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Archiv "Protestkundgebung in Berlin: Ausnahmezustand im Gesundheitswesen" (31.03.2006)

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rmin Ehl kann sich noch gut erin- nern, was ihm prognostiziert wur- de, als er vor zwei Jahren Haupt- geschäftsführer beim Marburger Bund (MB) wurde: Trotz aller Unzufrieden- heit der Krankenhausärzte mit ihren Arbeitsbedingungen werde es nicht zum Aufstand kommen, denn: „Sie wer- den nie mehr als 30 Ärzte auf die Straße bekommen.“ Zwei Jahre später sieht die Welt anders aus. Mittlerweile strei- ken die Klinikärzte, bestens durchorga- nisiert. Und der 24. März hat gezeigt:

Man kann nicht nur 300, sondern sogar 30 000 Ärzte auf die Straße bekommen.

Die Niedergelassenen und die Psy- chotherapeuten haben nachgezogen mit ihren Protesten und lassen nicht locker. Zur ersten großen Demonstrati- on am 18. Januar in Berlin kamen uner- wartet rund 20 000, zur zweiten am 24.

März circa 30 000 aus ganz Deutsch- land, unterstützt von Mitarbeiterinnen und Patienten. 50 Verbände und Orga- nisationen hatten den neuerlichen Auf- ruf zum Protest in Berlin unterstützt,

darunter die Freie Ärzteschaft, Medi Deutschland, der Bundesverband der Ärztegenossenschaften, Hartmannbund und NAV-Virchow-Bund.

„Die Arbeitsbedingungen für die niedergelassenen Vertragsärzte werden unerträglich. Die Politik hat versagt, und die Ärzteschaft wird immer wieder zum Sündenbock gemacht“, kritisiert Dr. med. Martin Grauduszus, Präsident der Interessengemeinschaft Freie Ärz- teschaft, vor Beginn der Demonstrati- on. Dr. med. Werner Baumgärtner,Vor- sitzender von Medi, betont, die Ärzte hielten seit Jahren ein morsches System in Gang, indem sie sich selbst ausbeute- ten. Doch damit ist nun bald Schluss, hofft er: „Die Politik unterschätzt die Entschlossenheit der niedergelassenen Ärzte, Veränderungen zu erzwingen.“

Vor dem Roten Rathaus in Berlin- Mitte hat sich der Platz gefüllt. Dass vie-

le Demonstranten nicht an einer vor- übergehenden Befindlichkeitsstörung leiden, sondern mit einem ernsten Be- fund gekommen sind, signalisieren die zahlreichen selbstgestalteten Plakate:

Protestkundgebung in Berlin

Ausnahmezustand im Gesundheitswesen

Rund 30 000 Ärzte und Psychotherapeuten demonstrierten gegen immer mehr Bürokratie, eine unzureichende Vergütung und die Dauerbelastung des Arzt-Patient-Verhältnisses.

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 13⏐⏐31. März 2006 AA819

P O L I T I K

Für Teufelszeug halten viele eine Bonus-Ma- lus-Regelung. Der Präsident der Bundesärzte- kammer warnte zudem: Eine Vorteilsnahme bei Medikamenten kann bestraft werden.

Fotos:Georg J.Lopata

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A820 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 13⏐⏐31. März 2006

„Die Nerven liegen blank“, steht auf ei- nem. In Anspielung auf die Imagekam- pagne „Du bist Deutschland“ hat ein anderer Protestler gedichtet: „Du bist Patient. Jetzt neu: Prämien für Billigme- dizin oder Watschen für Qualitätsme- dikamente (Bonus-Malus-Regelung)“.

Ein Grüppchen verlangt schriftlich:

„Aachener Hausärzte fordern Schluss mit ömmesöns* Medizin.“

Warum jetzt Druck?

„Weil alle betroffen sind“

Dr. med.Werner Staschok und Dr. med.

Joachim Schier aus Mönchengladbach waren schon bei der ersten Demonstra- tion im Januar dabei. Auch heute sind sie zu Hause um 6.05 Uhr in den Zug gestiegen, gemeinsam mit fünf Mitar- beiterinnen. Alle tragen blaue OP-Klei- dung und machen ihrem

Ärger lautstark mit Tril- lerpfeifen Luft. „Die Si- tuation hat sich so ent- wickelt, dass man seine Arbeit eigentlich nicht mehr leisten kann“, sagt Staschok. Für ambulante Operationen werde ein- fach zu wenig gezahlt.

Deshalb mussten er und sein Kollege Schier schon zwei Vollzeitkräfte entlas- sen. Früher, erzählt der Operateur, hätten sie vier Auszubildende beschäf- tigt, jetzt zwei, von Som- mer an nur noch eine.

Warum die niedergelassenen Ärzte und Ärztinnen jetzt Druck machen?

„Weil alle betroffen sind und nicht mehr nur einzelne Gruppen“, glaubt Staschok.Allein aus seiner Heimatstadt sind mehr als 100 Kollegen angereist.

„Es ist das erste Mal, dass die Niederge- lassenen so geschlossen handeln“, freut sich Staschok.

Die Augenärztin Dr. med. Gabriele Schreiber aus Sebnitz nahe Dresden ist mit ihrer Praxishelferin Anesta Göttlich zur Demonstration gekommen – „weil es so nicht mehr weitergehen kann“. Sie arbeiten weniger als früher, um nicht in Konflikt mit dem Budget zu kommen.

Eine Folge ist, dass in der Praxis schon jetzt Termine für Oktober vergeben werden. Was sich ändern sollte? Es müsse mehr Geld ins System, und es gehöre besser verteilt. „Jeder sollte Zu- gang zu einer vernünftigen Versorgung

haben“, ergänzt Schreiber, „aber nicht mehr alles bekommen.“ Halten die nie- dergelassenen Ärzte besser zusammen als früher? Zumindest gebe es mehr Kontakte, sagt Schreiber, und einen Stammtisch haben sie auch gegründet.

Die Gespräche der Demonstranten werden leiser oder verstummen, sobald auf der Tribüne in der Mitte ein offiziel- ler Gastredner spricht. Viel Beifall be- kommt Bundesärztekammer-Präsident Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, der feststellt: „Wenn Tausende von Ärztin- nen und Ärzten zum zweiten Mal inner- halb kurzer Zeit gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen und Mangelver- sorgung der Patienten demonstrieren, dann ist das der Ausnahmezustand im Gesundheitswesen.“ All die Funktionä- re in Politik und Krankenkassen igno- rierten in unglaublicher Arroganz, er- gänzt Hoppe, „dass wir es doch sind, die erst durch millionenfach unbezahlte Mehrarbeit den Betrieb in der sta- tionären wie der ambulanten Versor- gung am Laufen halten“. Und noch et- was betont er: „Mit der gleichen Lei- denschaft, mit der wir für eine gute Pati- entenversorgung streiten, müssen wir für unsere eigene Sache kämpfen.“

Für viele, die nach Berlin gekommen sind, bedeutet Kampf für die eigene Sa- che dabei auch, sich für andere ärztliche Organisationsstrukturen als bisher stark zu ma- chen. Er fühle sich von seiner KV nicht mehr richtig vertreten, sagt Dr. med. Holger Jürchott, nahe Itzehoe als Allge- meinarzt niedergelassen.

Schon vor Jahren haben die KVen seiner Meinung nach einen Kardinalfeh- ler begangen, als sie die ärztliche Vergütung nach einem Punktesystem und nicht nach festen Preisen zuließen. „Letztlich muss jetzt auch der Ausstieg aus dem Kollektivver- tragssystem in Betracht gezogen werden, wenn Statt ambulant zu operieren, demonstriert Dr. Werner Staschok mit seinem Kollegen und Mitarbeiterinnen in Berlin. Die Patienten zu Hause in Mönchengladbach hätten Verständ- nis, sagt er: „Die unterstützen uns sogar.“

*rheinisch für kostenlos

Gute Miene zum bösen Spiel machen Dr. med. Gabriele Schreiber und Dr. Fal- ko Mikus – für den Fotografen. Dann werden sie ernst: „Die Politik muss zu- geben, dass die Medizin wie bisher nicht mehr finanzierbar ist“, fordert Schreiber. Mikus zweifelt an einem KV-System nach bisherigem Muster.

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ls ich mich 1986 niederließ, schick- te mir die DAK zur Praxiseröff- nung ein Blumengebinde und ein Schreiben, in dem man die Freude zum Ausdruck brachte, dass ich mich fürder- hin um die ärztliche Versorgung der DAK-Patienten bemühen wollte.“ Der- artige Freundlichkeiten seien lange her, berichtet Dr. med. Johannes Alfred Eb- bers. Der HNO-Arzt aus Düren hat in-

zwischen diesen ersten Kontakt mit einer großen deutschen Krankenkasse als „Er- innerung an das Goldene Zeitalter“ ver- bucht.„Seither wurden unsere Rechte als freier Beruf Stückchen für Stückchen ab- getragen. Man nimmt uns die Luft zum Atmen“, sagt der niedergelassene Arzt.

Ebbers ist einer der vielen Ärzte und Ärztinnen, die auf die Titelgeschichte in Heft 5/2006 des Deutschen Ärzteblattes („Krankenkassen wollen den Takt an- geben“) reagiert haben. Die DÄ-Re- dakteure Sabine Rieser und Jens Flin- trop sind in diesem Artikel der Frage nachgegangen, inwieweit sich die Kran- kenkassen nicht mehr als Payer, son- dern als Player im Gesundheitswesen verstehen. „Gestalten statt verwalten – die Kassen meinen es ernst“, war der Beitrag überschrieben. Eine These, die

offensichtlich viele Ärztinnen und Ärz- te aus eigener Anschauung bestätigen können.

Augenarzt Dirk Paulukat aus Bad Camberg schreibt ans DÄ: „Meine Er- fahrungen mit der Einflussnahme der Kassen sind sowohl als Klinikarzt als auch als Vertragsarzt durchweg negativ.

Ziel jeglicher Einflussnahme der Kassen war und ist es, Kosten zu sparen – durch

konsequente Leistungsverweigerung ge- genüber den Versicherten und Honorar- verweigerungen gegenüber den Ärz- ten.“ Ein Miteinander mit den Kassen sei längst nicht mehr gegeben, praktisch jeder Arzt, der sich für seine Patienten einsetze, habe mit den Krankenkassen schon Therapien ausfechten müssen.

Ähnlich sieht das Dipl.-Med. Harry Rübsam aus Wutha-Farnroda: „In den mehr als zehn Jahren meiner Praxis- tätigkeit waren sie nie Partner, sie wer- den mehr und mehr zu einer bedrohli- chen Kontrolleinrichtung. Aber auch die KVen sind mehr gehorsame Staatsvoll- strecker als Partner.“ Erfahrungen, die (fast wortgleich) von Dr. med. Käte Kö- ster aus Altenburg in Thüringen geteilt werden: „Ich betrachte die Kassen zu- nehmend als Kontrollinstanz für unser P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 13⏐⏐31. März 2006 AA821

Einfluss der Krankenkassen

„Bürokratische

Folterinstrumente“

Wie empfinden Ärztinnen und Ärzte die Rolle der Kranken- kassen im Gesundheitswesen? Zahlreiche Zuschriften an das Deutsche Ärzteblatt machen deutlich: überwiegend negativ.

Formulare, Formulare, Formulare: Stummer Protest auf dem Ärztetag 2005 in Berlin

Foto:Bernhard Eifrig

wir mithilfe der KVen keine vernünfti- ge Lösung finden“, meint Jürchott. Vor dem, was danach kommen könnte, hat er keine Angst: „Alles, was anders ist, ist besser.“

Dr. med. Falko Mikus aus Detmold ist überzeugt davon, dass sich viele Ärz- te von den KVen, die an diesem Tag vornehmlich „die Körperschaften“ ge- nannt werden, mehr Aufbegehren ge- gen die politischen Vorgaben wün- schen. „Ohne regionale Ärztenetze wä- re diese Demonstration nie zustande gekommen“, sagt der Hausarzt. „Des- wegen fühlen wir uns dort besser ver- treten als von einer öffentlich-rechtli- chen Körperschaft, die zwischen den Stühlen steht und es allen recht machen will.“

Köhler fordert klaren Auftrag

Dr. med. Udo Ebner ist aus dem nieder- bayerischen Deggendorf nach Berlin gekommen, weil die Ärzte demonstrie- ren sollten, „dass sie wirklich an Refor- men interessiert sind“. Er plädiert wie viele hier für ein System aus Grund- und Wahlleistungen und für die Ein- führung der Kostenerstattung. Der Gynäkologe glaubt ebenfalls, dass man andere Strukturen brauche als bisher, den neuen Zusammenhalt in Genossen- schaften, Netzen und Verbünden.

Dr. med. Andreas Köhler hat keinen einfachen Stand, als er auf der Redner- tribüne spricht. Der Vorstandsvorsit- zende der Kassenärztlichen Bundes- vereinigung (KBV) bekommt Beifall, aber auch Pfiffe und Buhrufe sind zu hören. „Unsere Forderungen heißen:

angemessene Vergütung medizinischer Leistungen,Abbau von Bürokratie, kei- ne Staatsmedizin, kein weiteres Degra- dieren der Kassenärzte zu Erfüllungs- gehilfen der Kassensparpolitik“, sagt er. Die KBV-Vertreterversammlung hat zuvor entschieden, die niedergelas- senen Ärzte und Psychotherapeuten in einem Referendum zu befragen, unter welchen Bedingungen sie für einen Fortbestand der KVen wären. „Was wir brauchen, ist ein klarer Auftrag unserer Mitglieder. Andernfalls muss sich die Ärzteschaft für eine alternative Inter- essenvertretung einsetzen“, erklärt Köhler. Timo Blöß, Sabine Rieser

Referenzen

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