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Rezension: Krumholz

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Academic year: 2022

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VHN 4 | 2021

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REZENSIONEN

Steimann, Flavio (2021):

Krumholz Roman

Hamburg: Edition Nautilus.

200 S., € 22,–

„Das Kind“ – so wird es bis fast zur Hälfte des Romans des Luzerner Schriftstellers Flavio Stei- mann genannt – erhält erst mit sechzehn Jahren seinen Namen Agatha (S. 81). Bei der Geburt stirbt die Mutter, das Kind überlebt. Es ist, wie erst später festgestellt wird, „ein Taubstümm- chen, ein Viersinniges“ (S. 14). Seinem Vater, dem Bauern Klausert, geht der Lebenssinn verloren.

Während das ganze Dorf zur Lichtmess tanzt, steckt er seinen Hof in Brand und erhängt sich.

Für die mit Löschgerät verzögert eintreffen- den Männer aus dem Dorf gibt es nichts mehr zu retten. Doch sie suchen fieberhaft nach dem Kind. Schließlich findet es einer, gut verpackt sicher hinten in einer Ecke in einem „Chaisen- wagen“ (einem kleinen Fuhrwerk). Die Geschichte spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Schwei- zer Mittelland, vielleicht im Entlebuch oder im Emmental. Sie scheint zunächst erzählt wie in Jeremias Gotthelfs guter alter Zeit, doch dann kommt sie oft in brillanten Sätzen am Anfang eines Abschnitts auf den Punkt: „Aber dann wal- tet das Amt“ (S. 22). Das Kind kommt in die „Ar- men- & Irrenanstalt“. Es ist eine genaue Beobach- terin. Im Esssaal am Männertisch fällt ihm einer auf, dessen Hände wie armdicke Finger aussehen, ein anderer hat eine Holzprothese und ein weite- rer mit weißen Haaren einen Fotoapparat. Grot- wohl, Ludian und Lumière nennt sie der Erzähler mit Namen.

„Das Kind können sie nicht rufen“ (S. 48). Erscheint es widerspenstig, wird es auf dem Dachboden eingesperrt. Das Gerümpel regt seine Ängste und Fantasien an, und eine Luke bietet ihm den Aus- blick auf den Brunnenplatz. Von einem anderen Versteck aus im Stall erhält es Einblick in eine detailliert geschilderte Schweineschlachtung und den Schabernack darum herum. Es erschließt

sich eigenständig die Anstaltswelt. Aber man versucht es zu zähmen, es wird geschlagen und gehänselt wegen seiner roten Haare. Das Kind hilft gern in der Küche mit, es ist geschickt im Nähen und Häkeln von Kindersachen und Herren- schals. Dann wird es abgeholt. Von nun an arbei- tet Agatha in der Hasplerei einer Textilfabrik im Maschinensaal B und wohnt in einem Zimmer im Julianenheim mit anderen Arbeiterinnen. Am Wochenende besucht sie die Mercerie des Wa- renhauses und die Messe mit dem Abnormitäten- kabinett in der nahegelegenen Stadt. Doch sie wird krank und muss zur Erholung aufs Land.

Die einzige ihr noch erlaubte Beschäftigung ist Stricken. Meist sitzt sie am Waldrand beim Krum- holz auf einer Bank. Hier trifft Agatha Zenz. Sie kennen sich nicht. Ihre Begegnung ist verhäng- nisvoll.

Raffiniert spiegelbildlich zu Agathas Lebensge- schichte schildert nun Steimann bzw. sein Erzäh- ler diejenige von Zenz. Er heißt eigentlich In- nozenz Hilar Torecht. Sein Vater verschwand, als er drei Jahre alt war. Galgackerbauer Jochert, bei dem er als Neunjähriger Verdingbub war, be- zeichnet ihn als verwahrlost und unaufrichtig.

Er sei zwar groß und kräftig gewesen, er „hätte wohl arbeiten können“ (S. 140). Für Dorflehrer Drofinger war er unordentlich und „ohne Ehr- und Pflichtgefühl“ (S. 141), der Gemeindeschrei- ber Feumer bezeichnet den Sechzehnjährigen als Vaganten und Scharlatan. Weiter ist von seiner

„geistigen Beschränktheit“ (S. 142) die Rede so- wie von Diebstahl und Betrug. Die „schönste Zeit in seinem Leben“ (S. 175) ist sein angeblicher Aufenthalt in Paris als Modell eines Bilderhauers namens Castro. Zenz gilt als exzellenter Roll- schuhläufer. Er versucht sich als Händler von ihm selbst geschickt hergestellten Papierblumen. Er scheitert. Zuletzt haust er im Wald. „Das Gefühl der Zugehörigkeit ist dem Zenz abgegangen – wenn er gerufen worden ist, hat er immerfort geglaubt, es sei ein anderer gemeint. Dass das Leben einfach an ihm vorbeiziehe, davor hat er vielleicht Angst gehabt, denn kein Mensch hat den Torecht, diesen Unnotwendigen, wirklich ernst genommen“ (S. 192).

Der Einwand, dass Steimann mehrere Begriffe (z. B. „Defektmenschen“, S. 193) benutze, die in einem heutigen Text vermieden werden sollten,

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REZENSIONEN

wäre verfehlt. Steimann verdeutlicht, dass diese Worte damals verwendet wurden und dass sie dis- kriminierend sind, indem er sie in seinem Roman illusionslos direkt umsetzt. Das ist überzeugend aufklärende Literatur. Flavio Steimann demons- triert mit präzisem poetischem Rhythmus die

Möglichkeiten des Romans. Zugleich verschafft er ein eindringliches Leseerlebnis.

Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg

DOI 10.2378/vhn2021.art39d

VORSCHAU

Vorschau auf die kommenden Hefte

Strafe und Erziehung – über Grenzen, Grenzsetzungen und Grenzverletzungen in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen

Margret Dörr

Onlineplattform UK – eine Option für das Fort- und Weiterbildungsangebot für Fachkräfte in der Unterstützten Kommunikation?

Ergebnisse einer Interviewstudie Nadja Melina Burgio

Leistungsschere oder -differenz? – Eine vergleichende Analyse der Entwicklung von Lese- und Rechtschreibleistungen in der Sekundarstufe I

Birgit Werner, Rebecca Höhr

Und demnächst online in VHNplus:

Soziale Integration sowie sprach- und schulleistungsbezogenes Fähigkeitenselbstkonzept von Kindern mit Sprachbeeinträchtigungen im Verlaufe der Grundschulzeit

Anja Theisel, Christian W. Glück, Markus Spreer

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