich, auch weil sich das Fachliche und das Disziplinäre leichter organisieren lassen als das Transdisziplinäre. Das wird sich so schnell wohl auch nicht ändern.

K.M.: Welche Vorschläge haben Sie für die Organisation des Fächerübergreifenden in der Schule? Haben Sie Ideen zur Veränderung beispielsweise der zeitlichen Rhythmen und der Kooperationsformen in der Schule?

J.M.: Ich bin kein Schulmann und kein Schultheoretiker. Die Antwort auf die gestellte Frage muss die Schule selbst finden.

(4)

4

K.M.: Noch eine abschließende Frage: Wenn Sie auf Ihre eigene Schulzeit zurückschauen:

Welche Kritik haben Sie hieran unter dem Aspekt von Fachlichkeit und wie hätten Sie gern gelernt?

J.M.: Die eigene Schulzeit liegt lange zurück. Das rein fachliche und disziplinäre Lehren und Lernen galt als selbstverständlich. Interdisziplinarität war eher ein Stück Rhetorik und Trans- disziplinarität noch nicht erfunden. Da kam viel auf individuelle Initiative im Fächer- und Dis- ziplinenganzen an. Um eine derartige Initiative habe ich mich bemüht, durchaus unterstützt von einigen meiner Lehrer. Ich bin, auch unter diesen Umständen, gern zur Schule gegan- gen.

K.M.: Herzlichen Dank für das Interview!

Zur Transdisziplinarität:

„Interdisziplinarität im recht verstandenen Sinne geht nicht zwischen den Fächern und den Disziplinen hin und her oder schwebt, dem absoluten Geist nahe, über den Fächern und Disziplinen. Sie hebt vielmehr fachliche und disziplinäre Engführungen, wo diese der Problementwicklung und einem entsprechendem Forschungshandeln im Wege stehen, wieder auf; sie ist in Wahrheit Transdisziplinarität. ... Während wissenschaftliche Zu- sammenarbeit die Bereitschaft zur Kooperation in der Wissenschaft und Interdisziplinari- tät in der Regel in diesem Sinne eine konkrete Zusammenarbeit auf Zeit bedeutet, ist mit Transdisziplinarität gemeint, dass Kooperation zu einer andauernden, die fachlichen und disziplinären Orientierungen selbst verändernden wissenschaftssystematischen Ordnung führt.“

Aus:

Jürgen Mittelstraß: Methodische Transdisziplinarität

http://www.leibniz-institut.de/archiv/mittelstrass_05_11_07.pdf, 1.7.2010, S. 3

Zum Interviewten:

Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß,

Dr. phil. Dr. h.c. mult. Dr.-Ing. E.h., Direktor des Konstanzer Wissenschaftsforums und des Zentrums Philosophie und Wis- senschaftstheorie, Vorsitzender des Österreichischen Wissen- schaftsrates (Wien);

Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Wissenschaftstheorie, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Kulturtheorie;

Publikationen u.a. Die Rettung der Phänomene (Berlin 1962);

Neuzeit und Aufklärung (Berlin 1970); Die Möglichkeit von Wis- senschaft (Frankfurt 1974); Wissenschaft als Lebensform (Frankfurt 1982); Wissen und Grenzen (Frankfurt 2001); (mit C.

F. Gethmann u.a.) Gesundheit nach Maß? (Berlin 2004).

1989 Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG); 1992 Arthur Burkhardt-Preis; 1998 Lorenz-Oken- Medaille der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ); 2000 Preis der Dr. Margrit Egnér-Stiftung.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Die Mitglieder des PDCI hatten viele Vorschläge für konkretes Regierungshandeln: (i) Instrumente für eine Risikominimierung bereitstel- len, (ii) stabile

«Dann spielt in dieser Phase für uns auch eine sehr wichtige Rolle, das sustainable business canvas, /…/ Weil die Idee die da hinter steckt eigentlich von uns

In dieser Phase entstehen schnell auch unausgesprochene Normen und Regeln. Manche werden beim ersten Treffen mehr reden als andere. Daraus kann sich dann die „Regel“ herleiten:

Als Wissensordnungen bilden Disziplinen einen institutionalisierten Rahmen für die wissenschaftliche Weiterentwicklung auf einem bestimmten Gebiet, das sich durch seine

Mehr betriebliche Ausbildungsplätze: Um jungen Geflüchteten, aber auch einheimischen Jugendlichen, die den Sprung von der Schule in Ausbildung nicht geschafft haben, bessere

Wenn Sie sich fragen, was das Sortieren von Farb- und Filz- stiften mit Medien und Informatik zu tun hat, dann wählen Sie an  der PHBern das passende Angebot oder fragen Sie mich

Weiterbildungsbefugte so- wie Ärztinnen und Ärzte in der Wei- terbildung können sich innerhalb der nächsten sechs bis acht Wochen an einer bundesweiten Umfrage zur Situation

Erwachsene sollten sich in Verbindung mit einer Impfung gegen Wundstarkrampf (Te- tanus) und Diphterie einmalig auch gegen Keuchhusten impfen lassen. Mit dieser Impfung liegt