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Das ethnomethodologische Programm einer „radikalen“ Soziologie Rolf Eickelpasch

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© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift Für Soziologie, Jg. 11, Heft 1, Januar 1982, S. 7 -2 7

Das ethnomethodologische Programm einer „radikalen“ Soziologie

Rolf Eickelpasch

Universität Münster, Fachbereich 22, Lehrgebiet Soziologie/Sozialpädagogik Fliednerstraße 21, D-4400 Münster i.W.

Z u s a m m e n f a s s u n g : Der Anspruch der Ethnomethodologie, durch einen radikalen Perspektiven Wechsel so­

ziologischen Forschens das methodische Fundament der sozialen Wirklichkeit freizulegen, wird durch die Explika­

tion der theoretischen Grundkonzepte dieses Forschungsansatzes - Indexikalität, Reflexivität, dokumentarische Methode, Basisregeln - einer kritischen Prüfung unterzogen. Durch einen Vergleich mit einigen Konzepten der Sozialphänomenologie von A. Schütz, auf den sich die Ethnomethodologen durchweg berufen, wird das Spezifi­

kum der „ethnomethodologischen Einstellung“ aufgezeigt. Das ethnomethodologische Programm einer „radikalen Forschung“ , die nicht die reale Sozialwelt, sondern die subjektiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen der sozialen Realität zum Gegenstand hat, scheint unvereinbar mit einer materialen Sozialforschung, wie dargelegt wird, und wirft gravierende methodologische und wissenschaftstheoretische Probleme auf.

I. Was ist Ethnomethodologie?

1. Untersuchungsgegenstand und Erkenntnis­

interesse der Ethnomethodologie

Die Arbeiten der amerikanischen „Ethnometho­

dologie“ stellen meines Erachtens den radikal­

sten und theoretisch interessantesten Versuch dar, auf der grundlagentheoretischen Basis von A. Schütz’ „konstitutiver Phänomenologie der natürlichen Einstellung“ ein sozialwissenschaft­

liches Forschungsprogramm zu entwickeln.

Dieser Forschungsansatz der amerikanischen

“West-Coast Sociology” — prominenteste Ver­

treter sind Garfinkel, Cicourel, Sacks, Zimmer­

man, Wieder und Pollner — beginnt erst in letzter Zeit zögernd, ins Zentrum der soziologi­

schen Theoriediskussion in Westdeutschland zu rücken. Die steigende Zahl deutscher Über­

setzungen ethnomethodologischer Texte kann zugleich als Ursache und als Indikator dieser Entwicklung gelten1.

Zu einer ersten Bestimmung dessen, was sich hinter dem Wortungetüm „Ethnomethodologie“

verbirgt, wollen wir uns der wohl bekanntesten Definition Garfinkels zuwenden:

“Ethnomethodological studies analyze everyday activi­

ties as members’ methods for making those same ac­

tivities visibl^-rational-and-reportable-for-all-practical- purposes, i.e. ‘accountable’, as organizations o f com ­ monplace everyday activities.’’ (Garfinkel 1967: 7) 1

1 Vgl. die ethnomethodologischen Texte in den Sam­

melbänden Bühl (Hrsg.) 1972, Steinert (Hrsg.) 1973, Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.) 1973 sowie Weingarten et al. (Hrsg.) 1976.

Das ethnomethodologische Erkenntnisinteresse richtet sich demnach auf die methodischen Ver­

fahren, mit denen die Gesellschaftsmitglieder die Geordnetheit, Rationalität und Darstellbar- keit, kurz: den „Sinn“ ihrer Alltagshandlungen aufzeigen und herstellen. Es geht also um die Alltagsmethoden, mit deren Hilfe die Mitglieder eines sozialen Arrangements (setting) fortlaufend mit der „Ordnung der Dinge“ oder — um den Bezug zur Schützschen Ausgangslage herzustellen

— mit dem „sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“ beschäftigt sind.

Hinter der in der zitierten Definition Garfinkels enthaltenen, paradox anmutenden Forschungs­

devise, Alltagshandlungen als Methoden zur sinn­

haften Interpretation eben dieser Alltagshand­

lungen, als „Organisationen“ von Alltagshandlun­

gen zu analysieren, verbirgt sich die ethnometho­

dologische Zentralthese der Reflexivität von All­

tagshandlungen, d.h. der Identität der Alltags­

handlungen und der Methoden, mit deren Hilfe diese Handlungen berichtbar und darstellbar (accountable) gemacht werden. Gesellschaftliche Sinndeutungsverfahren gelten der Ethnometho­

dologie als konstitutiver Bestandteil der Alltags­

praxis. Die Alltagswelt ist — um es einfacher nach Schütz zu formulieren — eine „von vorn­

herein“ typisierte und interpretierte Welt. Kraft ihrer selbstexplizierenden Eigenschaften ist die soziale Ordnung intelligibel und verstehbar — für Gesellschaftsmitglieder und Wissenschaftler.

Zur Klärung der Frage, mit weicher Absicht und mit welchem Recht Garfinkel die den sozialen Handlungen der Sinndeutung, Erklärung, Begrün-

(2)

dung etc. zugrundeliegenden Techniken und Ver­

fahrensweisen als praktische Methoden bezeich­

net2, mag ein Blick auf die Genesis des Begriffs

„Ethnomethodologie“ hilfreich sein. Die Einsicht in die methodische Basis von Alltagshandlungen kam Garfinkel bei einer 1954/55 durchgeführten rechtssoziologischen Studie über das Verhalten von Geschworenen während einer Gerichtsver­

handlung. Das Hauptinteresse Garfinkeis und sei­

ner Mitarbeiter galt der Frage, wie die Geschwo­

renen praktisch ihrer Rolle als Geschworene ge­

recht wurden, d.h. wie sie den zur Verhandlung stehenden Tatbestand feststellten, wie sie zu ei­

nem richtigen Urteilsspruch gelangten, wie sie die Richtigkeit ihrer Entscheidungen bewiesen.

Für Garfinkei war die Beobachtung ausschlagge­

bend, daß der Entscheidungsfindung der Ge­

schworenen eine Reihe von unthematisierten, fraglos angewandten Wissensbeständen, Verfah­

rens- und Begründungsstrategien zugrundelag, durch die sie sich eine „Gewißheitswelt“ schu­

fen, die jeden Zweifel an der „Richtigkeit“ des Urteilsspruchs ausschloß. Das Spezifikum dieses Objektbereichs — der unthematisierten Verfah­

rensbasis der Alltagspraxis — suchte Garfinkel in dem Neologismus „Ethnomethodologie“ zu fassen, der gleichzeitig den diesem Objektbereich zugeordneten Forschungsansatz bezeichnet.

Garfinkel hat den Begriff „Ethnomethodologie“

in Parallele zum Konzept der „Ethnotheorie“

(ethnoscience) entwickelt3. Während es der Ethnotheorie (Hauptvertreter dieses Ansatzes sind Frake, Goodenough, Sturtevant) um die Erforschung der kollektiven Wissensbestände, der terminologischen und kognitiven Systeme, der Klassifikationen und Taxonomien geht, mit Hilfe derer die Mitglieder schriftloser Kulturen ihre physische und gesellschaftliche Umwelt wahrnehmen und deuten, richtet sich das Inter­

esse der Ethnomethodologie auf die „Metho­

den“ , die die Mitglieder sozialer Settings ver­

wenden, um ihre alltäglichen Handlungen und Sinndeutungen zu generieren4. Verwirrend ist eine spezifische Bedeutungsverschiebung des

2 Zur Verwendung des Methodenbegriffs bei Garfin­

kel vgl. Bergmann 1974: 27 ff

3 Zur Geschichte des Begriffs „Ethnom ethodologie“

vgl. Garfinkel 1974: 1 5 -1 8 .

4 Ein einführender Vergleich zwischen Ethnotheorie und Ethnomethodologie findet sich bei Psathas (1973).

Präfix „ethno-“ in den Begriffsprägungen “ethno­

science” bzw. „Ethnomethodologie“ , das den je­

weiligen Untersuchungsgegenstand einem spezi­

fischen Handlungsbereich zuordnet. Während das Wort „ethno-“ (Volk) innerhalb des Kompo­

situms “ethnoscience” den untersuchten Gegen­

standsbereich als das spezifische Wissenssystem einer einmaligen autochthonen Kultur spezifi­

ziert — und damit das Problem des kulturellen Relativismus beschwört —, verweist es innerhalb des Begriffs „Ethnomethodologie“ auf den trans­

kulturell gültigen „Sinnbezirk“ (Schütz) des All­

tags, der als „Welt des Wirkens“ alle anderen Handlungsfelder fundiert und konstituiert. Durch die Suche nach den konstitutiven, jede Alltags­

praxis erst ermöglichenden Interpretationsverfah­

ren wird in der Ethnomethodologie das Relativis­

musproblem gewissermaßen transzendental un­

terlaufen. Der im Stammwort ,,-methodologie“

bezeichnete Gegenstandsbereich wird durch das Präfix „Ethno-“ dem für die Alltagswelt konsti­

tutiven kognitiven Stil zugeordnet, jener prag­

matisch-alltäglichen Weitsicht, die Schütz als

„natürliche Einstellung“ beschrieben hat. In der

„natürlichen Einstellung“ ist jeder Zweifel an der Seinsgeltung der Welt suspendiert5 *, dem Common Sense gilt die Sozialwelt als fraglos ge­

geben und objektiv beschreibbar. Als „praktische Methodologen“ sind die Individuen bei der Ab­

wicklung ihrer Alltagsangelegenheiten fortlaufend damit beschäftigt, im Austausch von Beschreibun­

gen und Erklärungen die Identität und Faktizität der Sozialwelt „fest“-zustellen, d.h. sich selbst und anderen eine reale, objektiv erkennbare Welt aufzuzeigen. “ . . . they are doing their methodo­

logy in the ‘now you see it, now you don’t’

fashion” , schreibt Garfinkel (1974: 16) von den Geschworenen. Diese von den Handelnden nicht thematisierte und nicht reflektierte, gleichsam

„naive“ Inanspruchnahme von Alltagsmethoden

— eben dies markiert die Differenz zum wissen­

schaftlichen Methodenbegriff — wird im Begriff der „Ethnomethodologie“ zum Forschungsgegen­

stand erhoben.

2 Ethnomethodologie und die Sozialwissen­

schaften

In einer Analyse des spezifischen methodischen Bezugs auf Common Sense und Alltagshandeln

5 Schütz (1971a: 265 ff.) hat dieses Phänomen als

„Epoche der natürlichen Einstellung“ beschrieben.

(3)

R. Eickelpasch: Das ethnomethodologische Programm einer „radikalen“ Soziologie 9 läßt sich m.E. der ethnomethodologische An­

spruch einer „radikalen Abkehr vom traditionel­

len soziologischen Denken“ (Zimmerman/

Wieder 1970: 295) sehr gut verdeutlichen. Die Interpretation der Ethnomethodologie als „So­

ziologie des Alltags“ ist schlichtweg falsch, so­

fern der Begriff „Alltag“ hier die tagtägliche, routinisierte Lebenspraxis des „kleinen Mannes“

bezeichnet. Sie ist indes zutreffend, wenn die Kategorie „Alltag“ nicht als „Restkategorie so­

genannter einfacher Lebensvollzüge“ (Pieper 1979: 55) eine eigenständige Handlungs- und Erlebnissphäre neben anderen meint, sondern den phänomenologischen Sinn von Lebenswelt als der Grundlage für alle zweckgerichteten Ak­

tivitäten, einschließlich der wissenschaftlichen, erhält6.

Die Kategorien „Alltag“ bzw. „Common Sense“

zielen im ethnomethodologischen Verständnis auf den oben beschriebenen, von Schütz als

„natürliche Einstellung“ bezeichneten pragma­

tischen Verstehens- und Erkenntnismodus der alltäglichen „Welt des Wirkens“ . Wesentliches Merkmal dieser „Welt des Wirkens“ , die als aus­

gezeichnete Wirklichkeit (“paramount reality”) der „Archetyp unserer Erfahrung der Wirklich­

keit“ (Schütz 1971a: 267) ist, ist ihr spezifischer Realitätsbezug. In der natürlichen Einstellung wird jeder Zweifel an der Faktizität der sozialen Realität suspendiert. Man bezieht sich vielmehr unter den pragmatischen Entscheidungsimperati­

ven des Alltags (“What to do next?”) auf eine vom Subjekt unabhängige, objektiv beschreib­

bare Sozialwelt, an der die Adäquatheit von Äußerungen und Handlungen überprüft werden kann.

Die unkritische Beibehaltung dieser naiv realisti­

schen Weitsicht ist nun in ethnomethodologi- scher Sicht das wesentliche Kennzeichen der ob­

jektivistisch verfahrenden konventionellen Sozio­

logie (“ constructive analysis”). Ebenso wie der Alltagshandelnde als „Laiensoziologie“ fortlau­

fend mit der Darstellung und Erklärung (“ac­

count” ) einer unabhängig von ihm existierenden, geordneten und rationalen Sozialwelt beschäf­

tigt ist, hypostasiert der „Berufssoziologe“ sei­

nen Objektbereich zu einer übersubjektiven, ab­

bildend beschreibbaren „sozialen Tatsache“ . Ge­

6 Zu den verschiedenen gegenwärtig in der Soziolo­

gie diskutierten Alltagsbegriffen vgl. Hammer ich/

Klein 1978 sowie Bergmann 1981.

rade dort, wo sich die etablierte Soziologie vom Alltagswissen distanziert und sich auf die metho­

disch kontrollierte „Objektivität“ ihre Aussagen beruft, zeigt sich nach Garfinkei (in Hill/Crit- tenden 1968: 14 f) ihre Verankerung in den Er­

kenntnismustern der “folk sociology” . Die tiefe Verwurzelung der herkömmlichen Soziologie im Common Sense zeigt sich vor allem darin, daß sie sich alltagsweltlicher Beschreibungen und Interpretationen als unproblematischer Ressour­

cen für ihre eigenen Untersuchungen bedient, ohne die Verstehenspraktiken der Alltagswelt selbst zum Gegenstand der Untersuchung zu ma­

chen. Die Vermengung von Untersuchungsgegen­

stand (“topic”) und Untersuchungsmittel (“ re­

source” ) ist der zentrale Einwand der Ethnome­

thodologie gegen die etablierte Soziologie. So ar­

gumentieren Zimmerman und Pollner:

“We argue that the world o f everyday life, while fur­

nishing sociology with its favored topics o f inquiry, is seldom a topic in its own right. Instead, the familiar, common-sense world, shared by the sociologist and his subjects alike, is employed as an unexplicated resource for contemporary sociological investigations . . . Thus, contemporary sociology is characterized by a confound­

ing o f topic and resource” (1970: 80/81).

Die konventionelle Soziologie ist in ethnometho- dologischer Sicht eben deshalb unfähig, die Tie­

fenschichten der sozialen Realität zu erreichen, weil es ihr an der notwendigen analytischen Dis­

tanz zur Alltagspraxis fehlt, weil sie die alltags­

weltlichen Wirklichkeitskonstruktionen unbefragt übernimmt. Demgegenüber sucht die Ethnometho­

dologie — eben darin besteht ihr „radikaler Cha­

rakter“ — durch einen tiefgreifenden Perspekti­

venwechsel an das Fundament der sozialen Ord­

nung heranzukommen. Sie gibt die Prämisse ei­

ner unmittelbaren Gegebenheit sozialer Fakten preis und thematisiert diejenigen alltagsweltli­

chen Praktiken der Wirklichkeitskonstruktion, in denen der dinghafte Charakter der sozialen Reali­

tät sich allererst konstituiert. Um die Methoden der Konstitution sozialer Realität sichtbar zu machen, gilt es, das ontologisierende Wirklich­

keitsverständnis der „natürlichen Einstellung“

aufzugeben und die Objektivität der sozialen Wirklichkeit als “an ongoing accomplishment of the concerted activities of daily life” (Garfmkel 1967: VII), also als fortwährenden Vollzug von Alltagshandlungen zu begreifen7.

7 Die Übersetzung des Begriffs “accomplishment”

mit „Vollzug“ stammt von Bergmann (1974: 113 ff.).

Diese Übersetzung bringt besser als der Begriff „Her­

vorbringung“ bei Weingarten/Sack (1976: 11 ff.) das

(4)

Die soziale Realität — darauf zielt der ethnome- thodologische Zentralbegriff des “accomplish­

ment” ab, der den phänomenologischen Kon­

zepten der „Konstitution“ und der „Leistung“

nahe verwandt ist — hat keine eigene Objekti­

vität, sondern ist vielmehr das Korrelat der in­

tentionalen Wahrnehmungs- und Verstehenslei­

stungen der interagierenden Subjekte. Faktizität, Regelhaftigkeit, Wiederholbarkeit etc. sind keine abbildend beschreibbaren Merkmale der Sozial­

welt, sondern werden im Vollzug alltagsweltli­

cher Sinndeutungsverfahren hervorgebracht und aufrechterhalten. Sie haben — phänomenologisch gesprochen - kein „Dasein an sich“ , sondern ein

„Dasein für mich“ . Aussagen über die soziale Ordnung sind folglich für die Ethnomethodolo- gie nur möglich als Aussagen darüber, wie sich im methodischen Vollzug der Alltagspraxis das Bewußtsein sozialer Ordnung, der “sense of social structure” (Cicourel 1970: 29) konsti­

tuiert.

Die alltagsweltlichen Methoden des Sinnverste­

hens — das operative Fundament der Sozialwelt

— bekommt der Sozialwissenschaftler nur dann in den Blick, wenn die Ontologisierungen des Alltags rückgängig gemacht werden und die so­

ziale Wirklichkeit als „Vollzugswirklichkeit“ re- prozessualisiert wird8. Der „Sinn sozialer Ord­

nung“ , das Bewußtsein, in einer vertrauten und geordneten Welt zu leben, stellt sich im Vollzug der Alltagspraxis her, d.h. (entsprechend der be­

reits angesprochenen These von der Reflexivität des Alltagshandelns) im Vollzug der Methoden, mit Hilfe derer diese Alltagspraxis darstellbar, erklärbar, berichtbar (“accountable” ) gemacht wird. Diese - noch näher zu bestimmenden -

“accounting practices” , die zugleich Methoden der Sinndarstellung und der Sinnherstellung sind, stehen im Zentrum des ethnomethodologischen Forschungsinteresses.

Die ausschließliche Konzentration der Ethnome- thodologie auf den Prozeß der situativ-intersub-

Zugteich von Wirklichkeitskonstitution und Alltags­

praxis zum Ausdruck.

8 So bemerkt Attewell (1974: 203 f.): “What we realize on reading ethnomethodological literature is that there is a repeated avoidance o f any phe­

nomenon as a thing, and a substitution o f the phenomenon as a process. The ethnom ethodolo- gists act as if they want to avoid the reification o f members’ categories as things by describing everything as process.”

jektiven Konstitution sozialer Wirklichkeit, die Relationierung aller sozialen Realität auf diesen Konstitutionsprozeß hat eine wichtige forschungs­

logische Konsequenz. Alle Fragen nach der Adäquatheit, dem Nutzen oder den Konsequen­

zen gesellschaftlicher Darstellungs- und Interpre­

tationsleistungen sind innerhalb des ethnometho­

dologischen Programms prinzipiell unzulässig.

Der Ethnomethodologe beschreibt

“members’ accounts o f formal structures wherever and by whomever they are done, while abstaining from all judgements o f their adequacy, value, importance, neces­

sity, success or consequentiality. We refer to this pro­

cedural policy as ‘ethnomethodological indifference’ ” (Garfinkel/Sacks 1970: 345).

Innerhalb des ethnomethodologischen Fragehori­

zonts sind alle Wirklichkeitsentwürfe gleichberech­

tigt. Gegenüber der Frage, ob die Darstellungen und Sinnentwürfe der Gesellschaftsmitglieder richtig oder falsch sind, beweist der Ethnometho­

dologe seine „Indifferenz“ . Die Überprüfung der Wahrheit von Wirklichkeitskonstruktionen setzt die Annahme einer objektiven Realität voraus, an der sich die Adäquatheit der subjektiven Wirk­

lichkeitsentwürfe überprüfen läßt. Eben die An­

nahme einer objektiv existierenden Sozialwelt wird aber von der Ethnomethodologie — analog zur phänomenologischen „Epoche” Husserls - zu heuristischen Zwecken „eingeklammert“ . Ähn­

lich wie Husserl durch die Neutralisierung der realen, empirischen Welt in der phänomenologi­

schen Reduktion die „Aktsphäre“ der leistenden Subjektivität zu gewinnen sucht (vgl. Szilasi 1959: 65), so hofft die Ethnomethodologie, durch die Suspendierung aller Existentialurteile über die soziale Realität das methodische Funda­

ment alltäglicher Sinnkonstitution freizulegen.

3. Phänomenologie und Ethnomethodologie Die Verpflichtung gegenüber der Transzendental­

phänomenologie Husserls, mehr noch gegenüber der Sozialphänomenologie von Schütz, zieht sich durch alle Arbeiten der Ethnomethodologen. Ein Blick auf die besondere Richtung der Rezeption ist unerläßlich, um das Spezifikum des For­

schungsinteresses und des Gegenstandsbereichs der Ethnomethodologie zu verstehen. Differen­

zen innerhalb der Ethnomethodologie sollen da­

bei weitgehend vernachlässigt werden, wenngleich man, wie Keupp (1976: 121) zu Recht bemerkt, die Ethnomethodologie sicherlich nicht als ho­

mogene “scientific community” bezeichnen kann, die sich in konformer Weise auf Schütz beruft.

(5)

R. Eickelpasch: Das ethnomethodologische Programm einer „radikalen“ Soziologie 11 Phänomenologisch ist das ethnomethodologische

Programm in dem Maße, in dem es die Sozial­

welt nicht im Sinne einer an Dürkheim orientier­

ten Soziologie als „objektive Wirklichkeit“ , son­

dern — in einem Ansatz „von innen“ — als „in­

tentionales Objekt“ der „Mitglieder“ einer Ge­

sellschaft begreift. Die Wirklichkeit der Sozial­

welt ist für den Ethnomethodologen wie für Schütz nur als Korrelat der intentionalen Lei­

stungen interagierender Subjekte denkbar. Die soziale Welt ist die „Welt, wie sie wahrgenom­

men“ (intendiert) wird. „Die Gesellschaft ist jenseits der Sinnproduktion ihrer Mitglieder kein

,Ding‘ oder ,Objekt4 für die Untersuchung“ (Psa- thas 1979: 181).

Gemeinsam ist Schütz und den Ethnomethodolo­

gen die Frage nach dem Wie alltagsweltlicher Wirklichkeitskonstruktion, d.h. die Frage, wie die Gesellschaftsmitglieder es schaffen, in der Abwicklung ihrer Alltagshandlungen die Gewiß­

heit zu gewinnen, in einer geordneten und ver­

trauten Welt zu leben. In der spezifischen Ein­

stellung der Reduktion, in der die Ontologisie- rungsmuster der „natürlichen Einstellung“ „aus­

geklammert“ werden, soll der Prozeß der Kon­

stitution sozialer Realität transparent gemacht werden, gewissermaßen auf seine intentionalen Wurzeln zurückgeführt („reduziert“) werden9.

Jenseits dieser grundlegenden Gemeinsamkeiten lassen sich spezifische Modifikationen des Schütz- schen Forschungsinteresses innerhalb des ethno- methodologischen Programms aufzeigen. Für Schütz ist es Aufgabe der Sozialphänomenologie, eine „konstitutive Phänomenologie der natürli­

chen Einstellung“ zu liefern10 *, d.h. — in der For­

mulierung von Luckmann — „die universalen Strukturen subjektiver Orientierung in der Welt zu beschreiben“ (1979: 198). Den grundlegen­

den Mechanismus der Selbst- und Weltdeutung sieht Schütz in den Typisierungen des Menschen in der natürlichen Einstellung. Der Typus gilt ihm als Vehikel der Konstitution der Erfahrungs­

welt und somit als Träger der Sinngebung der Alltagswelt. Schütz’ Hauptinteresse richtet sich nun nicht etwa auf die empirische Fülle alltags­

9 Zum phänomenologischen Konzept der „Reduk­

tion“ vgl. Schütz 1971a: 119f, 143f.

10 Zu Schütz’ Programm einer „konstitutiven Phäno­

menologie der natürlichen Einstellung“ vgl. Walden- fels 1979.

weltlicher Typen, sondern auf den Vorgang der Typisierung als solchen. In seiner phänomeno­

logischen Beschreibung des Typisierungsvorgangs

— „von seinen vorprädikativen Grundlagen bis zu seiner selbstbewußten Form der Generalisie­

rung“ (Natanson 1966: 154) — ist er den inva­

rianten Strukturen des intentionalen Bewußtseins in seinen abstrahierenden und idealisierenden Modalitäten auf der Spur. Schütz begnügt sich also nicht mit einer schlichten Beschreibung der Funktionsweise der „natürlichen Einstellung“ , sondern er fragt nach der Bedingung ihrer Mög­

lichkeit, nach ihrer apriorischen Grundlage im intentionalen Bewußtsein.

Der Schwierigkeit, die im ersten Teil des „Sinn­

haften Aufbaus“ unternommene phänomenolo­

gische Analyse der Sinnkonstitution des einsa­

men Ich im inneren Zeit bewußt sein für sein Pro­

gramm einer „Strukturanalyse der Sozialwelt“

fruchtbar zu machen, begegnet Schütz, indem er in kritischer Distanz zu Husserl eine radikale Neufassung des Intersubjektivitätsproblems vor­

legt. Er kommt zu der Einsicht, „daß Husserls Versuch, die Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität aus den Bewußtseinsleistun­

gen des transzendentalen Ego zu begründen, nicht gelungen ist. Es steht zu vermuten, daß Intersubjektivität nicht ein innerhalb der trans­

zendentalen Sphäre lösbares Problem der Kon­

stitution, sondern eine Gegebenheit der Lebens­

welt ist. Sie ist die ontologische Grundkategorie des menschlichen Seins in der Welt und somit aller philosophischen Anthropologie. Solange Menschen von Müttern geboren werden, fundiert Intersubjektivität und Wirbeziehung alle anderen Kategorien des Menschseins“ (Schütz 1971b: 116).

Intersubjektivität gilt Schütz also als phänome­

nologisch nicht weiter reduzierbare ontologische Gegebenheit, als invariantes Merkmal menschli­

cher Existenz und als letztes Fundament der So­

zialwelt11 .

Das Problem der Intersubjektivität erfährt inner­

halb des ethnomethodologischen Ansatzes eine charakteristische Modifikation. Intersubjektivität ist für die Ethnomethodologen nicht — wie für Schütz — das irreduktible ontologische Funda­

ment der Sozialwelt, sondern eine Leistung (ac­

complishment) alltagsweltlicher Verstehensprak­

11 Zur Bedeutung „metaphysischer Konstanten“ bei Schütz vgl. Natanson 1979: 87.

(6)

tiken, in denen sich das Bewußtsein eines inter- subjektiv gültigen Sinnzusammenhangs herstellt.

“Intersubjectivity enters the ethnomethodological domain as the sense of intersubjectivity conting­

ently accomplished by members’ situated prac­

tices” , stellen Heap und Roth (1973: 364) fest.

Intersubjektivität wird in der Ethnomethodologie transformiert von der apriorischen Basis aller So­

zialität zur kontingenten Hervorbringung kontext­

abhängiger Alltagspraxis.

Die Transformation des Intersubjektivitätspro­

blems verweist auf die spezifische ethnometho- dologische Fassung der phänomenologischen Re­

duktion oder Epoche, die das kennzeichnet, was man die ethnomethodologische Einstellung nen­

nen könnte (vgl. Psathas 1979: 180 f.).

Während in der Phänomenologie Husserls die

„Wirklichkeit“ der Welt reduziert wird auf die konstitutiven Akte des subjektiven Bewußtseins­

stroms und noch Schütz’ Sozialtheorie einen deutlichen Hang zum Subjektivismus und Men­

talismus12 aufweist, gilt den Ethnomethodolo- gen die „Objektivität“ der Sozialwelt als Lei­

stung der alltäglichen Interpretationspraktiken der Gesellschaftsmitglieder in konkreten Hand­

lungsarrangements. “Garfinkei transformed Schutz’ mental processes into public, scenic processes” , bemerken Mehan/Wood (1975: 196).

Da in der „ethnomethodologischen Einstellung“

die soziale Ordnung von der methodischen Basis ihrer Konstitution nicht ablösbar ist, richtet sich das Forschungsinteresse ausschließlich auf die­

jenigen Techniken, mit deren Hilfe die “mem­

bers” sich wechselseitig die Geordnetheit der So­

zialwelt aufzeigen. Als fraglos gegeben und ab­

bildend beschreibbar gelten den Ethnomethodo- logen einzig diese “situated practices” als irre- duktibles Substrat der Sozialwelt13. Phänomeno­

logische Bewußtseinsanalysen lehnt Garfinkei ausdrücklich ab, der Blick unter die Schädeldek- ke offenbare nichts als Gehirnmasse (1963: 190).

Zimmerman und Pollner haben das Konzept des

„bewirkten Bestandes“ (occasioned corpus) ein­

12 Vgl. hierzu die Kritik von Mayrl (1973: 26) u.

Habermas (1976: 112f.)

13 Nach Melvin Pollner (vgl. Heap/Roth 1973: 363) bleibt auch die Frage nach dem ontologischen Sta­

tus des ethnomethodologischen Gegenstandsbereichs

„ausgeklammert“. Als „real“ gelten die “situated practices” nicht im ontologischen Sinne, sondern im Sinne einer intersubjektiven Verifizierbarkeit.

geführt, um das Spezifikum der ethnomethodo­

logischen „Reduktion“ zu explizieren. Dieser Be­

griff bezeichnet zugleich die - von den “mem­

bers” wahrgenommenen — Merkmale eines Hand­

lungsarrangements und die Methoden der Wahr­

nehmung und Interpretation dieser Merkmale.

Er unterstellt die Identität von Merkmalsbestand und Wissensbestand und weist auf die reflexive Verknüpfung beider mit konkreten Handlungsar­

rangements (“settings”) hin. Da der Bestand ,4m Vollzug“ alltagspraktischer Interpretations­

verfahren „bewirkt“ (occasioned) wird, ist er von den Methoden seiner Konstitution und ih­

rem konkreten Anwendungskontext nicht ab­

lösbar:

“We underscore the occasioned character o f the cor­

pus in contrast to a corpus o f members’ knowledge, skill, and belief standing prior to and independent o f any actual occasion in which such knowledge, skill, and belief is displayed or recognized.” (Zimmerman/

Pollner 1970: 94).

Der ethnomethodologische Begriff des “occa­

sioned corpus” steht damit in deutlichem Kon­

trast zu Schütz’ Konzept des „Alltagswissens“ . Im Rahmen seiner phänomenologischen Analy­

sen zur Konstitution der Erfahrungswelt be­

schreibt Schütz die phänomenologischen Grund­

lagen für die Entwicklung und Strukturierung von Wissen im subjektiven Bewußtseinsstrom, seine Konstitution, Sedimentierung und vorprä­

dikative Basis. In den Strukturanalysen der

„mundanen Sozialität“ ist dann nicht mehr die Sinnkonstitution im einsamen Ich das Thema, sondern die Objektivation des Wissens zu ei­

nem intersubjektiv gültigen, situationsunabhän­

gig „verfügbaren Wissensvorrat“ , seine soziale Verteilung, Aufschichtung und Verwendung in der Alltagswelt. Alltagswissen hat in Schütz’

Strukturanalysen der Sozialwelt also durchaus eine eigene „Objektivität“ im Sinne intersubjek­

tiver Gültigkeit und kontextunabhängiger Ver­

fügbarkeit. Der gesellschaftliche “stock of know­

ledge at hand” als „Schatzkammer vorgefertig­

ter verfügbarer Typen und Eigenschaften“

(Schütz 1971a: 16) erscheint hier eher alsPlro dukt sozialen Handelns denn als - im streng phänomenologischen Sinne - Konstitut subjek­

tiven Bewußtseins14.

14 Berger und Luckmann (1969), die durchgängig von der gesellschaftlichen Produktion des Alltagswissens sprechen, scheinen in diesem Punkte eher die legiti­

men Schüler von Schütz zu sein als die Ethnometho- dologen.

(7)

R. Eickelpasch: Das ethnomethodologische Programm einer „radikalen“ Soziologie 13 Die Ethnomethodologen beharren demgegenüber

in einer Radikalisierung des Vollzugscharakters sozialer Wirklichkeit darauf, daß die „Objekti­

vität“ und Situationsunabhängigkeit des Alltags­

wissens nicht ein Merkmal, sondern selbst eine reflexive Leistung dieses Wissens ist. Wird inner­

halb der „natürlichen Einstellung“ die Objekti­

vität von Ereignissen und Sachverhalten sowie die Allgemeingültigkeit von Wissensbeständen fortlaufend unterstellt und in Anspruch genom­

men, so wird in der ethnomethodologischen Ein­

stellung dieses „Wissen“ selbst zum „Phänomen“, d.h. es wird ausschließlich nach den Methoden des praktischen Denkens gefragt, die dieses „Wis­

sen“ um objektive Sachverhalte generieren. Heap und Roth haben diese Besonderheit der ethno­

methodologischen Problemsicht sehr prägnant be­

nannt:

“Under the auspices o f the ethnomethodological atti­

tude and its attendant reduction . . . a question about transsituational phenomena automatically becomes a question about the phenomenon o f transsituationality (i.e., how members produce and sustain the sense o f objective phenomena taken to exist outside the oc­

casion where that sense is made collectively available)”

(1973: 364).

Das ethnomethodologische Interesse gilt also nicht etwa — wie bei Schütz - der Typik, Ite- rierbarkeit und situationsunabhängigen Geltung von Wissensbeständen und Handlungsstrukturen, sondern ausschließlich den lebensweltlichen In­

terpretationspraktiken, die die Wahrnehmung von Typik, Wiederholbarkeit etc. „bewirken“ . In deutlicher Abgrenzung von Schütz, der in sei­

ner Strukturanalyse der Lebenswelt „Typik“

eher als Merkmal des Alltagswissens denn als fortwährende intentionale Leistung zu begreifen scheint, formulieren Zimmerman/Pollner:

“Members’ orientation to the properties o f transsi­

tuational events and relationships (for example, their typicality, regularity, and connectedness) and their re­

ference to general knowledge o f these events and re­

lationships is treated from this perspective as a feature and accomplishment o f members’ work” (1970: 9 7/98).

„Alltagswissen“ ist in ethnomethodologischer Perspektive nicht ablösbar von seiner methodi­

schen Basis, von der Art und Weise also, wie auf

„Wissen“ rekurriert wird. Der Beschreibung, Ana­

lyse und Klassifikation dieser Methoden des

„praktischen Denkens“ — einer, wie Zimmerman/

Pollner (1970: 95) sagen, „Methodographie“ des Alltags also — gilt das ethnomethodologische For­

schungsprogramm .

II. Grundkonzepte des ethnomethodologischen Forschungsansatzes

1. Die „unheilbare“ Indexikalität der Alltags­

sprache

Um die Wesensmerkmale des alltäglichen „prakti­

schen Denkens“ — also des spezifischen Gegen­

standsbereichs der Ethnomethodologie - zu be­

stimmen, rekurriert Garfinkei immer wieder auf das Phänomen der „Indexikalität“ der Umgangs­

sprache. Mit dem von Bar-Hillel (1954: 359 ff.) übernommenen, letztlich auf C.S. Peirce zurück­

gehenden Begriff der Indexikalität nimmt Gar- finkel auf das Phänomen Bezug, daß es eine Viel­

zahl sprachlicher Elemente gibt, die es notwen­

dig machen, auf den pragmatischen Kontext der Redesituation zurückzugreifen, um ihren Sinn­

gehalt, ihr Referenzobjekt oder ihren Wahrheits­

wert zu ermitteln. Neben den in der Linguistik als „deiktische Elemente“ bezeichneten kontext­

abhängigen Referenzmitteln (hier, dort, jetzt, dann, ich, du etc.) können auch bestimmte Satz­

typen indexikalen Charakter haben. So ist etwa der Befehl „Mach die Tür zu!“ insofern eine indexikale Äußerung, als nur aus dem Kontext der Sprechsituation erschlossen werden kann, wer wann welche Tür schließen soll15.

Das aus der Linguistik entlehnte Indexikalitäts- konzept liefert nun Garfinkel das entscheidende Argument für seine Kritik der etablierten Sozio­

logie. Die konventionellen Soziologen — so Gar­

finkel — sind sich weitgehend einig in der Auf­

fassung, daß indexikale Ausdrücke ungeachtet ih­

rer enormen Nützlichkeit für die Zwecke alltäg­

licher Verständigung im Rahmen wissenschaftli­

cher Aussagen mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit und intersubjektive Überprüfbarkeit ein Ärgernis darstellen. Sie sind aufgrund ihrer Situationsabhängigkeit “awkward for formal dis­

course” (Garfinkel 1967: 5) und müssen daher eliminiert, d.h. durch objektive Ausdrücke er­

setzt werden. Auf dieses Ziel der „Heilung“ (re­

medy) indexikaler Ausdrücke richten sich nach Garfinkel die endlosen methodischen Anstren­

gungen in den verschiedenen Wissenschaftsdiszi­

plinen. Analog zu den wissenschaftlichen Verfah­

rensweisen der Klassifikation, Typisierung und

15 Das Beispiel stammt von Bergmann (1974: 50), der eine äußerst gründliche Diskussion des ethnom etho­

dologischen Indexikalitätskonzepts liefert.

(8)

Begriffsbildung sind auch die „Laiensoziologen“

des Alltags fortlaufend damit beschäftigt, durch Praktiken des Darstellern, Erklärens, Begründens einzelne, manifeste Gegebenheiten einem latenten Muster zuzuordnen, um sich so wechselseitig die Rationalität und Wiederholbarkeit ihres Handelns und die Geordnetheit und Vertrautheit ihrer So­

zialwelt aufzuzeigen16. Das programmatisch ver­

folgte Ziel ist im Alltag wie in der Wissenschaft die „Heilung indexikaler Ausdrücke“ , also die Entindexikalisierung von Äußerungen, Handlun­

gen, Ereignissen:

“Wherever and by whomever practical sociological rea­

soning is done, it seeks to remedy the indexical pro­

perties o f practical discourse; it does so in the interest o f demonstrating the rational accountability o f every­

day activities” (Garfinkel/Sacks 1970: 339).

Das ethnomethodologische Konzept der Entinde­

xikalisierung verweist auf eine alltagspraktische Verstehensleistung, die bereits Schütz in seinem Aufsatz „Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen Handelns“ unter dem Titel „Unterdrückung der Indizes“ als kon­

stitutives Merkmal des Alltagsdenkens themati­

siert hat (vgl. Schütz 1971a: 24) In der Unter­

drückung der Indizes, die jede Handlung, jedes Ereignis und jede Erfahrung (A’, A” , C \ C” , S’, S” ) an eine bestimmte Raum-/Zeit-Stelle oder besondere Inhalte binden, sieht Schütz die fun­

damentale Funktionsweise der Idealisierung des

„Ich kann immer wieder“ (Husserl) und die Grundlage jeder Typisierung. Die Einklamme­

rung der einzigartigen und unwiederholbaren Merkmale von Ereignissen, die Typisierung von Handlungen, Umständen und Situationen —

16 Diese interpretativ hergestellte Beziehung zwischen einem Ereignis und dem vermuteten zugrundeliegen­

den Muster oder Typus wird in der Sekundärliteratur zur Ethnomethodologie häufig als „Indexikalität“

bezeichnet (vgl. Wilson 1973: 60; Weingarten/Sack 1976: 16; Nießen 1977: 41; Wolff 1976: 136). Eine derartige Deutung scheint mir auf einem groben Miß­

verständnis des ethnomethodologischen Indexikali- tätskonzepts zu basieren, ja es geradezu auf den Kopf zu stellen. Als „Indexikalität“ wird bei Garfmkel gerade das Einmalige, Unwiederholbare, Untypische eines Ereignisses oder einer Äußerung, ihre räumlich- zeitlich-personelle Situationsabhängigkeit bezeichnet, während die Einordnung einer Erscheinung in ein zugrundeliegendes Muster - ihr Charakter als „Do­

kum ent“ eines allgemeinen Typus - gerade die spezi­

fische Leistung alltäglicher /Tnrindexikalisierungsbe- mühungen darstellt. Vgl. hierzu die Ausführungen zur

„dokumentarischen Methode der Interpretation“ in Kap. II, 3 dieser Arbeit.

Schütz hat diesen Prozeß auch als „Anonymisie­

rung“ beschrieben — bilden das konstitutive Apriori menschlichen Handelns und sozialer Re­

alität. Die subjektive Unfähigkeit zur Anonymi­

sierung, Typisierung und Generalisierung — d.h.

zur „Unterdrückung der Indizes“ - fällt nach Natanson in die Rubrik psycho-pathologischen Verhaltens: „Eine solchermaßen kranke Person lebt in einer partikularisierten, bruchstückhaften Welt von Augenblicken, die voneinander isoliert sind“ (1979: 85).

Ungeachtet der gemeinsamen phänomenologi­

schen Wurzeln unterscheidet sich das ethnome­

thodologische Konzept der „Heilung der Inde­

xikalität“ in einigen charakteristischen Merkma­

len von Schütz’ Konzept der „Unterdrückung der Indizes“ . Während Schütz’ Konzept der

„Unterdrückung der Indizes“ die vorprädikative Grundlage individueller Erfahrung, mithin eine intentionale Leistung des subjektiven Bewußt­

seins bezeichnet, verweist Garfinkeis Konzept einer „Heilung indexikaler Ausdrücke“ auf die mtersubjektiv wirksamen, gleichsam öffentlich („szenisch“) angewandten Methoden und Ver­

fahrensweisen, mittels derer die Gesellschaftsmit­

glieder sich fortlaufend wechselseitig der Ver­

nünftigkeit, Geordnetheit und Erklärbarkeit ih­

res Handelns und ihrer Sozialwelt versichern.

Neu — und von zentraler Bedeutung innerhalb des Garfinkelschen Argumentationszusammen­

hangs — ist auch die weitere These, die besagt, daß die wissenschaftlichen und alltäglichen Be­

mühungen um eine „Heilung indexikaler Aus­

drücke“ überall dort, wo sie sich auf soziale Handlungszusammenhänge richten, ihr Ziel - die Ersetzung indexikaler durch objektive Aus­

drücke — niemals erreichen können. Wann im­

mer der Laien- oder Berufssoziologe sich der natürlichen Sprache zur Beschreibung, Erklärung und Begründung, kurz: zur sinnhaften Ordnung sozialer Handlungszusammenhänge und Situatio­

nen bedient, wird er unvermeidlich Äußerungen formulieren, deren Bedeutungsgehalt erst durch die Situation selbst, in der gesprochen wird, be­

stimmbar ist. Die Kontextabhängigkeit der Spra­

che ist „essentiell“ , d.h. nicht eliminierbar. Das Ziel einer Substitution indexikaler Äußerungen durch objektive ist aufgrund der unaufhebbaren Einheit von Sprache und Lebenspraxis unerreich­

bar und bleibt daher „programmatisch“ , d.h. ein fortlaufend erneuertes Versprechen, von dessen

(9)

R. Eickelpasch: Das ethnomethodologische Programm einer „radikalen“ Soziologie 15 Einlösung man sich jedoch in jedem Einzelfall

mit plausiblen Argumenten dispensiert.

“Wherever practical actions are topics o f study the pro­

mised distinction and substitutability o f objective for indexical expressions remains programmatic in every particular case and in every actual occasion in which the distinction or substitutability must be demonstrated”

(Garfinkel 1967: 6; Hervorh. im Orig.).

Allen Versuchen einer rationalen Beschreibung und Erklärung sozialer Realität — dies gilt für die etablierte Soziologie ebenso wie für die „Laien­

soziologen“ — liegt als Arbeitsprämisse und In­

terpretationsfolie die “unsatisfied programmatic distinction between and substitutability of objec­

tive for indexical expressions” (Garfinkel 1967:

4) zugrunde. Die naheliegende Frage, warum denn die Mitglieder einer Gesellschaft so hart­

näckig an dem Anspruch auf Eliminierung aller kontextabhängigen Ausdrücke festhalten und so beharrlich die Unfähigkeit zur Einlösung dieses Anspruchs ignorieren, beantwortet die Ethno- methodologie mit einem Hinweis auf den augen­

scheinlichen Erfolg dieser Strategie: Gerade in­

dem die Mitglieder einer Gesellschaft (einschließ­

lich der professionellen Soziologen) in ihrem

„praktischen Denken“ und in ihren Darstellun­

gen jeden Zweifel an der Faktizität und objekti­

ven Erkennbarkeit der sozialen Realität einklam­

mern, gelingt es ihnen immer wieder, klare, ein­

deutige und vernünftige Gespräche zu führen, d.h. mit Erfolg zu kommunizieren und interagie­

ren.

Nicht die Beseitigung indexikaler Äußerungen und Handlungen, sondern der adäquate metho­

dische Umgang mit ihnen ist in ethnomethodo- logischer Sicht Bedingung der Möglichkeit sinn- hafter Interaktion. Die Eliminierung indexikaler Ausdrücke ist demnach nicht nur unmöglich, sondern — jedenfalls für die Zwecke alltagsprak­

tischer Verständigung — nicht einmal wünschens­

wert, sind sie doch, wie Giddens formuliert,

“the very stuff out of which social activity is organized by its members as a practical accom­

plishment” (Giddens 1976: 37).

Der adäquate Umgang mit indexikalen Äußerun­

gen, Ereignissen und Handlungen basiert auf der Fähigkeit des kompetent Handelnden, unter Ein­

satz bestimmter Basisregeln und Interpretations­

verfahren räumlich-zeitlich-personell gebundene Ausdrücke und Aktivitäten einerseits latenten Orientierungstypen des alltagsweltlichen „Ereig­

nisfahrplans“ (Matthes/Schütze 1973: 42 f.) zu­

zuordnen, andererseits jedoch — um Disparitäten von Wissensbeständen, biographischen Situatio­

nen etc. zu über brücken und „wechselseitig fle­

xible Reziprozität“ (Schütze et al. 1973: 454 f.) zu ermöglichen — auf eine frühe und starre Zu­

ordnung zu verzichten17. Die Indexikalität der Ausdrücke stellt das Individuum - um es in den Kategorien Luhmanns zu sagen - vor die Ord­

nungsaufgabe, Komplexität durch Selektionslei­

stungen zu reduzieren, ohne jedoch den Möglich- keitshorizont zu vernichten18 *.

Dem kompetenten methodischen Umgang mit der Indexikalität von Äußerungen und Handlun­

gen, d.h. dem beständigen Einsatz von Metho­

den, die die routinemäßig unterstellte Vernünf­

tigkeit von Handlungsverläufen aufzeigen — und damit erst hersteilen - , verdankt die Alltags­

routine ihre scheinbare Selbstverständlichkeit.

Eben diesen Prozeß der beständigen methodi­

schen Herstellung von Vernünftigkeit (“rationa­

lity”) bestimmt Garfinkel zum Objektbereich der Ethnomethodologie:

“I use the term ‘ethnom ethodology’ to refer to the in­

vestigation o f the rational properties o f indexical ex­

pressions and other practical actions as contingent ongoing accomplishment o f organized artful practices o f everyday life” (1967: 11).

Unter „Rationalität“ versteht Garfinkel dabei - worauf Mayrl (1973: 17) mit Recht hinweist - nicht etwa die objektive Qualität eines Hand­

lungsablaufs oder, wie Max Weber, einen zu me­

thodischen Zwecken konstruierten Idealtypus, sondern das im methodischen Vollzug der All­

tagspraxis sich einstellende Bewußtsein einer Vernünftigkeit und Geordnetheit von Ereignis­

sen, Situationen und Aktivitäten. Es handelt sich also um eine methodisch generierte, d.h.

durch den situativen Einsatz alltagspraktischer Interpretationsverfahren hergestellte und von diesen nicht ablösbare Rationalität “ for-all-prac- tical-purposes” . Durch ihre „rationalen Merk­

male“ werden Handlungen und Äußerungen für die “cultural colleagues” (Garfinkel 1967: 11) plausibel, verstehbar, kommunizierbar. In der methodischen Herstellung derartiger „Situations-

17 Dies ist die wesentliche Leistung der „dokumentari­

schen Methode“ .

18 Auf die Beziehung zwischen Garfinkeis Begriff der

„Entindexikalisierung“ und dem Konzept der „Kom­

plexitätsreduktion“ bei Luhmann haben Bergmann (1974: 56) und Koeck (1976: 264) hingewiesen.

(10)

Wahrheiten“ (vgl. Husserl 1962: 135) in aktuel­

len Handlungsvollzügen realisiert sich die soziale Ordnung.

2. Die „uninteressante“ Reflexivität alltagsprak­

tischer Darstellungen

Die unaufhebbare Kontextabhängigkeit und Per­

sonengebundenheit alltagsweltlicher Äußerungen und Handlungen sowie die dadurch vermittelte Notwendigkeit, im Interesse einer flexiblen Re­

ziprozität auf starre und eindeutige Bedeutungs­

zuschreibungen zu verzichten, d.h. den „Möglich­

keitshorizont“ offen zu halten, wirft die Frage auf, wie es unter diesen Bedingungen den Mit­

gliedern einer Gesellschaft unter den pragmati­

schen Handlungszwängen des Alltags immer wie­

der gelingt, klare Entscheidungen über Sinn- und Handlungsalternativen zu treffen. Es muß also ein Mechanismus existieren, der im Prozeß der Handlungsrealisierung jenes für die Alltagspraxis konstitutive Zugleich von Vagheit und Genauig­

keit, von „Potentialität und Aktualität“ (Husserl), leistet19. Garflnkel benennt diesen Mechanismus in der „zentralen Devise“ , die er seinen ethno- methodologischen Untersuchungen voranstellt:

“Their central recommendation is that the activities whereby members produce and manage settings o f or­

ganized everyday affairs are identical with members’

procedures for making those settings ‘account-able’.

The ‘reflexive’, or ‘incarnate’ character o f accounting practices and accounts makes up the crux o f that re­

commendation” (1967: 1).

Dieses für den ethnomethodologischen For­

schungsansatz zentrale, im Rahmen dieser Ar­

beit bereits mehrfach angesprochene Identitäts- bzw. Reflexivitätstheorem /bedarf einer einge­

henden Explikation. Garfmkels These ist, daß die Methoden, mit Hilfe derer die Gesellschafts­

mitglieder ihre sozial geordneten Alltagsaktivi­

täten erzeugen und abwickeln, identisch sind mit den Verfahren, mittels derer eben diese Ak­

tivitäten darstellbar und erklärbar (“account­

able”) gemacht werden. Die alltagsweltlichen Praktiken des Darstellens und Erklärens sind demnach ein konstitutiver (“incarnate” ) Bestand­

teil der Alltagspraxis.

Das besagt, daß einerseits das alltägliche Hand­

lungsarrangement - als ein wahrnehmbares Hand-

19 Vgl. hierzu die Ausführungen von Bergmann (1974:

81 f.), dem ich im übrigen wesentliche Anregungen für diesen Teil der Arbeit verdanke.

lungsarrangement — in den Interpretationen der

“members” konstituiert wird, andererseits diese Interpretationen selbst Teil jenes Handlungsarran­

gements sind, welches sie interpretieren. Die These, daß die alltagsweltlichen Interpretationen reflexiv mit den Handlungsarrangements ver­

knüpft sind, welche sie interpretieren, stellt die ethnomethodologische Version der phänomeno­

logischen Grundannahme dar, daß die soziale Welt nicht physisch gegeben, sondern in den Be­

wußtseinsleistungen der Mitglieder lediglich sym­

bolisch appräsentiert ist. In Entsprechung zu Schütz’ Behauptung, daß die Alltagswelt eine

„von vornherein“ typisierte Welt ist, daß also die Welt in den und durch die typisierenden Akte der Mitglieder einer Gesellschaft entsteht, gehen die Ethnomethodologen davon aus, daß die All­

tagshandelnden im Prozeß der sozialen Interak­

tion ihre Handlungen immer schon interpretieren, d h. sich selbst und anderen verstehbar und dar­

stellbar machen.

In dem alle ethnomethodologischen Schriften beherrschenden Begriff des “accounting” wird nun keineswegs — wie manche Interpretationen nahelegen (vgl. Wolff 1976: 142 f) - der Herstel­

lungsprozeß sozialer Sinnbezüge bzw. der „Ra­

tionalität“ sozialer Handlungen auf die rein ver­

balen Akte des Darstellens verkürzt. Vielmehr bringt das “account” -Konzept, wie Jörg Berg­

mann (1974: 86 ff) in einer äußerst gründlichen Analyse aufgewiesen hat, gerade den sprachlich­

kognitiven Doppelcharakter alltagsweltlicher Ord­

nungsleistungen zum Ausdruck. Es setzt die Me­

thoden der Sinnherstellung mit den Methoden der Sinndarstellung gleich20, umfaßt mithin alle syn­

thetisierenden Akte des Sehens, Wahrnehmens, Beschreibens, Darstellens und Erklärens. Das Iner­

esse der Ethnomethodologie richtet sich — wie Zimmerman/Wieder bemerken — auf das Problem,

“how members of society go about the task of seeing, describing, and explaining order in the world in which they live” (1970: 289).

Daß diese Akte des Deutens und Erklärens nicht etwa sozialen Handlungssituationen (“settings”) post factum einen Sinn zuschreiben21 *, sondern

20 Diese Doppeibedeutung ist bereits im semantischen Gehalt des englischen “account” angelegt, wie Atte- well (1974: 183) bemerkt.

21 Dies wäre etwa die Sichtweise des Symbolischen Interaktionismus oder der Labeling-Theorie.

(11)

R. Eickelpasch: Das ethnomethodologische Programm einer „radikalen“ Soziologie 17 selbst konstitutiver Teil dieser Situationen sind,

macht den reflexiven oder, wie Garfmkel auch sagt, „mundanen“ Charakter der “accounts”

Zimmerman (1974: 25) hat die Reflexivität um­

gangssprachlicher Darstellungen auf der Ebene eines einzigen Wortes sehr einleuchtend veran­

schaulicht. Er hat drei geometrische Figuren ge­

zeichnet, von denen zwei ein Wort enthalten:

n . ...^ ^ T7

P r o je k t io n V e r t i e f u n g

N ^ ...

(entnommen aus Mehan/Wood 1976a: 35)

Die beiden Wörter „Projektion“ und „Vertiefung“

interagieren mit dem Kasten: Ihr Erscheinen ver­

ändert die Beschaffenheit des Kastens, umgekehrt ergibt sich die spezifische Wortbedeutung erst aus dem reflexiven Bezug zum Kasten. Die bei­

den Wörter erläutern also nicht den jeweiligen Kontext, sie schaffen vielmehr reflexiv eben die­

sen Kontext, dessen konstitutives Element sie sind.

Die Einsicht, daß umgangssprachliche Äußerungen reflexiv mit sozialen Handlungskontexten ver­

knüpft sind, verbindet die Ethnomethodologie mit Sprachtheorien wie der Sprechakttheorie (Austin 1962; Searle 1969) oder der linguistischen Prag­

matik (Maas/Wunderlich 1972), die in Anlehnung an Wittgensteins Konzept des „Sprachspiels“ Spre­

chen als eine Form gesellschaftlichen Handelns begreifen.

Garfmkel hat die reflexive Kontextgebundenheit und Situierungsbedürftigkeit umgangssprachlicher Äußerungen in einem kleinen Experiment ein­

drucksvoll belegt. Wie Garfmkel (1967: 25ff, 38ff) berichtet, forderte er seine Studenten auf, alltägliche Gespräche, an denen sie selbst betei­

ligt waren, zweifach aufzuzeichnen: auf die lin­

ke Seite eines Blattes sollten sie schreiben, was tatsächlich gesagt wurde (“what the parties ac­

tually said”), auf der rechten Seite sollte darge­

stellt werden, worüber nach ihrem Verständnis und dem der Gesprächspartner gesprochen wurde (“what they and their partners understood they were talking about”). Während den Studenten

22 Pollner (1976: 295 ff.) hat in Anlehnung an Schütz den Begriff des „mundanen Denkens“ geprägt.

die wortgetreue Darstellung des abgelaufenen Dialogs keinerlei Schwierigkeiten bereitete, fiel ihnen das Ausfüllen der rechten Spalte ungleich schwerer. Garfmkels immer wieder erhobene Forderung nach Präzisierung machte ihre Auf­

gabe zunehmend mühevoller und schließlich un­

lösbar. In seiner Interpretation dieses Experi­

ments geht es Garfmkel vor allem um die Klä­

rung folgender Fragen:

(1) Welche formalen Eigenschaften zeigen die Gespräche und wie wird im Gesprächsver­

lauf ein gemeinsames Verständnis (“com­

mon understanding”) zwischen den Kon­

versationspartnern erzielt?

(2) Weshalb machte die hartnäckige Forderung nach Klarheit und Eindeutigkeit die Auf­

gabe letztlich undurchführbar?

Eine detaillierte Darstellung der ungemein kom­

plexen Analysen, die Garfmkel zur Klärung die­

ser beiden Fragenkomplexe unternimmt, ist im vorliegenden Zusammenhang nicht erforderlich23.

Ich werde mich auf diejenigen Überlegungen Gar­

fmkels beschränken, die für eine Explikation des ethnomethodologischen Reflexivitätstheorems von besonderem Belang sind.

Nach Garfinkei zeigen die aufgezeichneten Ge­

spräche folgende Merkmale:

— Die meisten Gesprächsbeiträge stellen indexi- kale Äußerungen dar. Um ihren Sinn zu ver­

stehen, ist es erforderlich, die Äußerungen im pragmatischen Kontext der Redesituation zu interpretieren, d.h. die Biographien, die Ab­

sichten und die Beziehungen der Sprecher, den bisherigen sowie den weiteren Verlauf des Gesprächs mitzuberücksichtigen. Die Be­

deutung einer Äußerung ist also nicht ablös­

bar von ihrem Verwendungskontext.

— Trotz aller Entindexikalisierungsversuche behal­

ten die Gesprächsinhalte einen unaufhebbaren Rest von Vagheit und Unbestimmtheit. Gar­

fmkel nimmt an, daß dieser Vagheit von Aus­

drücken die Erwartung der Gesprächsteilneh­

mer zugrundeliegt, der andere werde dem Ge­

sagten schon den vom Sprecher jeweils inten­

dierten Sinn zurechnen.

— Auch zunächst unverständlich bleibende Aus­

drücke werden durch ihre zeitliche Einordnung in den Gesamtverlauf des Gesprächs als sinn-

23 Vgl. hierzu die sehr detaillierte Analyse dieses Ex­

periments bei Bergmann (1974: 102 ff.).

(12)

voll perzipiert. Dem liegt die Erwartung des Hörers zugrunde, daß der Sinn eines Ausdrucks sich durch die späteren Gesprächsbeiträge des Sprechers schon ergeben wird. “Each waited for something more to be said in order to hear what had previously been talked about” , schreibt Garfinkel (1967: 40). Diese retrospek­

tiv-prospektive Orientierung der Gesprächspart­

ner verweist darauf, daß alltagsweltliche Ver­

stehensleistungen immer auch eine zeitliche Di­

mension haben.

— Das Verstehen der kurzen, unvollständigen und mehrdeutigen Ausdrücke wird dadurch möglich, daß aktuelle Gesprächsbeiträge vor dem Hintergrund einer unterstellten Sinnto­

talität interpretiert werden: Man betrachtet sie als „Dokument“ oder „Repräsentant“ ei­

nes antizipierten zugrundeliegenden Musters von Bedeutungen, also einer sinnhaften Ord­

nung von Ereignissen, Handlungen und Äuße­

rungen (vgl. hierzu unten Kap. II, 3).

Die dargestellten Merkmale des Alltagsdiskurses belegen nach Garfinkel, daß die von der „kon­

ventionellen Soziologie“ vertretene Ansicht, nach der gemeinsame Verständnisse aus einem Fundus an inhaltlicher Übereinstimmung über bestimmte Themen und Sachverhalte bestehen, dem Common Sense verhaftet bleibt. Sie ver­

kennt die Tatsache, daß in der Umgangssprache jeder Ausdruck von einem offenen Horizont von Bedeutungen umgeben ist, daß gerade Vag­

heit, Ungenauigkeit und Ambiguität Grundlage des “common understanding” sind. Im Alltags­

diskurs ist paradoxerweise die „strukturelle Sinnungewißheit eine konstitutive Bedingung für Sinngewißheit“ , wie J. Bergmann (1974:

80) äußerst treffend formuliert.

Die grundsätzliche Vagheit und Unbestimmtheit von Äußerungen verweist darauf, daß wechsel­

seitiges Verstehen im Alltag nicht auf dem Aus­

tausch fixer Bedeutungseinheiten, sondern auf einer fortlaufenden Interpretationsarbeit der

“members” basiert. Nur im fortwährenden Voll­

zug bestimmter Interpretationsverfahren läßt sich eine Handlung oder eine Äußerung als „einer Regel folgend“ , d.h. als geordnet, vernünftig und

„rational“ darstellen und wahrnehmen.

“ ‘Shared agreement* refers to various social methods for accomplishing the members’ recognition that some­

thing was said-according-to-a-rule and not the demons­

trable matching o f substantive matters” (Garfinkel 1967: 30).

Gemeinsame Verständnisse haben im Alltag also unvermeidlich eine operative Struktur. Durch die beständige methodische Aktualisierung und Inanspruchnahme der erwähnten sozial anerkann­

ten Merkmale des Alltagsdiskurses - “that anti­

cipation that persons will understand, the occa­

sionally of expressions, the specific vagueness of references, the retrospective-prospective sense of a present occurrence, waiting for something later in order to see what was meant” (Garfinkel 1967: 41) — gelingt es den Alltagshandelnden, Disparitäten der Perspektiven, Interessen, Biogra­

phien und Wissensbestände der Interaktionspart­

ner zu überbrücken und eine rasche und praxis­

nahe Verständigung herzustellen. Die kommuni­

zierten Wissensgehalte erfahren so im Alltagsdis­

kurs eine „pragmatische Brechung“ (Schütze et al. 1973: 445), d.h. sie werden in eine je spezi­

fische pragmatische Beziehung zu den situativen Handlungserfordernissen gesetzt. Dabei dienen die kommunizierten Darstellungen und Erklärun­

gen (“accounts” ) einerseits der Situationsdefini­

tion sowie der Handlungsorientierung in der Si­

tuation, andererseits erhalten sie reflexiv ihren Sinn und ihren intelligiblen Gehalt als “evidences- of-a-social order” erst in der Bezugnahme auf diese Situation.

Die situative Reflexivität alltagspraktischer Dar­

stellungen, Erklärungen und Beschreibungen wird von den Gesellschaftsmitgliedern fortwährend unterstellt und in Anspruch genommen, um eine pragmatische Verständigung über Wissensbestände und Handlungszusammenhänge zu erreichen; sie wird jedoch typischerweise weder reflektiert noch thematisiert. Dieser Re flexions mangel — Garfin­

kel (1967: 7) spricht von der “‘uninteresting’ re- flexivity of accounts” — stellt nicht etwa ein De­

fizit dar, sondern bildet die Grundlage für die Vernünftigkeit und Plausibilität der Alltagsrou­

tine. “That they are ‘not interested’ has to do with reasonable practices, with plausible argu­

ments, and with reasonable findings” (Garfinkel 1967: 8). Wer die reflexive Kontextgebundenheit des Alltagsdiskurses ins Bewußtsein hebt, wer den pragmatischen Charakter von Erklärungen und Wissensgehalten bemängelt, gibt zu erken­

nen, daß er ein weltfremder Pedant ist, der nicht sehen kann, was alle sehen, der blind ist gegen­

über dem Selbstverständlichen: Es fehlt ihm an gesundem Menschenverstand. Eben diese Rolle des pedantischen Außenseiters hat Garfinkel in dem erwähnten Experiment übernommen, um so

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