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Archiv "Anlage und Umwelt" (22.03.1979)

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen THEMEN DER ZEIT

Das seltene Beispiel einer vererbli- chen Lerndisposition, die nur von einem Gen abhängt, stammt von Oli- verio et al. Sie konditionierten ver- schiedene Mäusestämme darauf, bestimmte Reize vermeiden zu ler- nen. Durch Kreuzungs- und Rück- kreuzungsversuche mit zwei In- zuchtstämmen gelang ihnen der Nachweis eines einzigen Gens auf dem 9. Chromosom, das den be- trächtlichen Unterschied im Vermei- dungslernen der beiden Stämme kontrollierte (Caspari, 1977).

Im allgemeinen kann man allerdings die Regel aufstellen, daß komplexe Verhaltensweisen polygen kontrol- liert werden und durch Umweltfak- toren stärker modifizierbar sind als monogen bestimmtes Verhalten.

Ernst Mayr (1974) unterscheidet ge- schlossene und offene Verhaltens- programme. Jedem Verhalten unter- liegt ein genetisches Programm. Un- ter geschlossenen Programmen ver- steht er angeborene Verhaltenswei- sen, für die Umwelteinflüsse und Er- fahrung eine geringe oder keine Rolle spielen, während offene Pro- gramme durch Umweltvariablen, Er- fahrung und Lernen modifiziert wer- den. Bei höheren Säugern und be- sonders beim Menschen haben wir es vorwiegend mit offenen Program- men zu tun.

Wie wirkt

die Umwelt auf die Erbanlage?

Verhaltensgenetiker suchen sich zur Untersuchung der Frage, wie die Umwelt auf die Erbanlage wirkt, ger- ne einfache Merkmale, z. B. die Fellfarbe, und eine einfache Um-

weltvariable, z. B. die Temperatur.

Das Russenkaninchen, eine Albino- mutation, ist weiß und hat schwarze Akren, wenn es in mittlerer Tempe- ratur aufwächst. Die Farbe läßt sich jedoch durch Temperaturmodifika- tion abwandeln. Hält man das Tier in Wärme, wächst das Fell weiß, hält man das Tier in Kälte, wächst das Fell schwarz. Das Gen für Farbbil- dung ist hier im Gegensatz zu ande- ren Albinoformen erhalten; der für den Albinismus verantwortliche mu- tierte Hemmfaktor wird durch Kälte inaktiviert.

Ein wohl für alle Lebewesen wichti- ger Umweltfaktor ist der Wechsel von Tag und Nacht. Man ist geneigt, die Tagesperiodik der Lebewesen, die sich in ihrer Aktivität und in vie- len physiologischen Variablen aus- drückt, für eine Reaktion des Orga- nismus auf die Periodik der Umwelt zu halten. Wenn man aber alle äuße- ren Zeitgeber ausschaltet, läuft die Periodik weiter. Allerdings ist die Periodendauer dann kürzer oder länger. Dies zeigt an, daß die Ursa- che der Periodik nicht in der Um- welt, sondern in endogenen Prozes- sen noch unbekannter Natur zu su- chen ist (Abbildung 6).

Ein Mensch entwickelt unter Ab- schluß von der Umwelt meist eine längere Tagesperiode; in Abbildung 6 sind es 25,2 Stunden. Nach 26 Ta- gen ist dieser Mensch um einen Erd- entag zurück. Setzt man die Ver- suchsperson dem Einfluß künstli- chen Licht-Dunkelwechsels aus, paßt er sich dieser aufgezwungenen Periodik mit seiner Aktivität schnell an; die Körpertemperatur und ande- re vegetative Funktionen folgen

langsamer nach. Die biologische Bedeutung der Periodizität ist bisher eher unterschätzt worden und muß als erblich verankerte phylogene- tische Anpassung an die Zeitstruk- tur unserer Umwelt aufgefaßt wer- den.

Auf Abbildung 7 ist auf einer Zeit- achse die Häufigkeit dargestellt, mit der im Dunkeln aufgezogene Tau- fliegen aus dem Ei schlüpfen. Nor- male Fliegen (oben) schlüpfen zu ei- ner Zeit, die der Dämmerung ent- spricht. Mutanten schlüpfen . ar- rhythmisch zu irgendeiner Tag- und Nachtzeit, andere Mutanten zeigen einen 19- oder 28-Stunden-Zyklus.

Wechselwirkungen von Anlage und Umwelt

An der Tagesperiodik kann man sehr gut demonstrieren, wie die Reize der Umwelt in Wechselwirkung mit der genetisch verankerten Disposition des Lebewesens stehen. Die meisten Wechselwirkungen sind aber kom- plizierterer Art. Allein mit diesem Thema ließen sich Bände füllen (Ka- plan, 1976; Oliverio, 1977). Gerade diese Wechselwirkungen sind es aber, die es besser zu erforschen gilt, um einen an den Tatsachen orientierten Standpunkt in der sich fortsetzenden Diskussion über An- lage und Umwelt einnehmen zu können.

Wir können zwar jetzt schon sagen, daß die meisten Merkmale, seien es Verhaltensmerkmale oder andere, durch eine Interaktion zwischen ge- netischen und Umweltwirkungen zustande kommen, wir wissen aber im einzelnen noch wenig über die Prozesse, die bei dieser Interaktion ablaufen (Ploog, 1969).

Die Komplexität wird an folgendem Beispiel deutlich: Das Balzverhalten und der Brutzyklus der Lachtauben ist zwar genetisch vorprogrammiert, kann aber nur unter ganz bestimm- ten Umweltbedingungen in Erschei- nung treten, die zudem in zeitlicher Folge geordnet sein müssen_ Die Bereitschaft, den ganzen Verhal- tenszyklus zu durchlaufen entsteht

Anlage und Umwelt

Detlev Ploog

Fortsetzung von Heft 11/1979, Seite 725 ff., und Schluß

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 12 vom 22. März 1979 815

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Spektrum der Woche Aufsätze · Notizen Anlage und Umwelt

nur dann, wenn ein Paar zusammen- lebt. Weder legt die Taube allein ein Ei noch beachtet der von der Taube isolierte Täuberich ihm in das Nest gelegte Eier oder Junge. Ist der Brutzyklus weiter fortgeschritten, genügt es für das Weibchen, daß balzende Männchen durch eine Glasscheibe zu sehen. Dieses balzt nur, wenn es das Weibchen sieht. Ist das Männchen jedoch kastriert und balzt infolgedessen nicht, ovulieren die Weibchen nicht und der Brutzy- klus wird unterbrochen. Der Ablauf des Reproduktionsverhaltens hängt also von einem rückgekoppelten Sy- stem von Bedingungen ab (Abbil- dung 8).

Hormone (Östrogen, Progesteron und später Prolaktin) wirken auf das Verhalten, und äußere Reize, näm- lich die von den Tieren selbst ausge- henden, wirken zurück auf die Hor- monsekretion beider Partner. Außer- dem wird der ganze Ablauf von part- nerunabhängigen Variablen, näm- lich von Temperatur, Licht und vor- handenem oder nicht vorhandenem Nistmaterial geregelt. Die synchroni- sierten Verhaltenszyklen des Paares entstehen also als Folge des Wech-

A

0 12 24 12 24 Uhr

2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Tage

selspiels von exogenen, in diesem Fall vorwiegend visuellen Reizfakto- ren und endogenen Faktoren. Im Hinblick auf die Wechselwirkung zwischen Verhalten und Hormonen liegen durchaus vergleichbare Er- gebnisse an Mäusen, Hamstern, Rat-

ten, Katzen und Affen vor.

Auch der Mensch, bei dem hormon- abhängiges Verhalten in stärkerem Maße auf höherer zentralnervöser Ebene geregelt wird, zeigt unter be- sonderen Lebens- und Erlebansbe- dingungen noch meßbare Zeichen direkter Abhängigkeit der Hormon- produktion von exogenen Faktoren (Pirke et al., 1974).

Ein anonymer Autor (Anon 1970) teilte vor Jahren in der Zeitschrift Nature mit, daß er während mehrfa- cher längerer Isolation von mensch- lichen Anwesen seine tägliche Bart- menge gewogen habe. ln den Tagen vor der geplanten Rückreise zu sei- ner Frau stieg das Gewicht der Bart- menge jeweils signifikant an. Beim Menschen genügt also bereits die Vorstellung oder Erwartung, um ei- nen Einfluß auf die Disposition des Organismus zu gewinnen.

0 6 12 18 24 6 Zeit (Std.)

Abbildung 6: A und 8. Zirkadiane Periodik des Menschen. (A) Freilaufende zirkadiane Periodik einer im Bunker ohne Zeitinformation lebenden Versuchs- person. Schwarze Balken: Aktivitätszeiten: offene Balken: Ruhezeiten; Drei- ecke: Extremader Rektaltemperatur (Maxima über. Minima unter den Balken).

(B) Aktivitätsperiodik einer Versuchsperson im Bunker unter dem Einfluß

künstlichen Licht-Dunkel-Wechsels als Zeitgeber: Horizontale Linien: Aktivi- tätszeiten: weiße Flächen: Licht; schraffierte Flächen: Dunkel (aus Schmidt und Thews nach Aschoff 1969)

816 Heft 12 vom 22. März 1979

DEUTSCHES ARZTEBLATT

Einwirkungen

der psychosozialen Umwelt auf das Verhalten

Von allen Einwirkungen der Umwelt auf das Verhalten gesellig lebender Arten, insbesondere der subhuma- nen Primaten und des Menschen, scheinen psychosoziale Faktoren den größten Einfluß zu haben und dies in besonderem Maße während der Kindheit und Jugend. Auch hier müssen wenige Beispiele für ein sich rasch ansammelndes Wissen stehen (Pioog, 1975).

Um diesen Umwelteinfluß abschät- zen zu lernen, haben verschiedene Forscher, unter anderem Harlow und Mason, schon seit den fünfziger Jahren Isolations- und Deprivations- versuche mit Affenkindern gemacht.

Angeregt wurden sie von Rene Spitz, der bei Heimkindern einen schweren Rückstand in der Entwick- lung und im sozialen Verhalten be- schrieben hatte, und durch John Bowlby, der drei Phasen der Tren- nung von Mutter und Kind beschrie- ben hatte:

..". Die Protestphase, in der das Kind unruhig ist und mit vielem Weinen nach der Mutter sucht;

..". die Verzweiflungsphase, in der das Kind sich apathisch zurückzieht;

..". die Phase des "Detachment", in der das Kind- wenigstens zunächst - die wieder mit ihm vereinigte Mut- ter ablehnt.

Die Kind-Mutter-Trennungen bei Rhesusäffchen führen in ganz ana- loger Weise über eine Protestphase zur Verzweiflungsphase. Die Kinder sitzen in sich zusammengekrümmt, den Kopf zwischen den Beinen, sich selbst bekauend, kaum Notiz von ih- rer Umgebung nehmend. Ausprä- gung und Dauer der Verhaltensstö- rung hängen in voraussagbarerWei- se von einzelnen experimentellen Bedingungen ab, vor allem vom Le- bensalter, in dem die Trennung von Mutter und Spielgefährten stattfin- det, und von der Dauer der Isolation.

Äffchen, die während ihres ersten Lebensjahres 6 bis 12 Monate iso- liert waren, bleiben in ihrem Sozial-

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NUMBER OF FLIES EMERGING (PER HOUR)

2 TIME (DAYS)

0 3

Abbildung 7: Die „Biologische Uhr - bestimmt die Periodizität. mit der die Taufliegen aus ihren Eiern schlüpfen. Dieses Verhalten ist genetisch determi- niert (Benzer. 1973)

20

10

io

ARRHYTHMIC MUTANT

0

130 SHORT-PERIOD MUTANT

20

LONG•PERIOD MUTANT 0

40

30

20

10 0 40

Spektrum der Woche Aufsätze •Notizen

Anlage und Umwelt

verhalten schwer gestört und lernen nicht mehr, mit ihresgleichen umzu- gehen, wenn nicht besondere, erst kürzlich ausprobierte soziothera- peutische Maßnahmen stattfinden.

Wie stark sich auch häufige, kurze Trennungen auswirken können, konnte an drei Monate alten Äffchen gezeigt werden, die jeweils für vier Tage von ihrem nächsten Spielge- fährten getrennt und dann wieder für drei Tage zusammengebracht wurden.

Wiederholt man diese Prozedur 20mal über eine Sechsmonatsperi- ode, so erhält man ein sehr über- raschendes Ergebnis, nämlich einen nahezu vollständigen Stillstand der Verhaltensentwicklung (Suomi et al., 1970). Bei diesen Extremver- änderungen der sozialen Umwelt kommen Anlagefaktoren kaum her- aus.

Die Verhaltensreaktionen bei den Affenkindern sind stereotyp und ein- heitlich. Doch schon bei den Beob- achtungen von Spitz war aufgefal- len, daß es offenbar große individu- elle Unterschiede in der Reaktion auf die gleiche Situation gibt. Nur etwa 15 Prozent der Heimkinder zei- gen das Syndrom der anaklitischen Depression, wie Spitz es nannte.

Am Beispiel von zwei eng verwand- ten Makakenarten kann man zeigen, daß verhältnismäßig geringe, gene- tisch determinierte Differenzen in der Sozialstruktur und im Mutter- Kind-Verhalten zu deutlich verschie- denen Ergebnissen der Separations- versuche führen. Hutaffen hocken mehr hautnah beieinander, während Schweinsaffen seltener Körperkon- takte und eine größere individuelle Distanz zueinander haben. Die Müt- ter beider Arten widmen den Kin- dern dieselbe intensive Pflege und Aufmerksamkeit, aber die Hutaffen- Mutter tut dies im engsten Kontakt mit anderen Gruppenmitgliedern, während sich die Schweinsaffen- Mutter dabei relativ isoliert hält.

Dieser Artenunterschied machte sich bei Trennungsexperimenten, in denen den Kindern die Mütter fort-

genommen wurden, dramatisch be- merkbar. Die Hutaffenkinder wurden von allen Seiten bemuttert und von einer sogenannten Tante angenom- men, während die Schweinsaffen- kinder sich selbst überlassen blie- ben und nicht selten davongejagt wurden. Die Schweinsaffen entwik- kelten ein schweres Deprivations- syndrom wie die Rhesusaffenkinder;

die Hutäffchen waren eine Weile er- regt und jammerten, zeigten aber weiter Interesse an ihrer unbelebten und sozialen Umgebung (Kaufman, 1973).

Die Disposition

zu psychischen Störungen

Zweifellos reagieren auch die Men- schen mit ihren verschiedenartigen Anlagen unterschiedlich auf ihre Umgebung, insbesgndere auf psy- chosoziale Situationen.

Da psychische Eigenschaften und die zugehörigen Verhaltensweisen der Kommunikation und der Ausein- andersetzung des Individuums mit der Umwelt dienen, entwickeln sie sich in besonders enger Wechselbe-

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 12 vom 22. März 1979 817

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Externe Reize

Partner 1 Partner 2

Hormone

Verhalten Hormone

I Verhalten

1

Abbildung 8: Schematische Darstellung der regulativen Wechselwirkungen während des Fortpflanzungsverhaltens. Hormone wirken auf das Verhalten und sind selbst wiederum beeinflußt durch das Verhalten und passende externe Reize. Das Verhalten jedes Partners wirkt auf Hormone und Verhalten seines Gegenspielers zurück (nach D. S. Lehrman in Ploog 1969)

Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen

Anlage und Umwelt

ziehung mit eben dieser Umwelt. Sie stellen das Endresultat zahlreicher Reaktionen und Gegenreaktionen dar, sind also gewissermaßen gen- fern und umweltlabil (Zerbin-Rüdin, 1974). Um Anlage- und Umweltfak- toren bei psychischen Störungen besser abschätzen zu können, be- dient man sich der Zwillingsfor- schung und anderer Methoden der Familienforschung. An gesunden erbgleichen, das heißt eineiigen Zwillingen (EZ) läßt sich zeigen, daß bei der Formung der Persönlichkeit auch nichterbliche Einflüsse betei- ligt sind. Sie können gelegentlich im Laufe ihres Lebens recht verschie- dene Persönlichkeiten und unter- schiedliche Einstellungen entwik- keln. Dennoch sind sich EZ ähnli- cher als es Geschwister untereinan- der sind.

Wenn man von Konkordanz oder Diskordanz spricht, meint man Gra- de der Übereinstimmung bzw. Nicht- übereinstimmung in bestimmten Merkmalen des Körpers, des Verhal- tens und seelischer Eigenschaften.

Handelt es sich um psychische Stö- rungen, ist die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung in be- zug auf die Störung gemeint. So ha- ben sehr sorgfältige englische Un- tersuchungen ergeben, daß bei der Angstneurose EZ zu 41 Prozent kon- kordant sind, zweieiige Zwilinge (ZZ)

aber nur zu 4 Prozent. Für die übri- gen Neurosen, besonders die de- pressiven, ist die Konkordanz weit niedriger und für EZ und ZZ prak- tisch gleich. In England und Däne- mark machte man 53 EZ ausfindig, die im frühesten Kindesalter ge- trennt worden waren. Sehr oft ent- wickelten sich die Zwillinge trotz ex- trem verschiedener Umwelt erstaun- lich gleichartig, insbesondere in be- zug. auf nervöse Symptome, Angst- zustände, depressive Verstimmun- gen usw. (Zerbin-Rüdin, 1974).

Von den endogenen Psychosen will ich hier die Schizophrenie als Bei- spiel bringen. Acht von 1000 Men- schen erkranken daran. Ein großer Teil psychiatrischer Forschung ist auf diese geheimnisumwitterte Er- krankung gerichtet. Sie stellt uns vor eines der größten ärztlichen Proble- me. Gleichzeitig gibt es aber auch nur wenige Gebiete der Medizin, in denen solche therapeutischen Fort- schritte erzielt worden sind wie bei der Behandlung dieser Krankheit.

In sehr gründlich angelegten Unter- suchungen aus Dänemark, USA und Island an Kindern schizophrener El- tern, die bald nach der Geburt zur Adoption fortgegeben wurden, konnte man zeigen, daß die in frem- de Familien adoptierten Kinder spä- ter ungefähr ebenso häufig an Schi-

zophrenie erkrankten wie die zu Hause bei den schizophrenen Eltern aufgezogenen Kinder, nämlich zu , etwa 16 Prozent.

In Tabelle 1 ist das Erkrankungsrisi- ko für die Verwandten von Schizo- phrenen aus den wichtigsten Unter- suchungen dargestellt. Die Kinder zweier schizophrener Eltern und die EZ haben das größte Erkrankungsri- siko (Zerbin-Rüdin, 1974). Bei EZ — auch bei getrennt aufgewachsenen

— rechnet man, ein genügend hohes Alter vorausgesetzt, mit über 50 Pro- zent Konkordanz. Und eben hier er- hebt sich wieder die Frage, welche Umweltfaktoren zur Manifestation der Krankheit beitragen Trotz vieler Untersuchungen und Hypothesen weiß man darüber nichts Verläßli- ches. Jeder Arzt sollte aber wissen, daß die erfolgreiche Behandlung ei- ner Schizophrenie von der Frühbe- handlung abhängig ist und daß da- bei von Anfang an nicht nur die me- dikamentöse Einstellung, sondern auch die psychosoziale Umwelt des Patienten beachtet und gegebenen- falls modifiziert werden muß. Die Einstellung, daß man einem schizo- phrenen Patienten kaum helfen kön- ne, weil er erbkrank sei, ist leider fast ebenso häufig verbreitet wie die Meinung, daß die soziale Umwelt die Krankheit verursache. Beide Vor- stellungen sind falsch. Niemand würde einen solchen Dualismus für den Diabeteskranken gelten lassen, obwohl das Anlage-Umwelt-Pro- blem hier in vieler Hinsicht ähnlich gelagert ist.

Diskussion

Diesen Beispielen sollen abschlie- ßende Überlegungen zum Anlage- Umwelt-Problem folgen, die, so fragmentarisch sie hier sein müssen, doch den Standort bestimmen sol- len, von dem man bei Berücksichti- gung des gesicherten Wissens aus- zugehen hat. Als Psychiater liegt es mir nahe, mich mit solchen Theorien auseinanderzusetzen, die sich im Rahmen psychischer Störungen mit dem Anlage-Umwelt-Problem befaßt haben. Gehen wir dabei von der Mutter-Kind-Beziehung aus. Theo-

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Anlage und Umwelt

rien über das Anlage-Umwelt-Pro- blem nehmen hier ihren Anfang.

Wenn wir von der pränatalen Zeit absehen, in der das Nervensystem des Föten durch Hormone und Bio- gene Amine der Mutter beeinflußt werden kann, ist die Mutter für das Neugeborene die wesentliche Um- welt. In der frühen psychoanalyti- schen Theorie stiften Merkmale der Mutter die ersten Objektbeziehun- gen.

In seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (1905) bezeichnet Freud die Mutterbrust als das erste Liebesobjekt und das Brusttrin- ken als den Prototyp aller späteren _Liebesbeziehungen. Nach einem späteren psychoanalytischen Kon- zept ist das Neugeborene ein „ob- jektloses", undifferenziertes Wesen, das sich selbst nicht von seiner Um- gebung unterscheiden kann. Die er- ste Objektbeziehung ist infolgedes- sen sekundärer Natur. Alles, was die Umwelt bringt, dringt als Erleben in den unerfahrenen Organismus ein.

Diese Ausgangsposition muß man berücksichtigen, wenn man die von der Biologie entfernte und oft sehr weitgehende Umweltgläubigkeit vie- ler Psychoanalytiker verstehen will.

Eine noch radikalere Position nahm die frühe Lerntheorie ein. Danach ist der Organismus eine Tabula rasa und das Verhalten des Organismus in jeder Phase seiner Entwicklung eine Reaktion auf die Umwelt. Nicht wenige Psychologen und Soziolo- gen hängen diesem Konzept auch heute noch an. In den USA ist dar- über erst kürzlich ein heftiger poli- tisch gefärbter Streit unter den Wis- senschaftlern entstanden. In einer späteren Phase der Lerntheorie wur- de dieses Reiz-Reaktionsmodell durch ein Lernen-am-Erfolg-Modell ersetzt. Danach wird die Mutter- Kind-Interaktion als eine Kette sich wechselseitig verstärkender Verhal- tensweisen angesehen. Das Verhal- ten des Kindes wird nicht nur durch verstärkende Verhaltensweisen der Mutter geformt, z. B. durch Zuwen- dung und Liebkosen, sondern auch das mütterliche Verhalten wird durch verstärkende Verhaltenswei- sen des Kindes, z. B. durch Lächeln

und Lautäußerungen, beeinflußt.

Zweifellos ist diese innige Wechsel- beziehung eine wesentliche Bedin- gung für das frühkindliche Lernen und die außerordentliche Plastizität des Verhaltens (Papousek, 1975).

Während also die psychoanalyti- schen Theorien letztlich auf die in- nere Erfahrung zurückgreifen und die Lerntheoretiker den Organismus als zunächst unstrukturierten Reak- tionsapparat auf Umweltreize auf- fassen, fußt die Verhaltensbiologie auf dem Konzept der Interaktion zwischen einem von Geburt an strukturierten Organismus und sei- ner Umwelt, für die er im Laufe der Evolution genetisch vorprogram- miert worden ist.

Die biologischen Grundlagen für diese Anlage-Umwelt-Theorie habe ich zu skizzieren versucht. Auf Grund der außerordentlichen gene- tischen Variabilität des Menschen, die jeden Menschen einmalig macht, ist auch seine Interaktion mit der Umwelt einmalig, und seine Verhal- tensmuster sind verschieden. Diese Verschiedenheit, verbunden mit der großen Plastizität seiner genetisch vorbestimmten Verhaltensmuster,

macht die Freiheit menschlichen Handelns überhaupt erst möglich.

Das moralische Postulat von der Gleichberechtigung aller Menschen bedeutet, genau besehen, die Aner- kennung ihrer Verschiedenheit. Die Forderung nach Gleichheit der Chancen bedeutet die Forderung nach gleichen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Die Wege und Mittel zur Selbstverwirklichung se- hen aber für jeden Menschen ver- schieden aus. Theodosius Dob- zhansky zitiert in seinem Buch „Ver- erbung und Menschenbild" das be- rühmte Motto des marxistischen So- zialismus „Jeder entsprechend sei- ner Fähigkeit" und fügt hinzu, daß es sich für die Demokratie schickt, der Vielfältigkeit der menschlichen Individualitäten nicht weniger Be- achtung zu schenken (S. 128).

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Detlev Ploog Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstraße 2 und 10

8000 München 40

Tabelle: Erkrankungsrisiko an Schizophrenie für die Verwandten von Schizophrenen. Die Zahlen wurden aus den wichtigsten Unter- suchungen zusammengestellt, in Klammern stehen die aus allen Untersuchungen berechneten Mittelwerte (nach Zerbin-Rüdin 1974)

Verwandtschaftsgrad Erkrankungswahrschcinlidikeit zu einem Schizophrenen (Korrigierte Prozentziffern)

Eltern 5-10 (6,3 ± 0,3)

Kinder 9-16 (13,7 ± 1,0)

Geschwister 8-14 (10,4 ± 0,3)

Zweieiige Zwillinge 5-16

Eineiige Zwillinge 20-75

Kinder zweier erkrankter

Eltern 40-68

Vettern und Basen 2— 4 (3,5 ± 0,4)

Neffen und Nichten 1— 4 (2,6 ± 0,3)

Enkel

2— 8 (3,5 ± 0,7)

Durchschnitt

0,85

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