• Keine Ergebnisse gefunden

Gangolf Hübinger Religion und politische Streitkultur im „Jahrhundert der Intellektuellen“

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Gangolf Hübinger Religion und politische Streitkultur im „Jahrhundert der Intellektuellen“"

Copied!
20
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Religion und politische Streitkultur im „Jahrhundert der Intellektuellen“

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Intellektuellensemantik in die öffentliche Streitkultur zurückgekehrt. Jürgen Habermas und Jacques Derrida, die beiden führenden Repräsentanten der deutschen und französischen philosophie engagée, haben Demonstrationen in den europäischen Metropolen gegen den Krieg der USA im Irak zum Anlaß genommen, um einen Aufruf zu Europas „Erneuerung“

aus dem Geist der intellektuellen Selbstmobilisierung in der internationalen Presse zu veröffentlichen. Rhetorische Strategie und Rollenspiel folgen den klassischen Mustern, die das „Jahrhundert der Intellektuellen“, wie der französische Histori- ker Michel Winock das 20. Jahrhundert bezeichnet, bereitgestellt hat1. Das Mani- fest erklärt die Massendemonstrationen gegen den Irakkrieg zum symbolischen Ort „für die Geburt einer neuen europäischen Öffentlichkeit“. Im Bewußtsein sei- ner kulturellen Werte und „historischen Errungenschaften“ – explizit genannt sind

„Christentum und Kapitalismus, Naturwissenschaft und Technik, römisches Recht, und Code Napoléon, die bürgerlich-urbane Lebensform, Demokratie und Menschenrechte, die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft“ – habe das neue Europa die Aufgabe, „sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN“ künftig stärker in die Waagschale zu werfen. „Wenn das Thema bisher nicht einmal auf die Agenda gelangt ist, haben wir Intellektuelle versagt.“2

In Deutschland gibt es keine der französischen Kulturforschung adäquate Ge- schichte der Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Sonst wäre bekannt, daß am Ende des Ersten Weltkriegs mit Ernst Troeltsch einer der bedeutendsten Religions-Intel- lektuellen ziemlich das gleiche gedacht und öffentlich proklamiert hat. Troeltsch hat in seinen Schriften und Reden zwischen 1918 und 1922 die Frage nach der in- neren Integrationskraft der europäischen Kulturwerte und nach den Spannungen,

1 Jacques Derrida, Jürgen Habermas, Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 125 vom 31. 5. 2003). Das Manifest wurde in einer gemeinsamen Aktion mit Essays von Adolf Muschg (Neue Zürcher Zeitung), Umberto Ecco (La Repubblica), Gianni Vattimo (La Stampa), Fernando Savater (El Pais) und Richard Rorty (Süd- deutsche Zeitung) am gleichen Tag publiziert.

2 Alle Zitate im Abdruck bei Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen (Frankfurt a. M. 2004) 43–51.

101-120_Kap.06_Graf.indd 101

101-120_Kap.06_Graf.indd 101 03.09.2009 13:06:24 Uhr03.09.2009 13:06:24 Uhr

(2)

gar der Spaltung zwischen „Amerikanismus und Europäismus“3 dringlich auf die Agenda des 20. Jahrhunderts gesetzt. Für den Theologen Troeltsch war dies eine Frage nach der intellektuellen Macht des Christentums: „Sie [die Christlichkeit, G.H.] ist die Religion des Abendlandes aus seiner innerlichsten Entwicklung her- aus seit den Tagen des Hellenentums und seiner Neubelebung durch die Berüh- rung mit der alten Religion des Orients, seit den Tagen der Völkerwanderung und germanischen Staatsgründung, für die Kultur und Christentum ein und dasselbe waren. Europa wird keine andere Religion sehen, und auf außereuropäischem Bo- den wiederum wird das Christentum ohne gleichzeitige Übertragung durch das Europäertum schwer Fuß fassen können. Denn eins ist aus dem anderen erwach- sen. Das Christentum hat alles in sich gesogen, was Europa an Sehnsucht, Kraft und Begeisterung besaß, und das europäische Leben wiederum ist durchtränkt mit allen Säften des Christentums.“4 Bündiger formulierte Troeltsch den Integrations- wert in seinen britischen Vorträgen: „Das Christentum ist aus einer jüdischen Sek- te die Religion des gesamten Europäertums geworden.“5

Die Erwartungen an die politische Integrationskraft aus den Potentialen der christlichen Kulturgeschichte, die Troeltschs intellektuelle Konstruktion der euro- päischen Kultursynthese aus deutschem Idealismus und westeuropäischer, vor- nehmlich angelsächsischer Aufklärung speisten6, hat am Ende dieses katastrophen- gesättigten Säkulums Reinhart Koselleck in einem ganz entscheidenden Punkt problematisiert. In den Castelgandolfo-Gesprächen, die sich 1987 dem Thema

„Europa und die Folgen“ widmeten, hat Koselleck die historische Lernfähigkeit der Europäer weniger auf die Überwindung als auf das Aushalten von Gegensät- zen hin befragt. Charakteristisch für Europas Geschichte sei, daß universale Werte und Ansprüche auf Wahrheit stets in umkämpften Versionen aufgetreten seien:

„Der Universalanspruch, der der christlichen Offenbarung innewohnt, hat sich im Verlauf der Geschichte immer pluralistisch dargeboten. Der Zerfall der Christen- heit spätestens seit dem 11. Jahrhundert in die byzantinische und die römische Richtung, spätestens seit der Reformation in die katholische und die protestan- tische Richtung, zeigt, daß die Universalansprüche der Offenbarung empirisch im- mer plural konkurrierend vorgetragen sind.“7 Begibt man sich auf dieses empi- rische Feld, in dem universale Ideen von Wahrheit und gerechter Ordnung nie rein orthodox und machtgeschützt, sondern stets heterodox im Kampf um Wissen und Werte zirkulieren, so ist das Deutungs- und Aktionsfeld der Intellektuellen ganz

3 Ernst Troeltsch, Schriften zur Politik und Kulturphilosophie 1918–1923, hrsg. von Gangolf Hü- binger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (Troeltsch – KGA 15, Berlin 2002) 449.

4 KGA 15, 190f.

5 Ernst Troeltsch, Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen, in: ders., Fünf Vorträge für England und Schottland. Der Historismus und seine Überwindung (1924) I Christian Thought.

Its History and Application, hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Andreas Terwey (Troeltsch – KGA 17, Berlin 2006) 112.

6 Vgl. Troeltschs Vortrag über „Politik, Patriotismus, Religion“, KGA 17, 117–130, bes. 129f.

7 Kosellecks Diskussionsbeitrag in: Krzysztof Michalski (Hrsg.), Europa und die Folgen, (Castel- gandolfo-Gespräche 1987, Stuttgart 1988) 46.

101-120_Kap.06_Graf.indd 102

101-120_Kap.06_Graf.indd 102 03.09.2009 13:06:25 Uhr03.09.2009 13:06:25 Uhr

(3)

generell und der Religions-Intellektuellen im besonderen abgesteckt. Denn Intel- lektuelle sind die Spezialisten im Umgang mit symbolischen Gütern. Zu ermessen sind ihre Rollen und ihr Anteil an der Streitkultur der Neuzeit, ihre Konkurrenz um christianisierte oder säkularisierte, um homogenisierte oder pluralisierte Versi- onen europäischer Lebensordnungen.

Wie sehr eine Geschichte der Religions-Intellektuellen die Heterogenität kultu- reller Orientierungen zum Ausgangspunkt machen muß, zeigt allein die Tatsache, daß Ernst Troeltsch seine religiöse Utopie der europäischen Kultursynthese so- wohl in theologischer als auch in politischer Sicht aus einer intellektuellen bürger- lichen Minderheitenposition heraus formulierte. Denn die klassische Moderne war nach 1918 durch eine Verschärfung der Kulturkämpfe gekennzeichnet, in denen sich der Erste Weltkrieg ideenpolitisch fortsetzte und an denen sich die Religions- Intellektuellen an vorderster Front beteiligten. Das Problemfeld eines Symposi- ums zu „Intellektuellen-Göttern im religiösen Laboratorium der klassischen Mo- derne“ soll deshalb im folgenden unter drei Aspekten strukturiert werden. Erstens sind einige Konzepte und Strategien der europäischen Intellektuellenforschung darzustellen. Vor diesem Hintergrund lassen sich zweitens die Besonderheiten der deutschen, in religiösen Milieus verankerten Intellektuellenkultur im Vergleich zum französischen Laizismus prüfen. Intellektuelle sind nicht identisch mit Klas- sikern der Theologie. Oft sind Figuren der zweiten und dritten Reihe im öffent- lichen Streit markanter oder publizistisch einflußreicher. Dazu sollen drittens mit Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) und Hans Zehrer (1899–1966) exemplarisch zwei abtrünnige Leser von Ernst Troeltsch in ihrem biographischen Gegensatz wie in ihrem großen Einfluß ins champ intellectuel der deutschen Geschichte gestellt werden. Bei Bonhoeffer geht es um die gesinnungsethische Konsequenz des intel- lektuellen Protestes bis zum Letzten. Bei Zehrer um die „religionssemantisch re- flektierten Wahrnehmungsperspektiven“ in seinem journalistischen Einsatz für die religiös eingebundene „Durchsetzung des modernen Nationalismus“, den Theolo- gen „als eine Erfolgsgeschichte von ‚Rechristianisierung‘“ lesen8.

I.

Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht liegt die Aufgabe von Intellektu- ellen darin, Ideen zu prägen, zu bündeln, für ihre handlungsleitende Verbindlich- keit zu kämpfen und in multiplizierender Form die „Ideenzirkulation“ pluralisierter Gesellschaften so lebhaft wie möglich zu betreiben9.

Intellektuelle stellen sich in den Dienst eines Ideals, leiten daraus Kulturwerte ab und kämpfen um deren Verbindlichkeit bei der rationalen Weltdeutung, der

8 Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur (Mün- chen 2004).

9 Jean François Sirinelli, Artikel „Intellectuels“, in: Dictionaire historique de la vie politique fran- çaise au XXe siécle (Paris 1995) 525.

101-120_Kap.06_Graf.indd 103

101-120_Kap.06_Graf.indd 103 03.09.2009 13:06:25 Uhr03.09.2009 13:06:25 Uhr

(4)

gerechten sozialen Ordnung und der Systematisierung persönlicher Lebensfüh- rung. Die Ideen von „Wahrheit und Gerechtigkeit“ erhielten ihren symbolischen Rang als oberste kulturelle Leitwerte in der französischen Staatskrise, zu der sich die Dreyfus-Affäre auswuchs. Aber selbstverständlich gab es auch vor Emile Zola’s Gründungsurkunde des modernen Intellektuellen, dem wohlkalkulierten

„j’accuse“10, sehr unterschiedliche Typen von Intellektuellen. Der Religions-In- tellektuelle ist bereits eine mittelalterliche Figur und beherrscht die Gründung der europäischen Universitätslandschaft. Nachdem die Universität Bologna an der Wende des 12. zum 13. Jahrhundert als juristische Lehranstalt ins Leben geru- fen wurde, war das zur gleichen Zeit gegründete Paris in erster Linie der intellek- tuellen Pluralisierung der Kleriker geschuldet: „Neben dem dort handelnden Herrscher waren noch wichtig die französische Kirche und ihr Klerus, klug oder gar intellektuell im Vergleich zum armen italienischen oder zu dem feudalen deut- schen Klerus.“11

Intellektuelle wirken als „Störungsfaktor“ (Joseph Schumpeter) politischer Ord- nungen, sie überführen sozialen Konsens in Dissens. Dadurch sind sie maßgeblich an den kulturellen Polarisierungen und Spaltungen Europas beteiligt. Die großen historischen Teilprozesse der Konfessions-, Nations- und Klassenbildungen ver- liefen durch ihre Deutungsmacht anders, als sie sonst verlaufen wären. Intellektu- elle waren stets engagiert, die Religionskriege zu rechtfertigen, den Nationalismus zur politischen Religion zu erheben oder den Klassenkampf mit Prophetien zur Ab- schaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen zu führen12. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzog sich in den Ländern der fortgeschrittenen „Doppelre- volution“ aus Industrialisierung und Demokratisierung ein vergleichbarer Prozeß.

Die liberale Elitenöffentlichkeit mit ihrem Ideal der vernunftgeleiteten öffentlichen Meinung zum Besten der Nation transformierte sich in die demokratische Mas- senöffentlichkeit mit parteipolitischen Polarisierungen und intellektuellen Frakti- onierungen. Ein zensurfreier, neuartiger Massenmarkt für geistige Produkte sorgte aus der Mitte der kulturellen Metropolen in Frankreich, England und dem Deut- schen Reich auffällig gleichzeitig dafür, daß sich zur Sache auch der Begriff des

„Intellektuellen“ einstellte und die nicht nur in Frankreich so bezeichnete Sozial- figur mit einem eigenen Profil auf den Plan trat13. Die Erforschung dieser Sozial-

10 Vgl. Christophe Charle, Naissance des „Intellectuels“ 1880–1900 (Paris 1990); Andreas Franz- mann, Der Intellektuelle als Protagonist der Öffentlichkeit. Krise und Räsonnement in der Affäre Dreyfus (Frankfurt a. M. 2004).

11 Peter Moraw, Die Universitäten in Europa und in Deutschland. Anfänge und erste Schritte auf einem langen Weg (12.–16. Jahrhundert), in: Ulrich Sieg, Dietrich Korsch (Hrsg.), Die Idee der Uni- versität heute (München 2005) 25–40, Zitat 32.

12 Hans Joas, Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas (Frankfurt a. M. 2005), hier Peter Wagner, Hat Europa eine kulturelle Identität, ebd. 494–511.

13 Vgl. ausführlicher Gangolf Hübinger, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektu- ellengeschichte (Göttingen 2006); Hübinger, Die politischen Rollen europäischer Intellektueller, in: Gangolf Hübinger, Thomas Hertfelder (Hrsg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deut- schen Politik (Stuttgart 2000) 30–44.

101-120_Kap.06_Graf.indd 104

101-120_Kap.06_Graf.indd 104 03.09.2009 13:06:25 Uhr03.09.2009 13:06:25 Uhr

(5)

figur in ihren politischen Rollen und kulturellen Bedeutungsgehalten ist dann in der französischen, der angelsächsischen und der deutschen Geschichtsschreibung unterschiedliche Wege gegangen. Um es für die folgenden Überlegungen, die dem Typus des Religions-Intellektuellen gewidmet sind, idealtypisch zuzuspitzen: In Frankreich ist die Intellektuellenforschung um den Ausweis der „sociabilité“, der Netzwerke und Geselligkeitsmuster zentriert. In der angelsächsischen Debatte do- miniert der Rückgriff auf Joseph Schumpeters Diktum vom „Störungsfaktor“ un- gerecht empfundener Sozialordnungen und die entsprechende Erschließung intel- lektueller „Streitkultur“. Schumpeter selbst hatte für seine Soziologie der Intellek- tuellen die Arbeiterbewegung im Auge: „Derart haben die Intellektuellen, obwohl sie die Arbeiterbewegung nicht geschaffen haben, sie doch in eine Form gebracht, die wesentlich von der abweicht, die sie allein gefunden hätte.“14 Auf diese Abwei- chungs-Hypothese hin lassen sich im Prinzip alle politischen und religiösen Bewe- gungen untersuchen.

Die deutsche Diskussion hat bislang ihr Gewicht vor allem auf den Aspekt der Bildungsgeschichte, der Gelehrtenpolitik und der literarischen Zirkelbildung ge- legt. Stärker als in Frankreich oder in England trat dabei der religiöse Aspekt in den Vordergrund. Max Weber hat sogar die „Intellektuellen“ in ihrem anthropo- logischen Bedürfnis, „die Welt als einen sinnvollen Kosmos zu begreifen“, erstmals zu einer Leitkategorie der religionssoziologischen Forschung aufgewertet15. In Deutschland hat sich dies jedoch kaum in der Historiographie niedergeschlagen16. Nur in Frankreich hat sich die historische Intellektuellenforschung erfolgreich etabliert mit einer 1985 gegründeten eigenen Forschergruppe17, einem Kanon an Themen und Methoden, einem Speziallexikon18 und der Popularisierung in der Reihe „Que sais je?“19. Zugleich ist sie zu einem Experimentierfeld neuer Ge- schichtsschreibung geworden. Vertreter der historischen Soziologie in der Nach- folge von Pierre Bourdieu wetteifern mit den Verfechtern einer neuen Kultur- und Politikgeschichte (Jean Francois Sirinelli) um ein Paradigma, das auf vier Achsen ruht und sich auch in der Religionsgeschichte bewähren kann.

Gemeint sind erstens die „lieux et réseaux de sociabilité“, Medien, Institutionen und gesellschaftliche Kommunikationsnetze. Interessanterweise dient hierzu na- mentlich Georg Simmels Begriff der „Geselligkeit“ als Referenz20, der sich wieder-

14 Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (München 51980) 249.

15 Gangolf Hübinger, Intellektuelle, Intellektualismus, in: Hans G. Kippenberg und Martin Riese- brodt (Hrsg.), Max Webers „Religionssystematik“ (Tübingen 2001) 297–314.

16 Die heterogene Forschungslage beleuchtet Jutta Schlich (Hrsg.), Intellektuelle im 20. Jahrhun- dert in Deutschland (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Sonder- heft 11, Tübingen 2000).

17 Die „Groupe de recherche sur l’histoire des intellectuels“ (GRHI) unter Leitung von Nicole Racine und des im März 2004 im Alter von 56 Jahren gestorbenen Michel Trebitsch.

18 Jacques Juillard, Michel Winock (Hrsg.), Dictionnaire des intellectuels français. Les persons, les lieux, les moments (Paris 22002).

19 Michel Leymarie, Les intellectuels et la politique en France (Paris 2001).

20 Nicole Racine, Michel Trebitsch (Hrsg.), Sociabilités intellectuelles. Lieux, milieux, réseaux, in:

Cahiers de l’IHTP (Institut pour l’histoire de temps present) 20 (1992) Zitate 7, 9.

101-120_Kap.06_Graf.indd 105

101-120_Kap.06_Graf.indd 105 03.09.2009 13:06:25 Uhr03.09.2009 13:06:25 Uhr

(6)

um auf Friedrich Daniel Schleiermacher stützt21. Zweitens die „générations“, die Alterskohorten mit ihren spezifischen Erfahrungen und Lebensprägungen22. Drit- tens die „itinéraires“, die Bildungswege und Sozialbiographien23. Hinzugefügt zu diesen ursprünglich „trois outils de recherche opératoires en histoire des intellec- tuels“24 werden die „moments“, die Konfliktereignisse. Die „moments“ sind die entscheidenden Anlässe, die das öffentliche Engagement herausfordern und erst die Theologen, Dichter oder Ärzte zu Intellektuellen machen. Das französische Lexikon präsentiert eine ideenpolitische Landkarte der zeitgeschichtlichen Krisen- herde, Spanischer Bürgerkrieg von 1936, „München 1938“, der Archipel Gulag, eine dritte Auflage hätte „das Kopftuch“ aufzunehmen. Aus der mehr oder weni- ger originellen Konfiguration dieser vier Achsen ergeben sich die Konzepte und thematischen Schwerpunkte, die den unterschiedlichsten Monographien vom mit- telalterlichen Gelehrtenwesen bis zu den Arbeiterbewegungen des 20. Jahrhun- derts zugrundegelegt werden. Das Ergebnis muß nicht eine klassisch-biogra- phische „intellectual history“ wie kürzlich zu Maurice Halbwachs25, es kann auch eine serielle Sozialstudie sein.

Für die Geschichte der Intellektuellen in der Zwischenkriegszeit wurde mit pro- sopographischer Akribie das 49bändige „Dictionnaire biographique du mouve- ment ouvrier français“ von Jean Maitron (1964–1990) ausgewertet26. Ansatzweise ist im deutschen Vergleichsfall der Anteil der jüdischen Intellektuellen an der Sozial demokratischen Partei Gegenstand einer Untersuchung geworden27. Aber niemand kam bislang ernsthaft auf die Idee, große Enzyklopädien wie „Religion in Geschichte und Gegenwart“ oder das „Görres-Staatslexikon“ auf Karrierever- gleich, Alterskohorten oder Netzwerkbildung von Intellektuellen systematisch auszuwerten. Im deutschen Wissenschaftsverständnis erschiene das als ein rand- ständiges Unternehmen.

21 Georg Simmel, Die beiden Formen des Individualismus, in: Simmel, Aufsätze und Abhand- lungen 1901–1908, hrsg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt (Frankfurt a. M. 1995) 49–56 (Georg Simmel – Gesamtausgabe 7).

22 Als epochale Gliederungskriterien der Studie von Michel Winock über das „Jahrhundert der Intellektuellen“ dienen „Die Ära Barrès“, „Die Ära Gide“ und „Die Ära Sartre“, Winock, Le Siècle des intellectuels (Paris 1997) (dt.: Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2003).

23 Viele Monographien enthalten in dieser Funktion einen ausführlichen „Annexe prosopogra- phique“, vgl. etwa Christophe Charle, Paris, fin de siècle. Culture et politique (Paris 1998) 262–

274.

24 Nicole Racine, Michel Trebitsch (Hrsg.), Sociabilités intellectuelles. Lieux, milieux, réseaux, in:

Cahiers de l’IHTP (Institut pour l´histoire de temps present) 20 (1992) 7–21.

25 Annette Becker, Maurice Halbwachs. Un Intellectuel en Guerres Mondiales 1914–1945 (Paris 2003).

26 Siehe Christophe Prochasson, Que faire des intellectuels du Maitron? In: Intellectuels engagés d’une guerre à l’autre. Sous la direction de Nicole Racine et Michel Trebitsch (Cahiers de l’institut d’histoire du temps presents 26, 1994) 213–215.

27 Helga Grebing, Jüdische Intellektuelle in der deutschen Arbeiterbewegung zwischen den bei- den Weltkriegen, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997) 19–38; vgl. auch Ulrich von Alemann u. a. (Hrsg.): Intellektuelle und Sozialdemokratie (Opladen 2000).

101-120_Kap.06_Graf.indd 106

101-120_Kap.06_Graf.indd 106 03.09.2009 13:06:26 Uhr03.09.2009 13:06:26 Uhr

(7)

II.

Durch nichts unterscheidet sich die Kulturgeschichte der französischen und der deutschen Intellektuellen so sehr wie durch den Bezug zur Religion. Frankreich gliedert die nationale Kulturgeschichte durch die symbolische Repräsentativität seiner engagierten Literaten, die Ära Barrés, die Ära Gide, die Ära Sartre. Auch das wäre in Deutschland nicht möglich, die kulturellen Ausgangspunkte sind zu verschieden. Einen der wesentlichen Gründe, vielleicht den zentralen, stellt die Religion dar. Es muß nicht kirchlich verfaßte und theologisch systematisierte Reli- gion sein. Intellektuelle Impulse durchziehen die deutsche Öffentlichkeit mindes- tens ebenso stark aus der humanistischen Goethe-Religion28, der freigeistigen Nietzsche-Religion29 oder der nationalistischen Arthur-Bonus-Religion30. Die Skala ließe sich leicht ergänzen31. Der gemeinsame Fluchtpunkt liegt in der „anthro- pologischen und semantischen Struktur der Bildung“. Bildung wirkt im deutschen Kultur- und Sprachraum auf andere Weise traditionsbildend als in Frankreich. Für Reinhart Koselleck zeichnet er sich dadurch aus, „nicht spezifisch bürgerlich oder politisch konzipiert worden zu sein – sondern primär theologisch“32. Über religi- öse Imprägnierung des 16. und 17. Jahrhunderts, aufgeklärt-pädagogische Reform- programme des 18. Jahrhunderts und selbst-reflexive idealistische Philosophie des 19. Jahrhunderts sei die „Bildung der Persönlichkeit“ mit „selbstkritischer Lebens- führung“ und der Nötigung „zu kommunikativen Leistungen, zur vita activa“33 von den Oberschichten bis zur Arbeiterbewegung zum Leitbild der deutschen Kultureliten – mithin der Intellektuellen – geworden.

Es gibt Anregungen, die deutsche Forschung möge sich eng an das Konzept der französischen Konzipierung der Sozialfigur des Intellektuellen anschließen34. Wie schwierig es ist, aus der deutschen Bildungstradition heraus eine Brücke zur fran- zösischen Intellektuellenmentalität zu schlagen, zeigt ein Versuch des Rechtswis- senschaftlers Gustav Radbruch, zugleich Reichstagsabgeordneter der Sozialdemo- kratischen Partei und Anhänger der Goethe-Religion. Als in Heidelberg Studenten und Dozenten gegen die Ernennung des pazifistischen Privatdozenten Emil Julius

28 Zum Beispiel bei Otto Baumgarten, vgl. Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik.

Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland (Tübin- gen 1994) 181.

29 Zum Beispiel bei Ernst und August Horneffer und in der Kulturpolitik des Eugen-Diederichs- Verlages, vgl. Gangolf Hübinger (Hrsg.), Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diede- richs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme (München 1996).

30 Ebd., sowie Graf, Wiederkehr der Götter 98, 146f., 157.

31 Vgl. Peter Antes, Donate Pahnke (Hrsg.), Die Religion von Oberschichten (Marburg 1989).

32 Reinhart Koselleck, Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bil- dung, in: ders., (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II: Bildungsgüter und Bil- dungswissen (Stuttgart 1990) 11–46, Zitat 16.

33 Ebd., 18 und 20.

34 Vgl., verbunden mit einer Polemik gegen Alternativen der deutschen Politik- und Kulturge- schichte, Hans Manfred Bock, Der Intellektuelle und der Mandarin? Zur Rolle des Intellektuellen in Frankreich und Deutschland, in: Frankreich-Jahrbuch 1998 (Opladen 1998) 35–51.

101-120_Kap.06_Graf.indd 107

101-120_Kap.06_Graf.indd 107 03.09.2009 13:06:26 Uhr03.09.2009 13:06:26 Uhr

(8)

Gumbel zum außerordentlichen Professor demonstrierten, protestierte Radbruch in der Heidelberger Zeitung ganz im Stil des kritischen Intellektuellen. Er unter- mauerte seinen Protest symbolisch mit dem Verweis auf den auch in Heidelberg gezeigten ersten deutschen Tonfilm, der dem Thema „Dreyfus“ gewidmet war35. Die Pointe des Dreyfus-Films in der Regie von Richard Oswald, Uraufführung in Berlin 1930, liegt weniger in der Zuspitzung auf die religiöse Pathosformel von Wahrheit und Gerechtigkeit im Mund der Intellektuellen-Ikone Emile Zola, ge- spielt von Heinrich George. Sie liegt im Transfer des Intellektuellenthemas von Paris nach Berlin, in den August 1930. Die Geschichte von Macht und Geist, von Staatswillkür und Gesinnungsprotest, von Antisemitismus und Bürgerrecht wird in die Auflösung der demokratischen Institutionen der Weimarer Republik und den latenten Bürgerkrieg hineingespielt. Radbruchs Hoffnungen auf Mobilisierung der zivilbürgerlich gesinnten Akademiker war gleich doppelt trügerisch. Zum ei- nen dominierte unter den jungen Intellektuellen ein Nationalismus, wie ihn die religiös-kulturelle Monatsschrift „Die Tat“ repräsentierte. Zum zweiten zählte der hier angerufene Intellektuellen-Habitus nicht zum Vorbild kultureller Vergesell- schaftung in der deutschen Geschichte.

Das wirft die Frage auf, wie vergleichbar sind überhaupt Frankreich und Deutschland, oder wie unvergleichbar36? In der Zirkelbildung? In der Kritik poli- tischer Herrschaft? In der Gestaltung eines sozialen Raumes zwischen Medien, Öffentlichkeit und politischen Eliten? Zur Beantwortung dieser Fragen bieten sich unterschiedliche Vergleichsfelder an. Hervorzuheben sind die unterschiedlichen Traditionen literarisch-politischer Autorität im neuzeitlichen Frankreich und in Deutschland, die unterschiedliche Segmentierung ihrer Gesellschaften und in dem hier gestellten Problemkontext die unterschiedliche Rolle kultureller und konfes- sioneller Zentren für die Prägung einer intellektuellen Gegenöffentlichkeit gegen die politischen Eliten.

In Frankreich, dafür steht symbolisch die Dreyfus-Krise, konstituieren sich In- tellektuelle im 19. und 20. Jahrhundert primär über Politik. In Deutschland konsti- tuieren sich Intellektuelle zum einen über die „Soziale Frage“, aber daraus hervor- gehend stärker noch im Streit über die Kultur, über Konzepte der Moderne und über Modernitätskritik, also metapolitisch, wie es Thomas Nipperdey ausgedrückt hat, aber mit nicht geringerer Wirkungskraft für politische Polarisierungen der öf- fentlichen Meinung. Zu den strukturellen Rahmenbedingungen zählt die Entwick- lung von Bevölkerung und Alphabetisierung im Verhältnis zur Buch- und Zeit- schriftenproduktion und zur Professionalisierung publizistischer Berufe. Hier hat Frankreich einen frühen Sättigungsgrad erreicht. Die literarische Überproduktions- krise der 1880er Jahre zählt zu den Voraussetzungen für „la naissance des intellec-

35 Gustav Radbruch, Protest gegen einen Protest. Universität und der Fall Gumbel (Gustav Rad- bruch Gesamtausgabe 12, Heidelberg 1992) 118–120.

36 Vgl. Joseph Jurt (Hrsg.), Intellektuelle – Elite – Führungskräfte und Bildungswesen in Frank- reich und Deutschland (Freiburg 2004).

101-120_Kap.06_Graf.indd 108

101-120_Kap.06_Graf.indd 108 03.09.2009 13:06:26 Uhr03.09.2009 13:06:26 Uhr

(9)

tuels“ (Christophe Charle), während sich in Deutschland der literarische Massen- markt erst noch entfalten musste.

Auch für eine Sozial- und Kulturgeschichte der Religions-Intellektuellen stellt das Gefüge aus Demographie, Demokratisierung, Ökonomisierung und Professio- nalisierung den strukturierenden Bezugsrahmen dar. Wie das protestantische Bil- dungsbürgertum sein Wächteramt über allgemeinverbindliche humanistische Kul- turwerte spätestens um 1900 verlor, wie es sich in immer neue politische Vereine, lebensreformerische Bünde oder religiöse Zirkel parzellierte, das dürfte allzu be- kannt sein. Das deutsche Kaiserreich unterlag dem gleichen Strukturwandel der Öffentlichkeit wie Westeuropa, und auch hier gingen die Deutungskämpfe um die

„richtige“ Gesellschaftsordnung auf die Intellektuellen über, die um 1900 began- nen, sich als solche zu bezeichnen37. Wie in Frankreich werden die Berufe des

„Leitenden Redakteurs“, des „Schriftleiters“ oder des Geschäftsführenden Heraus- gebers zu zentralen Schaltstellen der Intellektuellenkommunikation. Diesem Feld hat sich die Theologiegeschichte bislang kaum gewidmet, obwohl hier die öffent- liche Zirkulation religiöser Ideen organisiert wurde. Als die Vereinigung evangeli- scher Buchhändler 1937 aufgelöst wurde, gehörten ihr 130 Einzelverlage mit 200 Sortimentbuchhandlungen an. 1961 gelten ca. 600 Verlage und Buchhandlungen als Verteiler im deutschsprachigen Raum38, vom großen Bertelsmann-Verlag, des- sen Marktbeherrschung jüngst erschlossen worden ist39, bis zum kleinen Lünebur- ger Heliand-Verlag, dem Druckort des evangelischen Bundes, in dem Emanuel Hirsch 1934 die Schriftenreihe „Hammer und Nagel“ eröffnete. Damit ist erst ein- mal nur das protestantische Feld abgesteckt und überhaupt noch nicht das katho- lische, jüdische oder freireligiöse Milieu ins Auge gefaßt, in dem sich eine Vielzahl von religiösen Intellektuellengeschichten schreiben läßt40.

Ich konzentriere mich auf den Protestantismus, weil an dessen Eigenart und Kraft zur kulturellen Vergesellschaftung Thesen zur gesamtgesellschaftlichen Ver- fassung des Kaiserreichs geknüpft worden sind, die für eine Geschichte der Religi- ons-Intellektuellen weichenstellend sind. Hoch veranschlagt wird die intellektuelle Streitkultur in der Christentumsgeschichte von Kurt Nowak, die das Kaiserreich unter das Vorzeichen vom „Kampf um die Leitkultur“ und um bürgerliche Kultur- werte stellt41. Dem steht nun die Bielefelder Habilitationsschrift von Frank-Mi-

37 Vgl. Gangolf Hübinger, Intellektuelle, Intellektualismus 300f.

38 Vereinigung evangelischer Buchhändler (Hrsg.), Der Evangelische Buchhandel. Eine Übersicht über seine Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, mit 600 Firmengeschichten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz (Stuttgart 1961).

39 Saul Friedländer u. a. (Hrsg.), Bertelsmann im Dritten Reich (München 2002).

40 Einen ersten Überblick bei Gangolf Hübinger, Helen Müller, Politisches, konfessionelles und weltanschauliches Verlagswesen, in: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahr- hundert 1/1, im Auftrag der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buch- handels, hrsg. von Georg Jäger in Verbindung mit Dieter Langewiesche und Wolfram Siemann (Frankfurt a. M. 2001) 347–405; dies., Politische und konfessionelle Sortimentbuchhandlungen, ebd. Bd. 1/3 (im Erscheinen).

41 Kurt Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts (München 1995) 149–204.

101-120_Kap.06_Graf.indd 109

101-120_Kap.06_Graf.indd 109 03.09.2009 13:06:26 Uhr03.09.2009 13:06:26 Uhr

(10)

chael Kuhlemann mit der Behauptung vom bürgerlichen Nationalprotestantismus ohne wirkungsmächtige Segmentierung in eine konservative und liberale Richtung diametral entgegen42. Der Protestantismus habe durch seine „zunehmende Orien- tierung an der Nation“ erfolgreich den „Prozeß der Verbürgerlichung“43 betrieben und sei nicht nachhaltig durch einen intellektuellen Kulturkampf zwischen Ortho- doxie und Freisinn beeinträchtigt worden. Nicht ideenpolitischer Dissens, sondern pastoraler Konsens über den Weg in die protestantische Moderne? Welche Per- spektive auf das Kaiserreich ist die schlüssigere? Im ersten Fall wird den Religions- Intellektuellen eine Protagonistenrolle im Prozeß der kulturellen Vergesellschaf- tung zuerkannt, im zweiten Fall wird ihnen kein nennenswerter Einfluß auf ihre sozialkulturellen Milieus zugeschrieben.

Es gibt bedeutende innenpolitische Krisenherde des Kaiserreichs und Konflikte in dessen politischer Kultur, die durch die bürgerliche Homogenisierungsthese in der Absicht „einer grundsätzlich anderen Bewertung des Protestantismus und auch des Verhältnisses von Bürgerlichkeit und Religion in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs“44 in keiner Weise erklärt werden können. Nur wenige Aspekte seien genannt. Der Protestantismus war gespalten in der Grundfrage des Staatsverständnisses, ob das konservative Staatskirchentum als direkter Ausfluß des göttlichen Wortes angesehen oder ob eine Trennung zwischen Evangelium und den Legitimationsformen politischer Herrschaft vorgenommen werden soll- te. Der liberale Kulturprotestant Ernst Troeltsch hat sich unter anderem an dieser Frage aufgerieben und sich letztlich aus der theologischen Fakultät herausge- drängt gesehen45. Gespalten war der Protestantismus in gleicher kultureller Co- dierung in der Frage der „Judenbilder“. In der Frage der gesellschaftlichen Inte- gration der jüdischen Deutschen konnte keine bürgerliche Toleranzhaltung unter den Protestanten erlangt werden. Die Liberalen bemühten sich mit begrenztem Erfolg. Die Konservativen, geschart um die „Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung“, arbeiten mit Stereotypen der Ausgrenzung, hier erscheinen die Juden als ruhelos, heimatlos, ehrsüchtig, als kapitalistische Assimilanten oder als schwärmerische Zionisten46. Staatsethik und Antisemitismus stellen nur zwei Problembereiche der politischen Kultur dar, deren hoher Segmentierungsgrad nicht nur durch externe Abgrenzung verbürgerlichter Protestanten gegenüber Katholiken und Sozialdemokraten, sondern gerade in binnenprotestantischer

42 Auf das Kaiserreich bezogen, wenngleich empirisch nur am Großherzogtum Baden demons- triert, Frank-Michael Kuhlemann, Bürgerlichkeit und Religion. Zur Sozial- und Mentalitätsge- schichte der evangelischen Pfarrer in Baden 1860–1914 (Göttingen 2001).

43 Ebd. 349, 468.

44 Ebd. 24f.

45 Friedrich Wilhelm Graf, Ernst Troeltsch (1865–1923), in: ders. (Hrsg.) Klassiker der Theologie 2 (München 2005) 171–189; Gangolf Hübinger, Ernst Troeltsch – die Bedeutung der Kulturge- schichte für die Politik der modernen Gesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004) 189–

218.

46 Wolfgang E. Heinrichs, Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs. Ein Bei- trag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne (Köln 2000).

101-120_Kap.06_Graf.indd 110

101-120_Kap.06_Graf.indd 110 03.09.2009 13:06:27 Uhr03.09.2009 13:06:27 Uhr

(11)

Polarisierung durch die intellektuellen Wortführer der Liberalen und der Konser- vativen forciert wurde. In den Fragen von „Ethik und Kapitalismus“ läßt sich Gleiches erkennen47. Stellt man die Erzählung der geglückten Symbiose von

„Bürgerlichkeit und Religion“ in einen größeren historischen Kontext, so erschei- nen die Konsequenzen absonderlich. Der Erste Weltkrieg muß zum großen Un- fall in der deutschen Geschichte umgedeutet werden. Denn urplötzlich soll eine neue Mentalität entstanden sein: „Spätestens seit 1918 kam es zu einem tiefgrei- fenden Bruch im protestantischen Denken und Handeln und zu einer Konfusion mentaler Selbstverständlichkeiten, die es so im Kaiserreich nicht gegeben hat.“48 Wie das? Zweifellos erreichte die Streitkultur unter Religions-Intellektuellen und ihre Mobilisierung der Öffentlichkeit in der Weimarer Republik einen neuen Hö- hepunkt, aber das „champ intellectuel“ mußte nicht erst in Weltkrieg und Revo- lution geschaffen werden, es war längst vorstrukturiert. Dazu zählte die Kritik am bürgerlichen Habitus und an der bürgerlichen Lebensordnung, an der sich nicht nur sozialistische oder heidnisch-völkische, sondern engagiert auch christ- liche Intellektuelle beteiligten.

III.

Zu den Impulsen einer Intellektuellengeschichte in Deutschland zählte der Vor- schlag, die Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik nicht zu sehr ideolo- gisch zu separieren oder biographisch zu isolieren, sondern intellektuelle Positi- onen antagonistisch zu diskutieren, beispielsweise Ernst Bloch und Carl Schmitt einander gegenüber zu stellen oder die religiösen Sozialisten in eine Wechselbezie- hung zu den deutschen Christen zu setzen49. Das läßt sich mit Gewinn auf sozio- logisch variierende Intellektuellenzirkel ausdehnen. Schon für das Kaiserreich können beispielsweise die religionssemantischen Selbstdarstellungen und religi- onspolitischen Antriebe eines Bruno Wille und seines Einsatzes für die „Jungen Wilden“ in der Berliner SPD, später sein monistisches Predigerleben in den Fried- richshagener Literatenzirkeln, mit dem Dichter Stefan George und seiner charis- matischen Gefolgschaft als zwei konträre Entwürfe ästhetischer Weltbeherrschung verglichen werden. Bruno Wille läßt sich in der Berliner Bohème mit den Dichter- freunden Wilhelm Bölsche und Julius Hart im „Gefängnis zum preußischen Ad- ler“ zusätzlich mit „zwei Pennbrüdern“ fotografieren. Die Botschaft solcher Selbststilisierung galt der religiösen und politischen Demokratisierung der Deut- schen im Geiste des ästhetischen Naturalismus und verbunden mit den Naturwis-

47 Gottfried Traub, Ethik und Kapitalismus: Grundzüge einer Sozialethik (Heilbronn 21909); vgl.

Klaus Tanner (Hrsg.), Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe. Beiträge zum sozialen Pro- testantismus im 19. Jahrhundert (Leipzig 2000).

48 So das Fazit bei Kuhlemann, Bürgerlichkeit und Religion 468.

49 Manfred Gang, Gérard Raulet (Hrsg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage (Frankfurt a. M. 1994).

101-120_Kap.06_Graf.indd 111

101-120_Kap.06_Graf.indd 111 03.09.2009 13:06:27 Uhr03.09.2009 13:06:27 Uhr

(12)

senschaften50. Spiegelverkehrt dazu liest sich die Geschichte der Aristokratisierung des religiösen Lebensgefühls im Stefan-George-Kreis. Hier galt die Losung des charismatischen Führers einer anderen Sakralisierung: „Von mir aus führt kein Weg zur Wissenschaft.“ Und selbst wenn die Jünger das Gebot übertraten und Wissenschaftler wurden, gefordert war eine Gegenposition zum analytischen Ra- tionalismus, „nämlich der ‚Wille zur Schau‘ und die religiöse ‚Ehrfurcht vor dem Gegenstand‘“51.

Die Polarisierung zwischen Demokratisierung und Aristokratisierung der reli- giös stimulierten Intellektuellenszene ist in der Weimarer Republik eingelagert in den übergeordneten Antagonismus von Bürgerlichkeit im Sinne ethischer Selbst- prägung und Individualmoral einerseits und der Fundamentalkritik aller bürger- lichen Kulturwerte andererseits. In der Dramatisierung dieses Antagonismus spie- len Religions-Intellektuelle eine entscheidende Rolle. Für zwei konträre Ausprä- gungen der religiös-intellektuellen Bürgertumskritik wird im folgenden eine ungewöhnliche Paarung gewählt: Die Gegenüberstellung von Dietrich Bonhoeffer und Hans Zehrer. Bonhoeffer zu den Religions-Intellektuellen zu rechnen, er- scheint evident, Zehrer dagegen begründungspflichtig. Deshalb sei noch einmal an die eingangs genannten Kriterien erinnert. Idealtypisch umfaßt der Begriff des

„Religions-Intellektuellen“ diejenigen, die die Waffe des „gesprochenen oder ge- schriebenen Wortes“52 in der öffentlichen Streitkultur in religionssemantischer Form gebrauchen. Das muß nicht in Bezügen zu Ernst Troeltsch, Adolf von Har- nack oder Karl Barth geschehen, wie sie Bonhoeffer in unterschiedlichen Lebens- abschnitten wählte, das kann in der Tradition eines Arthur Bonus sein, in der Hans Zehrer stand, der in Berlin noch Ernst Troeltschs Seminare besuchte53. Zum Aus- druck kommt darin nicht zuletzt die Spannung zwischen kosmopolitischer Öku- mene, für die Bonhoeffer theologisch warb und nationalistischer Abschottung, die Hans Zehrers religiöse Publizistik legitimierte. Bei Bonhoeffer geht es in diesem Zusammenhang mehr um Konstellationen des Entstehungskontextes, die Bonho- effer zum radikalen Gesinnungsethiker, Pazifisten und Widerstandskämpfer wer- den ließen. Bei Zehrer dagegen mehr um Konstellationen des Wirkungskontextes, der den „konservativen Revolutionär“ der Zwischenkriegszeit zum führenden protestantischen Publizisten mit einem Programm des rechristianisierten Abend- landes in der intellektuellen Gründungsgeschichte der Bundesrepublik aufsteigen ließ, während Bonhoeffer im „Erinnerungskampf“ um den 20. Juli erst gegen Wi-

50 Bruno Wille, Das Gefängnis zum preußischen Adler. Eine selbsterlebte Schildbürgerei. Mit einem Bild des Gefängnisses (Jena 1914); vgl. Gertrude Cepl-Kaufmann, Rolf Kauffeldt, Berlin- Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichter- kreis (München 1994).

51 Barbara Schlieben u. a. (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft (Göttingen 2004) Einleitung, 14.

52 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie 236f.

53 Friedrich Wilhelm Graf, Einleitung zu: ders. (Hrsg.), Ernst Troeltschs „Historismus“ (Tro- eltsch-Studien 11, Gütersloh 2000) 9–22, hier 16, zu Bonus vgl. oben, Anm. 8.

101-120_Kap.06_Graf.indd 112

101-120_Kap.06_Graf.indd 112 03.09.2009 13:06:27 Uhr03.09.2009 13:06:27 Uhr

(13)

derstände zum „Erinnerungsort“ einer geistigen Gegenelite symbolisch aufgewer- tet wurde54.

In seiner umfassenden Bonhoeffer-Biographie hat Eberhardt Bethge das Pro- blem der „Generation“ und der „Netzwerke“ in Bonhoeffers intellektueller Ent- wicklung in einem zentralen Abschnitt auf den Punkt gebracht und mit den Erosi- onen der bildungsbürgerlichen Lebensentwürfe verbunden. In den Semesterferien von 1924 richtete sich Bonhoeffer noch ganz an der Konfiguration von Philoso- phie, Soziologie und Religionsgeschichte aus: „Ich habe augenblicklich eine sehr interessante Arbeit, die Religionssoziologie von Max Weber ... Ich habe nun nach- dem Weber vor noch Troeltsch: Soziallehren der christlichen Ethik zu lesen und den Husserl zu Ende durchzuarbeiten – wenn ich zum Schluß noch Zeit habe, mir Schleiermacher gründlich vorzunehmen.“ Im Herbst diskutierte er noch „Max Weber, soziologische Kategorien wie Staat, Volk, Rasse, Merkmale ethischer Ge- meinschaften, außerdem Kant, Luther, Holl, Husserl, Hegels Bestimmung des ob- jektiven Geistes“. Dann aber las Bonhoeffer Gogartens „Religiöse Entscheidung“, und Bethge verfolgt, wie in seinen Korrespondenzen plötzlich alles anders wird:

„Die Mutter, die manchmal versuchte, die Interessen des Sohnes Dietrich aktiv zu begleiten, hatte seinetwillen Anfang 1925 die Aufsätze von Troeltsch gelesen.“ Im August 1925 liest sie aber Karl Barth, nachdem ihn Bonhoeffer mit Heißhunger gelesen und sich in Abkehr vom bisherigen Lesekanon zum Propagandisten des neuen Krisendenkens gemacht hatte55.

Bonhoeffers theologischer Lebensweg, sein „itinéraire“, führt auf den intellek- tuellen „Tummelplatz des Aufbegehrens gegen die bürgerliche Kulturwelt“ und ist

„Ausdruck einer Rebellion der an Kierkegaard geschulten Söhne gegen die kultur- protestantischen Väter“56.

Die großbürgerliche Jugendzeit in der Villenkolonie Grunewald mit den Nach- barn Samuel Fischer, Adolf von Harnack, Hans Delbrück, Walther Rathenau, – Vater Karl Bonhoeffer zählte als Chef der Berliner Charité zu Deutschlands füh- renden Psychiatern57 – die Bildungsatmosphäre im Grunewalder Gymnasium, einer Reform- und Aufbauschule, die ihr Direktor Wilhelm Vilmar in einer freien Pädagogik gegen die konservativen und nationalistischen Lehranstalten Berlins bewußt absetzte, stimulierten ein selbstgeprägtes Denken, das Bonhoeffer die un- auflösliche Spannung einer diesseitig-jenseitigen Bindung an weltliche Ordnung und Gottesgesetz ausloten ließ und konsequent in den Widerstand führte. Marion York von Wartenburg, die Frau des mit Stauffenberg hingerichteten Peter York,

54 Vgl. Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen (München 2005) 142f.

55 Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie (Gütersloh 82004) 102.

56 Nowak, Geschichte des Christentums 212.

57 Lebenserinnerungen von Karl Bonhoeffer – Geschrieben für die Familie, in: J. Zutt, E. Straus, H. Scheller (Hrsg.): Karl Bonhoeffer. Zum Hundertsten Geburtstag (Berlin 1969) 8–107; vgl. auch Uwe Gerrens, Medizinisches Ethos und theologische Ethik. Karl und Dietrich Bonhoeffer in der Auseinandersetzung um Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Nationalsozialismus (München 1996).

101-120_Kap.06_Graf.indd 113

101-120_Kap.06_Graf.indd 113 03.09.2009 13:06:27 Uhr03.09.2009 13:06:27 Uhr

(14)

berichtet im autobiographischen Rückblick, wie die Lehrer dieser Schule ihre Schüler zum Selbstdenken und Sprachenlernen angespornt hatten. Nicht in bil- dungsbürgerlicher Erfüllung neuhumanistischer Stundenpläne, sondern aus eige- nem voluntaristischem Entschluß habe Bonhoeffer Hebräisch gelernt, um nach dem Abitur Theologie als die philosophisch attraktivste Wissenschaft zu studie- ren58.

Die Theologie führte ihn rasch zur Abkehr von der Großerzählung über die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung und Formung der modernen Welt, wie sie als Weber-Troeltsch-These in Bonhoeffers Jugend zirkulierte. An al- len theologischen, aber auch sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten setzten sich die Studenten damit auseinander. Das kommt im Lektüreplan vom ersten Semester unmittelbar zum Ausdruck und findet seinen Niederschlag in Bonhoeffers Dissertation „Sanctorum Communio“. In knappen Thesen löst Bon- hoeffer hier die idealtypische Unterscheidung und soziologische Gegenüberstel- lung von „Kirche“ und „Sekte“ durch eine Definition der „Kirche“ als „Gemein- schaftsgestalt sui generis“ theologisch wieder auf59. „Weber-Troeltsch“, heißt es zusammenführend im Abschnitt „Kirche und Sekte“, „fehlt die letzte Erkenntnis“

vom „rein soziale[n] Willensakt“, der in „Kirche wie in Sekte“ gleichermaßen eine

„Gemeinschaft der Heiligen“ konstituiere60. In der kritischen Edition von Bon- hoeffers Dissertation wird deutlich, wie ganz generell die Affinität von religiöser Lebensführung und bürgerlicher Lebensordnung, die den liberalen Kulturprotes- tanten des Kaiserreichs ein zentrales Anliegen war, durch diese exemplarische Kri- tik an der „genetisch-soziologischen Betrachtung“ von Weber-Troeltsch61 grund- sätzlich problematisiert werden sollte: „Die kommende Kirche wird nicht ‚bürger- lich‘ sein“, während bei aller Abwägung „im Sozialismus eine gewisse ‚Affinität‘

zur christlichen Gemeinschaftsidee zu liegen“ scheint62.

Diese Kritik an der eigenen sozialen Klasse im Rahmen einer dogmatischen Un- tersuchung erschien dem akademischen Betreuer Reinhold Seeberg politisch zu wenig überdacht und wissenschaftlich zu wenig begründet. Seeberg (1859–1935), der theologische Opponent von Ernst Troeltsch an der Berliner Universität, aber aus der gleichen Gelehrtengeneration wie Troeltsch (1865–1923) und Weber (1864–

1920) stammend63, nannte in seinem Gutachten „die Hoffnungsfreudigkeit bezüg- lich des Proletariats so wie die Geringschätzung des Bürgerlichen überflüssig, da sie nicht aus den Prinzipien der Arbeit herstammen, sondern nur subjektive Wert-

58 Marion Yorck von Wartenburg, Die Stärke der Stille. Erzählung eines Lebens aus dem deut- schen Widerstand, hrsg. von Claudia Schmölders (Köln 1984) 15.

59 Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Commmunio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche (1930) (Dietrich Bonhoeffer Werke, DBW, Bd. 1, München 1986) 185.

60 Ebd. 186.

61 Ebd.

62 Ebd. 292f.

63 Die überzeugendste Charakterisierung findet sich bei Friedrich Wilhelm Graf und Klaus Tan- ner, Lutherischer Sozialidealismus. Reinhold Seeberg, in: Profile des neuzeitlichen Protestantis- mus 2/2, Das Kaiserreich, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf (Gütersloh 1993) 354–397.

101-120_Kap.06_Graf.indd 114

101-120_Kap.06_Graf.indd 114 03.09.2009 13:06:28 Uhr03.09.2009 13:06:28 Uhr

(15)

urteile bringen. Endlich kann man auch der Kritik nicht immer beistimmen, die der Autor an anderen Ansichten übt (z. B. Troeltsch!).“64

Nur diese religionsintellektuelle Revolte einer ganzen Generation gegen die Bil- dungswelt der „kulturprotestantischen Väter“ und gegen die daraus resultierenden bürgerlichen „Formwerte“ sollte am Beispiel von Dietrich Bonhoeffer hier demons- triert werden, seine biographischen Stationen nach seiner Dissertation zwischen Rom, Barcelona, New York, das Predigerseminar in Finkenwalde und die wach- sende Opposition gegen das nationalsozialistische Regime sind minutiös er- forscht65. Zu den „Formwerten“ eines humanistischen Individualismus, begründet

„auf innerer Distanz und Reserve in der persönlichen Haltung“, hatte schon 1917 Max Weber beklagt, daß sie für die Zukunft der „bürgerlichen sozialen und öko- nomischen Struktur“ in der deutschen Gesellschaft weniger ausgeprägt seien als in den angelsächsischen Ländern66. In den persönlichen Lebenswegen und Schick- salen konnten antibürgerliche Lebensphilosophie und Formwerte von Bürgerlich- keit durchaus in ihrer intellektuellen Orientierungskraft einander ablösen. In Bon- hoeffers Studium Mitte der 1920er Jahre gab die zivilisationskritische Abwehr bürgerlicher Normen zweifellos die Grundmelodie ab. Für die Haftzeit wiederum ist bezeugt, wie sehr das bürgerliche Welt- und Geschichtsbild eines Adolf von Harnack Bonhoeffers theologische Reflexionen im Tegeler Gefängnis lenkte67.

Der neun Jahre ältere Journalist Hans Zehrer, wie Bonhoeffer im Berliner Groß- stadtmilieu sozialisiert, hat seinen festen Platz in der Mediengeschichte der späten Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik. 1929–33 leitete er die rechts- konservative Zeitschrift „Die Tat“, 1948–1953 das protestantische „Sonntagsblatt“, 1953–1966 die konservative Tageszeitung „Die Welt“. In der weichenstellenden Gründungsbauphase der Bundesrepublik hatte er somit eine Schüsselstellung der protestantischen Pressepolitik und Öffentlichkeitsarbeit inne, die für das religions- intellektuelle Feld dieser Epoche bislang wenig thematisiert worden ist68.

Weniger bekannt ist die Tatsache, daß er seinen Aufstieg einer religionspoli- tischen Entscheidung des Verlegers Eugen Diederichs verdankte. Diederichs woll- te 1928 seine sowohl geistig als auch finanziell dümpelnde Hauszeitschrift „Die Tat“ wieder auf den ursprünglichen intellektuellen Kurs einer „religiös-sozialen Monatsschrift“ bringen und seinen Anspruch, Organisator der deutschen Kultur

64 DBW 9, 176.

65 Bethge, Bonhoeffer, der allerdings diese zeitsymptomatische intellektuelle Prägephase zwischen Bürgerlichkeit und Bürgerkritik nachrangig behandelt.

66 In einem umfassenden Essay über die Chancen der sozialen und politischen Demokratisierung unter dem Titel „Wahlrecht und Demokratie“, in: Max Weber, Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübin- ger (Max Weber-Gesamtausgabe I/15, Tübingen 1984) 344–396, Zitat 389.

67 Die überdauernde Wirkung Harnacks betont Carl-Jürgen Kaltenborn: Adolf von Harnack als Lehrer Dietrich Bonhoeffers, Berlin 1973, nur kurz erwähnt ist Bonhoeffer jetzt bei Christian Nottmeier, Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930 (Tübingen 2004).

68 In größerem Kontext jetzt bei Hans B. von Sothen, Hans Zehrer als politischer Publizist nach 1945, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945 (Berlin 2005) 125–178.

101-120_Kap.06_Graf.indd 115

101-120_Kap.06_Graf.indd 115 03.09.2009 13:06:28 Uhr03.09.2009 13:06:28 Uhr

(16)

zu sein, in den Weltanschauungskämpfen der niedergehenden Weimarer Republik unterstreichen69. Dazu wählte er Hans Zehrer, der den Lösungsweg aus der Krise der Zeit in der genau entgegengesetzten Richtung zu Dietrich Bonhoeffers Idealen sah und mit seinem Kurs vor und nach dem Dritten Reich erheblichen journalisti- schen Einfluß erlangte.

Der Weltwirtschaftskrise folgte in Deutschland eine Bücherkrise, weniger eine Zeitschriftenkrise. Der Troeltsch-Hörer Zehrer, Journalist der Vossischen Zeitung aus dem Berliner Ullstein-Verlag, organisierte mit jungen Nationalökonomen aus der Schule Alfred Webers eine erfolgreiche Intellektuellengruppe. Stärker als anderen konservativen Zeitschriften gelang es dem Tat-Kreis, dessen Wortführer wie Zehrer selbst der „Generation um 1900“ angehörten, ein generationsspezi- fisches rechtsintellektuelles Gruppenbewußtsein auszubilden, aus dem heraus die unmittelbar bevorstehende neokonservative Transformation der Verfassung mit analytischer Schärfe und prophetischem Gestus gleichermaßen verkündet wurde.

Die emporschnellenden Auflagenziffern von 2 000 auf 20 000 Tat-Nummern be- kunden den Anklang, den das Tat-Modell unter der Leitformel „Autoritärer Staat und Volksgemeinschaft“70 in der sich seit 1930 ständig verschärfenden Staatskrise fand.

Zehrer stimmte die „Tat“ auf realpolitische Krisendeutung in verschärfender Absicht. Sein religiöser Grundton, der ihm das Vertrauen des Verlegers eingetra- gen hatte, blieb unterschwellig in den existentialistischen und metaphysischen Leitartikeln und Betrachtungen erhalten. So zieht sich eine Linie von seinem mit Jacob Burckhardt eingeleiteten Artikel „Wohin treiben wir? Weltuntergangsstim- mung“ vom August 1931 zur Klage „Die eigentliche Not unserer Zeit. Der Mensch ohne Gesicht“ vom Februar 193371. Zehrer kannte die anthropologische Ursache der Gegenwartskrise, es ist die „Krise des Menschen“ als solche72. Aber hier sah er innerweltliche „Erlösung“: „Geht hinaus auf die Sportplätze! Seht euch die Seen und Flüsse an, auf denen heute Wassersport getrieben wird ... Horcht hinein in die Jugend, die heute bei den Nationalsozialisten oder den Kommunisten sind. Es ist das beste Menschenmaterial, über das Deutschland je verfügte.“73 Soziologisch setzte er auf die „Revolution der Intelligenz durch die akademischen, technischen und Verwaltungseliten des neuen Mittelstandes. Diese politische Prämierung eines bestimmten Intellektuellentypus steht in einer spezifischen Tradition der europä- ischen Intellektuellengeschichte, es handelt sich um eine rechtsextreme Variante

69 Zur religiösen Kontinuität vgl. Edith Hanke und Gangolf Hübinger, Von der „Tat“-Gemeinde zum „Tat“-Kreis. Die Entwicklung einer Kulturzeitschrift, in: Hübinger (Hrsg.): Versammlungs- ort moderner Geister 299–334.

70 Exemplarisch für die ständig wiederholte Herrschafts- und Gesellschaftsauffassung siehe Hans Zehrer, Revolution oder Restauration? Die drei Elemente des Staates, in: Die Tat 24 (1932) 353–

393.

71 Anonym (Hans Zehrer): Wohin treiben wir: Die Tat 23 (1931) 329–354; Hans Zehrer, Die ei- gentliche Not unserer Zeit, Die Tat 24 (1933) 913–926.

72 Ebd. 331.

73 Ebd. 354.

101-120_Kap.06_Graf.indd 116

101-120_Kap.06_Graf.indd 116 03.09.2009 13:06:28 Uhr03.09.2009 13:06:28 Uhr

(17)

der britischen Fabier-Intellektuellen, die dort allerdings in die Geschichte des So- zialismus und der Labour Party gehören.

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme von 1933 wurde die Tat nicht verboten, wie es manche Beteiligten später zu Protokoll gaben, sie wurde unter der neuen Schriftleitung von Giselher Wirsing, der Zehrer rasch ausbootete, auf NS- konformen Kurs gebracht und auf die völkisch-machtpolitische Idee des Lebens- raumes verpflichtet. Es gehört schon zu den bemerkenswerten Konstellationen in der intellektuellen Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, wie Hans Zehrer und Giselher Wirsing, die Krisen-Rhetoriker der „totalen Revolu- tion“74, nach 1945 sehr schnell in Schlüsselstellungen der protestantischen Publi- zistik gelangten. Hans Zehrer, der vor dem Zweiten Weltkrieg sowohl mit dem späteren Hannoverschen Landesbischof Hanns Lilje als auch mit Axel Springer bekannt war, leitete zwischen 1948 und 1953 das von Lilje ins Leben gerufene

„Sonntagsblatt“, das spätere „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“, bevor er von Axel Springer die Chefredaktion der „Welt“ erhielt. Giselher Wirsing war von 1954 bis 1970 Chefredakteur von „Christ und Welt“. Die „Tat“ als „religiös-soziale Monatsschrift“ hat durch die beiden über 1945 hinaus eine stärkere religiöse Lang- zeitwirkung entfaltet, als bei aller Forschung zur Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der Bundesrepublik und zu einer nationalkonservativen Konti- nuität des politischen Journalismus bisher in den Blick gekommen ist. Der Tat- Geist, nicht in seiner staatssozialistischen, wohl aber in seiner religiös imprägnierten parlamentarismus- und parteienfeindlichen Variante und in der Abwehr pluraler Gesellschaftsbilder ist in Konkurrenz zur Westorientierung in die intellektuelle Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und in die so vielstimmigen wie disso- nanten Entwürfe eines christlichen Europa75 eingeflossen.

Für die protestantische Kirchenleitung bestand kein Zweifel, Hans Zehrer zum Kreis erfolgversprechender Religionsintellektueller zu zählen und sich seiner journalistischen Kontakte und Professionalität für die Aktivierung religiöser Sym- bolbestände beim Aufbau eines christlichen Nachkriegs-Europa zu bedienen. Im Vorwort zu Zehrers Buch „Der Mensch in dieser Welt“ von 1948 erhob ihn Landes- bischof Lilje explizit in diesen Rang. „Die hier vorgelegte Analyse unserer gegen- wärtigen geistigen Situation, die auf Grund jahrelangen Nachdenkens und sorg- fältigster Arbeit entstanden ist, führt in einem radikalen und zwingenden Gedan- kengang auf die Grundprobleme unserer Generation, dass der Christ nur mit Erstaunen feststellen kann, hier wird, wenngleich auf eine ganz eigenständige Wei-

74 Zehrer, Wohin treiben wir 343: „Wir erleben heute also zum erstenmal ein weltgeschichtliches Ereignis, das man nicht anders als mit dem Wort einer ‚totalen Revolution‘ bezeichnen kann.“

75 Neben Sothen, Hans Zehrer als politischer Publizist 143–156 zur Entwicklung der protestan- tischen Publizistik, vgl. für das katholische Milieu Marie-Emmanuelle Reytier, Die deutschen Ka- tholiken und der Gedanke der europäischen Einigung 1945–1949, in: Jahrbuch für europäische Geschichte 3 (2002) 163–184; ferner den einschlägigen Zeitschriftenvergleich bei Michel Grune- wald in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock (Hrsg.): Le Discours Européen dans les Revues Allemandes (1945–1955) / Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1945–1955) (Bern 2001).

101-120_Kap.06_Graf.indd 117

101-120_Kap.06_Graf.indd 117 03.09.2009 13:06:29 Uhr03.09.2009 13:06:29 Uhr

(18)

se, von jenen Grundfragen der Existenz geredet, die dem christlichen Glauben wichtig sind… Der Unterschied gegenüber den großangelegten Zeitanalysen nach dem Ersten Weltkrieg, wie sie etwa Oswald Spengler bot, scheint mir darin zu lie- gen, dass hier nicht rückwärts, sondern vorwärts geblickt wird; es geht also nicht um eine Morphologie der Vergangenheit, sondern um die Existenzfrage der Zu- kunft.“ Für Lilje führen Zehrers Fragen genau an den Punkt, „da die Antworten des christlichen Glaubens aufleuchten“76. In der Tat füllte Zehrer in dieser unmittel- baren Staatsgründungsphase in führender publizistischer Position den öffentlichen Diskursraum mit religiösen Sprachspielen und Semantiken. Zehrer engagierte sich im Wettlauf der christlichen Kirchen und Gemeinschaften um die Deutungsmacht über die konkurrierenden Selbstbeschreibungen sozialer und politischer Neuord- nung mit jener signifikanten Umpolung Oswald Spenglers, an der Bischof Lilje77 im Vorwort besonders gelegen war. Zehrer sah in den Kirchen die institutionellen Garanten einer wertkonservativen „Translatio der Kultur“, Europa stehe am „Ende der Wissenschaft“ und am Beginn einer neuen religiösen Ära: „Die Kirchen als re- präsentatives Gebilde des Christentumes müssen deshalb wieder deutlich machen, daß sie ihrem Wesen nach ‚draußen‘ stehen, jenseits von Kultur und Staat, daß sie der technischen Zivilisation gegenüberstehen, und sie müssen selbst wieder als das

‚Andere‘, das ‚Fremde‘ durch eine Zeit gehen – auch äußerlich – , die nach diesem

‚Anderen‘ und ‚Fremden‘ hungrig zu werden beginnt, nachdem sie am Eigenen und Bekannten bis zum Überdruß müde, satt und leer zugleich geworden ist.“78

In einer Untersuchung zum Typus und zu den Erscheinungsformen und Bio- graphien der Religionsintellektuellen verdient besondere Beachtung, wie konse- quent Zehrer den Intellektuellendiskurs der 1920er Jahre gleich in den ersten Jahr- gang des „Sonntagsblatts“ aufnimmt und ihn mit dem Religionsdiskurs zusam- menführt: „Die geistige Entwicklung der Menschheit wird bestimmt von jener kleinen Gruppe von Personen, die man als ‚Intelligenz‘ bezeichnet… Sieht man den Weg dieser Intelligenz im Abendland von seinen ersten Anfängen in Griechen- land bis heute, so verläuft er immer folgendermaßen: diese Intelligenz reißt das Kollektiv aus seinen mythischen und religiösen Bindungen heraus, ‚klärt es auf‘, bringt ihm das Licht des Bewußtseins, die Autonomie der Vernunft und die Gabe des Denkens, um es zum Schluß wieder in eine neue Form der Bindung zurückzu- führen.“79 Nach den Irrwegen kollektiver Bindungen durch Kapitalismus, National- sozialismus und Kommunismus sei eine neue Stufe historischer Selbstbesinnung erreicht: „Wir befinden uns mithin am Beginn der dritten Entwicklungsphase. Die Epoche der Aufklärung ist vorüber. Die Hinwendung zur bewußten Gebunden- heit des Menschen und damit zur neuen religiösen Geistigkeit beginnt. Sie dürfte

76 Hanns Lilje, Vorwort zu Hans Zehrer: Der Mensch in dieser Welt (Hamburg 1948).

77 Vgl. auch Hanns Lilje, Memorabilia. Schwerpunkte eines Lebens (Nürnberg 1973) 95–104, der Zehrers „säkulare Wochenpredigten“ (102) in der Konkurrenz des „Sonntagsblatts“ zu der von Eugen Gerstenmaier mit Giselher Wirsing aufgebauten „Christ und Welt“ sehr schätzte.

78 Zehrer, ebd. 169f.

79 Hans Zehrer, Die Wandlung der Intelligenz, in: Sonntagsblatt 1 (1948), Nr. 39 vom 24. 10. 1948, 16.

101-120_Kap.06_Graf.indd 118

101-120_Kap.06_Graf.indd 118 03.09.2009 13:06:29 Uhr03.09.2009 13:06:29 Uhr

(19)

die nächsten Jahrhunderte der Welt bestimmen, in denen innerhalb der Einheit von Welt und Menschheit um einen einheitlichen religiösen Glauben gerungen und der Pluralismus der Religionen beseitigt werden dürfte.“80 43 von 48 Leitartikeln ver- faßte Zehrer im ersten Jahrgang des „Sonntagsblatts“ persönlich81 und nutzte da- mit die öffentliche Sprecherrolle als Chefredakteur eines führenden kirchlichen Mediums, um seine Kultursynthese aus Konservatismus und Christentum breit zirkulieren zu lassen.

Für eine Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts ist der Wirkungszusammen- hang von kirchlichen Institutionen, intellektuellen Akteuren und politischer Öf- fentlichkeit noch unzureichend erschlossen. Das bleibt am Ende dieses Beitrages mit strukturellen Überlegungen zur Sozialfigur des Intellektuellen und exempla- rischen Beobachtungen zu seiner Rolle für die Plazierung religiöser Symbolik und Semantiken in die politische Streitkultur festzuhalten. Mit Gewinn konnte dazu zwar an die bedeutende Christentumsgeschichte von Kurt Nowak dort angeknüpft werden, wo sie für die großen Transformationsprozesse ins 20. Jahrhundert hinein vom „Kampf um die Leitkultur“ der neuen industriellen Massenkommunikations- gesellschaft spricht82. Nicht schlüssig endet dagegen diese Großerzählung zu den beiden deutschen Konfessionen, wenn sie die Zeit nach 1945 als einschneidende Zäsur, als eine religionspolitische Stunde Null, wertet und für die „christliche Geisteskultur“ der Nachkriegsepoche in die These mündet, die protestantische Publizistik habe „nur noch wenig Ähnlichkeit mit den Kulturdebatten der 20er Jahre gehabt, und ein „in der Weimarer Republik so wirkungsmächtiger neokon- servativer Publizist wie Wilhelm Stapel hatte nach 1945 keine Chance mehr“83. Der völkische Propagandist des „christlichen Staatsmanns“ Stapel84 vielleicht nicht, der nationalkonservative Verfechter einer Sozialordnung, wurzelnd im „leben- digen“ Gott, „Herr über Natur und Geschichte“, Hans Zehrer, wie gezeigt, dage- gen umso mehr85.

Es charakterisiert moderne Massengesellschaften, daß die pluralisierten religi- ösen Symbolbestände und „Sprachspiele“86 sich intellektuell in einer Vielzahl von Redaktionszimmern verzweigen und nicht in den Federn einiger Spitzentheologen konzentrieren. Im Deutschen Kaiserreich haben Religionsintellektuelle erheb- lichen Anteil daran, die konfessionell und weltanschaulich abgegrenzten sozialkul-

80 Ebd.; wie in der Weimarer Republik erhalten auch jetzt die großen Kulturutopien ihre Stimula- tion durch aktuelle Zivilisationskritik, beispielsweise den „Zerfall der Familie“, vgl. Zehrer, „Die heilige Familie“, Sonntagsblatt 1 (1948) Nr. 45 vom 5. 12. 1948, 16; vgl. noch 1962 Zehrers Beitrag:

Heute wieder zukunftsträchtig, in: Der Monat 14 (1962) Heft 166, 30–32: Der Mensch „wird nur innerhalb des Bezuges der Seele auf Gott zur Person“ (31).

81 Von Sothen, Hans Zehrer als politischer Publizist 150.

82 Siehe oben, Anm. 41.

83 Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland 311f.

84 Wilhelm Stapel, Der christliche Staatsmann: eine Theologie des Nationalismus (Hamburg 1932).

85 Hans Zehrer, Heute wieder zukunftsträchtig, in: Der Monat (1962) Heft 166, 30–32, hier 30.

86 Dazu eindringlich Friedrich Wilhelm Graf, Moses Vermächtnis. Über göttliche und mensch- liche Gesetze (München 2006).

101-120_Kap.06_Graf.indd 119

101-120_Kap.06_Graf.indd 119 03.09.2009 13:06:29 Uhr03.09.2009 13:06:29 Uhr

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Ein umfangreicher Abschnitt thematisiert das Modernisierungspotential des dokumentarischen Films mit Blick auf filmtechnische Neuerungen (Niels- Christian Bolbrinker) und

Die Nationalversammlung traf sich in der Stadt Weimar und beschloss, dass Deutschland eine parlamentarische Demokratie werden sollte.. Die Weimarer Republik

Auch die deutsche Gesellschaft hatte sich um 1900 endgültig zur Massengesellschaft entwickelt, die tägliche Massenpresse sorgte in ihrer politischen Vielstimmigkeit

[r]

Der Abgleich der neuen deutschen Demokratie mit der des Landes der Demo- kratie schlechthin drängte sich angesichts des idealdemokratischen Nimbus der Vereinigten Staaten

Aufstände im ganzen Deutschen Reich, Soldaten und Arbeiterräte werden gebildet..

Obwohl Ratingen nicht zu den Mittelpunkten aufständischer Bewegungen gehörte, wurde es durch seine Lage zwischen dem Ruhrgebiet und Köln von der revolutionären Stimmung

Durch einen derartigen Stimmengewinn forderte Hitler jetzt selbstverständlich die ganze Regierungsgewalt für sich, was aber von Hindenburg abgelehnt wurde. Als Folge