• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Ehemalige Sowjetrepubliken: Lepra – eine Krankheit der Gegenwart" (06.09.2002)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Ehemalige Sowjetrepubliken: Lepra – eine Krankheit der Gegenwart" (06.09.2002)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 366. September 2002 AA2315

D

ie Lepra ist nur schwer mit anderen Krankheiten zu vergleichen. Sie versetzt die Menschen seit Jahrhun- derten in Angst und Schrecken und zwingt die Ärzte wegen der Vielfalt ihrer klinischen Erscheinungen, ihrer ausge- dehnten, sich über Jahrzehnte er- streckenden Inkubationszeit sowie ihrer therapeutischen Probleme zu einer in- tensiven Auseinandersetzung.

Lepra in der Vergangenheit bedeutete Aussatz. „Leprosi cum sanis habitare non possunt“, lautete der Beschluss des III.

Laterankonzils aus dem Jahre 1179. So wurden die Kranken zwangsweise in Le- prosenhäuser eingewiesen, um dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Im 12.

Jahrhundert gab es in Europa rund 19 000 Leprosorien. Auch in unseren Breiten war die Durchseuchung mit der Lepra so stark, dass in fast jeder Stadt ei- ne solche Einrichtung gegründet wurde.

Erst im Spätmittelalter setzte ein Rück- gang der Lepra ein. Entscheidend hierfür waren neben einer strengen Isolation die Pestepidemien zwischen 1350 und 1450, deutlich verbesserte hygienische Bedin- gungen sowie eine bessere Ernährung.

Heute lautet die Erkenntnis: „Lepro- sy is curable.“ Sie gilt, seit die Weltge- sundheitsorganisation (WHO) 1984 die Krankheit als heilbar erklärte. Die Kran- ken werden abhängig vom quantitativen Vorkommen des mycobacterium leprae in zwei Gruppen geteilt: die bakterienrei-

che multibazilläre (MB) und die bakteri- enarme paucibazilläre Form (PB). Die Therapie folgt dem Schema der WHO mit dem Blister MB oder PB. Nach zwölf- bis 18-monatiger Kombinationstherapie gelten die Betroffenen als gesund.

Angst vor Ansteckung

Auch das Stigma der Lepra kann heute durch Aufklärung gemildert, Körper- schäden können mit der Wiederherstel- lungschirurgie weitgehend rehabilitiert und eine drohende Invalidität im Rah- men einer sekundären Prävention kann verhindert werden. Damit sind wir in der Lage, den ursprünglich verachteten und ausgegrenzten Leprakranken zu einem selbstständigen und würdigen Leben zu verhelfen.

In den Staaten der ehemaligen Sowjet- union existieren jedoch nach wie vor Ein- richtungen für Leprakranke, wie sie in Europa aus der Vergangenheit bekannt sind. Zurzeit gibt es dort 13 Leprosorien,

davon zwölf streng isoliert, fernab der Zi- vilisation. Die Zahl der Leprakranken beläuft sich – einschließlich der wenigen ambulant behandelten Patienten – auf rund 3 000. Das Stigma der Lepra ist außerordentlich ausgeprägt. Seit Jahr- hunderten hat sich daran nichts geändert.

Grund dafür ist die hohe Zahl der so ge- nannten ausgebrannten Fälle – das sind die Patienten, die im Laufe ihres chroni- schen Leidens grausam entstellt wurden.

Gesichtsdeformitäten,Verstümmelungen und Verkrüppelungen der Extremitäten wirken auf den Betrachter furchterre- gend. Die Ursache für die hohe Invali- ditätsrate unter den Kranken in den Le- prosorien der ehemaligen Sowjetunion dürfte die fehlende, unvollständige oder intermittierende Behandlung sein.

Die Angst vor Ansteckung bewirkte damals wie heute die Abschottung der Leprakranken. Indem der Kontakt zu den Gesunden unterbunden wird, unter- bricht man die Infektionskette – eine Methode zur Bekämpfung der Lepra, die vor Einführung der Chemotherapie welt-

Ehemalige Sowjetrepubliken

Lepra – eine Krankheit der Gegenwart

Die jahrhundertealte Geißel der Menschheit fordert nach wie vor ihre Opfer. Isoliert leben viele Kranke in der ehemaligen Sowjetunion auch heute noch in Leprosorien.

Leprosorium Aserbeidschan: Isoliert von der Außenwelt

Im Leprosorium Terski, Kaukasus

Fotos:Romana Drabik

(2)

weit praktiziert wurde. Beim Besuch der Kranken im Leprosorium Hodscha in Turkmenistan gab mir der Chefleprologe des Landes strenge Anweisungen: „Die Berührung der Leprakranken ist nur in Ausnahmefällen bei der Untersuchung gestattet. Bei der Begrüßung die Hand zu reichen ist verboten.“ Aus Angst vor An- steckung wird auch der Leprologe von Ärzten anderer Fachgruppen gemieden.

Das Leprosorium Hodscha ist ein ab- schreckendes Beispiel für strenge Isolati- on. Es liegt fernab der Zivilisation in den Bergen – im Niemandsland zwischen Turkmenistan und dem Iran. Sogar der dort tätige Leprologe benötigt eine Ge- nehmigung des Innenministeriums in Aschchabad, um das Leprosorium zu betreten.

Völlig isoliert von der Außenwelt le- ben auch die Patienten des Leprosoriums Umbaki in Aserbaidschan. Noch in den 50er-Jahren durften sie sich in der Haut- klinik der Hauptstadt Baku behandeln lassen. Aus Furcht vor An-

steckung verbannte man die Kranken später in die Wüste.

25 Prozent aller Lepra- kranken der ehemaligen So- wjetunion leben in Kasach- stan. In den Gebieten um den Aralsee tritt die Erkrankung endemisch auf. Südöstlich des Aralsees am Fluss Syrdarja befindet sich das Kas-Lepro- sorium. Es wurde als Zweig- stelle des Leprazentrums in Astrachan eingerichtet. Es gibt für die Patienten in Ka-

sachstan jedoch zusätzlich die Möglich- keit, sich in vier weiteren Einrichtungen ambulant behandeln zu lassen.

Die Leprakranken in Usbekistan sind im Krantau-Leprosorium am Fluss Amu- darja, südlich des Aralsees, und im Bach- mal-Leprosorium bei Samarkand unter- gebracht. Die ambulanten Patienten werden in drei Ambulatorien behandelt.

In Nukus, der Hauptstadt der autonomen Republik Karakalpakstan, befindet sich ein Forschungsinstitut für Lepra, das schon zu Zeiten der Sowjetunion gegrün- det wurde. Strenge Isolation gilt für die Leprakranken in Tadschikistan.Sie sind – rund 500 Kilometer vom Lepra-Ende- miegebiet Pamir entfernt – im Leprosori- um Hanaka untergebracht, das in den 60er-Jahren errichtet wurde.

Auch in den europäischen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion gibt es nach wie vor Leprosorien. So leben die Lepra- kranken in der Ukraine im Leprosorium Kutschurgan, an der Grenze zu Moldawi- en. Zu Zeiten der Sowjetunion waren die Leprakranken beider Länder dort unter- gebracht. In Kutschurgan stellte man uns bei der Ankunft sofort die Frage: „Wie haben Sie uns gefunden? Wir haben doch alles über die Leprakranken streng ge- heim gehalten.“

Schlechte Versorgung

In den Baltischen Staaten existierten ur- sprünglich drei Leprosorien. Das be- kannteste im litauischen Klaipeda wurde bereits 1941 geschlossen. Die Leprakran- ken verteilte man damals auf das Lepro- sorium Talsi in Lettland und das Lepro- sorium Kuuda in Estland. Beide Einrich- tungen gibt es noch heute.

In Russland existieren zurzeit vier Le- prosorien: das Leprosorium Sielonaja Dubrawka in Siergiev Posad bei Moskau und das Leprazentrum in Astrachan. Als einzige Einrichtung liegt es mitten in der Stadt. Es dient als zentrale Anlaufstelle für die Diagnostik und die Therapie der Lepra in Russland. Zwei weitere Lepro- sorien befinden sich im Nordkaukasus:

das Abinski-Leprosorium und das Terski- Leprosorium. Weil Letzteres nahe der russisch-tschetschenischen Grenze liegt, können dort auch Patienten aus den be- nachbarten Ländern Armenien, Georgi- en, Aserbaidschan und aus den zentral-

asiatischen Ländern betreut werden. Bis zu meinem Besuch wurden die Lepra- kranken in den meisten Gebieten mit Dapsone behandelt, einer Monothera- pie, die eine lebenslange Behandlung er- forderlich machte und die wegen ihrer hohen Resistenzrate schon in den 70er- Jahren von der WHO verworfen und durch eine Kombinationstherapie ersetzt wurde. Nur in Russland, Kasachstan und den Baltischen Staaten wurde bereits ei- ne modifizierte Kombinationstherapie praktiziert. Abgesehen vom Leprazen- trum in Astrachan, gab es weder Rehabi- litation noch Aufklärungsarbeit. Unter- suchungen von Kontaktpersonen wur- den zuletzt zur Zeit der Sowjetunion durchgeführt, danach aus wirtschaftli- chen Gründen eingestellt.

Das Leben der Leprakranken in strenger Isolation gleicht einem Dahin- vegetieren. Die Patienten sind sich der Folgen ihrer Krankheit, ihrer grausamen Invalidität bewusst. Je strenger die Isola- tion ist, desto depressiver wir- ken sie. Die älteren Patienten, die seit Jahrzehnten unter sol- chen Umständen leben, sehen aber auch Vorteile. Da sie aus ihren Familien ausgestoßen wurden, bliebe ihnen bei fort- geschrittener Invalidität nur die Möglichkeit, durch Betteln ihren Lebensunterhalt zu be- streiten. Das Leprosorium hin- gegen bietet ihnen Unterkunft und eine, wenn auch nur not- dürftige Versorgung. Vom Staat erhalten sie eine kleine Rente, die für ein paar Scheiben Brot reicht. Alle Leprosorien in der ehemali- gen Sowjetunion werden staatlich finan- ziert. Die enormen wirtschaftlichen Pro- bleme der Nachfolgestaaten spiegeln sich von daher in der schlechten Versor- gung der Kranken wider. Ein Beispiel:

Im Gespräch mit dem Gesundheitsmini- ster eines der europäischen Länder ba- ten wir um die schriftliche Genehmi- gung, das dortige Leprosorium besuchen zu dürfen. Seine Antwort: „In meinem Land gibt es keine Lepra.“ Auf unsere Bitte hin wählte er die Telefonnummer der Einrichtung und nahm erstaunt wahr, dass sich das Leprosorium melde- te. „Ich wusste nicht, dass bei uns die Le- pra vorkommt. Aber bei so großen wirt- schaftlichen Problemen muss man ver- T H E M E N D E R Z E I T

A

A2316 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 366. September 2002

Vor dem Wohnhaus der Kranken im Leprosori- um Hodscha in Turkmenistan trifft sich Roma- na Drabik mit Patienten. Es liegt fernab der Zivilisation in den Bergen.

(3)

stehen, dass wir uns mit dieser Seuche nicht befassen können“, lautete sein Fa- zit. Es war nicht einfach, den Weg zu den Leprakranken zu finden. Eine Anfrage an die WHO über das Vorkommen der Erkrankung in der ehemaligen Sowjet- union lieferte nur dürftige Antworten.

Nur persönliche Kontakte und der zufäl- lige Fund einer Liste aller Leprosorien aus der Zeit der Sowjetunion mit den da- zugehörigen Leprologen ermöglichten es, zwischen 1990 und 1999 alle 13 Le- prosorien zu besuchen, die Patienten mit Medikamenten zu versorgen und die Le- prologen mit den aktuellen therapeuti- schen Methoden bekannt zu machen.

Fortbildung der Leprologen

Seit 1994 hat sich eine Zusammenarbeit mit dem Deutschen Aussätzigen-Hilfs- werk entwickelt, das in der Folge die kon- tinuierliche Fortbildung der Leprologen übernommen hat. Im Herbst 1999 orga- nisierte das Hilfswerk in Almaty, Kasach- stan, eine Lepra-Konferenz. Mit den be- troffenen Staaten wurde eine zunächst auf fünf Jahre befristete Zusammenar- beit vereinbart, um die Lepra strategisch zu bekämpfen. Im Vordergrund steht da- bei die medikamentöse Versorgung der Kranken, deren Rehabilitation, die Prävention fortschreitender Deformie- rungen und die Untersuchung der Kon- taktpersonen. Damit konnte die Elimi- nation der Lepra in diesen bisher unzu- gänglichen Ländern eingeleitet werden.

Aufgrund verbesserter Therapiesche- mata geht die Zahl der Leprakranken weltweit zurück. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Krankheit längst nicht ausgerottet ist.

Jährlich werden mehr als 500 000 neue Leprafälle diagnostiziert. Die Gründe:

Lepra ist eine Krankheit der Armut.

Mangelnde Hygiene, Unterernährung, schlechte körperliche Verfassung, Im- munschwäche begünstigen ihren Aus- bruch. Der Kampf gegen die Lepra darf sich außerdem nicht auf medizinische Hilfe beschränken. Den Geheilten sollte durch soziale Hilfen die Rückkehr in die Gesellschaft geebnet werden.

Dr. med. Romana Drabik Augustastraße 48 46537 Dinslaken

T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 366. September 2002 AA2317

U

m die Wirtschaftlichkeit und Effi- zienz medizinischer Maßnahmen bewerten zu können, wurden ver- schiedene Berechnungsmodelle ent- wickelt. Teilweise wurden sie aus den Wirtschaftswissenschaften übernom- men. Gemeinsam ist diesen Modellen, dass neben den Kosten der medizini- schen Behandlung, die sich – von gewis- sen Schwierigkeiten und Einschränkun- gen abgesehen – noch relativ genau er- fassen lassen, auch das medizinische Er- gebnis bewertet wird. Je nach Modell- ansatz wird dabei unterschiedlich stark abstrahiert, im Extremfall der Kosten- Nutzen-Analyse bis hin zu einer aus- schließlich monetären Bewertung von Krankheit, Behinderung und Tod. Mitt- lerweile gibt es zahlreiche Modifikatio- nen und eine nur noch schwer zu über- schauende Zahl an praktischen Anwen- dungen.

Medizinökonomische Analysen unverzichtbar

Zunehmend bewerben auch Pharma- hersteller ihre Medikamente mithilfe von solchen Kostenanalysen. Aber auch der Gesetzgeber und die Lei- stungsträger konfrontieren die Ärzte immer öfter mit Ergebnissen medizin- ökonomischer Untersuchungen. Ange- sichts dieser Entwicklungen ist es mehr denn je erforderlich, dass auch sie sich in die Grundbegriffe der Medizinöko- nomie einarbeiten. Ein besonderes Problem bei der kritischen Analyse dieser Arbeiten besteht darin, dass man einerseits Fachkompetenz auf dem me- dizinischen Sektor aufweisen muss, an-

dererseits zugleich fundierte Kenntnis- se im wirtschaftswissenschaftlichen Be- reich benötigt. Entsprechend schwierig gestaltet sich das Planen, Durchführen und Abfassen einer medizinökonomi- schen Arbeit sowie die Interpretation und Umsetzung auf die praktischen Gegebenheiten. Dass dabei stets eine kritische Betrachtungsweise der vor- liegenden Untersuchungen erforder- lich ist, machen zwei Übersichtsarbei- ten deutlich, die im Abstand von acht Jahren speziell die Methodik und die statistische Auswertung medizinöko- nomischer Analysen untersucht hatten (3, 6). Diese Überprüfung kam zu ei- nem ernüchternden Ergebnis: Nur die wenigsten Arbeiten waren methodisch einwandfrei. Am häufigsten wurde bemängelt, dass die Studien zu wenig statistische Aussagekraft aufwiesen und vorwiegend Ersatzendpunkte un- tersucht wurden. Bei einer Studie, die zum Beispiel den Einfluss eines Medi- kaments auf die Miktionsbeschwerden bei benigner Prostatahyperplasie un- tersucht, sollten weniger die Urin- Flusskurven Hauptzielgröße der Un- tersuchung sein als vielmehr die Le- bensqualität der betroffenen Männer oder die Rate der chirurgischen Inter- ventionen in der Folgezeit. Publikatio- nen in den Journalen operativer Fächer schnitten deutlich schlechter ab als all- gemeinmedizinisch-internistische Ver- öffentlichungen. In diesem Zusammen- hang sei auf die Empfehlungen einer deutschen Konsensuskonferenz hinge- wiesen, die methodische Mindeststan- dards für die Planung und Auswertung von medizinökonomischen Studien auf-

gestellt hat (2).

Gesundheitsökonomie

Der Arzt unter

zunehmendem Kostendruck

Die Reform-Gesetzgebung im Gesundheitswesen und Effizienzanalysen begrenzen den Einsatzradius der Medizin.

Leopold Eberhart, Michael Schmude, Götz Geldner

(4)

Die häufig anzutreffenden methodi- schen Probleme bei Ökonomie-Analy- sen dürfen aber nicht darüber hinweg- täuschen, dass diese Studien in Zukunft zunehmend die tägliche Arbeit des Arz- tes beeinflussen werden. Schon jetzt de- finiert die „Gesetzliche Regelung zur Krankenhausfinanzierung“ die medizi- nische Versorgung im Krankenhaus wie folgt: „die Heilung und Linderung von Krankheiten in Form einer qualitativ optimalen Versorgung der Bevölkerung (. . .) und die Einhaltung betriebswirt- schaftlicher Vorgaben“. Aufgrund des zunehmenden Kostendrucks, hoher Altersdichte und potenziell noch gerin- ger werdender Einnahmen wird die Gewichtung zunehmend auf die Seite der „betriebswirtschaftlichen Vorgaben“

verschoben und die Versorgung einem

„gesundheitsökonomischen Imperativ“

untergeordnet. Das in § 12 SGB V ange- ordnete Wirtschaftlichkeitsgebot stützt sich auf drei rechtlich wie inhaltlich un- bestimmte Begriffe für die erbrachte Leistung. Diese muss „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ sein.

„Ausreichend“ definiert die Minimal- grenze der medizinischen Versorgung,

„zweckmäßig“ meint indikationsge- rechte, zielgerichtete Therapie, und

„wirtschaftlich“ wird interpretiert als kostengünstigste Variante mehrerer zur Verfügung stehenden Verfahren. Vom Gesetzgeber wird so ökonomisches Handeln vorgeschrieben, ohne jedoch konkrete Definitionen und Vorgaben für den Wirtschaftlichkeitsbegriff zu ge- ben. So sind es dann die Ärzte selbst, die sich zum „Buhmann der Nation“ ma- chen lassen müssen, wenn sie die Er- gebnisse medizinökonomischer Analy- sen so, wie politisch gewollt, in die Praxis umsetzen.

Auffällig ist, dass die Aufstellung mehr oder weniger radikaler Kosten- Nutzen-Modelle im Zuge des wachsen- den Kostendrucks überwiegend im englischsprachigen Raum, meist direkt in Großbritannien stattfand. Insbeson- dere die Gewichtung des medizini- schen Resultats, also die Umrechnung von Gesundheit und Wohlbefinden in

„monetäre“ Einheiten, wurde dort von den großen Versicherungsgesellschaf- ten durchgeführt, bevor diese Modelle in den „kontinentalen“ Ländern über- haupt diskutiert wurden. Auch der Na-

tional Health Service (NHS) ist feder- führend bei der Etablierung von Thera- pieverfahren unter dem Vorzeichen solcher gesundheitsökonomischer Vor- gaben.

Kosten-Nutzwert-Analyse

Eine kürzlich unter dem Dach des NHS gegründete Institution, das „National In- stitute for Clinical Excellence“ (NICE), hat für England und Wales die Aufgabe, anhand publizierter Daten eine Kosten- Nutzwert-Analyse für bestehende, be- sonders aber auch für neue Therapie- konzepte zu erstellen und darauf auf- bauend der NHS die Finanzierung die- ser Behandlungen zu empfehlen oder sie abzulehnen.

In einer Publikation wird die Arbeit dieser Institution zusammengefasst (4).

Demnach wurden von 22 evaluierten Behandlungsverfahren 19 akzeptiert und drei zurückgewiesen. Dazu ge- hören das Entfernen von Weisheitszäh- nen ohne Pathologien, laparoskopische Operationstechniken bei der Chirurgie kolorektaler Karzinome und die auto- loge Knorpeltransplantation ins Knie- gelenk. Innerhalb der letzten beiden Jahre wurde eine Entscheidung auf- grund neuer Daten revidiert. Dabei handelt es sich um das Medikament Zanamivir zur Behandlung der Influ- enza, dessen Einsatz ursprünglich ab- gelehnt worden war, später unter be- stimmten Auflagen allerdings akzep- tiert wurde. Diese sind zurzeit dann ge- geben, wenn es sich um „Erwachsene mit hohem Risiko handelt“ und gleich- zeitig „die Zahl der Konsultationen wegen Influenza 50 pro Woche und 100 000 Einwohner überschreitet“.

Bürokratische „Leitlinien“ dieser Art sowie die gesamte Arbeit von NICE werden seit der Gründung der Organi- sation lebhaft kritisiert.

Medizintourismus

Während sich die konsequente Anwen- dung restriktiver Gesundheitsmodelle in Großbritannien (lange Wartezeiten für elektive Eingriffe oder Altersbe- schränkungen für Transplantationen) ökonomisch positiv auswirkt, wird die

Kehrseite dieses Vorgehens durch aus- gedehnten „Medizintourismus“ nach Deutschland oder in die Niederlande ausgedrückt. In Deutschland fördert die staatliche Steuerung mit „gedeckel- ten“ Jahresetats, Fallpauschalen und Sonderentgelten eher eine Entwick- lung hin zu Kosten-Wirksamkeits-Ana- lysen, in denen „gerade noch vertretba- re Qualitätsverluste bei einem kosten- günstigen Verfahren gesucht werden.

Mit der baldigen Einführung der Diag- nosis Related Groups (DRGs) wird dieses Verfahren durch ein direktes

„Kosten-Nutzen“-Modell abgelöst, bei dem eine direkte monetäre Beziehung zwischen Krankheitsbild und Kosten hergestellt wird (1). Dies ist zwar „ein- facher“ zu berechnen, ethisch aber be- denklicher, weil in diesem „starren“ Sy- stem Abweichungen häufig nur durch qualitative Einschränkungen möglich sind. Zusätzliche Kontrollen im Sinne eines „Qualitäts-Managements“ auf- seiten der Leistungserbringer wie auch bei den Leistungszahlern sind notwen- dig und schmälern den „Einsparungs- effekt“. Es bleibt abzuwarten, ob sich das Gesundheitssystem nach erfolgter Umstrukturierung dem „englischen Patienten“ annähert.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2002; 99: A 2317–2318 [Heft 36]

Literatur

1. Bauer M, Bach A: Gesetzliche Regelungen zur Kranken- hausfinanzierung. Anaesthesist 1999; 48: 417–427.

2. Hannoveraner Konsens Gruppe: Deutsche Empfehlun- gen zur gesundheitsökonomischen Evaluation. DMW 1999; 124: 1509–1506.

3. Hill SR, Mitchell AS, Henry DA: Problems with the in- terpretation of pharmacoeconomic analyses. A review of submissions to the Australian Pharmaceutical Be- nefits Scheme. JAMA 2000; 283: 2115–2121.

4. Raftery J: NICE: faster access to modern treatments?

Analysis of guidance on health technologies. Br Med J 2001; 323: 1300–1303.

5. Smith R: The failings of NICE. Br Med J 2000; 321:

1363–1364.

6. Udvarhelyi IS, Colditz GA, Rai A, Epstein AM: Cost-ef- fectiveness and cost-benefit analyses in the medical literature. Are the methods being used correctly? Ann Intern Med 1992; 116: 238–244.

Anschrift für die Verfasser:

Priv.-Doz. Dr. med. Götz Geldner Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin Philipps-Universität Marburg

Baldingerstraße 1 35033 Marburg

E-Mail: geldner@mailer.uni-marburg.de T H E M E N D E R Z E I T

A

A2318 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 366. September 2002

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Die aufgezeigten polaren Formen verhalten sich stabil, nie wird aus einer leprösen Form eine tuberku- loide, allerdings kann (selten) aus einer tuberkuloiden eine lepröse

uf den ersten Blick wirkte es wie eine Reminiszenz an die Zeiten der Sowjetunion: Im Herbst letzten Jahres versammelten sich in der kasachischen Hauptstadt Almaty

dung zu produciren vermögen, denn diese kann ohne das Vorhandensein von Gefässen nicht zu Stande kommen, die normale Intima ist aber nicht vascnlarisirt. Nur Hand in Hand

rakter von Lepraheerden beilegen mußte. Als solche Lepra- Heerde ließen sich zunächst die westlich vom Wirzjärw belege- nen Kirchspiele Saara, Tarwast und

Christa Roth-Sacken- heim, Berufsverband Deutscher Psychiater, für den ambulanten Be- reich an: „Viele Ärzte wissen nicht, was Psychosomatiker und Psychiater machen und

Marlowe SN, Hawksworth RA, Butlin CR, Nicholls PG, Lockwood DN: Clinical outcomes in a randomi- zed controlled study comparing azathioprine and prednisolone versus prednisolone alone

Erythema nodosum leprosum Die WHO empfiehlt folgen- des Schema: Clofazimin 100 mg dreimal täglich für maxi- mal 12 Wochen, dann Dosis- reduktion über 100 mg zwei- mal täglich für

Zweifellos haftet diesen Sonn- wendfeuern noch eine tiefgrei- fende Symbolik an, denn Bräu- che ohne Sinngehalt sind be- stenfalls vorübergehende Zeit- erscheinungen, es fehlt ihnen