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Nicht ganz so eingefroren

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Academic year: 2022

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10 |IP • Mai/Juni 2020

Foyer Unterm Radar

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pätestens mit dem Schlag- abtausch zwischen Arme- niens Premier Nikol Pashin- yan und dem aserbaidschani- schen Präsidenten Ilham Aliew auf der Münchner Sicherheits- konferenz im Februar wurde die Weltöffentlichkeit an einen fast schon vergessenen Konflikt im Südkaukasus erinnert: den Kon-

flikt um Berg- Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan, der als der Urkonflikt beim Zer- fall der Sowjetunion gilt.

Der älteste ungelöste Sezessi- onskonflikt im postsowjetischen Raum kostete in einem von 1991 bis 1994 erbittert geführten Krieg schätzungsweise bis zu 25 000 Menschen das Leben. Mehr als

700 000 Aserbaidschaner und über 400 000 Armenier flohen aus ihrer angestammten Heimat.

Das mehrheitlich von Armeni- ern bewohnte Gebiet war im Rah- men des Sowjetföderalismus der aserbaidschanischen Sowjetre- publik zugeordnet worden. Der Wunsch nach einer Integration in ein unabhängiges Armenien

Nicht ganz so eingefroren

Auch rund 30 Jahre nach seinem Beginn bleibt kaum Hoffnung auf eine rasche Lösung des Konflikts um Berg-Karabach, in dem nach wie vor aktiv gekämpft wird.

Geschichte, die nicht vergehen will: Das Kriegsdenkmal in Martakert (Berg-Karabach) erinnert an eine Auseinandersetzung, die als der Urkonflikt beim Zerfall der Sowjetunion gilt und bis heute nicht beigelegt ist.

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Foyer Nicht ganz so eingefroren

mit dem Ende der Sowjetunion mündete in einen Krieg mit eth- nischen Säuberungen auf beiden Seiten. Dabei brachte Armenien nicht nur Berg-Karabach unter seine Kontrolle, sondern auch sieben aserbaidschanische Ge- biete, die außerhalb des umstrit- tenen Territoriums liegen.

Wie Kaschmir und Korea Mit seinen 140 000 Einwohnern ist Berg-Karabach heute von kei- nem Land weltweit als eigenstän- diger Staat anerkannt; er bleibt von Armenien politisch, militä- risch und finanziell abhängig.

Während die armenische Seite sich auf das Recht auf Selbstbe- stimmung beruft, fordert Aser- baidschan sein Recht auf terri- toriale Integrität.

Zwar kam 1994 durch Ver- mittlung Russlands ein Waffen- stillstandsabkommen zustande, dessen Einhaltung durch die 1992 gegründete Minsk-Gruppe der OSZE überwacht wird. Doch wirklich effektiv ist die Gruppe unter dem gemeinsamen Vorsitz von Frankreich, Russland und den USA dabei nicht. Die Folge ist kein eingefrorener, sondern ein aktiv bewaffneter Konflikt mit durchschnittlich 25 bis 30 Toten pro Jahr. Der Kaukasus-Experte Tom De Waal vergleicht Berg-Ka- rabach mit Kaschmir und der Grenze zwischen Nord- und Südkorea und nennt ihn einen der gefährlichsten Orte der Welt.

Hinzu kommt, dass beide Län- der sich auch mit Hilfe Russlands massiv hochgerüstet haben. Laut dem Globalen Militarisierungs-

index des Bonn International Center for Conversion liegen beide Länder unter den Top 10 der am stärksten militarisierten Länder. 2018 belegte Armenien weltweit Platz 3 und Aserbaid- schan Platz 10.

Während Aserbaidschan aus seinen Ressourceneinnahmen in Russland und Israel Waffen kauft, bekommt Armenien als Mitglied der von Russland ge- führten Organisation des Ver- trags über kollektive Sicherheit Waffen zu vergünstigten Kon- ditionen geliefert. Im Jahr 2018 gaben Armenien 4,8 Prozent und Aserbaidschan 3,8 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts fürs Militär aus.

Wie brisant die Lage nach wie vor ist, zeigte sich im April 2016, als es mit mehr als 90 Todesop- fern zu den schwersten Gefechten seit dem Waffenstillstand 1994 kam. Aserbaidschan demonst- rierte hier mit neuen Drohnen seine technologische Überlegen- heit, was Armenien im Nachgang der Auseinandersetzungen aus- zugleichen versuchte.

Dass es dabei auf russische Unterstützung vertrauen konnte, hat mit der Strategie Moskaus zu tun: Man setzt in dem Konflikt auf ein militärisches Patt – und sorgt mit einer Militärbasis in der zweitgrößten Stadt Arme- niens, Gyumri, dafür, dass es dabei bleibt. Und so war es die russische Führung, die bei der Eskalation 2016 ein Waffenstill- standsabkommen aushandelte.

Im Gegensatz zu den anderen postsowjetischen Konflikt zonen

( Georgien, Moldau, Ukraine) pflegt Moskau gute Beziehungen zu beiden Konfliktparteien.

Für Armenien hat der Kon- flikt zu erheblichen ökonomi- schen Kosten geführt – nicht nur durch Militärausgaben, sondern auch aufgrund der Isolation: Die Grenzen zu Aserbaidschan und der Türkei sind geschlossen.

Ankara hat aus Solidarität mit Aserbaidschan 1993 seine Grenze zu Armenien abgeriegelt. Somit bleiben für die Versorgung und den Handel Armeniens nur der Iran und Georgien. Letzteres ist ein wichtiges Transitland für den Warenaustausch mit Russ- land, der allerdings mit dem ge- orgisch-russischen Krieg 2008 und dem schwierigen Verhältnis zwischen Moskau und Tiflis zeit- weise infrage stand.

Derweil üben die USA Druck auf die armenische Führung aus, sich ihrer Isolationspolitik gegen- über Teheran anzuschließen.

Doch wie soll Jerewan dem Fol- ge leisten? Für Armenien bleibt der Austausch von Atomstrom gegen Gas mit dem Iran die ein- zige Möglichkeit, um energiepo- litisch nicht völlig von Russland abhängig zu sein.

Konflikt und Identität

Wie die mitunter skurril anmu- tende Geschichtsstunde der bei- den Führungspersönlichkeiten Armeniens und Aserbaidschans auf der MSC gezeigt hat, ist die Mythologisierung des Konflikts zum Bestandteil des Nationbuil- dings beider Staaten geworden.

Dabei vertritt jede Seite ihre

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eigene, einseitige Lesart der Ur- sachen und Wurzeln des Kon- flikts. Diese identitätsstiftende Erinnerungspolitik war es, die neben den Gräueln des Krieges Anfang der 1990er Jahre in bei- den Ländern zu einem grundle- genden Mangel an Kompromiss- bereitschaft geführt hat.

Mit der Samtenen Revolution und dem demokratischen Regie- rungswechsel in Armenien 2018 keimten Hoffnungen auf, dass der neue, gewählte Premier den Anstoß für eine positive Entwick- lung geben könnte. Anders als seine Vorgänger stammt Nikol Pashinyan nicht aus Berg-Kara- bach und war selbst nicht durch den Krieg geprägt.

Pashinyan traf Aliew mehr- fach am Rande internationaler Gipfel. Seine ersten Statements zu Berg-Karabach („Kompromiss ist möglich“) ließen Hoffnung auf ei- nen neuen Diskurs aufkommen.

Beide Seiten fuhren für einige Zeit ihre aggressive Rhetorik run- ter; 2018/19 gab es die geringsten Todeszahlen an der Front. Eine Hotline zwischen hochrangigen Militärs wurde eingerichtet, ein Abkommen zur Deeskalation militärischer Aktivitäten an der gemeinsamen internationalen Grenze wurde geschlossen.

Und doch gibt es derzeit nur wenig Hoffnung auf substanziel- le Verhandlungen um den künf- tigen Status von Berg-Karabach und die sieben von Armenien besetzten Gebiete. In diesen Ter- ritorien haben sich inzwischen armenische Bauern angesiedelt, und die dürften wohl kaum ge-

willt sein, ihr Land ohne Wider- stand aufzugeben.

„Karabach ist Armenien“

Äußerungen Pashin yans zeigen, dass er zurzeit nicht bereit ist, po- litisches Kapital in eine grund- legende Revision der Berg-Kara- bach-Politik zu investieren. Bei einem Auftritt in Stepanakert, der Hauptstadt der Region, trat der armenische Premier für eine Vereinigung Berg-Karabachs mit Armenien ein und wurde mit den Worten zitiert: „Artsakh (Kara- bach auf Armenisch) ist Armeni- en, und das bleibt es.“ Pashinyan versucht derzeit, Wirtschaft und Politik in Armenien zu liberali- sieren sowie Korruption zu be- kämpfen. In dieser Phase möchte der Premier sich nicht angreifbar durch die alten Eliten machen.

Da er nicht aus Berg-Karabach stammt, muss er immer wieder beweisen, dass er zur umstritte- nen Region steht.

Insgesamt verfolgt die post- revolutionäre Regierung in Ar- menien beim Thema Karabach, wie bei vielen anderen Themen, keine kohärente Politik. So fan- den am 31. März 2020 trotz massi- ver öffentlicher Kritik wegen der Corona-Pandemie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Berg-Karabach statt. Diese gelten als die freiesten Wahlen, die die Region seit ihrer Unabhängig-

keitserklärung erlebt hat. Dabei hat der ehemalige Premiermi- nister von Karabach, Arayik Ha- rutyunyan, knapp die 50-Pro- zent-Marke verfehlt und muss als Präsidentschaftskandidat in eine zweite Runde gehen.

Mit ihm und seiner Partei sind es jedoch vor allem die alten, kor- rupten Eliten, die künftig weiter in der umstrittenen Region regie- ren werden. Somit hat zwar die Demokratisierung Armeniens mehr Wettbewerb ermöglicht, aber bisher nicht dazu geführt, dass die alten oligarchischen Strukturen sich verändert ha- ben. Premier Pashinyan scheint nicht die Macht oder den Willen zu haben, das zu ändern.

Auch fast 30 Jahre nach dem Beginn des Krieges um Berg-Ka- rabach bleibt wenig Hoffnung auf eine baldige Lösung des Kon- flikts. Nur ein Wandel der innen- politischen Diskurse in Armenien und Aserbaidschan kann lang- fristig zu einer Lösung führen und zu einer Überwindung des Phänomens, das der US-Psycho- loge Martin E. P. Seligman ein- mal als „erlernte Hilflosigkeit“

bezeichnet hat. Dafür kann eine Demokratisierung Armeniens ein Baustein sein. Jedoch bedarf es auf beiden Seiten mutiger Akteu- re, die die historischen Narrative infrage stellen und alternative Lösungen anbieten.

Dr. Stefan Meister

ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung im Südkaukasus mit Sitz in der georgischen Hauptstadt Tiflis.

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