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Die Wehrmacht im Dritten Reich Band I: 30. Januar 1933 bis 2. August 1934

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Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg. Hrsg. von Johannes Kunisch, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1996,1054 S. (= Bibliothek der Geschichte und Politik, 9/ Bibliothek Deutscher Klassiker, 131), DM 156,— [ISBN 3-618-66690-X]

Der Siebenjährige Krieg war der erste weltumspannende Konflikt der europäi- schen Großmächte. Auf den Weltmeeren, in Nordamerika und im Westen Deutsch- lands kämpften Engländer und Franzosen um die Vorherrschaft in der Neuen Welt, während Preußen mit wenigen Verbündeten gegen die Übermacht Österreichs, Rußlands, Frankreichs, Schwedens und des Reiches um den Bestand seines Staa- tes und seiner Monarchie stritt. Dieser einzigartige Überlebenskampf eines Staates von rund fünf Millionen Einwohnern gegen ein Bündnis von 90 Millionen, das mi- litärische wie moralische Standhalten gegen eine derartig übermächtige Koalition von Gegnern, faszinierte Zeitgenossen und Nachlebende bis auf den heutigen Tag.

Gleichzeitig erreichte der Siebenjährige Krieg durch seine zeitliche Dauer, sei- ne Intensität und vor allem durch seinen Hauptprotagonisten zunehmend eine Qualität, die deutlich über andere Kabinettskriege hinauswies. Große Teile Deutsch- lands wurden über Jahre hinweg immer wieder Kriegsschauplatz, Städte und Land- striche von den durchziehenden Heeren in vielfältiger Form in Mitleidenschaft ge- zogen. Zahlreiche Gefechte und große Feldschlachten zeigten auch das brutale Ge- sicht des Krieges, über dessen Verlauf mehr und mehr die mystifizierte Gestalt Friedrichs des Großen hervortrat. Der Verfasser des »Antimacchiavell«, der Philo- soph auf dem Thron, wurde jetzt für viele Zeitgenossen zum Verteidiger des pro- testantischen Deutschlands gegen die katholischen Feindmächte Frankreich und Österreich, ein Bezugspunkt national empfundener literarischer Tätigkeit im Zeit- alter der vorrevolutionären Aufklärung.

Johannes Kunisch hat fünf herausragende Texte aus dieser Epoche in einer auf- wendigen Edition wieder zugänglich gemacht. Es handelt sich dabei um Johann Wilhelm von Archenholz' »Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland von 1756 bis 1763« (1793), Friedrichs des Großen »Betrachtungen über die Taktik und einige Aspekte des Krieges« (1758), die »Betrachtungen über die militärischen Talente und den Charakter Karls XII., Königs von Schweden« desselben Autors (1759), Thomas Abbts »Vom Tode für das Vaterland« (1761) und Ägyd Valentin von Bories »Staats-Betrachtungen über den gegenwärtigen preußischen Krieg in Teutschland« (1761).

Hauptstück ist ohne Zweifel Archenholz' »Geschichte des siebenjährigen Krie- ges«. Das umfangreiche Werk eines engagierten Historikers und Publizisten, der selbst als junger preußischer Offizier an mehreren Feldzügen dieses Krieges teil- nahm, ist eine breit angelegte Schilderung des Gesamtgeschehens, ausdrücklich adressiert an »alle Volksklassen«. Stehen auch die Operationen und Gefechte na- turgemäß im Vordergrund, so finden sie doch nicht in einem abstrakten und theo- retischen Raum statt, sondern zwischen Völkern und Staaten und in einer viel- schichtigen Wirklichkeit, von der der Autor ein getreues Abbild zu geben sucht. Da- mit hebt er sich deutlich ab etwa von Tempelhoffs rein kriegsgeschichtlicher Dar- stellung und einer ganzen Reihe militärischer Autoren, die das Geschehen des Siebenjährigen Krieges vornehmlich unter militärtechnisch-praktischen Gesichts- punkten betrachtet und analysiert haben. Seine klare Stellungnahme für die preußi- sche Sache und seine Verehrung Friedrichs des Großen gehen dabei nicht so weit,

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die Gegenseite herabzuwürdigen. So ist seine auch für den heutigen Leser noch lesenswerte (und lesbare) Gesamtschau des Krieges bereits von Gerhard von Scham- horst als »Volksbuch« gelobt und bis ins 20. Jahrhundert hinein zahlreich aufge- legt worden.

Gänzlich anderer Natur sind die beiden Texte aus der Feder Friedrichs des Großen, die »Betrachtungen über die Taktik« (1758) und die Gedanken über den Roi Connetable Karl XII. von Schweden aus dem Jahre 1759. Beide waren nicht für die Öffentlichkeit gedacht, sondern allenfalls für eine Verbreitung im engsten Fa- milien- und Freundeskreis. Sprachlich und stilistisch von hoher Qualität, sind sie nicht allein Zeugnisse des schriftstellerischen Könnens und der hohen Geistigkeit des Königs. Sie sind ebensosehr auch Reflexion und Selbstrechtfertigung des Mon- archen und Feldherrn jeweils nach einem ungünstig (1758) und einem katastro- phal (1759) verlaufenen Feldzugsjahr. Militärisch ausgedrückt handelt es sich bei diesen Texten um Lagefeststellungen und Lagebeurteilungen von höchster Stelle und auf einem hohen Abstraktionsniveau, die in erster Linie dem Autor selbst bei seinen weiteren Entschlüssen ein geistiges Fundament bilden sollten.

Das vielleicht deutlichste literarische Zeugnis für das bürgerliche Interesse an der außergewöhnlichen Intensität des Siebenjährigen Krieges ist Thomas Abbts Schrift »Vom Tode für das Vaterland« (1761). Der junge Universitätsprofessor war 1760 in Frankfurt an der Oder unmittelbar mit dem Kriegsgeschehen konfrontiert worden, mit dem mehr oder minder freiwilligen Opfermut der preußischen Be- völkerung ebenso wie mit der ständigen Bedrohung durch Gefechtshandlungen und die durchziehenden gegnerischen Armeen. Seine Antwort auf diese be- drückende und gleichzeitig moralisch erhebende Lage war eine bürgerlich patrio- tische Gesinnung zugunsten Preußens und seines charismatischen Königs. Hin- gabe an den Staat und Unterordnung unter das allgemeine Beste in der Stunde der Not verkündete Abbt in predigthaftem Ton und pathetischen Formulierungen mehr als dreißig Jahre vor den Revolutionskriegen und ein halbes Jahrhundert vor der preußischen Erhebung gegen Napoleon. Seine Schrift, die außerhalb bürgerlicher gelehrter Kreise ungelesen blieb, zählt ohne Zweifel zu den ungewöhnlichsten li- terarischen Produkten im Umfeld des Siebenjährigen Krieges.

Von gänzlich anderem Zuschnitt sind schließlich Bories »Staats-Betrachtungen«

ebenfalls aus dem Jahre 1761. Ihre Adressaten waren nicht aufgeklärte Bürger, son- dern die Höfe und vor allem die Minister und Räte der antipreußischen Koalition des Siebenjährigen Krieges, zu denen Borie als Reichshofrat in kaiserlichen Dien- sten selbst zählte. Ihnen entwickelt der Autor in komplizierter Diktion und Argu- mentation — angesichts der Möglichkeit eines allgemeinen Friedenskongresses ifn Jahre 1761 — umfassend das preußische Sündenregister und folgert daraus, daß die aktive Fortsetzung der Kriegskoalition, zumal unter den günstigen Bedingungen des anstehenden Feldzugsjahres, am ehesten zu dem erwünschten Ziel führe: Der Heruntersetzung der preußischen Macht in die alte Mittelmäßigkeit.

Die fünf von Johannes Kunisch gemeinsam edierten Texte bieten eine einzig- artige Zusammenschau höchst unterschiedlicher literarischer Zeugnisse aus der bzw. über die Epoche des Siebenjährigen Krieges. Jeder einzelne ist sprachlich und orthographisch vorsichtig modernisiert und mit einer kurzen Einleitung versehen worden. Ein umfangreicher Stellenkommentar ergänzt die Texte und gibt not- wendige Verständnishilfen. Allein die zahllosen biographischen Nachweise lassen dabei erahnen, welch immense Nachforschungsarbeit hinter diesem Apparat steht.

Insgesamt liegt hier eine ausgesprochen verdienstvolle Edition wichtiger Quellen

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zum Siebenjährigen Krieg vor, die sich — nicht zuletzt aufgrund der äußeren Ge- staltung — über den Kreis der Historiker hinweg an ein interessiertes Lesepubli- kum wendet. So bleibt schließlich nur zu hoffen, daß Studium und Lektüre sich als Möglichkeiten ergänzen und nicht wechselseitig ausschließen.

Thomas Lindner

Sven Lange, Hans Delbrück und der >Strategiestreit<. Kriegführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse 1879-1914, Freiburg: Rombach 1995, 159 S. (= Einzelschriften zur Militärgeschichte, 40), DM 38,— [ISBN 3-7930- 0771-5]

Lange undertakes an historical subject that does not want for scholarly attention.

Arden Bucholz (Hans Delbrück and• the German Military Establishment, Iowa City 1985), Gordon Craig (»Delbrück: The Military Historian« in Makers of Modern Strat- egy, Princeton 1986), and Martin Raschke (Der politisierende Generalstab, Freiburg 1993) are just a few of the historians who have dealt with this topic recently. Lan- ge attempts an objective account of the multi-faceted Strategiestreit with an em- phasis on the debate's contribution to historical writing. The book is divided into five chapters. The first is an introduction describing the essence and relevance of the Strategiestreit, the present state of scholarly research on the subject, and the auth- or's overall thrust and direction. The second chapter consists of four parts. Part 1 lays down the historical context of the debate by describing what is known about the discipline of history as practiced in the Kaiserreich, about German historians as a social group, and about Hans Delbrück as a man and scholar. Part 2 does the same with respect to military history as written and used by the General Staff to include the responsibilities of the Kriegsgeschichtliche Abteilung, and the role that military history played in officer education. Part 3 describes the image of Frederick the Great in the Kaiserreich's general historical writing and that of the General Staff. Part 4 is an assessment. Chapter III recounts the course and breadth of the Strategiestreit, begun by Delbrück himself and consciously fueled by him. Chapter IV comments upon the influence of Delbrück's theory of the »dual-poled« (doppel- polig) nature of strategy on the subsequent criticism of the strategic conduct of the Great War. Chapter V, the author's closing remarks, speak to the apparent success of Delbrück's life-long aim to make military history a legitimate realm of histori- cal study and to establish some elementary procedures for its practice, an aim that also supplied Delbrück's underlying motive for the Strategiestreit. In addition, the book includes several useful appendices concerning the number of hours devoted to military history and other mandatory subjects at the Kriegsakademie, the growth and relative significance of the Kriegsgeschichtliche Abteilung in relation to the other departments within the General Staff, and a chronology of the debate's most sig- nificant published literature.

This reviewer's primary criticism of the book is that Lange's analysis does not go far enough. Although he presents the facts of the debate objectively and astute- ly, most scholars are already familiar with them. What we need is a work that analyses Delbrück's ideas from the standpoint of a discriminating military profes- sional trained in the methods of historical research. We need to go beyond acknowl- edging Delbrück's contributions to strategy (and military history) and appreciate

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their deficiencies. We also need to go beyond the oft-noted shortcomings of Gener- al Staff officer/historians and their alleged »dogma of annihilation« to understand their desperate search for a decisive strategy in an era that had produced a gener- al crisis in warfighting.

The Strategiestreit challenged the romantic-heroic view of Frederick the Great, the General Staff's interpretation of Clausewitz's Vom Kriege, its use of military his- tory, and its fundamental conception of strategy or Vernichtungsgedanken, gener- ally (and rather superficially) understood as the belief that the best strategy is that which aims at achieving the total defeat of the enemy by annihilating his forces in the field in one or two swift battles. Delbrück's now famous concept of Ermat- tungsstrategie, a term that he himself coined, developed from his analysis of the campaigns of Frederick the Great in conjunction with his study of Vom Kriege, in par- ticular Clausewitz's Nachricht, the explanatory note written in 1827. This note re- vealed Clausewitz's belief that two kinds of equally valid war existed: one aiming at the complete defeat (Niederwerfung) of the enemy; and one involving more lim- ited aims and means, such as occupying several of his territories for later use as bargaining chips. These two forms of war, Delbrück maintained, corresponded to two types of strategy: annihilation or Vernichtungsstrategie and Ermattungsstrategie which can mean either attrition or exhaustion, though Delbrück's use tended more toward the latter. A strategy of attrition-exhaustion involves a proportional wear- ing away of the enemy's psychological and physical strength. To be more pre- cise, a strategy of attrition concentrates on the destruction of the enemy's forces, al- beit slowly, while a strategy of exhaustion aims at convincing the enemy that his political objective is either not attainable or not worth the cost.

Although the outcome of the war gave Delbrück's observations much curren- cy, in fact, his position often smacked of amateurism and his work was often too vague or too laden with incorrect terminology to be truly convincing. As one his- torian remarked, his recommendations »remained sufficiently flawed so that his friends could doubt them, [and] his enemies could attack them« (Bucholz, Delbrück, 110). For one thing, dividing strategy into two poles is highly problematic. A strat- egy at the attrition-exhaustion pole can support either a war of limited objectives or one aiming at the complete defeat of the enemy, as U.S. President Lincoln and General Ulysses S. Grant demonstrated against the Confederacy in 1864-65. Like- wise, a strategy at the annihilation pole can support either a limited or an unlimit- ed war. Germany's wars of unification (1864-71), though fought according to the principle of annihilation, represent superb examples of limited wars.

Secondly, it is difficult to see how the Periclean strategy of exhaustion that Del- brück advocated would have worked for the Central Powers. It had, incidentally, not even worked for Pericles' Athens which, at the time, possessed an excellent na- vy and more resources than its enemy, Sparta. Unless the rate of attrition or pace of exhaustion can be controlled, a nation weaker in manpower and resources than its opponent, will likely reach exhaustion before its enemy. Falkenhayn's unsuc- cessful attempt to win the war in the west with a strategy of attrition in 1916 illus- trates just how difficult it can be to control such rates. In addition, a strategy of ex- haustion involves a conscious decision to embark upon a long war, something the Kaiserreich (even with the combined assets of Austria-Hungary), was loath to do because of the relative size of its army, navy, its limited access to necessary raw materials, and the perceived threat of domestic turmoil in the wake of a drawn- out conflict. Moreover, a strategy of exhaustion requires the enemy to act rational-

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ly, that is, to calculate cost versus gain and to make decisions accordingly. How- ever, as losses mounted in an era characterized by colonial exploitation, spiraling arms races, and a Social Darwinistic nationalism, opposing sides became more rath- er than less intractable. As the war dragged on and the cost in lives, material, and money rose, the war aims of each side escalated, representing the nation's »just reward« for its long and heroic »sacrifice«. Consequently, a strategy of exhaus- tion, which presumes a certain rational influence over policy, might not have avail- ed the Central Powers due to the basic characteristics of the age. Delbriick's posi- tion thus overlooked the role of »blind natural force«, the first element in the Clau- sewitzian trinity. It is highly doubtful, then, that Ermattungsstrategie offered any re- al solution to the Kaiserreiche nearly insoluble strategic problem.

While the book provides a number of valuable insights concerning the histori- cal relevance of the Strategiestreit, the author does not offer a much needed critical examination of Delbrück's ideas. Lange's clarity of thought and the thoroughness of his research clearly indicate that he had the wherewithal to do so. In its efforts to retain an objective eye, Hans Delbrück und der >Strategiestreit< provides a step in the right direction, just not far enough.

Antulio }. Echevarria II

Katrin Boeckh, Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaaten- politik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan, München: Ol- denbourg 1996,418 S. (= Südosteuropäische Arbeiten, 97), DM 120,— [ISBN 3-486-56173-1]

Eine vergleichende Untersuchung der Entwicklung der Balkanstaaten 1913/14 kann heute auf großes Interesse rechnen, hat sich doch der Balkan in den 1990er Jahren wie schon damals als Pulverfaß Europas erwiesen. Die Autorin analysiert die Ent- wicklung Serbiens, Bulgariens, Griechenlands und Montenegros zwischen dem En- de des 2. Balkankrieges (Juli 1913) und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Ihre Arbeit, so sei hier vorgreifend vermerkt, ruht auf einer imposanten Materialgrund- lage: den einschlägigen Beständen der Archive in Bonn, Wien, London und Moskau, den gedruckten Quellen und der wissenschaftlichen Literatur, einschließlich der in russischer, serbokroatischer und bulgarischer Sprache. Boeckh hat mit dieser Un- tersuchung im Wintersemester 1994/95 an der Münchener Universität promoviert.

Die Verfasserin hat ihr Buch in neun Kapitel gegliedert. Einem kurzen Rück- blick auf die Unabhängigkeitsbestrebungen auf dem Balkan im 19. Jahrhundert folgt Kapitel II über die Kriegshandlungen und Friedensschlüsse 1912/13. Darin werden die militärischen Ereignisse des 1. und 2. Balkankrieges knapp, aber fun- diert dargestellt (S. 31-10 und 55-60).

Kapitel III gilt den Grenzziehungen nach dem 2. Balkankrieg. Diese Grenzzie- hungen waren ein Hohn auf das Nationalitätenprinzip. Serbien und Griechenland teilten Mazedonien unter sich auf, wo überwiegend slawische Mazedonier sowie Al- baner und Bulgaren lebten. Das ist übrigens der Grund, weshalb die Regierenden in Belgrad und Athen sich in den letzten Jahren in der Mazedonien-Frage einig waren.

Kapitel IV ist das bei weitem umfangreichste. Hier stellt Boeckh die innere Si- tuation und Entwicklung der vier Balkanländer 1913/14 dar. Sie zeigt auf, daß sich in allen vier Staaten ganz ähnliche Prozesse vollzogen. Diese Länder waren hoch

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verschuldet und trugen schwer an den Kriegsfolgen. Gleichzeitig hatte der erfolg- reiche Krieg (auch in Bulgarien, das im 1. Balkankrieg den meisten Siegeslorbeer geerntet hatte, im 2. Balkankrieg aber von einer großen Übermacht besiegt wor- den war) das Selbstbewußtsein der Regierenden beflügelt. Die Balkanstaaten hat- ten »positive Erfahrungen mit dem Krieg gemacht, die für sie offenbar bis heute ih- re Faszination nicht verloren haben« (S. 378).

In allen vier Ländern war man bestrebt, ein »ethnisch homogenes Gebilde« zu schaffen (S. 379). Die Regierungen bevorzugten jeweils die eigene Staatsnation und suchten die nationalen Minderheiten zur Aufgabe ihrer nationalen Identität oder zur Auswanderung zu nötigen. In den neu erworbenen Gebieten unterdrückten die Serben die Albaner, Mazedonier, Bulgaren und Griechen, die Griechen die Ser- ben, Bulgaren und Mazedonier, die Bulgaren die Griechen. Besonders arg wurden die islamischen Albaner und Türken drangsaliert, wobei die Lage der Türken in Bul- garien relativ gut war (S. 199 f.).

Das Offizierkorps nahm allenthalben starken Einfluß auf die Politik, am stärk- sten in Serbien. Merkwürdigerweise erwähnt Boeckh den mächtigen Chef des ser- bischen Militärgeheimdienstes und Führer der »Schwarzen Hand«, Dragutin Di- mitrijevic (genannt Apis), in ihrem Buch nur ein einziges Mal (S. 128).

Die Kapitel V bis VIII gelten den Bevölkerungsbewegungen 1912 bis 1914, der außenpolitischen Konstellation nach den Balkankriegen, religionspolitischen Aspek- ten, schließlich der Situation der Mazedonier, Aromunen und Juden.

Besonderes Interesse darf das Kapitel IX erwarten, das sich mit der Kriegsbe- richterstattung und der »Aufarbeitung« der Balkangreuel beschäftigt. Die Verfas- serin zeigt, daß die Kriegsparteien der Jahre 1912/13 sich wie die Kriegsparteien des Bosnien-Krieges verhielten: Sie alle verbreiteten gezielt Berichte über die Kriegs- verbrechen der anderen Parteien und suchten von den eigenen Untaten abzulen- ken. Auch die Veröffentlichungen, welche in diesen Ländern nach dem Kriege er- schienen sind, folgten den propagandistischen Mustern der Kriegszeit. Im Gegen- satz zur »nationalen« Sicht in den jeweiligen Ländern, so zeigt die Verfasserin, lie- ferte der Abschlußbericht der Carnegie-Kommission ein realistisches Bild der Kriegsgreuel und belastete sämtliche Kriegsparteien (S. 373 f.).

Sehr zu unterstreichen ist ein abschließender Hinweis der Verfasserin auf eine der Ursachen für die Balkan-Tragödie der 90er Jahre: nämlich »die Tatsache, daß auf keiner Seife der — schuldig und unschuldig — in den Krieg mit einbezogenen Völker deren nationale Vergangenheit ausreichend, verständlich und wahrheits- getreu untersucht und aufgearbeitet werden konnte. Solange dies nicht geschieht, werden immer wieder dieselben Motive und ihre fatalen Folgen in der Geschich- te des Balkans auftreten: übersteigerter Nationalismus, Irredenta-Bestrebungen und Vertreibung, sogar Vernichtung von Völkern« (S. 386). Gerd Fesser

David G. Herrmann, The Arming of Europe and the Making of the First World War, Princeton, N.J.: Princeton University Press 1996, XIII, 307 S„ $ 39,50 [ISBN 0-691-03374-9]

Die Arbeit des amerikanischen Historikers David G. Herrmann untersucht den Einfluß von Landstreitkräften und Heeresrüstung auf die internationalen Bezie- hungen in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Der Untersuchungszeitraum umfaßt

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die Jahre 1904 bis 1914. Herrmann hält es zu Recht für unbefriedigend, daß sich die Forschung bisher vor allem einzelnen Ländern zugewandt hat. Diese veren- gende Zugangsweise will er überwinden, indem er versucht, einen internationa- len Vergleich durchzuführen. Sein Buch befaßt sich mit den Streitkräften und der Politik Deutschlands, Frankreichs, Rußlands, Österreich-Ungarns und Italiens und stützt sich neben veröffentlichtem Material auf Archivstudien in allen diesen Län- dern bzw. ihren Nachfolgestaaten, wobei fünf von vierzehn im Abkürzungsver- zeichnis genannten Archiven in der Bundesrepublik Deutschland liegen.

Herrmanns Darstellung widmet sich zwei Themenfeldern, die er aufeinander zu beziehen versucht. Einerseits beschreibt er Ausrüstung und Doktrin der eu- ropäischen Landstreitkräfte sowie ihre gegenseitige Einschätzung bis zum Kriegs- ausbruch und kommt dabei zu sehr ähnlichen Ergebnissen wie der Rezensent (D. Storz, Kriegsbild und Rüstung vor 1914, Herford, Berlin, Bonn 1992), dessen Arbeit Herrmann allerdings nicht bekannt war. Darüber hinaus schildert er die quantitative Entwicklung der Armeen Europas bis zum Kriegsausbruch. In einem zweiten Teil, welcher in der Darstellung mit dem ersten verschränkt ist, verfolgt er die großen diplomatischen Krisen jener Jahre von der Ersten Marokkokrise bis zur Julikrise und die Bedeutung, welche dabei jeweils dem Spiel mit der militärischen Stärke zukam. Nach Herrmanns Meinung war es das Zarenreich, (lern in der Dra- maturgie der Vorkriegskrisen die Schlüsselstellung zufiel. Seine Lähmung in den Jahren nach 1904 habe der Diplomatie der Mittelmächte die Gelegenheit gegeben, sich durch militärisches Auftrumpfen Vorteile zu verschaffen, während das Wie- dererstarken Rußlands in den letzten Vorkriegsjahren die Aussicht auf eine fun- damentale Revision des Stärkeverhältnisses eröffnete, welche Deutschland und Österreich durch eigene Rüstungsmaßnahmen nicht mehr auffangen konnten.

Daß die Julikrise schließlich in den großen Krieg mündete, während die frühe- ren Krisen immer eine friedliche Lösung fanden, sieht Herrmann einerseits darin begründet, daß das Kriegsgeschrei in den -früheren Krisen nie wirklich ernst ge- meint war, während andererseits durch die frisch entfesselte Rüstungsdynamik des Jahres 1913 das Gleichgewicht der Kräfte in Bewegung geriet und sich für bei- de Bündnissysteme ein »window of opportunity« öffnete. Die Mittelmächte hatten durch ihre jüngsten Rüstungsmaßnahmen einen flüchtigen Vorteil gewonnen, der in wenigen Jahren verloren gehen mußte und dann die kriegerische Option end- gültig ausschloß, während die Entente, militärisch ebenfalls gekräftigt, sich gera- de eines besonders gefestigten Bündnisgefüges erfreute, das sie durch ein diplo- matisches Nachgeben unter Vermeidung eines Krieges nicht belasten wollte. Daß, wie Herrmann meint, die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges ein klassisches Bei- spiel für die destabilisierende Wirkung von Rüstungswettläufen ist, trifft gewiß zu, doch sollte mit gleicher Eindringlichkeit unterstrichen werden, daß bündnis- politischen Maßnahmen diese Wirkung ebenfalls zukommen kann (dazu George F. Kennan, Die schicksalhafte Allianz. Frankreich und Rußland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Köln 1990). Edward Grey besaß diese Einsicht, als er am 30. Ju- li, somit zu einem Zeitpunkt, an dem das Kind bereits in den Brunnen gefallen war, erklären ließ, er wolle nach einer friedlichen Beilegung der Krise an einer sicher- heitspolitischen Struktur in Europa arbeiten, die auch Deutschland umfasse (Quel- len zur Entstehung des Ersten Weltkrieges. Internationale Dokumente 1901-1914, hrsg. von Erwin Hölzle, Darmstadt 1978, S. 454).

Herrmanns Studie wirkt insgesamt durchaus schlüssig und kohärent, wenn es ihm auch nicht immer gelingt, den gewissermaßen heereskundlichen Teil seiner

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Arbeit mit dem diplomatiegeschichtlichen zu verknüpfen. Hier wäre es interes- sant, der Frage nachzugehen, ob sich die von Herrmann sehr wohl erkannte ag- gressive, auf den Willen zu Kampf und Angriff fixierte u n d im Sozialdarwinismus weltanschaulich b e g r ü n d e t e Mentalität der militärischen Eliten auch in der Di- plomatie wiederfindet.

Fehler wie die Annahme, daß zu den militärisch zu sichernden Außengrenzen des Zarenreiches auch die gegenüber Finnland gehört habe, sind f ü r die Arbeit nicht typisch. Gelegentlich trifft der Verfasser unbelegte klischeehafte Feststellun- gen, die den Tatsachen nicht entsprechen. So stimmt es nicht, daß die deutsche Ar- mee ungewöhnlich oft gegen Streikende eingesetzt wurde, u n d es trifft auch nicht zu, daß sie das Anlegen befestigter Feldstellungen deshalb mehr als andere geübt habe, weil sie es sich aufgrund ihrer politischen Stellung eher habe erlauben kön- nen, auf landwirtschaftlich genutztem Boden zu graben. Auch im Kaiserreich muß- te der Fiskus Flurschäden ersetzen, was die Übungstätigkeit der Truppe natürlich begrenzte.

Nicht beizustimmen vermag ich dem Verfasser in seiner Beurteilung der deut- schen Heeresnovelle von 1912 und ihren Folgen. Nicht diese Heeresvermehrung war es, welche die außerordentlichen Maßnahmen des Jahres 1913 auslöste, sondern die Balkankriege, deren Ausgang die sicherheitspolitische Lage Österreichs außer- ordentlich verschlechterte, was natürlich auch Auswirkungen auf Deutschland hatte.

Herrmann ist beizupflichten, w e n n er die Ursachen des Wettrüstens »wesent- lich im internationalen u n d nicht im nationalen Bereich« sieht (S. 228). Zu den be- sonderen Vorzügen seines Buches gehört der bereits erwähnte international-ver- gleichende Ansatz, der besser als jeder andere Maßstäbe für ein realistisches Urteil zu geben vermag. Mitunter geht der Verfasser erfreulich unbefangen mit den Tra- ditionsbeständen einer sich gerne als kritisch bezeichnenden Historiographie um.

So weist er darauf hin, daß in Heeringens Denkschrift v o m 20. Januar 1913 der berühmte Satz, daß eine drastische Vermehrung der Armee beim Offiziersersatz ein Abweichen von den bisherigen sozialen Standards erfordere, eben n u r eines von vielen Argumenten des aufrüstungsunwilligen Kriegsministers in einem mehr- seitigen Text war; ein Argument zumal, das sonst nirgends auftaucht, w ä h r e n d Heeringens A u s f ü h r u n g e n von militär-technischen und fiskalischen Rücksichten bestimmt sind, die auch sonst die Diskussion beherrschten.

Zwei sehr nützliche Anhänge zur Entwicklung der Friedensstärken u n d Mi- litärausgaben der europäischen Mächte in den letzten zehn Vorkriegsjahren run- den den zu weiterer Forschung anregenden Band ab.

Dieter Storz

Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Dieter Lange- wiesche u n d Hans-Peter Ulimann, Essen: Klartext 1997, 456 S. (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. N.F., 5), DM 58,— [ISBN 3-88474-538-7]

Der vorliegende Band versammelt insgesamt 23 Aufsätze, die im Rahmen eines in Stuttgart, Tübingen u n d Freiburg betriebenen Projektes zur Sozial- u n d Menta- litätsgeschichte des Ersten Weltkrieges entstanden sind u n d zu einem erheblichen

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Teil Zwischenergebnisse aus laufenden oder abgeschlossenen Examensarbeiten und Dissertationen präsentieren. Die Mehrzahl der Beiträge untersucht dabei re- gionale und lokale Zusammenhänge an Beispielen aus Baden und Württemberg.

Die erste Sektion von Aufsätzen behandelt unter dem Titel »Kriegsfront — Hei- matfront« die im Ersten Weltkrieg wachsende Einbeziehung der Zivilbevölkerung in die Mobilisierung für den Krieg und das Verhältnis von Front und Heimatfront.

Dabei geraten Themen wie das »Augusterlebnis« in Südbaden, die Kriegserfah- rungen Tübinger Hochschullehrer, die Desillusionierung korporierter Studenten an der Front und anderes mehr in den Blick. Zwei biographische Fallstudien zu in der Etappe tätigen Offizieren zeigen ein eher unspektakuläres Bild vom Krieg.

Eine zweite Sektion geht den Zusammenhängen von »Wirtschaft und Krieg«

nach, und zwar am Beispiel mittelständischer Unternehmer, dem kulturellen Wan- del in der Sprache von Zeitungsannoncen oder den Werbestrategien des Textilun- ternehmens Bleyle. Die Spannung zwischen patriotischer Verpflichtung und öko- nomischen Interessen wird u.a. am Beispiel des Mundharmonikaherstellers Hoh- ner verdeutlicht, der mit Geschick um den Erhalt des wichtigen Exportgeschäftes auch mit Kriegsgegnern >kämpfte< und dabei — wie auch in anderen Beiträgen festgehalten wird — primär an betrieblichen Erwägungen orientiert blieb. Die Beiträge dieser Sektion vermitteln interessante Anhaltspunkte für die weitere Er- forschung der Wirtschaftsmentalität von Unternehmern nicht nur im Krieg, die bislang weitgehend vernachlässigt wurde.

Eine Sektion über »Gesellschaftsbilder — Feindbilder« und damit eine Erörte- rung jener tiefgreifenden und weitreichenden Verwerfungen, welche die Polari- sierung und Ideologisierung der Jahre 1914 bis 1918 für die politische Kultur der Nachkriegszeit bewirkte, beschließt den Band. Hier werden u.a. die bereits vor dem Krieg voranschreitende Nationalisierung des Lehrkörpers an einem katholi- schen Gymnasium, das Weltkriegsgedenken der Universität Tübingen in der Wei- marer Republik, die nationalen Feindbilder der evangelischen Publizistik oder die Darstellung des Weltkriegs in deutschen und französischen Schulbüchern darge- stellt.

Eine zusammenfassende Beurteilung eines derart vielgestaltigen Spektrums von Beiträgen fällt schwer, zumal es sich — wie gesagt — oftmals um Zwi- schenberichte aus noch nicht abgeschlossenen Projekten handelt. Mit Ausnahme vor allem der zweiten Sektion gelingt es allerdings vielen Beiträgen nur ansatzweise, über die Präsentation regionaler Einzelbeobachtungen und -befunde hinauszuge- hen und sie anschlußfähig für eine Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges zu machen, die diesen systematisch als Periode beschleunigten Erfahrungswandels ernst nimmt.

Neben einer Reihe von sachlichen Fehlern und Fehldeutungen, die hier im De- tail nicht erörtert werden können, erscheint vor allem ein quellenkritisches Problem gravierend. In der ersten und dritten Sektion beschränken sich mehrere Beiträge auf die Auswertung jeweils nur einer Quellengattung, ohne deren Grenzen hinrei- chend zu reflektieren. Was z.B. nützt die Feststellung, die Einstellung der Frontsol- daten zum Januarstreik 1918 sei in differenzierender Weise aus Schützengra- benzeitungen nur »ausgesprochen schwierig« abzulesen (S. 240), wenn sich diese Fra- ge anhand von Feldpostbriefen und publizierten Prüfberichten der Briefzensur auf nunancierte und auch quantitativ gesicherte Weise beantworten läßt? Ist es tatsäch- lich richtig, daß sich die Tagespresse für Antworten auf mentalitätsgeschichtliche Fra- gen »in besonderem Maße« anbietet (S. 388)? Ist für die Untersuchung von anti-

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bolschewistischen und antikommunistischen Feindbildern im liberalen Bürgertum 1918 bis 1933 — um bei diesem Beispiel zu bleiben — nicht stattdessen die me- thodisch komplexere Verknüpfung mentalitätsgeschichtlicher Quellenbefunde mit sozialgeschichtlichen Entwicklungstendenzen etwa eines lokal verorteten Bürger- tums gerade in der Inflation zwingend nötig? Gleich zwei Beiträge reproduzieren im übrigen die irrige, längst ad acta gelegte Meinving, bei Feldpostbriefen hande- le es sich um eine »unentdeckte« Quellengattung.

Dieter Langewiesche hebt einleitend zu Recht hervor, daß dieses For- schungsprojekt zur regionalen Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges ein gelungenes Beispiel für die intensive Verbindung von Lehre und Forschung im forschenden Lernen der beteiligten Studentinnen und Studenten ist. Zu ergänzen bleibt allerdings, daß für die wissenschaftliche Bewertung eines jeden Projekts letztlich allein die Validität seiner Ergebnisse und ihre Erklärungskraft für sy- stematische Fragestellungen ausschlaggebend sein kann. Angemerkt sei noch, daß von fünf deutschen Archiven mit militärischem Aktenmaterial aus dem Er- sten Weltkrieg drei in Baden-Württemberg beheimatet sind. Trotz dieser hervor- ragenden Ausgangslage sucht man einen im engeren Sinne militärgeschichtli- chen Beitrag in diesem Band vergeblich. Zu Recht wird von der Militärgeschichte seit einigen Jahren gefordert, sich für erfahrungsgeschichtliche Fragestellungen zu öffnen. Eine Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkrieges, so ist allerdings im Gegenzug festzuhalten, läßt sich ohne Erforschung der Militärgeschichte nicht schreiben.

Benjamin Ziemann

The Japanese wartime empire, 1931-1945. Ed. by Peter Duus, Ramon Η. Myers, and Mark R. Peattie, Princeton, NJ: Princeton University Press 1996, XLVII, 375 S., $ 49,50 [ISBN 0-691-04382-5]

Glenn D. Hook, Militarization and Demilitarization in Contemporary Japan, London, New York: Routledge 1996, XIV, 256 S. (= The Nissan Institute/Rout- ledge Japanese Studies Series), £ 45 [ISBN 0-415-02274-6]

Mit dem ersten anzuzeigenden Werk legen die Herausgeber ihren dritten und letz- ten Band zu Japans Kolonial- und Expansionspolitik vor. Er beginnt mit der De-fac- to-Annexion der Mandschurei 1931/32, behandelt dann die Politik in den ab 1937 eroberten Teilen Chinas und in dem ab Dezember 1941 besetzten Südostasien.

Durch diese Expansion sollte ein geschlossener Wirtschaftsraum von Burma bis Neuguinea unter japanischer Oberherrschaft gebildet werden.

Die Beiträge verdeutlichen, daß die Eroberungspolitik nicht immer nach einem festen Plan verlief, sondern häufig improvisiert wurde. Die beherrschten Gebiete erfuhren keine einheitliche Behandlung, sondern für das Maß an Unabhängigkeit war jeweils ausschlaggebend, welche Bedeutung ein Gebiet für Japans Interessen besaß: Die »alten Kolonien« Taiwan und Korea sowie die rohstoffreichen Gebiete Malaya und Indonesien erhielten ein sehr geringes Maß an Freiheit und wurden von Tokyo direkt kontrolliert. Weniger wichtige Territorien wie Burma und die Philip- pinen errangen eine gewisse Unabhängigkeit, doch wich die anfangs in vielen Län- dern herrschende Begeisterung angesichts der brutalen Okkupationspolitik schnell

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einer starken Ernüchterung, als klar wurde, daß die »Großostasiatische Wohl- standssphäre« nur japanischen Interessen dienen sollte.

Leider finden die meisten Gebiete Südostasiens nur eine überblicksartige Be- handlung, während der Raum China — Korea mehr Aufmerksamkeit erhält. Nicht nur in Taiwan und Korea, sondern auch in der Mandschurei und dem besetzten Teil Chinas wurde eine wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben. Fertig- wie Halb- fertigwaren wurden für Japan produziert, Südostasien dagegen wurde nur als Roh- stofflieferant für die Bedürfnisse des Militärs ausgeplündert. Zwar fand Tokyo dort willige Kollaborateure bzw. Freiheitskämpfer gegen die westlichen Kolonialmächte, doch verspielte es im Laufe der Jahre viel Sympathie durch Zwangsrequisition und Zwangsarbeit.

Mit der Industrialisierungspolitik in seinen Kolonialgebieten hebt sich Japan deutlich von den anderen imperialistischen Mächten ab. Im Gegensatz zu Süd- ostasien, wo man ohnehin nur wenige Jahre — und das unter Kriegsbedingun- gen — präsent war, konnten die Japaner auf Taiwan und in Korea auf eine gebil- dete Mittelschicht und auf Offiziere bauen, die von ihnen selbst ausgebildet und trainiert worden waren. In China war es möglich, die Industrialisierung auf der dort bereits vorhandenen Entwicklungsstufe zu erweitern.

Unterschiedlich wie einst die Beherrschung der Gebiete präsentieren sich die Er- innerungen an die japanische Zeit: Der Befreiung von westlichem Kolonialismus stehen unerträgliches Leid, die Verwüstung der eroberten Länder und mitunter die jahrzehntelange Eingliederung in die Blöcke der Supermächte nach Beginn des Kalten Krieges gegenüber. »Kollaborateure« der Japaner in Südostasien wurden in ihren Heimatländern nach dem Krieg oft als Freiheitshelden verehrt, so z.B. Ba Maw und Aung San in Burma oder Mohammad Hatta und Achmed Sukarno in Indonesien. Eindeutig negativ sind dagegen die Erinnerungen in Korea und Chi- na. Das offizielle Japan hat immer noch Schwierigkeiten, sich zu Schuldeinge- ständnissen durchzuringen. Die Wirtschaftsplanung, oft auf den Experimentier- feldern Mandschurei und Nordchina erprobt, fand nicht nur im Japan der Nach- kriegsära zahlreiche Kontinuitäten, sondern auch in der ökonomischen Entwick- lung der ehemals unterworfenen Gebiete.

Behandelt das erste hier vorzustellende Werk den Höhepunkt von Japans Mi- litarismus und Expansionspolitik, so Widmet sich das zweite der daraus resultie- renden Nachkriegsentwicklung: Demilitarisierung, Remilitarisierung und — im Sprachgebrauch des Autors Glenn D. Hook — Militarisierung. Im Zentrum der Abhandlung steht die Frage, wie Öffentlichkeit und Politiker auf das Thema »Streit- kräfte« reagierten und wie brisant das Thema ein halbes Jahrhundert nach dem Abwurf der Atombomben auf japanische Städte und der Verkündung einer Ver- fassung immer noch ist, in der expressis verbis auf Militär verzichtet wird.

Die stark antimilitaristische und pazifistische Haltung eines Großteils der Ja- paner ist aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs heraus zu erklären: Man hat- te erkannt, in welch verbrecherisches Abenteuer die im Staat dominierenden Mi- litärs das Land und fast ganz Asien gestürzt hatten; die totale Niederlage wurde dann durch den Abwurf der Atombomben besiegelt, durch den sich viele Japaner noch heute eher als Opfer denn als Täter des Krieges sehen. Die Wiederbewaff- nung wurde schließlich auf Betreiben der USA durchgeführt, die noch einige Jah- re zuvor selbst eine — von der japanischen Öffentlichkeit fast einhellig begrüßte — völlige Demilitarisierung in der Verfassung festgeschrieben hatten, aber nun einen Verbündeten im Kalten Krieg brauchten, der in Asien sehr schnell zu heißen Krie-

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gen eskalierte. Die Rüstungsausgaben blieben aber im internationalen Vergleich bescheiden und ermöglichten damit dem Lande einen schnellen Wirtschaftsauf- schwung, trug ihm jedoch auf die Dauer von den USA den Vorwurf des »Tritt- brettfahrens« ein. Das Bündnis mit Amerika blieb sehr umstritten und führte mit- unter zu bürgerkriegsähnlichen Krawallen. Bedeutende Intellektuelle und die Linksparteien opponierten jahrzehntelang kompromißlos gegen die bloße Existenz japanischen Militärs.

Mit dem Wirtschaftswunder stieg auch das Selbstbewüßtsein. Je mehr Tokyo zum gleichberechtigten Partner wurde, desto schwächer wurde der Widerstand gegen ein eigenes Militär, das in dauernder Verkrampfung zu »Selbstverteidigungs- streitkräften« verniedlicht wurde, um nicht mit der Verfassung zu kollidieren. Im Jahre 1987 wurde die Obergrenze von einem Prozent des Bruttosozialprodukts für Rüstungsausgaben fallengelassen.

Die Euphorie über das Ende des Kalten Krieges wich schnell der Ernüchterung durch Golfkrise und Golfkrieg 1990/91, der schnell den Widerstand gegen die Be- teiligung an internationalen Friedenssicherungsmissionen überwand. Japan ver- hielt sich in etwa so wie Deutschland: An den Operationen in Nahost nahm es nicht militärisch teil, leistete aber einen finanziellen Beitrag zu den Kosten und ent- sandte anschließend Schiffe zu Minensuchunternehmen. Im Jahre 1992 stellte Ja- pan nach stürmischen inneren Auseinandersetzungen Streitkräfte für die UNO in Kambodscha. Mit seinem Streben nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen war die bisherige Abstinenz nicht mehr zu vereinbaren. Über- wachungsaufgaben übernahm Japan außerdem in Mozambique und Zaire. All- mählich war der Widerstand der Öffentlichkeit gegen derartige Unternehmen ge- schwunden, und parallel dazu entwickelte sich eine Partnerschaft mit den USA auf der Basis der Gleichberechtigung.

Das Ende des Kalten Krieges entschärfte auch die inneren Fronten, so daß heu- te nicht einmal mehr die Sozialisten die Abschaffung des Militärs fordern. Dadurch wurden auch neue Regierungskoalitionen möglich, so daß zeitweise sogar kon- servative Politiker als Minister unter einem sozialistischen Premier dienten.

Der letzte Teil der Studie beschäftigt sich mit »Sprachproblemen«, d.h. mit po- litischer Rhetorik. Es schuf allerlei Mühsal, in der Ära des Kalten Krieges die Existenz des Militärs zu rechtfertigen. Auch die eigene Vergangenheit wurde dabei proble- matisch, versuchte doch die Regierung — und dabei verdient das Erziehungs- ministerium besondere Beachtung — immer wieder, nicht allzuviel Schuld am und allzuviele Greuel im Zweiten Weltkrieg einzugestehen. Auch hier aber war in den letzten Jahren ein schrittweises Abrücken von der alten Starrköpfigkeit festzustel- len.

Etwas gewöhnungsbedürftig erscheint der Begriff »militarization«, wie er durch- gehend in der gesamten Studie benutzt wird: Gemeint ist damit nur der Unterhalt von Streitkräften und deren Rechtfertigung. Im Laufe der Untersuchung wird aber deutlich, daß damit eher Normalisierung — oder »Japans Entwicklung zu einem normalen Staat« — und Identitätsfindung zu verstehen sind.

Gerhard Krebs

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Aleksandr E. Epifanoiv, Hein Mayer, Die Tragödie der deutschen Kriegsge- fangenen in Stalingrad von 1942 bis 1956 nach russischen Archivunterla- gen, Osnabrück: Biblio 1996,337 S., DM 52,— [ISBN 3-7648-2461-1]

Dietmar Sauermann, Renate Brockpähler, Eigentlich wollte ich ja alles verges- sen ...<. Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft 1942-1955, Münster: Cop- penrath 1992, 458 S. (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, 76), DM 34,80 [ISBN 3-88547-812 9]

Der Titel des ersten Werkes ist ein wenig irreführend — es geht nicht so sehr dar- um, die Geschichte der Kriegsgefangenenlager aufzuzeigen, sondern den deut- schen Leser mit dem Werk Aleksandr Epifanovs, einem Professor für Theorie und Geschichte des Staates und des Rechts an der Hochschule des Innenministeriums in Wolgograd, vertraut zu machen. Und aus dessen bisherigen Forschungsschwer- punkten ergeben sich dann auch die drei großen Themenbereiche der vorliegenden Arbeit: Das Leben, bzw. Sterben, der Kriegsgefangenen in den Lagern, die deut- sche Besatzungsherrschaft, bzw. sowjetische Kollaboration, in Stalingrad und Um- gebung sowie die Kriegsverbrecherprozesse in der UdSSR. Diese Themen werden in zwölf Kapiteln abgehandelt, deren Einteilungskriterien nicht immer einsichtig sind, so daß es zu erheblichen Überschneidungen kommt. Darüber hinaus wirkt das mit den beiden anderen Aspekten nur mittelbar zusammenhängende Thema »Kol- laboration« wie ein Fremdkörper.

Die einzelnen Kapitel wiederum weisen eine interessante Gliederung auf. Nach den Ausführungen Epifanovs folgen jeweils deutsche Augenzeugenberichte, die ei- ne sinnvolle Ergänzung darstellen. Eigentlich wollte sich der Koautor Hein May- er darauf beschränken, den Text von Epifanov durch kursiv gesetzte Einfügungen zu kommentieren, wo es ihm notwendig erschien. Wenn dies — wie gelegentlich festzustellen—jedoch das Ausmaß einer Gegendarstellung annimmt, dann wünscht man sich, Mayer hätte einen eigenständigen Text abgefaßt. Dafür hätte es noch ei- nen zweiten Grund gegeben. Anders als Mayer zeigen sich sowohl Epifanov als auch die deutschen Augenzeugen wenig vertraut mit der deutschen Literatur — eine kommentierende Stellungnahme von Hein Mayer wäre hier nützlich gewe- sen.

Inhaltlich gesehen bringen die Ausführungen wenig Neues — wobei dieses Ur- teil positiv zu verstehen ist, bedeutet es doch, daß die Ergebnisse der deutschen Geschichtsforschung zu diesem Thema kaum zu revidieren, sondern vorwiegend dort zu ergänzen sind, wo bisher Lücken bleiben mußten. So zeigt Epifanov auf, daß die sowjetische Führung den massenhaften Tod der Kriegsgefangenen kei- neswegs beabsichtigt hatte. Befehle für Maßnahmen zur Versorgung der Gefange- nen wurden gegeben, Strafen bei Nichtbeachtung angedroht und Kontrollen durch- geführt. Die notwendigen Voraussetzungen, diese Befehle zu erfüllen, wurden bzw.

konnten jedoch nicht geschaffen werden — von daher wurden sie in der Regel auch nicht befolgt. Der zweite wesentliche Faktor war die Einstellung der sowje- tischen Verantwortlichen, die von Haß über Gleichgültigkeit bis Mitleid reichen konnte. Im Endergebnis wurde aus Mitleid manchmal Unmögliches möglich, wie aus Haß Mögliches unmöglich werden konnte.

Einiges Neue ergibt sich beim Thema »Kriegsverbrecherprozesse«. Hier zeigt Epifanov auf, daß sich die ersten Prozesse in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht wesentlich von denen der Jahre 1948/49 unterschieden. Den größten Neuig-

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keitswert besitzt das vorliegende Buch jedoch hinsichtlich des Themas Kollabora- tion. Eindrücklich beschreibt Epifanov, was die Deutschen unternahmen, um die sowjetische Jugend zu beeinflussen, und wie später der NKWD darauf reagierte.

Dies gelingt ihm anhand eines internen Berichts, den der NKWD nach der Rücker- oberung des Gebiets im April 1943 angefertigt hatte. Hier liegt überhaupt die Stär- ke der vorliegenden Veröffentlichung — sie bringt Dokumente, Pläne und Bilder aus sowjetischen Archiven, die bisher dem deutschen Publikum nicht bekannt wa- ren. Von daher, trotz der aufgezeigten Mängel, ein interessantes Buch.

Eine vom Üblichen ebenfalls abweichende Entstehungsgeschichte hat auch das zweite hier zu besprechende Buch. Als der Völkerkundler Albrecht Lehmann Be- richte für sein 1986 veröffentlichtes Werk über die sowjetische Kriegsgefangen- schaft suchte, war die Resonanz in der westfälischen Bevölkerung so groß, daß es geboten schien, die von Lehmann nicht ausgewerteten 150 Berichte der Öffent- lichkeit zugänglich zu machen. Die Mehrheit, 82 Einsendungen, bezieht sich zwar auf den sowjetischen Gewahrsam, die Studie erhebt jedoch den Anspruch, auch über die anderen Gewahrsamsmächte Auskunft zu geben.

Die Darstellung gliedert sich chronologisch in vier große Abschnitte: Gefan- gennahme, Leben in der Gefangenschaft, »Kultur« in der Gefangenschaft und Heimkehr. Mit Ausnahme des »Lebens in der Gefangenschaft« werden die einzel- nen Themen grundsätzlich simultan für alle Gewahrsamsländer abgehandelt, so daß sich mitunter interessante Vergleichsmöglichkeiten ergeben. So wird im Abschnitt

»Gefangennahme« deutlich, daß der Diebstahl der Armbanduhren bei der Gefan- gennahme üblich war — gleichgültig ob es sich um »reiche Amis« oder »arme Rus- sen« handelte.

Die Auswertung der Berichte, ist logisch gegliedert, frei von unnötigen Über- schneidungen, differenziert und durch Abbildungen sinnvoll ergänzt — kurz: mit Gewinn zu lesen. Zwar ergibt sich auch hier insofern nichts Neues, als die Ergeb- nisse über die der Maschke-Kommission nicht hinausgehen, aber sie sind doch an- schaulicher in nur einem Band zusammengefaßt.

So anregend sich die Auswertung liest, Probleme entstehen dann, wenn Zu- sammenhänge aufgezeigt werden oder falsche Erinnerungen korrigiert werden müßten. Hier fehlt es dem Autor mitunter an Vertrautheit mit dem Thema. Dies zeigt sich in Kleinigkeiten — so war der Spitzname für die sowjetischen Politoffiziere nicht die »Grünen«, sondern die »Blauen« —, aber auch in wichtigeren Punkten.

Wenn Sauermann sich z.B. wundert, daß der Anteil der Frauen unter den Bericht- erstattern so gering ist, dann ist dies kein Ausdruck von Diskriminierung, sondern die Konsequenz der Tatsache, daß die wenigen Frauen, die überhaupt in Kriegs- gefangenschaft geraten waren, unter den ersten waren, die entlassen wurden; oder wenn der Autor sich wundert, daß in den Kriegsgefangenenlagern zunächst mi- litärische Regeln galten, dann übersieht er, daß Kriegsgefangene weiterhin Solda- ten und Kriegsgefangenenlager militärische Einrichtungen waren. Wenn aber Sau- ermann die Veröffentlichungen von James Bacque zitiert, als ob es sich um seriö- se Literatur handle, dann zeigt sich, daß der Autor mit der Forschung nicht aus- reichend vertraut ist. Insgesamt von daher ein interessantes Buch, wenn man sich über die Erinnerung Betroffener an die Kriegsgefangenschaft informieren will, je- doch keine wissenschaftlich fundierte Gesamtdarstellung dieses Themas.

Rüdiger Overmans

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Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltan- schauung und Vernunft, 1903-1989, Bonn: Dietz 1996,695 S., DM 58,— [ISBN 3-8012-5019-9]

Der 1903 geborene Werner Best, in den Vorkriegsjahren Stellvertreter Heydrichs in der Gestapo-Zentrale und während des Krieges Militärverwaltungschef in Frank- reich bzw. ab Herbst 1942 deutscher Reichsbevollmächtigter im besetzten Däne- mark, gehörte gewiß nicht zu den vor wie nach 1945 weltweit bekannten und ge- fürchteten Repräsentanten des NS-Regimes. Es sind daher nicht so sehr die Per- son und das Leben des bei allem Geltungsbedürfnis eher zurückhaltend auftre- tenden Juristen Best, die im Mittelpunkt der biographischen Studien Herberts stehen. Nicht der individuelle Werdegang des Menschen Best — über dessen Pri- vat- und Familienleben man so gut wie nichts erfährt — interessiert den Verfasser, sondern der von ihm repräsentierteTypus im Rahmen einer generationellen Grup- pe und ihres politischen Werdeganges. Lange Zeit war die Forschung von dem Bemühen in Anspruch genommen, die Biographien wie insbesondere auch die per- sönlichen Psychopathologien der »Braunen Elite« — des engsten Führungskreises um Hitler — und der Exekutoren der NS-Massenverbrechen auf den unteren Ebe- nen — des Wachpersonals in den Lagern etc. — zu erhellen. Erst bei näherem Hin- sehen enthüllt sich die Bedeutung einer ganz anders geprägten Gruppe von Tä- tern: Jener begabten, außergewöhnlich jungen, solide — zumeist mit abgeschlos- senem Jura-Studium — ausgebildeten Führungsschicht des Reichssicherheits- hauptamtes (RSHA), die Herbert auf etwa 300 Köpfe veranschlagt. Obwohl diese eigentlichen Organisatoren der nationalsozialistischen Genozidpolitik ungeachtet ihres hohen Bildungsniveaus fanatische SS-Ideologen wären, entsprechen sie nicht dem >klassischen< Schema der Führer des NS-Terrorapparates. Von diesen wie auch von anderen Funktionseliten des Regimes unterschieden sie sich hinsichtlich ih- rer Zusammensetzung und sozialen Herkunft in vielerlei Hinsicht.

Die Forschung hatte — darin die Fassungslosigkeit der Nürnberger Richter übernehmend — immer erhebliche Probleme, die sich in diesen Männern manife- stierende Diskrepanz von Bildung und Massenmord angemessen — und das will heißen: anders als mit bloß individuellen Persönlichkeitsspaltungen — zu erklären.

Dies führte zu einer verbreiteten und lange Zeit nicht kritisch hinterfragten Inter- pretation, derzufolge die Technokraten des Terrors ohne eigene politische Über- zeugungen gewesen seien, so daß die RSHA-Führung zu einem bloßen Instrument des Terrors in den Händen der Regimeführung, insbesondere Hitlers, herabgestuft und ihr eine eigenständige Rolle nicht zuerkannt wurde.

Herbert ist sich darüber im klaren,, daß eine nach klassischen Kriterien ange- legte Biographie eines dieser — wenn auch durchaus prominenten — Männer aus der RSHA-Elite noch keinen geeigneten Rahmen bilden kann, die von Best reprä- sentierte und durch seine Personalpolitik im RSHA maßgeblich konstituierte Grup- pe in den Blick zu bekommen. Der Lebensweg seines Protagonisten ist in Herberts Konzept kaum mehr als eine Klammer, die das Engagement in der völkischen Be- wegung nach 1918 mit der führenden Rolle im NS-Herrschaftssystem verbindet. Ei- ne zentrale Kategorie in Herberts analytischem Konzept ist die »politische Gene- ration« der um 1900 Geborenen und ihrer generationellen Erfahrungen: Für eine aktive Teilnahme am Ersten Weltkrieg zu jung und daher durch das vielbeschwo- rene Frönterlebnis nicht direkt geprägt, waren sie gleichwohl vom Krieg und mehr noch von seinen Folgen in den Jahren ihrer Adoleszenz unmittelbar betroffen. Der

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Rheinländer Best, dessen Vater im Großen Krieg gefallen war, erlebte seine politi- sche Sozialisation in den ersten Nachkriegsjahren in einem Klima, das von rhei- nischem Separatismus, französischer Besatzung und dem dagegen gerichteten, deutschnationalen »Abwehrkampf« bestimmt war. Bereits im Alter von knapp zwan- zig Jahren spielte der umtriebige Best eine nicht unbedeutende Rolle in der sich herausbildenden völkischen Szene im Rheinland. Diesem Lebensabschnitt ist das erste Drittel der Biographie gewidmet. Es ist erstaunlich, welche Fülle an Quellen Herbert für diese Phase zusammengetragen hat und welch dichtes Bild des poli- tischen Engagements seines Protagonisten der Verfasser zeichnen kann. Bests spä- tere Hinwendung zur NSDAP erscheint zwar wie in so vielen anderen Fällen auch von mancherlei Zufälligkeiten in den Details bestimmt, im Ganzen jedoch als der konsequente Schlußpunkt seiner vielfältigen Verbindungen zu dem schillernden Netz rechtsradikaler und deutsch-völkischer Zirkel, Gruppen und Parteien der Zwischenkriegszeit. Typisch für den Best schon dieser frühen Jahre ist dessen in- tellektueller Hochmut, zumal sein Bildungsniveau ihn in der Tat weit über den geistigen Durchschnitt der rasch wachsenden NSDAP, insbesondere ihrer proleta- risch geprägten Partei-Armee SA, hinaushob. Charakteristisch für den jungen wie späteren Best scheint auch dessen Zwang, seine Gedanken niederzuschreiben und sich durch wichtigtuerischen Aktivismus in den Vordergrund zu schieben. Ein sol- ches von Best produziertes Papier wurde 1931 den politischen Gegnern der NSDAP in die Hände gespielt und von diesen als Beweis für die angeblichen oder wirk- lichen Staatsstreichpläne der Hitler-Partei gedeutet. Dieser »Boxheim-Skandal«

verschaffte dem 28jährigen, zuvor noch völlig unbekannten Best eine wenn auch unbeabsichtigte reichsweite Popularität. Noch lange nach dem Krieg und in Kennt- nis von Bests ungleich folgenreicheren Tätigkeiten zwischen 1933 und 1945 wur- de Best in der Presse lediglich und damit verharmlosend als der Verfasser der Box- heimer Dokumente identifiziert.

Der zweite und umfangreichste Teil des Bandes behandelt Bests Funktionen während der Herrschaft des Nationalsozialismus. Nach einer eher kurzen, wegen Konflikten mit dem Gauleiter abrupt beendeten Tätigkeit als Polizeipräsident in Hessen stieß Best bereits Ende 1933 zu Himmler und Heydrich, mit denen er in der Folge bis 1940 das Geheime Staatspolizeiamt und (ab Herbst 1939) das RSHA aufbaute und organisatorisch ausgestaltete. Als zeitweiliger Stellvertreter Hey- drichs, als Mann eher neben als hinter Heydrich, oblag Best der Aufbau des Ap- parates in der Berliner Gestapo-Zentrale, in deren Außenstellen im Reich sowie ab September 1939 in den besetzten polnischen Gebieten. Besonderes Augenmerk legt Herbert auf Bests herausgehobene Rolle bei Aufbau und Führung der Einsatz- gruppen, die im Rücken der deutschen Truppen in Polen schon im Herbst 1939 mit ihrem Mordhandwerk begannen.

Wegen Zerwürfnissen mit Heydrich schied Best Anfang 1940 aus dem RSHA aus und wechselte im Sommer 1940 als Militärverwaltungschef ins besetzte Frank- reich. In dieser Funktion war er wiederum tief in die Deportation der französi- schen Juden in die Vernichtungslager im Osten verstrickt. Im Herbst 1942 wurde Best dann als deutscher Reichsbevollmächtigter nach Dänemark entsandt, wo er bis Kriegsende verblieb. In dieser Stellung unterstand Best formal dem Auswärtigen Amt und bemühte sich zeitweilig nicht ohne Erfolg, den Sonderstatus Dänemärks als eines formal souveränen Staates mit seiner im Amt verbliebenen, legalen Re- gierung zu bewahren. Im Spätsommer 1943 brach jedoch auch diese Fiktion zu- sammen, und Best war genötigt, dem zunehmenden Druck aus Berlin bzw. dem

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Führerhauptquartier nach einer harten Linie in der Besatzungspolitik mehr und mehr nachzugeben.

Der dritte und letzte Abschnitt behandelt — für eine Biographie eines führen- den NS-Funktionärs durchaus ungewöhnlich — das Nachkriegsschicksal des 1989 verstorbenen Best. Zur Sprache kommen zum einen die gegen Best nach 1945 in Deutschland und Dänemark durchgeführten Prozesse, die ihn für meh- rere Jahre hinter Gitter brachten. Die gegen Best eingeleiteten Strafverfahren zei- gen durch die Widersprüchlichkeit der Urteile in den einzelnen Instanzen aber auch die Probleme des Umgangs der Justiz mit diesem NS-Protagonisten, dem ei- ne direkte Beteiligung an den Verbrechen des Regimes kaum nachzuweisen war und der im Gegenzug seine vermeintliche und von Herbert schlüssig widerleg- te Rolle bei der Rettung der dänischen Juden vor der Deportation in deutsche Vernichtungslager erfolgreich herausstellte. Die Nachkriegs-Kapitel der Biogra- phie Bests veranschaulichen in frappierender Eindringlichkeit die zentrale Rol- le Bests beim Wiedererstehen einer rechten Szene in der Bundesrepublik, insbe- sondere im Umfeld der nordrhein-westfälischen FDP, und bei der Koordinierung der Verteidigungsstrategien für angeklagte NS-Täter aus dem Bereich des frühe- ren RSHA. Mit seinem mündlich wie schriftlich artikulierten Darstellungs- und Rechtfertigungsdrang prägte Best aber auch in einem geradezu frappierenden Ausmaß die Darstellungen von Historikern zü jenen Themenfeldern, in die Best mehr oder weniger involviert war. Herbert leistet hier zugleich einen wichtigen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Bundesrepublik, der freilich für die be- troffenen Historiker, welche die Sichtweise des stets redegewandten und aus- kunftsfreudigen Best allzu unkritisch übernahmen, alles andere als ein Ruhmes- blatt darstellt.

Auch Herbert stützt sich, wie er selbst bekennt, in hohem Maße auf das rei- che CEuvre der Schriften Bests aus der Zeit vor 1945, aus denen er die um Ra- tionalität und Emotionslosigkeit bemühte Weltanschauung seines Protagonisten herausdestilliert. Er unterliegt jedoch niemals der Versuchung, der stets um Selbst- rechtfertigung bemühten Verharmlosungsstrategie Bests auf den Leim zu gehen, weil er dessen Aussagen, wo immer möglich, zeitgenössischen Quellen gegen- überstellt. Der Verfasser hat — und dies gilt gleichermaßen für alle Lebensab- schnitte Bests — eine beeindruckende Masse an Quellen und Literatur verarbei- tet. Was Herbert hier vorlegt, ist keine Biographie im herkömmlichen Sinn. Es sind vielmehr eigenständige Studien über die rechte Intelligenz und die völki- sche Bewegung der zwanziger Jahre, den Aufstieg des Nationalsozialismus, den Aufbau der Sicherheitspolizei und des SD, die deutsche Besatzungspolitik in Frankreich und Dänemark bis zum Zusammenbruch 1945 sowie über die For- mierung und die Abwehrstrategien der rechten Szene in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik mit Nachwirkungen bis in die unmittelbare Gegenwart, die erst durch den Rückbezug auf die Lebensgeschichte eines ihrer führenden Ver- treter miteinander verknüpft werden. Herbert hat ein eigenständiges analyti- sches wie darstellerisches Konzept entwickelt und anhand der Biographie Bests mit überzeugenden Ergebnissen in die Tat umgesetzt. Die Herausforderung für den Biographen bestand gerade in der auf den ersten Blick unerklärlichen Kom- bination aus dem »begabten, belesenen und vernünftigen jungen Juristen und dem fanatischen SS-Ideologen und Organisator des Massenmords« (S. 12), eine Kombination, die allerdings einer Erklärung bedarf, will man verstehen, warum ausgerechnet ein erheblicher Teil der deutschen Intelligenz in den dreißiger und

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vierziger Jahren zu willigen Vordenkern und Vollstreckern der nationalsoziali- stischen Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik wurde.

Martin Moll

Hans Joachim Schröder, Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Ge- schichtserzählung im Interview: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehe- maliger Mannschaftssoldaten, Tübingen: Niemeyer 1992, VII, 1028 S. (= Stu- dien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 37), DM 286,— [ISBN 3- 484-35037-7]

In wissenschaftlicher Hinsicht wissen wir wenig über das Kriegserlebnis von Mann- schaftssoldaten der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, obwohl sie etwa 90 Prozent der bewaffneten Macht des NS-Staates ausmachten. In der Zeit ihres Bestehens zwischen 1935 und 1945 wurde die Wehrmacht von fast 20 Millionen Soldaten durchlaufen. Anders als in den angelsächsischen Ländern hat sich die hi- storische Wissenschaft in Deutschland um die einfachen »Landser« des Zweiten Weltkrieges kaum gekümmert; zumindest nicht um das Gros jener Mannschafts- soldaten, die intern insoweit nicht »auffielen«, als sie sich der Militärmaschinerie gehorsam eingliederten. Dagegen ist in den letzten Jahren eine Beschäftigung mit den widerständigen Randgruppen in Gang gekommen, mit den Kriegsdienstver- weigerern, »Wehrkraftzersetzem« und Deserteuren (vgl. die Arbeiten von Kamm- ler, Messerschmidt, Wüllner, Haase und anderen).

Im übrigen existiert der »Landser« in aller Regel nur anonym als Bestandteil von Verlustlisten und von Stärkemeldungen. In den offiziellen Kriegstagebüchern der Verbände und Großverbände der Wehrmacht und anderen kriegshistorischen Quellen kommen Marinschaftssoldaten normalerweise nicht vor, auch nicht in den später verfaßen »Regimentsgeschichten«. Normales Kämpfen und Leiden blieb anonym und wurde in den von Offizieren verfaßen Tagebüchern und Darstellun- gen nicht registriert. Die Archive haben nur wenige Hinterlassenschaften von Mann- schaftssoldaten aufbewahrt. Im Freiburger Bundesarchiv-Militärarchiv wurden diese Quellen auf unter ein Prozent des Gesamtbestandes geschätzt. Erst in den letzten Jahren geht die Stuttgarter Bibliothek für Zeitgeschichte systematischer als bisher daran, Sammlungen von Feldpostbriefen aufzukaufen und der Forschung zur Verfügung zu stellen.'

Eine Historikerin oder ein Historiker, der den Kriegsalltag von einfachen Sol- daten untersuchen möchte, hat also mit beträchtlichen Quellenproblemen zu kämp- fen. Um diese wenigstens teilweise zu umgehen, hat der Volkskundler Hans Joa- chim Schröder sich eine eigene Quelle geschaffen. Er ließ Teilnehmer des Zweiten Weltkrieges ihre Lebensgeschichte erzählen und wertete diese sodann mit einem bestimmten methodischen Instrumentarium aus. Den Lesern dieser Zeitschrift ist der methodische Ansatz Schröders bereits bekannt1. Weiterhin hat der Autor in mehreren Aufsätzen über Teilaspekte seiner Forschungsergebnisse berichtet, bei- spielsweise in seinen Beiträgen über schikanöse Praktiken in der Militärausbil- dung des Dritten Reiches2, über »Erfahrungen deutscher Mannschaftssoldaten während der ersten Phase des Rußlandkrieges«3, über Erinnerungen an die Sta- lingrader Schlacht4 sowie über Terror und Verfall in der Wehrmacht bei Kriegs- ende 19455.

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Mit diesen kleineren Beiträgen hat Hans Joachim Schröder den Beitrag seiner Disziplin, der Volkskunde, zu einer Militärgeschichte von unten in Fachkreisen be- kannt gemacht. Weniger bekannt ist dagegen das mit 1028 Druckseiten wahrhaft voluminöse Werk — zugleich seine Hamburger Habilitationsschrift — »Die ge- stohlenen Jahre«, in dem der Autor seine Forschungsergebnisse in ihrer Gesamt- heit ausbreitet.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Teil A (S. 9-270) ist der Theorie und Me- thode gewidmet. Hier geht es um »das narrative Interview als Forschungsgegen- stand«, um die »Deutungsproblematik von Interviewgeschichten über den Zwei- ten Weltkrieg«, u m »Topoi als Sinndeutungsformen in Interviewerzählungen ehe- maliger Mannschaftssoldaten« sowie um das Problem einer adäquaten Doku- mentation und Kommentierung von Interviewzeugnissen.

Im Hauptteil Β (S. 271-922) erfolgt die eigentliche Dokumentation der Erzähl- interviews, die mit Erklärungshilfen versehen sind. In diesen Kommentaren wird deutlich, daß der Autor mit der historischen Forschungsliteratur über den Zwei- ten Weltkrieg ebenso gut vertraut ist wie mit der einschlägigen literaturgeschicht- lichen Forschung. In diesem Hauptteil werden zunächst unter der Überschrift »>A11- tag< des Krieges« die folgenden »Erzählstoffe« thematisiert: Beziehung zu Vorge- setzten, Kameradschaft, Kontakte zur Bevölkerung besetzter Länder, Frauen, Ein- stellungen zum Krieg; sodann Strapazen des Rußlandkrieges (Soldatentransporte, Kälte, Läuse), Waffentechnik, Ernährung und »Organisieren«, Urlaub und »Durchla- vieren«. Weiterhin wird berichtet über die kriegerischen Kämpfe vom Kriegsbe- ginn bis zu den Rückzügen 1944/45, mit besonderem Augenmerk auf das Erleb- nis des Tötens und der eigenen tödlichen Bedrohung. Eigens thematisiert wird die Angst. Zum Erzählstoff gehören auch — was durchaus nicht als selbstverständ- lich anzusehen ist — die »Grausamkeiten«, also u.a. die Mordtaten und die Drangsa- lierung von Kriegsgefangenen. Weitere Abschnitte sind den Luftangriffen auf Ham- burg, den Verwundungen und dem Kriegsende gewidmet.

Der Hauptteil wird abgeschlossen durch rückblickende Bewertungen des Krie- ges durch die Interviewpartner. Aus diesem Kontext stammt auch der Titel des Bu- ches: »Die gestohlenen Jahre« — ein Formulierung, in welcher eine bezeichnend un- heroische, realistische und alle nachträglichen Verklärungen abschneidende Rück- schau zum Ausdruck kommt.

Im abschließenden Teil C (S. 923-1028) stellt Schröder seine Interviewpartner in Kurzinterviews vor. Im übrigen präsentiert er ein exzellentes, sauber durchge- gliedertes, 1218 Titel umfassendes Literaturverzeichnis, in dem sowohl die soge- nannte Erlebnisliteratur als auch die wissenschaftliche Literatur zu Nationalso- zialismus und Krieg erfaßt ist wie auch die Literatur zur Analyse narrativ-biogra- phischer Interviews.

Man mag dieses Buch wegen seines Umfangs kritisieren und die Frage erwä- gen, ob es sich eben wegen dieses Umfangs u m seinen möglichen Erfolg bei einem größeren Lesepublikum gebracht haben könnte. Man kann diesen Wälzer jedoch auch — und dies durchaus im Sinne des Autors (S. 269) — als eine einmalige Fund- grube für weitergehende wissenschaftliche Forschungen betrachten. In der Tat ist noch niemals so viel Erzählstoff von Mannschaftssoldaten des Zweiten Weltkrie- ges zusammengetragen, systematisch geordnet und fachkundig kommentiert wor- den wie hier.

Wer das Buch in diesem Sinne nutzen möchte, sollte allerdings ein paar me- thodische Grundprobleme zum Wahrheitsgehalt autobiographischer Interview-

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Zeugnisse beachten, die Schröder keineswegs unterschlägt, sondern in erfreulicher Klarheit analysiert. Als relativ einfach erwies sich der Umgang mit Schilderungen faktischer Abläufe, da diese überprüft werden können. Weit schwieriger zu be- handeln waren die — meist nachträglich gefundenen — Sinndeutungen. Dazu Schröder: »Wie der einzelne seine Schreckenserfahrungen, in die er womöglich schuldhaft verstrickt ist, erinnert und verarbeitet, ob und wieweit er sie umformt, verschweigt oder aus seinem Denken eliminiert, läßt sich einem Interviewgespräch oft nicht ohne weiteres entnehmen.« (S. 227 f.) Die Grenzen der Interviewbefra- gung zeigten sich also vornehmlich in den »nicht erzählten Geschichten« (S. 228).

Hatten die Interviewpartner generell Hemmungen, von sich aus und offen über ihre Kriegserlebnisse zu sprechen, so wurden ihre Aussagen noch unergiebiger, wenn es um so einschneidende Tatbestände wie das Töten von Menschen oder um

»Grausamkeiten« und Kriegsverbrechen ging. Schröder bilanziert, »daß nahezu alle der bisher zitierten Gewährsleute nur imgern oder zögernd in offener, kon- kreter Form von den Schrecken des Krieges« sprachen (S. 317). Hier zeigt sich die Begrenztheit des Aussagewerts des gesammelten Interview-Materials: »es ver- schafft neue, bisher nicht genügend im Zusammenhang erfaßte Einblicke in das Grundphänomen der Angst, zugleich liefert es nur spärlichen Aufschluß über die Untaten und Verbrechen, die den Zweiten Weltkrieg zum scheußlichsten Krieg der Menschheitsgeschichte gemacht haben« (S. 671). Die Interviewpartner haben zu diesen Teilen ihrer Kriegserlebnisse einfach geschwiegen.

Wolfram Wette

1 Vgl. seinen Beitrag: Die Vergegenwärtigung des Zweiten Weltkrieges in biographischen Interviewerzählungen, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 49 (1991), S. 9-37.

2 »Man kam sich da vor wie ein Stück Dreck«. Schikane in der Militärausbildung des Drit- ten Reiches, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten. Hrsg.

von Wolfram Wette, München, Zürich 1992,2. Aufl. 1995, S. 183-198.

3 In: Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-Pakt zum »Unternehmen Barbarossa«.

Im Auftrage des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernd Wegner, Mün- chen, Zürich 1991, S. 309-325.

4 Alltag der Katastrophen. Der Kampf um Stalingrad im Erinnerungsinterview, in: Sta- lingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht. Hrsg. von Wolfram Wette und Gerd R.

Ueberschär, Frankfurt a.M. 1992, S. 168-177.

5 »Ich hänge hier, weil ich getürmt bin«. Terror und Verfall im deutschen Militär bei Kriegs- ende 1945, in: Der Krieg des kleinen Mannes (wie Anm. 2), S. 279-294.

Robert Buzzanco, Masters of War. Military Dissent and Politics in the Viet- nam Era, Cambridge, New York: Cambridge University Press 1996, XII, 384 S., $ 29.95 [ISBN 0-521-48046-9]

Robert Buzzanco, Professor an der University of Houston, Texas, befaßt sich in sei- ner gründlich dokumentierten Studie mit dem Verhältnis zwischen militärischer und ziviler Führung in der Zeit der Vietnamkriege. Breiten Raum nehmen darin die Be- denken ein, die amerikanische Militärs gegen das wachsende Engagement der USA in Vietnam in den fünfziger und frühen sechziger Jahren äußerten, sowie ihre Kri- tik an der Taktik, mit welcher der Krieg unter den Präsidenten Kennedy und John- son geführt wurde. Damit eng verbunden ist ein zweites Thema der Studie: die von den Militärs niemals in Zweifel gezogene Prärogative der zivilen Führung.

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