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Wünschbare pädagogische Verhältnisse und Bildungsgüter

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W ü n s c h b a r e p ä d a g o g i s c h e V e r h ä l t n i s s e u n d B i l d u n g s g ü t e r

Anmerkungen zu Georg Büchmann, Jakob von Gunten und zur Frage, wofür wir lernen Von Petra Moser

Dozentin in der Abteilung Entwicklung, Interaktion und Gesundheit der Pädagogischen Hochschule Zürich

Woran soll sich schulische Bildung orientieren? An der dunklen Vergangenheit oder an der oft noch nebulösen Zukunft? Die Autorin geht vom geflügelten Wort «Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir» aus, analysiert beispielhaft den Bildungsroman Jakob von Gunten von Robert Walser und plädiert unter anderem dafür, dass pädagogische Arbeit «in der Helle der jeweils gegebenen Gegenwart» stattfinden solle.

Das erfolgreichste Kompendium der Bildungsgüter in deut- scher Sprache war und ist «der Büchmann». Seit 1864 be- währen sich die «Geflügelten Worte» des Philologen und Pädagogen Georg Büchmann als stetig ergänztes Reservoir haltbarer Sentenzen – von der griechischen Antike bis ins 20. Jahrhundert. Ein bisschen genieren wir uns schon, in das leicht verstaubte Futteral des Zitierbaren zu greifen.

Dennoch, wenn wir dem Reiz des Verstaubten nachgeben, können wir uns mit manchem Fund überraschen und Etli- ches leuchtet ein wie eh und je – von Ovids «Steter Tropfen höhlt der Stein» über Wilhelm Buschs listig gereimte Defi- nition «Enthaltsamkeit ist das Vergnügen / An Sachen, welche wir nicht kriegen» bis hin zu Gorbatschows «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben».

Das Lapidare solcher Formeln bewährt sich auch da, wo die Themen Lernen und Lehren, also die pädagogischen Verhältnisse selbst, zur Sprache kommen. Die berühmteste von ihnen leitet sich von Seneca her und lautet: «Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir». Die Zahl der Reden zum Abitur, in die dieser Satz Eingang gefunden hat, dürfte unermesslich sein. Er scheint unmittelbar die Sache zu treffen, wie wir sie gern hätten; Schule als Mittel zum Zweck des Lebens – nichts scheint selbstverständ- licher. Ergänzt man zu diesem Zweck-Mittel-Verhältnis die Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft, so liegt die Matura an der Schnittstelle zwischen Schule und Leben, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nimmt man dieses Modell kurzschlüssig ernst, so sind die Folgen absehbar.

Die Zukunft der Lernenden, die Situationen, die für sie erwartbar sind, bestimmen dann die Inhalte schulischen Lernens. Aktuelle Beispiele auf den Kontext «Schule» bezo- gen bot unlängst die Bekanntgabe neuer Lehrpläne für 11- bis -14-jährige in England, darunter «Kochen und gesunde Ernährung, Computer-Handhabung sowie Grundkennt- nisse im persönlichen Wirtschaften, vom Umgang mit Kre- ditkarten bis Hypothekenzinsen.» (SZ, 7. 2. 2007).

Einwände gegen rein zukunftsorientierte Bildungsvermittlung

Würde die Zukunft die Gegenwart der Schule so beaufsich- tigen und den Lehrenden und Lernenden ihre Aufträge er- teilen, hätte die Vergangenheit irgendwann ausgespielt;

die Traditionslinien würden brüchig, die Weitergabe ge- sellschaftlicher Erfahrung wäre zugunsten einer Zukunft suspendiert, die man zu kennen glaubt. Überflüssig wären die Bildungsgüter, mithin auch die Sammlung «geflügelter Worte». Die Einwände gegen eine rein zukunftsorientierte Bildungsvermittlung liegen auf der Hand. Zum einen ist das Zukünftige uns oft noch unzugänglicher als die im- merhin in den überkommenen Zeugnissen am Zipfel greif- bare Vergangenheit, schon gar nicht ist sie im Detail vor- aussagbar. Zum anderen wäre eine gedächtnislose Gegen- wart, in der die vermuteten, antizipierten Anforderungen der Zukunft zum primären Lerngegenstand werden, eine Selbstbescheidung der Pädagogik, die hinter den Anspruch von Aufklärung zurückfiele.

In welche Richtung sollte sich das Nachdenken über wünschbare pädagogische Verhältnisse dann bewegen?

Der Gegenrede zum «Lernen für’s Leben» zu folgen ist we- nig verlockend – weil die leidvolle Erfahrung dagegen spricht: «Lernen für die Schule» – Das waren Geschichtslek- tionen als pure Abfolge von Daten und unbegreiflichen Taten. Und eingeprägte mathematische Formeln, mühevoll angewandt auf Aufgaben, deren Verwendung sich häufig nicht wirklich erschloss. Und Übungen an Geräten, die es nur in Turnhallen gab und schliesslich das Auswendigler- nen nicht enden wollender Balladen zum Zweck des Abge- fragtwerdens – alles Erscheinungsformen der Selbstbezüg- lichkeit einer lebensfremd erscheinenden Institution, de- ren Betriebsmittel eine Mischung war aus Routine, Lange- weile und bisweilen auch etwas Angst.

Vergleichbare Erfahrungen muss im Übrigen bereits Seneca gemacht haben, denn seine originale Sentenz war nicht die, die Büchmann an erster Stelle zitiert, sondern deren bitteres, vielleicht erbittertes Gegenstück: «Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir». Das sollte es selbstverständlich gerade nicht sein. Aber was dann…

Wenn die Auswege am Boden des Gewohnten ver- baut sind, man aber vorankommen will, kann man auf den verwegenen Gedanken verfallen zu fliegen. Und was böte sich da mehr an als eine Ausrüstung aus dem Be- stand der «Geflügelten Worten». Schlagen wir nur eine Sei- te zurück, so findet sich Folgendes, offenbar gedacht für

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die Lehrenden: «Lang ist der Weg durch Lehren, kurz und erfolgreich durch Beispiele». Mein Beispiel ist einer der grossen Romane der Schweizer Literatur: Robert Walsers Jakob von Gunten von 1909. Es handelt sich um einen Tagebuchroman, genauer um eine lose Folge fiktiver Tage- buchaufzeichnungen des Titelhelden Jakob. Der Ich-Erzäh- ler Jakob – aus gutem Hause stammend – hat sich wie es heisst «entschlossen, gänzlich von aller hochmütigen Tra- dition abzufallen.» Er will, «dass das Leben ihn erziehe.»

Aus diesem Grund ist er nach seiner Übersiedlung in die Grosstadt in eine Dienerschule eingetreten, um sich hier

«die paar Kenntnisse anzueignen, die nötig sind, in irgend jemandes Dienste zu treten.»

Die Dienerschule in Jakob von Gunten

Dazu kommt es jedoch am Ende nicht. Die unbestimmte Zeit des Aufenthalts in der Dienerschule endet mit deren Niedergang und Auflösung und für Jakob mit der Erwar- tung einer Reise in ferne Kontinente. Es ist nicht die einzi- ge überraschende Wendung, die der Text bereithält. Ent- täuscht wird von allem Anfang an die Erwartung des Ich- Erzählers, im Institut Benjamenta dem Leben zu begegnen.

Jakob sieht sich vielmehr in ein rigides Regelsystem ver- setzt, das alle Untugenden einer verselbständigten Diszip- lin in sich vereinigt – eine surreale Szenerie mit grotesken, aber nicht immer komischen Zügen. Die Zöglinge tragen Uniform; ihr gesamtes Verhalten gehorcht einer strikten Normierung, vom alltäglichen Benimm bis in die inner- psychischen Regungen hinein: «Wir Zöglinge hoffen nichts, ja, es ist uns streng untersagt, Lebenshoffnungen in der Brust zu hegen». An Lehrmitteln gibt es ein einziges Buch, dessen Titel die Institution, der es dient, zum Zweck er- hebt: «Wir lernen die Vorschriften, die hier herrschen, aus- wendig. Oder wir lesen in dem Buch Was bezweckt Benjamenta’s Knabenschule?» Der Unterricht huldigt dem Prinzip fortgesetzter Wiederholung: «Es gibt nur eine ein- zige Stunde, und die wiederholt sich immer. ‹Wie hat sich der Knabe zu benehmen?› Um diese Frage herum dreht sich im Grunde genommen der ganze Unterricht. Kenntnis- se werden uns keine beigebracht.» Erwünscht sind statt- dessen die Sekundärtugenden der Unterwerfung: «Der Un- terricht, den wir geniessen, besteht hauptsächlich darin, uns Geduld und Gehorsam einzuprägen». Gespenstisch ist all dies durch die Abwesenheit derer, die den Prozess der Zurichtung sei es für das Leben oder die Schule zu leiten hätten, der Lehrer. «... die Herren Erzieher und Lehrer schlafen, oder sie sind tot, oder nur scheintot, oder sie sind versteinert, gleichviel, jedenfalls hat man nichts von ihnen.»

Walsers Gegenmodell eines Bildungsromans

Dass all dies nicht zu einem sich rundenden Bildungspro- zess beiträgt, in dem «der Einfluss der Kulturgüter und der

personalen Umwelt die Entfaltung und harmonische Aus- bildung der geistigen Anlagen» befördert (dies eine an- spruchsvolle Definition des Bildungsromans) kann nicht verwundern. Dennoch gehört Walsers Roman in die Reihe der Bildungsromane – allerdings als Gegenmodell mit ei- nem ganz eigenen pädagogischen Ethos. In und mit ihm wird der familiäre Tradierungszusammenhang verlassen;

Jakob geht es auch nicht um die freie, bildungsbewusste Inanspruchnahme reichhaltiger Erfahrungsräume, sondern um den Versuch, authentische Erfahrung allererst zu er- möglichen, gegen das Beharrungsvermögen der Tradition.

Sein Verhalten wird gerade im Rahmen des strengen Insti- tuts nach und nach inkonsistenter und experimenteller, bis hin zum Versuch, jenseits garantierter Sicherheiten zu leben und dabei sogar die eigene Identität auf’s Spiel zu setzen.

Am Anfang ist davon wenig zu spüren. Jakob verhält sich abwartend und staunt, nicht zuletzt über sich selbst:

«Seit ich hier bin, habe ich es bereits fertiggebracht, mir zum Rätsel zu werden.» Gleichwohl beginnt er schon bald, seine eigenen Interessen zu vertreten. Naheliegend ist, dass er auf dem Gegenprinzip, also auf seiner Vorstellung eines zukünftigen Lebens, des eines Dieners besteht, dem die Schule ihrerseits zu dienen hätte. Er versucht dies auch zunächst - in einem spontanen Versuch, sich zu wehren - auf halber Strecke zwischen Beschwerde und Aufsässig- keit: Beschwerde über den Zustand des Instituts, Aufsäs- sigkeit im Versuch, das bereits gezahlte Schulgeld zurück- zuerhalten. Adressat dieses Versuchs, sich aufzulehnen, ist der Institutsleiter. Der reagiert anfänglich autoritär, am Ende aber mit einer überraschenden Wendung zur gedul- digen Empirie dem Nächsten gegenüber.

Herr Benjamenta: «Einmal bezahlte Geldbeträge wer- den nicht zurückerstattet! Und was deine törichte Meinung betrifft, du könntest hier nichts lernen, so irrst du dich, denn du kannst lernen. Lerne vor allen Dingen erst deine Umgebung kennen. Deine Kameraden sind es wert, sich mit ihnen bekannt zu machen. Sprich mit ihnen. Ein paar Menschen vollkommen kennen zu lernen, dazu bedarf es eines Menschenlebens.»

Zarte Subversion

Mit dem letzten Satz ist Herr Benjamenta bereits unmerk- lich in eine Sphäre jenseits der pädagogischen Praxis sei- nes eigenen Instituts geraten; damit offenbart er zugleich die Seite seiner psychischen Konstitution, an der er ver- wundbar ist. Was sich hier andeutet, ist eine ganz unwill- kürliche Form zarter Subversion, die vom Helden des Ro- mans ausgeht und nach und nach ihre Wirkung tut.

Motiviert ist sie von einer entschiedenen Vorliebe für den Moment, für die wache Anwesenheit im je gegebenen Hier und Jetzt. Diese Präsenz im Präsens, diese aufmerk- same und aufsässige Gegenwärtigkeit führt in Jakob von

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Gunten zu einem Blick für das je Einzelne, zu einer eigen- tümlichen Gleichwertigkeit der wahrgenommenen Dinge und zur Evokation der Zeitlosigkeit der einander ablö- senden Augenblicke. In dieser Welt werden die Mit-Zög- linge Jakobs nach und nach ihre Dienerstellen antreten.

Herr Benjamenta und Jakob verständigen sich am Ende auf eine gemeinsame Reise in die aussereuropäische Welt der Wüsten und der Wildnis, also auf eine Reise zu Syno- nymen des Nicht-Vorhersagbaren. Das pädagogische Insti- tut ist damit an sein Ende gekommen, und es ist Jakobs Moral einer karriereresistenten, demütigen Gegenwärtig- keit, die die rigide Ordnung nach und nach unterminiert hat. Der Romanheld ist sich seiner provokatorischen Wir- kung durchaus bewusst: «In mir lebt eine sonderbare En- ergie, das Leben von Grund auf kennen zu lernen, und eine unbezwingliche Lust, Menschen und Dinge zu sta- cheln, dass sie sich mir offenbaren.»

Am überraschendsten offenbart sich der scheinbar übermächtige Pädagoge Benjamenta. Es ist eine Szene, in der sich das Verhältnis von Lehrer und Schüler, von Domi- nanz und Subordination, von Bitte und Befehl, von Nähe und Distanz in mehreren Anläufen vollständig umkehrt.

Diese Szene hat eine dramaturgische Schlüsselfunktion.

An ihrem Anfang steht die harsche Zurechtweisung des Zöglings Jakob und der Befehl, sich zu entfernen, und am Ende überrascht sich der Institutsleiter selbst mit einem Eingeständnis, an das er sich in den Minuten davor fast gegen seinen Willen und in einem spannungsreichen Wechsel von Warnung, halber Drohung mit Gewalt und dem Geständnis der eigenen Wehrlosigkeit herangetastet hat – bis hin zu der Bitte um Missachtung durch seinen Zögling.

Hier sind die Schule der schwarzen Pädagogik und das Lernen um der Schule und deren Ordnung willen auf exemplarische Weise an ein Ende gekommen; an ihre Stel- le ist die Unmittelbarkeit des Lebens getreten; so jeden- falls das resümierende Bekenntnis Herrn Benjamentas auf den letzten Seiten des Textes: «Mit dir ist frisches, ist über- haupt erst Leben über mich und in mich hineingekom- men.»

Das ist natürlich alles zu schön, um im Blick auf den von uns gekannten pädagogischen Alltag ganz wahr zu sein – ein Märchen des frühen 20. Jahrhunderts von der Wirkung des Lebendigen auf eine scheinbar unbewegliche Institution. Auch wenn man den Märchencharakter konze- diert, oder vielleicht gerade dann, tritt das Heuristische an Walsers verquerem Bildungsroman hervor. Ich will im Fol- genden versuchen, das zu zeigen.

Das pädagogische Paradox

Wenn wir das eingangs gezeigte Schema zum Verhältnis von Schule und Leben und von Mittel und Zweck im Lichte des walserschen Märchens weiter ausdifferenzieren, stos- sen wir auf ein altes Problem aus der Geschichte des Nach- denkens über Erziehung. Es trägt den Namen «pädagogi- sches Paradox» und lässt sich mit Fragen wie diesen um- schreiben: Ist Lernen – aufgefasst als tätige Aneignung, nicht als Anwendung von Regeln und Rezepten – wirklich lehrbar?

Oder: Kann man als Objekt pädagogischer Einwirkung

lernen, zum Subjekt seines eigenen Lebens und damit zu seiner eigenen Lerngeschichte werden? Oder: Wie soll ein Objekt der Lehre jemals mündig werden?

Mittel und Zweck sind im Sinne des pädagogischen Paradoxes in einem eklatanten Widerspruch, vereinfacht gesagt: in dem von Fremd- und Selbstbestimmung. Lässt sich dieser Widerspruch nun mit den Mitteln, die das Bei- spiel aus Walsers Zöglingsroman bietet, auflösen? Es wäre zuviel des Spekulativen, das entschlossen zu bejahen.

Was jedoch möglich erscheint, ist die Nennung einiger Vo- raussetzungen, unter denen die paradoxe Situation, in der jede bewusste pädagogische Arbeit steht, handhabbarer wird; man könnte es das implizite pädagogische Ethos des Jakob von Gunten nennen:

Pädagogisches Ethos von Jakob von Gunten

1. Pädagogische Arbeit sollte weder im Schatten der norm- gebenden Vergangenheit noch in dem der mutmassli- chen Zukunft beginnen, sondern in der Helle der je- weils gegebenen Gegenwart; ihre erste Sorge sollte dem Gelingen einer präzisen, nicht präformierten und nicht teleologisch verzerrten Wahrnehmung gelten.

2 Ohne eine emotionale Grundierung des pädagogischen Verhältnisses tendieren alle sachorientierten Anstren- gungen zur blossen Instruktion. Eine nüchterne, kriti- sche wie selbstkritische Sympathie wäre ein Affekt, der aus der skizzierten Qualität der unvoreingenommenen Wahrnehmung folgen könnte. Auf sie sollte keine päda- gogische Praxis verzichten.

3. Genaue Wahrnehmung und nüchterne Sympathie könn- ten – produktiv aufeinander bezogen – egalitäre Ver- hältnisse im pädagogischen Alltag begünstigen. Egali- täre Verhältnisse bei der Wahrnehmung von Artikulati- onsmöglichkeiten und Interessen sind eine gute Vor- aussetzung für lang anhaltende Motivation bei Lernen- den und Lehrenden; sie stehen nicht im Widerspruch zu funktionaler Autorität.

Ästhetische Erziehung im Wortsinn

Die zentrale Funktion, die in diesen Postulaten der Wahr- nehmung zukommt, kann sich auf den Wortsinn des Be- griffs der ästhetischen Erziehung berufen. Ästhetik wurde bis etwa zum Ende des 18. Jahrhunderts als Theorie der Wahrnehmung verstanden und nicht primär als eine The- orie der Kunst; der Begriff geht auf das griechische «aisthe- sis» zurück und meint «sinnliche Wahrnehmung». Diese Wortbedeutung sollte auch heute mitgedacht werden, wenn von ästhetischer Erziehung im von uns gewohnten engeren Sinn die Rede ist. Denn eben die Kunst ist es, vor der und mit der gesteigerte und unroutinierte Wahrneh- mung möglich werden kann und soll. Aus diesem Grund sind Kunstwerke – gleich welcher Herkunft und welcher Gattung – privilegierte Objekte pädagogisch wichtiger Er- fahrung.

Mir erscheint es vorteilhaft, als Reflexionsgegenstän- de nicht nur Schule und Leben in Betracht zu ziehen, son- dern auch und vor allem Objekte der Kunst; ich habe ver- sucht, das mit Walsers Zöglingsroman zu tun. Die Wahl der Gegenstände ist gerade durch die zentrale Stellung des Er- fahrungsbegriffs begründbar. Der amerikanische Philosoph

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und Pädagoge John Dewey war sich dessen bewusst «Ge- wöhnliche Erfahrung», so Dewey «ist oftmals mit Apathie, Mattigkeit und Stereotypie infiziert. Weder bekommen wir die volle Wirkung von sinnlicher Qualität durch die Sinne mit noch auch die Bedeutung von Dingen durch Nachden- ken.»

Im Sinne solcher Erwartung und gegen die Apathie des Alltags können die literarischen Figuren und die Werke selbst zum Anlass des geschärften Interesses werden, erst recht dann, wenn in ihnen eine Haltung anschaulich wird, die im Kontext der Werke der richtungslosen Kon- vention widerspricht. Das Medium der Kunst und Literatur selbst als Ort gesteigerter Erfahrung steht somit in scharfem Kontrast zur müden Routineexistenz, wie sie Dewey poin- tiert benannt hat. «Die Gegner der Ästhetik sind weder die Praktiker noch die Intellektuellen. Es sind die Langweiler;

die Schlaffheit loser Enden; die Unterwerfung unter die Konvention auf praktischem und auf geistigem Gebiet.

Strenge Abstinenz, erzwungene Unterwerfung und Härte einerseits und Haltlosigkeit, Inkonsequenz und richtungs- lose Nachgiebigkeit andererseits führen in gegensätzlichen Richtungen von der Einheit der Erfahrung weg.» In der Kunst jedoch scheint sie weiterhin vorstellbar.

Auch wenn die «Einheit der Erfahrung» kein naiv po- stulierbares Ziel mehr sein kann, kann Deweys am Erfah- rungsbegriff orientierte Kunsttheorie zum Instrument ei- ner Reflexion werden, die zur Antizipation fähig ist: «Kunst ist eine Art der Voraussage, wie sie nicht in Tabellen und Statistiken anzutreffen ist, und sie gibt die Möglichkeiten, menschliche Beziehungen zu verstehen, die nicht in Regel und Vorschrift, Ermahnung und Verwaltung anzutreffen sind.» Das korrespondiert mit dem Diktum Kafkas von der Kunst als «Spiegel, der ‹vorausgeht› wie eine Uhr», in dem die «Verunstaltungen» notiert sind, «die noch nicht in un- ser Bewusstsein eingedrungen sind.» Käme man ihnen auf die Spur, wäre viel gewonnen.

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www.eb-zuerich.ch – lernen@eb-zuerich.ch

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