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Was ändert sich, wenn alles gleichbleibt? – Eine Bestandesaufnahme der ab-geschlossenen NHG-Revision

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Was ändert sich, wenn alles gleichbleibt? – Eine Bestandesaufnahme der ab- geschlossenen NHG-Revision

Résumé 159 / Riassunto 160

* Der Verfasser dankt Prof. DR. ALAIN GRIFFEL für die Unterstützung und Betreuung der Master- arbeit, auf welcher der vorliegende Aufsatz beruht.

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Was ändert sich, wenn alles gleichbleibt?

Eine Bestandesaufnahme der abgeschlossenen NHG-Revision

I. Einführung 133

II. Entstehungsgeschichte 134

1. Bisherige Revisionen von Art. 7 NHG 134

1.1 Wegfall «obligatorischer» Begutachtung 135 1.2 Delegation der Kompetenz-Kompetenz 135 1.3 Kürzung der eigentlichen Kompetenz 136 1.4 Streichung der «rechtzeitigen» Einholung 136

2. Aktuelle Revision von Art. 7 NHG 137

III. Vorbemerkungen zur ENHK 137

1. Stellung und Aufgabenbereich 137

2. Rechtsnatur der Gutachten 138

3. Bindungswirkung der Gutachten 139

3.1 Lehre und Praxis zur Bindungswirkung 139

3.2 Synthese der Ansichten 140

4. Abgrenzung zu einfachen Sachverständigen 141

5. Legitimation 142

6. Unparteilichkeit 143

IV. Auslegung 144

1. Grammatik 144

2. Systematik 145

3. Teleologie 146

4. Historie 146

5. Realien 148

V. Legistische Prüfung 148

1. Rechtssicherheit 148

2. Rechtmässigkeit 150

3. Wirksamkeit 150

4. Sachgerechtigkeit 151

5. Kohärenz 152

VI. Schlussbemerkung und Ausblick 153

Verzeichnis der Materialien und amtlichen Publikationen 154

Literaturverzeichnis 156

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Zusammenfassung

Die ENHK ist eine unabhängige ausserparlamentarische Fachkommission, die in den wichtigsten Fragen rund um den Erhalt nationaler Schutzob- jekte gutachterlich tätig ist. Am 1. April 2020 trat, nach unbenutzter Refe- rendumsfrist, nArt. 7 Abs. 3 NHG in Kraft. Die neue Bestimmung bezieht sich auf die Gutachten der ENHK und lautet: «Das Gutachten bildet eine der Grundlagen für die Abwägung aller Interessen durch die Entscheid- behörde.» Der vorliegende Beitrag lotet die rechtliche Tragweite dieser Revision aus und setzt sich insbesondere mit dem Stellenwert von ENHK- Gutachten auseinander.

Lehre und Praxis attestieren den Gutachten der ENHK eine heraus- ragende Bedeutung. Im Einzelnen umstritten ist ihre dogmatische Ein- ordnung und Bindungswirkung. Nach hier vertretener Ansicht handelt es sich um spezialgesetzliche Kommissionsgutachten, welche grundsätzlich bindend sind. Abzugrenzen sind sie insbesondere von gewöhnlichen Sach- verständigengutachten: Während sich diese strikt auf Tatsachen beschrän- ken, ist die ENHK ex lege auch mit der Beantwortung gewisser Rechts- fragen betraut. Im Falle von Irrtümern, Lücken oder Widersprüchen ist die Entscheidbehörde befugt und gehalten, vom Gutachten abzuweichen.

Zuvor hat sie der ENHK Gelegenheit zu geben, ihre Schlussfolgerungen zu ergänzen. Ein Abweichen setzt in jedem Fall den Nachweis triftiger Grün- de voraus und in Rechtsfragen eine geradezu falsche Gesetzesauffassung seitens der ENHK. Dabei kommt es entscheidend auf die Begründung an.

Das bisherige Recht äusserte sich nicht zum Einbezug und Stellen- wert von ENHK-Gutachten. In diese Lücke zielt nArt. 7 Abs. 3 NHG. Sein Wortlaut ist jedoch mehrdeutig. Nach der erhaltenden Lesart («eine der Grundlagen») erschöpft sich die Vorschrift in der Feststellung, dass das Gutachten dem Entscheid zugrunde gelegt wird. Demgegenüber spricht die gestaltende Lesart («eine der Grundlagen») den Gutachten eine Sonder- stellung ab und gleicht sie den übrigen Entscheidgrundlagen an. Die ver- bleibenden drei Auslegungselemente, ergänzt um die EUGEN HUBER’schen Realien, stützen die erhaltende Auslegung. Damit behalten die Gutachten der ENHK auch unter der Geltung von nArt. 7 Abs. 3 NHG ihre qualifi- zierte Bedeutung. Die bisherige Rechtslage bleibt materiell unverändert.

Legistisch ist die Neuregelung missglückt. Angefangen bei ihrem Wortlaut, wirft sie mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Ihre mehrdeu- tige «Kernaussage» schadet der Rechtssicherheit und verwässert die be- sondere Bedeutung von ENHK-Gutachten. Die absehbaren Auswirkungen bestätigen die ernüchternde Bilanz: Entweder bleibt der neue Absatz eine Leerformel oder die Gutachten verlieren durch die Hintertür an Bedeu- tung. Letzteres würde die Entscheidqualität mindern und das Risiko von Rückweisungen durch die Gerichte erhöhen, was in der Summe zu län- geren Verfahren führt.

I. Einführung

«Die Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission und ihre Aufgabe als Gutachterin» – unter diesem Titel reichte Ständerat Eder 2012 eine parlamen- tarische Initiative ein. Betroffen waren die geltenden Art. 6 und 7 Natur- und

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Heimatschutzgesetz (NHG)1. Ersterer erlaubt Eingriffe in die bedeutendsten Land- schafts- und Ortsbilder der Schweiz nur, soweit ein nationales Interesse daran besteht.2 Letzterer schreibt vor, dass in solchen Fällen zwingend ein Gutachten der ENHK einzuholen ist.3 Um dem «bremsenden Einfluss» der damit verbunde- nen Bewilligungsverfahren entgegenzuwirken, setzte der Initiant an zwei Hebeln an: Materiell sollten schon kantonale Interessen einen Eingriff rechtfertigen kön- nen. Formell sollten die Gutachten der ENHK als «eine der Grundlagen für die Entscheidbehörde» bezeichnet werden. Kritiker der Vorlage befürchteten neben einer «deutliche[n] Verschlechterung des materiellen Schutzes» auch eine Relati- vierung des hohen gutachterlichen Stellenwerts.4 Die federführende Kommission hielt dem entgegen, dass an hohen Eingriffsvoraussetzungen festgehalten werde und die Neuregelung gängiger Praxis entspreche.5 Nach der Vernehmlassung liess die UREK-S die erste Forderung fallen. Die verbliebene Ergänzung von Art. 7 NHG wurde am 27. September 2019 vom National- und Ständerat verabschiedet.

Der vorliegende Beitrag skizziert eingangs, welche Veränderungen Art. 7 NHG seit seinem Inkrafttreten erfahren und welchen Verlauf die aktuelle Revision genommen hat (II). Sodann werden die Rolle der ENHK umrissen und die beiden Kernfragen der Revision behandelt: die Rechtsnatur und die Verbindlich- keit von ENHK-Gutachten (III). Zu diesem Zweck werden die bisherige Lehre und Praxis einander gegenübergestellt und einer Synthese zugeführt. Drei Problem- felder werden gesondert besprochen: der Unterschied zwischen spezialgesetzlichen Kommissions- und einfachen Sachverständigengutachten, der Umgang mit den rechtlichen Erwägungen der ENHK sowie die Zweifel an deren Legitimation und Unparteilichkeit. Die anschliessende Analyse bedient sich zwecks Trennung von Auslegung und Kritik eines Zweischritts: Den Methodenkanon um die Realien ergänzend, wird zunächst der Normsinn ermittelt (IV). Davon ausgehend wird die Norm legistisch auf ihre Rechtssicherheit, Rechtmässigkeit, Wirksamkeit, Sachgerechtigkeit und Kohärenz hin befragt (V).6

II. Entstehungsgeschichte

1. Bisherige Revisionen von Art. 7 NHG

Art. 7 gehört zur «Originalsubstanz» des NHG von 1966. Der Einbezug der ENHK zählt zu dessen tragenden Pfeilern und stellt sicher, dass die Behörden «in bezug auf den Natur- und Heimatschutz über zuverlässige Unterlagen» verfügen.7 Die Bestimmung bestand ursprünglich aus einem einzigen Absatz, trug die Margi- nalie «Obligatorische Begutachtung» und lautete:

1 SR 451.

2 «Ein Abweichen von der ungeschmälerten Erhaltung im Sinne der Inventare darf bei Erfüllung einer Bundesaufgabe nur in Erwägung gezogen werden, wenn ihr bestimmte gleich- oder höher- wertige Interessen von ebenfalls nationaler Bedeutung entgegenstehen» (Art. 6 Abs. 2 NHG).

3 Dem Sprachgebrauch der Initiative Eder folgend, ist mit der ENHK auch die Eidgenössische Denkmalschutzkommission (EDK) mitgemeint. Mit Blick auf Art. 7 NHG erfüllen beide Kom- missionen dieselbe Funktion; auch erstatten sie regelmässig gemeinsame Gutachten (siehe Bun- desrat, Botschaft Teilrevision NHG 1995, S. 1138, und LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 9).

4 MARTI, Gutachten, S. 26 f.; siehe IV.4, insbesondere Fn. 132.

5 UREK-S, Bericht I, S. 1.

6 Vgl. MÜLLER / UHLMANN, N. 64 ff.

7 Bundesrat, Botschaft NHG 1966, S. 94.

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«Wenn bei Erfüllung einer Bundesaufgabe ein Objekt beeinträchtigt werden könnte, das in einem Inventar des Bundes aufgeführt ist, hat die zuständige Stelle rechtzeitig ein Gutachten der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission oder der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege einzuholen. Dieses hat darzutun, weshalb und auf welche Weise das Objekt ungeschmälert zu erhalten, jedenfalls aber möglichst weitgehend zu schonen ist.»8

Diese Urfassung hat seit ihrem Inkrafttreten Änderungen in dreierlei Hinsicht erfahren:

1.1 Wegfall «obligatorischer» Begutachtung

Der Entwurf zum Bundeskoordinationsgesetz von 1999 hielt noch am Randtitel

«Obligatorische Begutachtung durch die Kommission» fest.9 Erst in der verabschie- deten Fassung entfiel das Beiwort «obligatorisch» kommentarlos.10 Zur Bedeutung dieser Streichung betont LEIMBACHER, dass sie «nicht missverstanden werden»

dürfe: Gestrichen sei nur das «obligatorisch», nicht das Obligatorium selbst.11 Dieser nur im Wortsinn marginale Unterschied ist erst vor dem Hintergrund der nach- stehenden Änderungen zu verstehen, die zeitgleich Eingang ins Gesetz fanden.

1.2 Delegation der Kompetenz-Kompetenz

Seit Erlass des Bundeskoordinationsgesetzes befindet die ENHK nicht mehr selbst über ihre Zuständigkeit. Seither obliegt diese Beurteilung der zuständigen Fach- stelle.12 Die Änderung in der Marginalie ist also dahingehend zu verstehen, dass die ENHK im Rahmen von Art. 7 Abs. 2 NHG weiterhin und zwingend zuständig ist.13 Nur prüft die Fachstelle an ihrer statt, ob ein Fall von Art. 7 Abs. 2 NHG vor- liegt.14 Formell änderte diese Zuweisung nichts am Aufgabenbereich der ENHK:

Bei erfüllten Voraussetzungen ist ihr Beizug weiterhin obligatorisch.15 Dennoch hat die ENHK dadurch an Einfluss verloren, weil sie nicht mehr Einblick in alle beantragten Eingriffe erhält und auf eine korrekte Voreinschätzung durch die Fachstellen angewiesen ist.16

8 AS 1966 1639; vgl. Bundesrat, Botschaft NHG 1966, S. 115.

9 Bundesrat, Botschaft KoordG, S. 2654; vgl. LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 1, Fn. 1.

10 AS 1999 3073; die erhalten gebliebene Marginalie zu Art. 8 NHG («Fakultative Begutachtung») verweist noch darauf.

11 LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 1.

12 Art. 2 Abs. 1 und 4 der Verordnung über den Natur- und Heimatschutz (NHV; SR 451.1); vgl.

RAUSCH / MARTI / GRIFFEL, N. 553.

13 LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 1 m. H. auf BGE 138 II 31.

14 Sollte der Beizug zu Unrecht unterblieben sein, kann er im Verfahren gerügt und gegebenen- falls nachgeholt werden (siehe HÄUPTLI-SCHWALLER, § 40 N. 78). Dementsprechend ver- fügt die Fachstelle nur über eine relative Kompetenz-Kompetenz (vgl. zum Begriff OETIKER, Art. 186 N. 1).

15 BGE 115 Ib 472 E. 2e/cc; siehe auch SEITZ / ZIMMERMANN, denen zufolge «die Durchsetzung der Begutachtungspflicht im Sinne von Art. 7 NHG vom Bundesgericht streng gehandhabt wird.

So spricht dieses selbst in neueren Entscheiden immer noch von ‹obligatorischer Begutachtung›, obwohl die Begutachtungspflicht mit der Revision von aArt. 7 NHG gelockert, und der Terminus

‹obligatorische› Begutachtung aus dem Randtitel zu Art. 7 NHG gestrichen worden ist» (S. 143).

16 Vgl. Parlamentarische Verwaltungskontrollstelle, Evaluation, S. 829.

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1.3 Kürzung der eigentlichen Kompetenz

Die eigentliche «Abkehr vom bisherigen Obligatorium»17 erfolgte mit der gleich- zeitigen Anpassung von Art. 7 Abs. 2 NHG. Was an «Routinegeschäften» anfällt, ist seither den Fachstellen zur Erledigung zugewiesen. Die ENHK ist nur noch zwingend beizuziehen, wenn sich erhebliche Beeinträchtigungen abzeichnen oder Grundsatzfragen stellen. Dadurch sollte die ENHK, die «an die Grenzen ihrer Ka- pazitäten» gestossen war, entlastet werden.18

Wie LEIMBACHER hervorhebt, war auch mit dieser Änderung keine Schwächung der Schutzanliegen beabsichtigt.19 In tatsächlicher Hinsicht waren Abstriche an den Standards der Beurteilung dennoch unvermeidbar. Denn die

«Routinegeschäfte» werden neu von einer Fachstelle geprüft, die als Teil der Ver- waltung «nicht wirklich unabhängig» ist.20 Der Rede von der «Entlastung» verleiht dies einen schalen Beigeschmack – wurde sie doch nicht über eine Erhöhung der Mittel erreicht, sondern durch eine Kürzung der Aufgaben erkauft.21

Daran vermochte auch jene «Korrektur» nichts zu ändern, die einer Schwä- chung der Schutzanliegen dadurch vorbeugen wollte, dass neu jeder Eingriff mit Wiederherstellungs- oder Ersatzmassnahmen zu verbinden war.22 Denn: Dass Eingriffe mit Massnahmen flankiert gehören, war weder neu noch eine Korrektur.

Es ergab sich bereits aus dem Gebot der grösstmöglichen Schonung.23 Mit der ver- meintlichen Korrektur wurde die eigentliche Subsidiarität dieser Massnahmen voll- ends verwischt.24 Die einzige wirksame Verbesserung steuerte das Bundesgericht mit seiner Zweifelsfallregel bei, nach der die ENHK im Zweifel beizuziehen ist.25

1.4 Streichung der «rechtzeitigen» Einholung

Eine weitere Einschränkung erfuhr Art. 7 Abs. 2 NHG im Zuge der Energiestrategie 2050. Hatte aArt. 7 NHG bestimmt, dass die zuständige Stelle das Gutachten

«rechtzeitig» einhole, verzichtet das geltende NHG auf einen solchen Hinweis.26 Stattdessen statuiert Art. 14 Abs. 3 Energiegesetz (EnG)27 im Bereich erneuerbarer

17 GRIFFEL, Grundprinzipien, N. 397, Fn. 176.

18 Bundesrat, Botschaft KoordG, S. 2608 f.; vgl. VGer ZH VB.2008.00381 vom 26. August 2009 E. 4.6.

19 LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 1 m. H. auf Bundesrat, Botschaft KoordG, S. 2609.

20 Ebd., Art. 7 N. 16; siehe auch ebd., Art. 25 N. 13 m. H. auf Art. 26 Abs. 1 NHV, sowie SCHINDLER, N. 456 f.

21 Im Kanton ZH trat mit dem revidierten § 216 Abs. 2 des Planungs- und Baugesetzes eine ver- gleichbare Regelung in Kraft, die den Sachverständigenkommissionen aus Spargründen nur noch «wichtige Fragen» von überkommunaler Bedeutung zuweist (siehe BIRCHER, S. 6 f.).

22 Siehe BUWAL, S. 85; vgl. LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 6 N. 11 und BGE 136 II 214 E. 5.

23 Vgl. LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 6 N. 19.

24 War der Zusatz auch präzisierend gemeint (Bundesrat, Botschaft KoordG, S. 2616), erschliesst sich sein Sinn erst im Rückgriff auf die Literatur. Entsprechend unzulänglich ist die Umset- zung: In der Praxis fliessen die Schonmassnahmen oft im Rahmen einer diffusen «Gesamtbe- urteilung» – und zwar aufseiten der Nutzungsinteressen – in die Abwägung mit ein (DA JCAR, FHB, N. 4.104).

25 Siehe BGer 1C_556/2013 vom 21. September 2016 E. 7.4.1 und 1C_482/2012 vom 14. Mai 2014 E. 3.6. Nichtsdestotrotz ist die Annahme einer Beiziehungspflicht zu substantiieren; es ge- nügt nicht, «dass die Praxis insofern in allgemeiner Weise streng ist» (BGer 1C_412/2018 vom 31. Juli 2019 E. 6.3).

26 Einzig bei fakultativen Gutachten hält Art. 8 Satz 2 NHG die ENHK dazu an, diese «so früh wie möglich» zu erstatten (vgl. LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 8 N. 6 m. w. H.).

27 SR 730.0.

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Energien neu eine Frist: Wird das Gutachten nicht innert dreier Monate erstattet, entscheidet die Behörde nach Aktenlage.28

2. Aktuelle Revision von Art. 7 NHG

Am 14. September 2017 eröffnete Ständerat Vonlanthen sein Votum mit der Feststel- lung, die Initiative Eder sei «vor sage und schreibe 79 [recte 66] Monaten» eingereicht worden.29 Bei Drucklegung dieses Hefts sind es 97 Monate geworden. Derweil ist von der Revision der eine Satz verblieben: «Das Gutachten bildet eine der Grundla- gen für die Abwägung aller Interessen durch die Entscheidbehörde.» Im Initiativtext vom 29. Februar 2012 hatte die vorgeschlagene Ergänzung gelautet: «Das Gutachten bildet eine der Grundlagen für die Entscheidbehörde, welche es in ihre Gesamtinte- ressenbeurteilung einbezieht und würdigt.» Der Vorentwurf, der am 29. März 2018 in die Vernehmlassung geschickt wurde, übernahm diese Formulierung unverän- dert.30 Erst der Revisionsentwurf liess den Nebensatz mitsamt der «Gesamtinteres- senbeurteilung» fallen.31 Der Bundesrat äusserte sich am 30. Januar 2019 zustim- mend zum Entwurf.32 Der Ständerat erteilte seine Zustimmung am 18. März 2019, der Nationalrat folgte ihm am 17. September 2019.33 Die Neuregelung wurde in der Schlussabstimmung vom 27. September 2019 verabschiedet und trat, nach unbenutz- ter Referendumsfrist, am 1. April 2020 in Kraft.34

III. Vorbemerkungen zur ENHK 1. Stellung und Aufgabenbereich

Die Abwägung von Schutz- und Eingriffsinteressen gestaltet sich oft schwierig.

Daher verfügt die Entscheidbehörde über eine ganze Kaskade von Möglichkeiten zur Wissensbeschaffung. Diese reicht «vom eigenen Sachverstand der Behörde über deren eigene Fachstelle und die kommunale Sachverständigenkommission bis zur externen Expertise».35 Entlang dieser Rangfolge steigen die Ansprüche an die wissenschaftliche Fachkenntnis, institutionelle Stufe und Unabhängigkeit – es erhöhen sich aber auch die Komplexität und die Kosten.36

Als ständige unabhängige ausserparlamentarische Fachkommission be- findet sich die ENHK am oberen Ende dieser Stufenleiter.37 Sie berät die Behörden in Fragen des Natur- und Heimatschutzes bei der Erfüllung von Bundesaufgaben und äussert sich insbesondere zur Erhaltung und Schonung von bundesinventa- risierten Objekten i. S. von Art. 5 ff. NHG.38 Angesichts ihrer beratenden Funktion zählt die ENHK zu den Verwaltungskommissionen.39 Als solche ist sie nicht

28 Siehe IV.2 und V.4.

29 Votum Ständerat Vonlanthen in AB S 2017 623.

30 Siehe BAFU, S. 1; vgl. UREK-S, Bericht I, S. 8.

31 Siehe BBl 2019 357; vgl. UREK-S, Bericht II, S. 353 sowie IV.1, insbesondere Fn. 113.

32 Bundesrat, Stellungnahme, S. 1336.

33 AB S 2019 165 und AB N 2019 1622.

34 BBl 2019 6559 f.; wird voraussichtlich am 15. April 2020 in der AS publiziert.

35 BACHMANN, S. 9.

36 Ebd., S. 5 und 16.

37 Weiterführend SÄGESSER, Art. 57 N. 40 ff.

38 Art. 7 und 25 Abs. 1 Bst. d NHG sowie Art. 25 Abs. 1 Bst. d NHV.

39 LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 25 N. 9; Art. 25 Abs. 1 NHG und Art. 23 Abs. 4 NHV; vgl.

SÄGESSER, Art. 57 N. 25 ff.

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entscheidungsbefugt; ihre Schlüsse unterbreitet sie als Anträge im Rahmen von Gutachten oder Stellungnahmen.40 Aus Sicht des Natur- und Heimatschutzes wäre es zu begrüssen, wenn die ENHK in möglichst alle Verfahren eingebun- den würde. Dem stehen Gründe der Verfahrensökonomie entgegen, allen voran die Begrenztheit der Mittel. Ausfluss dieses Zielkonflikts ist der geltende Art. 7 Abs. 2 NHG, demzufolge die ENHK nur in den wichtigsten Fällen ein Pflichtgut- achten erstattet.41

2. Rechtsnatur der Gutachten

Die dogmatische Einordnung der ENHK-Gutachten wirft Fragen auf. Laut Bun- desgericht handelt es sich um amtliche Expertisen, die für die Entscheidung von grossem Gewicht sind.42 Übereinstimmend bezeichnet sie BACHMANN als «amt- liche Expertisen mit stärkerer Bindungswirkung».43 Einen leicht anderen Akzent setzt LEIMBACHER mit dem Begriff der «gutachterlichen Amtsberichte».44 Dabei verweist er auf KELLER, der darunter solche Berichte fasst, «die aufgrund einer gesetzlich vorgesehenen Gutachteraufgabe eines Amtes oder einer Kommission erstattet werden».45

Bezogen auf die Fachstellen des Bundes oder der Kantone treffen die- se Umschreibungen zu. Ausgeweitet auf die ENHK sind sie zumindest irrefüh- rend. Denn «amtlich» sind ihre Gutachten nur insofern, als sie – im Rahmen von Art. 7 NHG – von Amtes wegen einzuholen sind.46 Im Übrigen ist die ENHK aber gerade keine weisungsgebundene Amtsstelle, sondern eine ausgegliederte und unabhängige Kommission mit beratender Funktion. Um sie deutlicher von den einfachen Sachverständigengutachten abzuheben, werden die Gutachten der ENHK im Folgenden als spezialgesetzliche Kommissionsgutachten bezeichnet.

Angesichts der unklaren dogmatischen Einordnung von ENHK-Gutach- ten erstaunt es nicht, dass auch deren Bindungswirkung teils umstritten ist. Im Gegensatz zur UVP, der das USG ein neugeschaffenes Kapitel (Art. 10a ff.) und der Bundesrat eine eigene Verordnung (UVPV) widmen, sind die Gutachten der ENHK spärlich geregelt.47

40 BGer 1P.185/1999 und 1P.193/1999 vom 22. Juli 1999 E. 5b/bb in URP 1999, S. 797;

vgl. VLP-ASPAN, S. 5 f. Das Einholen einer blossen Stellungnahme vermag das von Art. 7 NHG vorgeschriebene Gutachten nicht zu ersetzen (BVGE 2011/59 vom 1. Dezember 2011 E. 6.4).

41 Daneben erstattet die ENHK fakultative Gutachten nach Art. 8 NHG und besondere Gutachten nach Art. 17a NHG i. V. m. Art. 25 Abs. 1 Bst. e NHV (vgl. Fn. 169). Aufgrund ihrer systema- tischen Stellung betrifft die Neuregelung nur Gutachten i. S. von Art. 7 NHG.

42 BGer 1C_893/2013 vom 1. Oktober 2014 E. 5.3.3; vgl. AEMISEGGER / HAAG, S. 569;

LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 20 m. w. H. Der Bundesrat qualifizierte die Gutachten der ENHK bereits 1989 als «amtliche Expertise» (VPB 53.41A vom 25. Januar 1989 E. 4.1).

43 BACHMANN, S. 24, Fn. 60 m. H. auf AEMISEGGER / HAAG, S. 569.

44 LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 22.

45 KELLER, S. 405; LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 22. Auch KÖLZ / HÄNER / BERTSCHI füh- ren die Gutachten der ENHK als Beispiel eines Amtsberichts auf (N. 474); in dem von ihnen an- geführten BGE 136 II 214 ist von einem (Amts-)Bericht allerdings nicht die Rede.

46 Zur Charakterisierung des Amtsberichts als schriftliche Auskunft einer Amtsstelle siehe AUER, Art. 12 N. 46; vgl. PLÜSS, Komm. VRG, § 7 N. 60 und 146.

47 Siehe BGE 125 II 591 E. 7a; BGer 1A.185/2006 vom 5. März 2007 E. 6 sowie 1A.230/2000 vom 28. August 2001 E. 4b.

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3. Bindungswirkung der Gutachten

3.1 Lehre und Praxis zur Bindungswirkung

Zur Frage der Verbindlichkeit schwieg sich das bisherige Recht aus.48 Lehre und Rechtsprechung gehen darin einig, dass den ENHK-Gutachten eine herausragende Bedeutung zukommt. So stellte das Bundesgericht schon im Entscheid Hallau fest, dass es sich bei diesen Gutachten um «eine qualifizierte Entscheidungsgrundlage für die erforderliche Interessenabwägung» handelt, die von «erheblicher» und «be- sondere[r] Bedeutung» ist.49 Dabei gründet ihre «Bindungswirkung» nicht in einer ausdrücklichen Gesetzesvorschrift, sondern in «der Überlegung, dass sie dem Sinn des Beizugs einer Fachstelle als sachkundiger Spezialbehörde entspricht».50 Aus dieser Überlegung heraus darf nach ständiger Rechtsprechung «nur aus triftigen»51 bzw. «wichtigen Gründen»52 von den Schlussfolgerungen der ENHK abgewichen werden. Auch die Lehre hebt deren «grosse»53 und «erstrangige Bedeutung»54 her- vor und erachtet sie als «eine unabdingbare und zentrale Entscheidgrundlage».55 Trotz dieser Übereinstimmung in der Sache gehen die Meinungen im Be- griff auseinander. So vertrat LEIMBACHER noch in der Erstauflage des NHG-Kom- mentars die Ansicht, dass die zuständige Stelle mindestens an die Einschätzung der ungeschmälerten Erhaltung «gebunden» sei.56 In der aktuellen Auflage erachtet er die Gutachten im Ganzen als «grundsätzlich bindend».57 Von einer «besonders starken Bindungskraft» spricht auch BACHMANN.58 Zurückhaltender gibt sich das Bundesgericht. Seit dem Hallau-Entscheid äusserte es sich nicht mehr explizit zur

«Bindungswirkung». Der Textbaustein, der sich seither in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung etabliert hat, nennt im Sinne eines Sowohl-als-auch das «grosse Gewicht» der Gutachten im selben Atemzug mit der «freien Beweiswürdigung»

durch die Behörde.59

Den gegenteiligen Ansatz vertrat das Verwaltungsgericht BE mit der Fest- stellung, die Stellungnahmen der ENHK seien «für die entscheidenden Behörden und die Gerichte nicht bindend».60 Dabei berief es sich allerdings auf ein eigenes Urteil von 2008,61 das seinerseits auf einen Bundesgerichtsentscheid von 1988 ver- wies. Diesem ist zwar zu entnehmen, dass die Beurteilung der ENHK «das Bun- desgericht nicht bindet».62 Indessen ging es im fraglichen Verfahren nicht um ein

48 Vgl. BGer 1P.185/1999 und 1P.193/1999 vom 22. Juli 1999 E. 5b/bb in URP 1999, S. 797.

49 Ebd., S. 796 f.

50 Ebd., S. 796 m. H. auf BGE 119 Ib 254 E. 8a (in der amtl. Sammlung nicht publ.).

51 BGE 136 II 223 E. 5 m. w. H.

52 BGer 1C_542/2012 vom 14. Mai 2013 E. 6; DA JCAR, FHB, N. 4.105.

53 LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 20.

54 GRIFFEL, Grundprinzipien, N. 451, Fn. 331.

55 MARTI, Gutachten, S. 27.

56 LEIMBACHER, aKomm. NHG, Art. 7 N. 18.

57 Ders., Komm. NHG, Art. 7 N. 22; siehe auch ebd., Art. 17a N. 12 («Verbindlichkeit») und Art. 25 N. 9 («grosse Verbindlichkeit»).

58 BACHMANN, S. 16, siehe auch S. 24, Fn. 60 m. H. auf AEMISEGGER / HAAG, S. 569.

59 BGE 145 II 176 E. 5.6; 136 II 214 E. 5; 127 II 273 E. 4b; vgl. SEITZ / ZIMMERMANN, S. 141 f., so- wie BACHMANN, S. 15 f.

60 VGer BE vom 16. März 2016 E. 5.2 in BVR 2017, S. 564; vgl. ZAUGG / LUDWIG, Art. 10 N. 32c.

61 VGer BE vom 20. Oktober 2009 E. 7.3 in BVR 2009, S. 132. Fast zeitgleich urteilte das Verwal- tungsgericht SG, dass den besonderen Gutachten der ENHK nach Art. 17a NHG «in gleicher Wei- se Verbindlichkeit» zukomme wie jenen nach Art. 7 f. NHG (Urteil B 2009/145 vom 16. Septem- ber 2010 E. 4.3 m. H. auf LEIMBACHER, aKomm. NHG, Art. 17a N. 12).

62 BGE 114 Ib 224 E. 10d/da.

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Bundesinventar, sondern um die Verweigerung einer Rodungsbewilligung ohne Bezug zu Art. 7 NHG. Entgegen dieser sich abzeichnenden kantonalbernischen Praxis lässt sich der höchstrichterlichen Rechtsprechung somit kein eindeutiges Bekenntnis für oder gegen eine Bindungswirkung entnehmen. Selbst im jüngs- ten Fischerhäuser-Entscheid, der in Fünferbesetzung erging und Gelegenheit zur Klarstellung geboten hätte, begnügte sich das Bundesgericht mit der fallweisen Feststellung, dass vorliegend «kein Grund» bestehe, vom Gutachten abzuweichen.63

3.2 Synthese der Ansichten

Trotz gegenläufiger Ansätze nähern sich die Ansichten im Ergebnis einander an.

Denn, wie das Beiwort «grundsätzlich» andeutet, geht LEIMBACHER nicht von einer absoluten Bindungswirkung aus. Zwar lässt er die freie Beweiswürdigung uner- wähnt, doch sind die Behörden auch seines Erachtens nicht nur befugt, sondern gehalten, vom Gutachten abzuweichen, wenn «triftige Gründe» dafürsprechen.64 Umgekehrt geht die Rechtsprechung zwar explizit von einer freien Beurteilung aus, macht Abweichungen aber ebenso vom Nachweis triftiger Gründe abhän- gig.65 Überdies greifen beide Ansichten aufs Trikolon der «Irrtümer, Lücken oder Widersprüche» zurück.66 Unabhängig von der Lehrmeinung lässt sich ein Ab- weichen somit nur rechtfertigen, wenn ein «Anlass»67 besteht und das Gutachten an qualifizierten Fehlern krankt. Gleich welcher Ansicht man folgt, erweist sich die Begründungspflicht als entscheidend: Wenn man eine Bindungswirkung im Grundsatz bejaht, muss in berechtigten Fällen dennoch Raum für Abweichungen verbleiben («– aber nur dann»68). Nimmt man dagegen die freie Würdigung zum Ausgangspunkt, so dürfen nicht beliebige Zweifel den Ausschlag geben, sondern nur «wirklich triftige Gründe».69

Schon die Botschaft zum NHG von 1966 machte deutlich, dass sich Staats- organe nicht «ohne Not über ein solches Gutachten hinwegsetzen» dürfen.70 Wenn keine ernsthaften Zweifel an der Richtigkeit der Einschätzung bestehen, ist sie

«ohne Vorbehalte zu berücksichtigen».71 Besondere Zurückhaltung ist meines

63 BGE 145 II 176 E. 6.4, veröffentlicht in URP 2019, S. 249–260; vgl. die Besprechungen von HÄNER, S. 626 f., und JÄGER, S. 293.

64 LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 20 f., und ebd., Art. 25 N. 9 a. E.

65 Statt vieler: BGE 136 II 214 E. 5; VGer BE vom 20. Oktober 2009 E. 7.3 in BVR 2009, S. 132.

66 Siehe AEMISEGGER / HAAG, S. 569; LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 20.

67 Siehe BGE 136 II 214 E. 6.3; vgl. BGer 1A.185/2006 vom 5. März 2007 E. 7.4 sowie das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-5641/2016 vom 18. Mai 2017 E. 8.3.1.

68 LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 21.

69 BGer 1P.185/1999 und 1P.193/1999 vom 22. Juli 1999 E. 6d in URP 1999, S. 799. Trotz dieser funktionalen Äquivalenz besitzt die Bezeichnung als «bindend» oder als «bloss eine unter meh- reren Entscheidgrundlagen» Signalwirkung (siehe V.3).

70 Bundesrat, Botschaft NHG 1966, S. 93 f. Vgl. BGer 1C_893/2013 vom 1. Oktober 2014, wo das Bundesgericht nach «gewichtigen, zuverlässig begründeten Tatsachen oder Indizien» fragt,

«welche die Überzeugungskraft des Gutachtens der ENHK […] ernstlich erschüttern würden»

(E. 5.3.3); siehe auch BVGE 2016/113 vom 22. Februar 2016, wo das Bundesverwaltungsgericht die Rügen der Widersprüchlichkeit und Inkonsistenz mit der Begründung abweist, man dürfe die Aussagen der ENHK «nicht isoliert und ausserhalb ihres Gesamtzusammenhanges» betrach- ten (E. 4.4.2).

71 BVGE 2016/13 vom 22. Februar 2016 E. 4.4.2 a. E. Vgl. Urteil des Obergerichts SH OGE 60/2014/6 vom 22. August 2014 E. 3c: «Die Stellungnahme der ENHK gilt im Übrigen als gesetzlich vorge- sehenes Fachgutachten, von welchem die rechtsanwendenden Behörden nur aus triftigen Grün- den abweichen dürfen. Im vorliegenden Fall sind solche Gründe weder dargelegt noch ersicht- lich, weshalb das Obergericht an die Fachstellungnahme der ENHK gebunden ist.»

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Erachtens bei der Feststellung von «Lücken» angezeigt. Denn die ENHK kann und soll sich in ihrem Gutachten aufs Entscheidwesentliche beschränken.72 Entspre- chend darf sich die Behörde nicht vorschnell auf einen fehlenden Gesichtspunkt stützen, um daraus Abweichendes abzuleiten. Vielmehr muss sie der ENHK dies- falls Gelegenheit geben, die mutmassliche Lücke selbständig zu schliessen.73 An- dernfalls geriete die Rüge der Unvollständigkeit zu einem Freibrief für alternative Schlussfolgerungen.

In praxi erfolgen Abweichungen vorwiegend ohnehin nicht in Wider- spruch zu den tatsächlichen Feststellungen der ENHK, sondern in Abkehr von deren rechtlicher Beurteilung.74 Dies erklärt sich leicht daraus, dass die Ausle- gung unbestimmter Rechtsbegriffe einen grösseren Freiraum eröffnet als das vergleichsweise strenge «technische Ermessen».75 Sollen die «triftigen Gründe»

auch in Rechtsfragen ihren Sinn behalten, müsste der ENHK indes geradezu eine

«falsche Auffassung des Gesetzes» nachgewiesen76 und dies «besonders sorgfältig»

begründet werden.77 Dass die Entscheidbehörde eine andere vertretbare Beurtei- lung vorzieht, genügt nicht.

4. Abgrenzung zu einfachen Sachverständigen

Die Unklarheiten über den Stellenwert von ENHK-Gutachten rühren zu einem Gutteil daher, dass nicht hinreichend differenziert wird zwischen spezialgesetz- lichen Kommissions- und einfachen Sachverständigengutachten.78 Beide unter- scheiden sich in ihrer Aufgabe und Stellung: Der gewöhnliche Sachverständige handelt als «Entscheidungsgehilfe des Richters», dessen Wissen er durch besondere Fachkenntnis ergänzt.79 Hingegen ist es nicht an ihm, Beweise zu würdigen oder Rechtsfragen zu klären. Dies bleibt «in jedem Fall Sache des Richters».80 Wird mit einer Expertenaussage trotzdem eine Rechtsfrage beantwortet, darf ein Gericht nicht darauf abstellen.81

Diese Trennlinie lässt sich in Bezug auf ENHK-Gutachten nicht durch- ziehen. Zwar tragen auch sie zum Tatsachenfundament bei, damit die Entscheid-

72 BGE 136 II 214 E. 5; 127 II 273 E. 4b.

73 Vgl. BGE 138 II 23 E. 6.4 a. E. (in der amtl. Sammlung nicht publ.). Infolgedessen vermag ein früheres Gutachten der ENHK unter veränderten Umständen «ein neues Gutachten nicht zu er- setzen» (BVGE A-603/2017 und A-609/2017 vom 31. Januar 2018 E. 6.4 a. E.; vom Bundesgericht aus anderen Gründen aufgehoben mit BGer 1C_109/2018 vom 6. Februar 2019, vgl. hierzu die Anmerkungen von THURNHERR, S. 336 ff.).

74 LEIMBACHER, aKomm. NHG, Art. 7 N. 19.

75 Vgl. SCHINDLER, N. 464 m. w. H.

76 LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 21.

77 AEMISEGGER / HAAG, S. 569 und 570; LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 20.

78 Vgl. die Ausführungen von A. HUBER in Bezug auf Expertenkommissionen im Strafprozess:

«Die Beurteilung einer Fachkommission […] unterscheidet sich somit in Funktion und Zweck erheblich von einem Sachverständigengutachten oder einem sachverständigen Amtsbericht.

Auch die Würdigung einer solchen Beurteilung kann sich daher nicht unbesehen nach den Regeln der Würdigung eines Sachverständigengutachtens richten. Eine Gleichbehandlung von Kommissionsbeurteilungen und Gutachten erscheint nur insofern als angezeigt, dass die zu- ständigen Behörden auch von einer Kommissionsbeurteilung nur begründet abweichen dürfen sollen. Denn es würde Sinn und Zweck einer risikobezogenen Zweitmeinung zuwiderlaufen, wenn diese von der zuständigen Vollzugsbehörde bei ihrem Entscheid ohne nachvollziehbare Begründung ausser Acht gelassen werden könnte» (S. 248).

79 BGE 118 Ia 144 E. 1c.

80 Ebd.; vgl. BGE 130 I 337 E. 5.4; AUER, Art. 12 N. 61.

81 BGE 130 I 337 E. 5.4; vgl. BACHMANN, S. 18; SCHINDLER, N. 476.

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behörde in voller Kenntnis der Sachlage entscheidet. Die Aufgabe der ENHK geht allerdings darüber hinaus: Indem sie angibt, «ob das Objekt ungeschmälert zu erhalten oder wie es zu schonen ist» (Art. 7 Abs. 2 Satz 2 NHG), legt sie direkt die unbestimmten Rechtsbegriffe von Art. 6 NHG aus.82 Dies gilt von der Konkreti- sierung der Schutzziele über die Bestimmung und Gewichtung der Beeinträchti- gung bis hin zur Frage, ob ein «Abweichen von der ungeschmälerten Erhaltung»

vorliegt.83 Wo der gewöhnliche Sachverständige ultra vires handeln würde, da erfüllt die ENHK ihre Pflicht: Sie beantwortet auch Rechtsfragen.84 Diese bilden gar das «Hauptthema» und «Kernstück» ihrer Gutachten.85

Für die Rechtsgrundlagen bleibt dieser Unterschied nicht ohne Folgen: Die Regeln über den Sachverständigenbeweis (Art. 12 Bst. e VwVG und Art. 57 ff. des Bundesgesetzes über den Bundeszivilprozess) kommen bei Gutachten der ENHK nicht zum Tragen.86 Desgleichen kann der Grundsatz der freien Beweiswürdi- gung, der auf den Sachverständigenbeweis zugeschnitten ist, nicht unbesehen übernommen werden.87

Angesichts dessen wäre es ratsam, die Gutachten der ENHK im Grund- satz als bindend anzuerkennen. Für berechtigte Abweichungen – aufgrund of- fensichtlicher Irrtümer, Lücken oder Widersprüche – verbliebe damit genügend Raum. Gleichzeitig wären sie deutlicher von Amtsberichten und anderen Sach- verständigengutachten abgesetzt. Für diese Entscheidgrundlagen verwendet das Bundesgericht nämlich nahezu dieselben Formeln – von der «hohen Bedeutung»

bis zu den «triftigen Gründen».88

5. Legitimation

Ehe die NHG-Revision in eine Nachführung des Bestehenden umgedeutet wur- de,89 war ihr erklärtes Ziel eine Stärkung von demokratisch gewählten Behörden zulasten der ENHK: «Es geht nicht an, dass weiterhin eine vom Bundesrat be- zeichnete und nicht vom Volk legitimierte Kommission ein derartiges Gewicht besitzt, insbesondere wenn kantonale Entscheidungen in einem demokratischen

82 Vgl. BGer 1C_179/2015 vom 11. Mai 2016 E. 6.3; ferner BGE 135 II 384, wo die ENHK explizit als

«unabhängiges, beratendes Fachorgan» bezeichnet wird, «welches neben der Beantwortung von Sachverhaltsfragen auch unbestimmte Rechtsbegriffe […] auszulegen hat» (E. 3.4.1).

83 AEMISEGGER / HAAG, S. 570; vgl. HEER, S. 201 und 207.

84 LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 20.

85 AEMISEGGER / HAAG, S. 569 und 571; vgl. BGE 127 II 273 E. 4b.

86 VPB 53.41A vom 25. Januar 1989 E. 4.1; vgl. AEMISEGGER / HAAG, S. 572; LEIMBACHER, Komm.

NHG, Art. 7 N. 22; siehe auch das Urteil des Verwaltungsgerichts SZ vom 23. April 2015: «Beim Gutachten der ENHK handelt es sich um ein Rechtsgutachten einer Fachbehörde […]. Bei Rechtsgutachten gelten nicht die gleichen verfahrensrechtlichen Anforderungen wie für Gutach- ten, welche Sachverhaltsfragen betreffen» (EGV-SZ 2015 Nr. B 8.1 E. 5.4).

87 Vgl. LEIMBACHER, aKomm. NHG, Art. 7 N. 18.

88 BGE 118 Ia 144 E. 1c; AUER, Art. 12 N. 62. Ein «erhebliches Gewicht» attestiert das Bundes- gericht auch den Stellungnahmen des BAFU im bundesgerichtlichen Verfahren (BGE 145 II 70 E. 5.5; siehe auch BGer 1C_528/2018 vom 17. Oktober 2019 E. 4.5). In ähnlicher Weise spricht es den Stellungnahmen der kantonalzürcherischen NHK ein «besonderes» (BGer 1C_86/2012 vom 7. September 2012 E. 3.4.2) und «grosses Gewicht» zu (BGer 1C_595/2013 und 1C_596/2013 vom 21. Februar 2014 E. 4.1.2) und verlangt für Abweichungen das Vorliegen triftiger Gründe (siehe PLÜSS, Komm. VRG, § 7 N. 146; VGer ZH VB.2017.00073 vom 18. August 2017 E. 2.2). Nur sind die Behörden nach zürcherischem Recht ausdrücklich «nicht an die Anträge der Kommissionen gebunden» (§ 7 Abs. 4 der Verordnung über die Sachverständigenkommissionen).

89 Siehe IV.4.

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Prozess zustande gekommen sind.»90 Dabei stützt sich die ENHK sowohl in ihrer Bestellung (aArt. 24, heute Art. 25) als auch in ihrer Aufgabe (Art. 7 ff.) direkt aufs NHG von 1966.91 Neben dieser spezialgesetzlichen Grundlage betrauen das Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz und die zugehörige Verordnung den Bundesrat ausdrücklich mit der Schaffung ausserparlamentarischer Kommis- sionen.92 Diese Verankerung auf Gesetzesstufe verschafft der ENHK eine breite demokratische Legitimation.93

Wie die Bezeichnung als unabhängige ausserparlamentarische Kommission impliziert, ist die Bestellung durch den Bundesrat nicht Mangel an Legitimation, sondern staatspolitisches Gebot und Ausdruck der stufengerechten Zuordnung von Entscheidkompetenzen.94 Die Annahme, dass eine vom Volk gewählte Behörde freie Hand und letztes Wort haben müsse, geht von einem basisdemokratischen Zerrbild aus, das den Stufenbau der Staats- wie der Rechtsordnung verkennt.95 In den Worten der Geschäftsprüfungskommissionen braucht es «eine Art Gewalten- teilung zwischen dem Milizgremium und der Verwaltung».96 Daher ist auch die Berufung auf kantonale Souveränität oder kommunale Autonomie unbehelflich, wenn eine Rechtsmittelinstanz gestützt auf ein ENHK-Gutachten eine Baubewil- ligung aufhebt.97 Denn Art. 5 BV bindet alles staatliche Handeln ans Recht.98 Die in der Begründung zur Initiative Eder angeführten Regierungsräte und Gemein- den sind davon nicht ausgenommen, geschweige denn die Gerichte.

6. Unparteilichkeit

Besonders herbe Kritik an den Eidgenössischen Kommissionen äusserte der Re- gierungsrat des Kantons ZH im Rahmen der Vernehmlassung, indem er sie als

«‹Anwälte› der Schutzinteressen» bezeichnete und ihnen fehlende Zurückhaltung unterstellte.99 Mit dem Titel «Anwalt der Natur» ist nebst den Umweltorganisatio- nen zwar auch schon das BAFU bedacht worden.100 Bezogen auf die ENHK wirkt das Attribut aber besonders schief. Denn Anwälte vertreten Parteiinteressen.

Sie sind standesrechtlich gehalten, alles Rechtmässige zu unternehmen, was die Interessenwahrung ihrer Mandantschaft erfordert.101 Die ENHK als unabhängi- ge Fachbehörde repräsentiert dagegen gerade keine Partei. Ihr Beizug folgt der Überzeugung, dass sie «für die hier zu lösenden Aufgaben am besten geeignet»

90 Begründung der parlamentarischen Initiative Eder.

91 Vgl. Bundesrat, Botschaft NHG 1966, S. 120.

92 Siehe Art. 57 RVOG und Art. 8e RVOV; SÄGESSER, Art. 57 N. 30 ff., 57 und 83.

93 Vgl. MÜLLER / UHLMANN, N. 226.

94 Siehe Art. 47 Abs. 1 RVOG; SÄGESSER, Art. 57 N. 38; vgl. ferner HÄFELIN / MÜLLER / UHLMANN, N. 1603.

95 Im Jahr, in dem das NHG erlassen wurde, bemerkte MATTER im Jahrbuch der Neuen Helve- tischen Gesellschaft, dass «man bei uns zäher als anderswo an einem ideologischen Bild der Demokratie fest[hält], das auf die heutigen Verhältnisse nicht mehr paßt: man versteht sie als effektive Herrschaft des souveränen Volkes» (S. 47).

96 Geschäftsprüfungskommissionen, Kommissionen, S. 340.

97 BGer 1C_542/2012 vom 14. Mai 2013 E. 5.4; vgl. BGer 1C_595/2013 und 1C_596/2013 vom 21. Februar 2014 E. 4.1.2; GRIFFEL, Kurzgutachten, S. 14.

98 Siehe PFISTERER, S. 710.

99 Regierungsrat des Kantons ZH, S. 4.

100 Siehe Bundesrat, Botschaft Verbandsbeschwerderecht, S. 4349.

101 Art. 8 Abs. 2 der Standesregeln des Schweizerischen Anwaltsverbandes.

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ist.102 Demgemäss werden ihre Mitglieder auch nicht nach politischen, sondern fachlichen Kriterien bestellt (Art. 24 Abs. 1 Satz 2 NHV).

Dies übersieht auch Ständerat Eder, wenn er die ENHK noch in der ver- gangenen Frühjahrssession dafür schalt, dass sie mit ihrer kritischen Vernehm- lassungsantwort «ganz klar im Widerspruch zu ihrem Auftraggeber, dem Bun- desrat» stehe.103 Wäre die ENHK eine untergeordnete Verwaltungseinheit, träfe sie wohl eine Gehorsams- und Befolgungspflicht. Das Gegenteil aber ist der Fall:

Als unabhängige ausserparlamentarische Kommission unterliegt die ENHK kei- nen Weisungen.104 Der Bundesrat wählt einzig ihre Mitglieder und bezeichnet den Präsidenten bzw. die Präsidentin; «[i]m Übrigen organisieren sich die Kommissio- nen selber» (Art. 24 Abs. 1 Satz 4 NHV).

Richtig ist, dass die Gutachten der ENHK den Schutzanliegen zugute kom- men.105 Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch anmutet – die ENHK als

«unabhängige Fürsprecherin»106 –, erklärt sich mit einem strukturellen Gefälle:

Weil das Interesse an einer bestimmten Nutzung in der Regel «konkreter, evi- denter, dringlicher und notwendiger» scheint,107 befinden sich die Schutzanliegen von Haus aus in einer «Abwehrrolle».108 Um die Waffengleichheit wenigstens in den bedeutendsten Fällen zu gewährleisten, achtet die ENHK als unabhängiges Fachorgan «speziell» auf die Anliegen des Natur- und Heimatschutzes.109 Dieses spezielle Augenmerk ist nicht mit Parteilichkeit zu verwechseln: Einseitig ist die Kommission nur in ihrem Gegenstand, nicht in ihrer Ausrichtung.110

IV. Auslegung 1. Grammatik

Art. 7 NHG trägt die Marginalie «Begutachtung durch die Kommission». Er re- gelt, in welchen Fällen zwingend ein Gutachten der ENHK einzuholen ist, und äussert sich zu dessen Inhalt (Abs. 2). Ob ein Fall nach Abs. 2 vorliegt, beurteilt die zuständige Fachstelle des Bundes oder des Kantons (Abs. 1). Zum Einbezug und Stellenwert des Gutachtens äusserte sich das Gesetz bisher nicht. Diese Lü- cke schliesst nArt. 7 Abs. 3 NHG dahingehend, dass er das Gutachten als «eine der Grundlagen für die Abwägung aller Interessen durch die Entscheidbehörde»

bezeichnet. Gegenüber dem Vorentwurf entfiel der Nebensatz mitsamt der be- grifflichen Neuschöpfung der «Gesamtinteressenbeurteilung».111 Bezogen darauf

102 Bundesrat, Botschaft NHG 1966, S. 104.

103 Votum Ständerat Eder in AB S 2019 165.

104 SÄGESSER, Art. 8 N. 49 f., Art. 57 N. 101 und 112; ZIBUNG, Art. 71 N. 28.

105 LEIMBACHER, Komm. NHG, Art. 7 N. 11.

106 Ebd., Art. 7 N. 15. Ähnlich bewirkte die Öffnung des Zugangs zum Bundesgericht für heikle Konzessionsvorhaben «eine unabhängigere und tendenziell schutzfreundlichere Rechtspre- chung» (MARTI, Schutzkonzept, S. 89).

107 ROHRER, 3. Kap. N. 2.

108 TSCHANNEN, S. 115. Hinter jeder Bau- oder Planbewilligung stehen Interessenten und Promo- toren, die ihren Einzelfall mit «der Hartnäckigkeit der Direktbetroffenen» vertreten (ROHRER, 3. Kap. N. 2). Dagegen versteht es sich durchaus nicht von selbst, dass jemand den Ab- und Wiederaufbau einer alten Klostermauer «um jeden Preis» verhindern will (so aber die ENHK in BGer 1C_118/2016 vom 21. März 2017 E. 2.2).

109 BGE 127 II 273 E. 4b; BGer 1C_109/2018 und 1C_117/2018 vom 6. Februar 2019 E. 4.3 a. E.

110 Vgl. MARTI, Urteilsbesprechung, S. 574 f.

111 Siehe II.2 und V.5.

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sprach die UREK-S zurecht von einer «sprachliche[n] Korrektur», welche die

«Kernaussage» nicht berührt.112

Die Kernaussage ist in der Tat beide Mal dieselbe. Sie erschöpft sich in der Bezeichnung der Gutachten als «eine[r] der Grundlagen» («une des bases»,

«uno degli elementi») für die Behörde.113 Die anvisierte Lücke aber vermag sie da- mit nicht zu schliessen. Denn mit Bestimmtheit lässt sich dem Wortlaut nur ent- nehmen, dass die Behörde ihren Entscheid aufs Gutachten stützt. Unbeantwortet bleibt die Frage nach dessen Stellenwert. Abhängig von der Betonung des Satzes ergeben sich zwei gegensätzliche Auslegungsvarianten, die sich im Anschluss an NOLL als «gestaltend» und «erhaltend» bezeichnen lassen:114

a) Entweder bildet das Gutachten «eine der Grundlagen». Hier steht die «eine»

Grundlage für den unbestimmten Artikel. Diese Lesart ist erhaltend, weil sie nur festhält, was ohnehin gilt, nämlich dass die Behörde ihrem Entscheid das Gut- achten zugrunde legt;

b) Oder aber es bildet «eine der Grundlagen». Hier firmiert die «eine» Grundlage als Numerale. Auch nach dieser Lesart legt die Behörde ihrer Entscheidung das Gutachten zugrunde, doch bildet dieses «nur noch ‹e i n e der Grundlagen›».115 Diese Auslegung wirkt gestaltend, indem sie dem Gutachten seine bisherige Son- derstellung abspricht.

2. Systematik

Nicht nur Art. 7 NHG hat seit seinem Inkrafttreten Änderungen erfahren, auch dessen Regelungsumfeld hat sich gewandelt. Insbesondere steht die aktuelle Re- vision in engem Zusammenhang mit der Energiestrategie 2050.116 Der daraus hervorgegangene Art. 12 EnG begünstigt die erneuerbaren Energien spürbar.117 Einen ähnlichen Zweck verfolgt das revidierte Raumplanungsgesetz (RPG), in- dem es den Nutzungsinteressen an der Solarenergie einen generellen Vorrang vor

«ästhetischen Anliegen» einräumt.118 Parallel zu dieser Privilegierung statuiert Art. 14 Abs. 3 EnG für die Gutachten der ENHK eine Frist mit Säumnisfolge.119

Die aktuelle Revisionsbestimmung fügt sich mithin in eine Reihe von Regelungen ein, welche materiell die Nutzungsinteressen stärken und prozessual den Druck auf die ENHK erhöhen. Um den verstärkten Schutz, der den Bundes- inventarobjekten kraft Art. 5 ff. NHG zukommt, nicht einzuebnen, ist bei wei-

112 UREK-S, Bericht II, S. 353.

113 Im Deutschen (BBl 2019 357 und 6559) und Französischen (FF 2019 355 und 6219) stimmt der Entwurfstext mit dem der Schlussabstimmung überein. Im Italienischen weicht der Entwurf («una delle basi», FF 2019 353) ohne erkennbaren Grund von der Fassung der Schlussabstim- mung ab («uno degli elementi su cui l’autorità decisionale si basa», FF 2019 5411).

114 NOLL unterscheidet zwischen «gestaltenden» und «kodifizierenden» Gesetzen (S. 215). Ähnlich und ebenfalls im Anschluss an NOLL differenziert SCHINDLER zwischen «evolutionären» und

«konservierenden Gesetzen» (S. 194).

115 HÄFLIGER, S. 4 (Hervorhebung im Original).

116 Vgl. die Initiativbegründung sowie das Votum von Ständerat Eder in AB S 2015 944.

117 Siehe PLÜSS, Interessenabwägung, N. 34 und 98.

118 Art. 18a Abs. 4 RPG (SR 700); siehe auch Art. 18a Abs. 1 RPG i. V. m. Art. 32a der Raum- planungsverordnung (RPV; SR 700.1); BGer 1C_179/2015 vom 11. Mai 2016 E. 6.2.

119 Siehe II.1.4 und V.4.

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teren Abstrichen Vorsicht geboten und aus systematischer Sicht eine erhaltende Auslegung anzunehmen.

3. Teleologie

Wie erwähnt leitete das Bundesgericht im Entscheid Hallau die Autorität der Begut- achtung durch die ENHK primär aus der Überlegung ab, dass ebendarin der «Sinn des Beizugs» liege.120 Dieses Ziel würde verfehlt, wenn es die Entscheidbehörde in der Hand hätte, sich nach Gutdünken auf diese oder jene Entscheidgrundlage zu stützen. Spätestens seit die ENHK nurmehr schwerwiegende Beeinträchtigungen und Grundsatzfragen begutachtet, geht es bei den infrage stehenden Eingriffen

«ausnahmslos um wichtige Fälle».121 Gerade in diesen anspruchsvollen Verfahren muss der Sachverstand der ENHK wirksam eingebracht werden. Die teleologische Auslegung gebietet daher eine erhaltende Lesart von nArt. 7 Abs. 3 NHG, wel- che die Gutachten nicht in ihrer Bedeutung schmälert; dies umso mehr, als die Schutzinteressen – wie vorstehend dargelegt – bereits anderweitig geschwächt worden sind.

4. Historie

In der Begründung zur Initiative Eder war noch keine Rede von einer «gängigen Praxis». Im Gegenteil stellte sich der Initiant deutlich gegen den Status quo. Er beanstandete, dass die ENHK «ein derartiges Gewicht» besitze und die Behörden

«kaum noch» von deren Gutachten abwichen.122 Noch in der Herbstsession 2015 bekräftigte er seine Kritik daran, dass diese Gutachten «meistens eine entschei- dende Rolle» spielen.123

Die UREK-S übernahm den Wortlaut der Initiative, ohne sich deren Stoss- richtung zu eigen zu machen. Statt eine Schwächung der als «sakrosankt»124 emp- fundenen Gutachten zu fordern, stellte sich die Parlamentskommission in ihrem Erstbericht auf den Standpunkt, diese seien schon heute «eine Grundlage unter anderen»125 bzw. «lediglich eine von mehreren Grundlagen».126 Die Kommissions- mehrheit erachtete die Änderung als schlichtweg «unbestritten».127

Die Vernehmlassung strafte diese Annahme Lügen. Die beantragte Er- gänzung von Art. 7 NHG wurde mehrheitlich abgelehnt.128 Lehrreich sind die vom BAFU zusammengetragenen Argumente der Befürworterseite (welche die Mehrheit der Kantone auf sich versammelte). Sie unterstützte die Vorlage aus drei Gründen:

weil «die gängige Praxis auf Gesetzesstufe festgehalten», «die Stellung der ENHK geklärt» und «die Stellungnahmen der Fachkommissionen künftig weniger stark gewichtet werden».129 Bezeichnenderweise lehnten 33 der Stellungnehmenden (da-

120 Siehe III.3.1.

121 GRIFFEL, Kurzgutachten, S. 11 (Hervorhebung im Original).

122 Siehe III.5.

123 Votum Ständerat Eder in AB S 2015 945.

124 Siehe Votum Nationalrat Knecht in AB N 2019 1620; vgl. auch HÄFLIGER, S. 4; WEISS, S. 9.

125 UREK-S, Bericht II, S. 350; gleichlautend in Bericht I, S. 2.

126 Dies., Bericht II, S. 355; gleichlautend in Bericht I, S. 11.

127 Dies., Bericht I, S. 4.

128 BAFU, S. 12. Dieses Mehr verbliebe auch, wenn man die zwölf kantonalen und lokalen Sektio- nen der Umwelt- und Naturschutzverbände gesammelt erfasste.

129 Siehe ebd.

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runter sieben Kantone und die Stadt Zürich) die Vorlage aus demselben Grund ab,

«da sie gängiger Praxis entspreche».130 Darüber hinaus einte die Gegner der Vor- lage die Befürchtung, dass «die Stellung der Kommission zumindest symbolisch», wenn nicht tatsächlich geschwächt würde.131 Ohne auf die kritischen Einwände vonseiten der Lehre einzugehen,132 hielt die UREK-S auch im Folgebericht an ih- rer Überzeugung fest, dass die beantragte Ergänzung nur «die gängige Praxis auf Gesetzesstufe» festhalte.133 Der Bundesrat folgte dieser Ansicht und taxierte den neuen Abs. 3 gar als «allseits anerkannten Rechtsgrundsatz».134

Die erhoffte Klarheit wurde damit indes nicht geschaffen, der bestehen- de Zwist nur in eine neue Formulierung gegossen: Was «eine der Grundlagen»

bedeutete, ergab sich nun aus der «gängigen Praxis». Dieser dilatorische Formel- kompromiss prägte die parlamentarische Diskussion bis zuletzt. Am deutlichsten wurde dies in der letzten Ratsdebatte vom 17. September 2019, die eine regelrechte Auswahlsendung an Deutungen hervorbrachte. Den Anfang machte Nationalrat Schilliger mit der Erklärung, dass man die gängige Praxis verankern wolle, nach der die Gutachten «nicht als einzige, sondern als eine Grundlage unter anderen»

betrachtet würden.135 Als nächster erläuterte Nationalrat Page, dass die Revision den Stellenwert der Gutachten «etwas relativiere», um im nächsten Absatz darauf hinzuweisen, dass sie ihn «präzisiere».136 Nationalrat Knecht beteuerte wiederum, dass die Revision eine «Präzisierung und Klärung» anstrebe, wonach «die Gutach- ten lediglich eine von vielen Grundlagen» seien.137 Sein Nachredner, Nationalrat Jans, argwöhnte demgegenüber, dass die Revision «die Stellung des ENHK-Gut- achtens relativieren» wolle.138 Daraufhin äusserte Nationalrat Vogler seine Über- zeugung, dass die Gutachten im Sinne der Revision «nur noch» bzw. «lediglich eine von mehreren Grundlagen» bilden würden.139 Dem schloss sich Nationalrat Bäumle an und ergänzte, dass die Vorlage «eine Präzisierung und, wie schon angetönt wurde, eine Anpassung» mit sich bringe: «Es geht also heute nicht um einen Kahlschlag, es geht um eine leichte Aufweichung».140 Dagegen wiederholte Bundesrätin Sommaruga in ihrem Schlussvotum den Standpunkt der Regierung, demzufolge die Revision nur einen anerkannten Grundsatz verankere: «Damit ist auch gesagt, dass die Ergänzung nicht zu einer Schwächung der Gutachten der ENHK und der EDK führt.»141 Die beiden Überschriften in der SDA-Meldung

130 BAFU, S. 13 (Hervorhebung hinzugefügt).

131 Ebd.

132 MARTI warnte davor, dass die Gutachten in ihrer Bedeutung abgeschwächt würden (Komm. BV, Art. 78 N. 8, sowie Gutachten, S. 20 ff.); GRIFFEL befürchtete, dass sie «sehr stark relativiert»

und «faktisch zu unverbindlichen Stellungnahmen degradiert» würden (Kurzgutachten, S. 12 und 14, Hervorhebung im Original).

133 UREK-S, Bericht II, S. 355.

134 Bundesrat, Stellungnahme, S. 1336; vgl. das gleichlautende Votum von Bundesrätin Sommaruga in AB N 2019 1622.

135 Votum Nationalrat Schilliger in AB N 2019 1619.

136 Votum Nationalrat Page in AB N 2019 1620: «Le projet de la commission relativise quelque peu l’importance des expertises établies par la Commission fédérale pour la protection de la nature et du paysage dans la loi. [...] La révision de la loi sur la protection de la nature et du paysage précise la valeur des expertises fédérales en matière de droit procédural» (Hervorhebung hinzugefügt).

137 Votum Nationalrat Knecht in AB N 2019 1620.

138 Votum Nationalrat Jans in AB N 2019 1620.

139 Votum Nationalrat Vogler in AB N 2019 1621.

140 Votum Nationalrat Bäumle in AB N 2019 1621.

141 Votum Bundesrätin Sommaruga in AB N 2019 1622.

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2020 –2

zur Ratsdebatte fassen deren Widersprüche unfreiwillig zusammen: «Weniger Gewicht» und «Nützliche Präzisierung».142 Letztlich führt die Historie zu keinem eindeutigen Auslegungsergebnis; die «gängige Praxis» bleibt unbestimmt. Ein Blick auf die Realien soll daher klären, worin diese besteht.

5. Realien

Das realistische Element – das auf EUGEN HUBER, den Redaktor des Zivilgesetz- buches, zurückgeht – nimmt die Realien in den Blick, d. h. die «tatsächlichen Verhältnisse».143 Teile der Lehre verorten dieses «fünfte Element»144 innerhalb der Teleologie oder der Historie.145 Nach hier vertretener Ansicht erlangt die realisti- sche Auslegung dort eigenständige Bedeutung, wo der Normsinn erst im Rückgriff auf die Rechtswirklichkeit kenntlich wird.146 Dies ist vorliegend der Fall, da sich Gegner wie Befürworter der Revision unter verschiedenen Vorzeichen auf diesel- be «Praxis» berufen. Bei dieser Sachlage beantwortet das realistische Element die Frage nach dem tatsächlichen Inhalt der angerufenen Praxis.

Entgegen dem Anschein, den die Ratsdebatten erweckten, ist diese Praxis eindeutig: Lehre und Rechtsprechung gehen darin einig, dass die Gutachten nicht bloss eine von vielen Grundlagen sind, sondern in ihrer Bedeutung erstrangig, zentral und unabdingbar.147 Diese gefestigte Praxis kann nicht rückwirkend um- gedeutet werden.148 Wenn die UREK-S und der Bundesrat einstimmig betonen, da- ran festzuhalten, so sind sie darauf zu behaften. Ergänzt um die Realien bestätigt somit die Historie, was schon Systematik und Teleologie nahelegen: Die Gutachten der ENHK behalten auch unter der Geltung von nArt. 7 Abs. 3 NHG ihre quali- fizierte Bedeutung. An der bisherigen Rechtslage ändert sich materiell nichts.149

V. Legistische Prüfung 1. Rechtssicherheit

Aus der Distanz erstaunt die Verve, mit der darauf gepocht worden ist, eine ver- meintlich unbestrittene Praxis gegen Widerstände im Gesetz zu verankern. Die UREK-S verspricht sich von der Revision mehr Rechtssicherheit.150 Der Bundesrat sekundiert und führt zur Begründung an:

«Dabei [d.h. bei nArt. 7 Abs. 3 NHG] handelt es sich um einen allseits anerkannten Rechtsgrundsatz. Die beantragte Ergänzung von Artikel 7 NHG wäre eine Präzisie-

142 Schweizerische Depeschenagentur (SDA), Meldung zur Debatte im Nationalrat vom 17. Sep- tember 2019.

143 E. HUBER, S. 282.

144 Ebd., S. 281.

145 Siehe die Hinweise bei EMMENEGGER / TSCHENTSCHER, Art. 1 N. 325.

146 Schon SAVIGNY erachtete den seinerzeitigen Methodenkanon (Grammatik, Logik, Historie und Systematik) nur «für den gesunden Zustand des Gesetzes» als ausreichend (S. 222), nicht aber für die «mangelhaften Gesetze», deren Ausdruck unbestimmt oder unrichtig ist (S. 232 ff.).

147 Siehe III.3.1.

148 GRIFFEL, Umweltrecht, S. 253.

149 Ebd.

150 UREK-S, Bericht II, S. 350 und 355; Bericht I, S. 2 und 11.

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