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2021

ISBN 978-3-406-77616-8

C.H.BECK

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I. Die Ausbreitung Lübecker und Magdeburger Rechts im Rahmen der Ostbesiedlung

1 Zwei Stadtrechte haben seit dem frühen 13. Jahrhundert eine europaweite Bedeutung gewonnen, zum einen das Recht Lübecks und zum anderen das Magdeburger Recht.

Die Ausbreitung beider Rechte steht im Zusammenhang mit der Binnenkolonisation zwischen Elbe und Oder sowie der Ostbesiedlung durch vorwiegend deutsche Kauf- leute, Handwerker und Bauern. Die enorme Mobilität der hoch- und spätmittelalter- lichen Gesellschaft kommt darin unübersehbar zum Ausdruck. Die Umstände, die den Transfer Magdeburger und Lübecker Rechts begleitet haben, waren allerdings ver- schieden.

2 Die Bewidmung mit dem Recht der Stadt Lübeck hat mit der dominierenden Rolle Lübecks als Ostseehafenstadt zu tun. Aus Lübeck erfolgte über den Seeweg seit dem späten 12. Jahrhundert die Gründung neuer Städte, häufig an bereits bestehenden Handelsplätzen am Südufer der Ostsee. Dort ließen sich Händler und Handwerker vor allem aus Niedersachsen, Mecklenburg, Holstein und Westfalen nieder. Die Bür- ger dieser neuen Städte, unter denen wahrscheinlich auch Angehörige Lübecker Kauf- mannsfamilien waren, erbaten sich häufig das Recht der Stadt Lübeck. Rat und Ge- richt wurden nachLübecker Vorbildeingerichtet. Lübecker Stadtrecht wurde etwa im Jahr 1229 an Wismar, 1234 an Stralsund und 1250 an Greifswald verliehen. Auch Rostock, Ribnitz, Kolberg, Danzig, Memel und Reval (Tallinn) erhielten ihr Recht aus Lübeck, ebenso einige Landstädte wie Eutin, Itzehoe, Schwerin und Güstrow.

3 Beispielsweise bildete sich nach der Eroberung einer estnischen Burg durch den däni- schen König Waldemar II. im Jahr 1219 in Ufernähe eine erste Siedlung dänischer Händler mit einer St. Olav-Kirche als Zentrum. Als Estland wenig später für einige Jahre an den Schwertbrüderorden übergegangen war, entstand daneben auch eine deutsche Kaufmannssiedlung unterhalb des Burgbergs um die St. Nikolaus-Kirche.

Daraus ist die Stadt Reval (Tallinn) entstanden. Im Jahr 1248 verlieh König Erich IV.

von Dänemark den Bürgern von Reval ausdrücklich das Recht, nach dem die Bürger Lübecks lebten:„Ericus ... civibus nostris de Revalia ... remittimus ipsis omnia iura, quae habent cives Lybicenses.“199Auf Bitten der Revaler Bürgerschaft übersandte der Lübe- cker Rat daherAbschriften des Stadtrechts,zunächst einen lateinischen Codex mit 103 Artikeln und im Jahr 1282 einen niederdeutschen Codex mit 168 Artikeln. Dabei handelt es sich um die älteste erhaltene deutschsprachige Textfassung des lübischen Rechts. Einige Ostseestädte übernahmen jedoch auch Hamburger Recht, darunter die bedeutende Handelsmetropole Riga.

4 Das Magdeburger Recht wurde vermutlich im 10.–12. Jahrhundert als Recht der Magdeburger Kaufleute entwickelt. Die Autorität der Magdeburger Schöffen ging ver- mutlich auf ihre Stellung als Urteiler am ehemaligen königlichen Pfalzgericht zurück.

Magdeburger Recht ist an viele hundert Städte verliehen worden. Es verbreitete sich zunächst in das östliche Sachsen und Brandenburg, dann weiter nach Pommern, Schlesien und Posen, in das Ordensland Preußen, nach Böhmen, Mähren und Polen bis in die heutige Ukraine und nach Weißrussland hinein. Im Gebiet zwischen Elbe und Oder hatte der Siedlungsprozess bereits im 10. Jahrhundert begonnen und er-

199 Tiina Kala, Lübeck Law and Tallinn, 1998, S. 17; Der Revaler Kodex des lübischen Rechts 1282, 1998, S. 33f.

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reichte im 12. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Damals erhielten beispielsweise Bran- denburg, Stendal und Neubrandenburg Magdeburger Recht. Im 13. Jahrhundert wurde das sächsisch-magdeburgische Recht an Städte und Dörfer inSchlesienverlie- hen, als die schlesischen Herzöge im großen Stil deutsche Bauern, Handwerker und Kaufleute als Siedler anwarben. Schon seit der Mitte des 12. Jahrhunderts hatten die schlesischen Herzöge enge Beziehungen zu Kaiser Friedrich Barbarossa und dem Reich aufgebaut, aber vor allem der verheerende Einfall der Mongolen im Jahr 1241 machte einen Neuanfang notwendig. Angesichts guter Exportmöglichkeiten für Ge- treide in die wachsenden Städte des Westens sollte die Landwirtschaft effektiver betrie- ben, bisher unbebautes Land urbar gemacht und der Handel befördert werden. Die neu gegründeten Städte übernahmen regelmäßig Magdeburger Recht, darunter Bres- lau, Liegnitz, Neisse und Schweidnitz in Schlesien, aber auch Olmütz in Mähren.

5 Im Zuge des Landesausbaus kam es zeitgleich auch zur Gründung neuer Dörfer. In Schlesien übertrug der Herzog in der Regel adeligen Grundherrn in Privilegien die Be- fugnis, Dörfer nach „ius teutonicum“ (nach deutschem Recht) zu gründen. Der Grundherr schloss seinerseits mit einem Lokator einen Vertrag zur Anwerbung deut- scher Bauern, denen freies Siedlungsland zu günstigen Bedingungen und einevorteil- hafte subjektive Rechtsstellungversprochen wurden. Sie kamen häufig aus dem frän- kisch-rheinischen Bereich, manchmal aber auch aus Flandern. Den Siedlern versprach der Herzog die persönliche Freiheit und sie erhielten ihr Land infreier Erbleihegegen jährliche Zahlung eines festen Zinses (Erb- oder Grundzins). Auf einen Großteil seiner Rechte auf Abgaben und Dienstleistungen, zu denen polnische Bauern verpflichtet waren, hatte der Herzog zugunsten der Neusiedler verzichtet. Mancherorts wurden den Bauern sogar Freijahre gewährt, vor allem wenn der Boden erst urbar gemacht werden musste, so dass für die ersten Jahre nach der Dorfgründung gar keine Pflicht zur Leistung von Grundzinsen bestand. Die dörflichen Gemeinschaften bildeten einen eigenen autonomen Rechtskreis und regelten ihre inneren Angelegenheiten selbständig. Die nach deutschem Recht gegründeten Dörfer entzog der Herzog der Gerichtsbarkeit der herzoglichen Kastellane und gewährte ihnen stattdessen eigene Gerichtemit dem Dorfschulzen als Richter. Das Schulzenamt hatte sich der Lokator neben einer größeren Bauernstelle regelmäßig reserviert. Der Schulze saß in deutsch- rechtlicher Tradition dem Gericht vor, während die Urteiler aus der Bauernschaft ka- men. Nur die Hochgerichtsbarkeit über schwere Delikte, die an Leib und Leben gin- gen, verblieb in der Hand des Herzogs.

6 Überwiegend wurden die Städte und Dörfer in Schlesien mit sächsisch-magdeburgi- schem Recht bewidmet. In den Urkunden war von„ius teutonicum“,„ius Saxonum“

oder„ius Maideburgensis“die Rede. Eine umfassende inhaltliche Festlegung, um wel- che rechtlichen Regeln es sich dabei überhaupt handelte, fehlte jedoch häufig. Erkenn- bar ist aber, dass die Verleihung deutschen Rechts von den Zeitgenossen als eine weit- gehend autonome Rechtsstellung, eine bürgerliche oder bäuerliche Freiheit verstanden wurde. Als zentrale Elemente des „ius teutonicum“ galten ein freier, vererblicher Grundbesitz ohne Dienstpflichten, die eigene Gerichtsbarkeit mit einer Schöffenbank sowie in der Stadt die Selbstverwaltung durch den Rat. Insofern enthielt dieses deut- sche Recht keinen vollständigen einheitlichen Normbestand. Es konnte daher inhalt- lich von Ort zu Ort in einzelnen Punkten variieren. Hinsichtlich der genannten Kern- bereiche lässt sich aber eine Übereinstimmung feststellen. Darauf gründeten sich die bürgerliche und bäuerliche Freiheit sowie der Ruf und das Renommee des deutschen

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Rechts. Herzog Sobeslav II. von Böhmen wies daher in seinem Privileg für die deut- schen Bürger in Prag um das Jahr 1176 darauf hin, die Deutschen seien freie Leute:

„Noveritis, quod Theutunici liberi homines sunt“200. Clausdieter Schott und Heiner Lück haben deshalb davon gesprochen, das Magdeburger Recht sei aufgrund seiner Attraktivität zu einer Marke geworden und hätte als Matrix für eine Vielzahl von Stadtrechten gedient201. Die mit der Verleihung des deutschen Rechts verbundene vorteilhafte Rechtsstellung konnte daher auch polnischen Bauern und polnischen Städten verliehen werden. Insofern sieht die heutige Forschung als entscheidenden Faktor für den Landesausbau weniger die Ostbesiedlung an sich als vielmehr die Ge- währung des„ius teutonicum“an, das Eigeninitiative, Selbstverantwortung und wirt- schaftliche Aktivität freisetzte.

7 Auch impreußischen Ordenslandsollte gemäß der„Kulmer Handfeste“in den Städ- ten, etwa in Thorn, Kulm und Elbing, das Magdeburger Recht angewandt werden.

Um Hilfe vom Deutschen Orden gegen die Überfälle der heidnischen Pruzzen zu er- halten, hatte der Herzog von Masowien aus dem polnischen Fürstenhaus der Piasten dem Orden das Kulmer Land an der Weichsel versprochen. Im Jahr 1226 verlieh Kai- ser Friedrich II. dem Hochmeister des Deutschen Ordens sodann das östlich von Kulm gelegene Pruzzenland. Der Vertrag des Ordens mit dem Herzog von Masowien, die kaiserliche Verleihungsurkunde und das päpstliche Schutzprivileg lassen übrigens aufgrund der präzisen Verwendung römischrechtlicher Begriffe deutlich den wachsen- den Einfluss der Rezeption und des römischen Rechts erkennen. Den Landesausbau und den Aufbau einer territorialen Verwaltunghat der hierarchisch klar struktu- rierte Orden planmäßig durchgeführt. An der Weichsel entstanden zunächst die Städte Thorn und Kulm, Marienwerder und Elbing. Die Marienburg sollte später so- gar Sitz des Hochmeisters werden. Schon 1232/1233 gewährten der Hochmeister Hermann von Salza (um 1179–1239) und der Landmeister für Preußen und Livland Hermann Balk den Städten Kulm und Thorn mit derKulmer Handfestedas Privileg, Magdeburger Recht anzuwenden202. Die Kulmer Handfeste enthielt im Wesentlichen sächsisches Recht. Nur im Erbrecht sollten flämische Regeln gelten, ein Hinweis dar- auf, dass Neusiedler vermutlich auch aus Flandern kamen. Nach flämischem Recht waren Söhne und Töchter erbrechtlich gleichgestellt, während das sächsische Recht die Söhne bevorzugte.

8 Nach Magdeburger Vorbild wurde in allen Städten mit Kulmer Recht neben dem Rat auch ein Schöffenkollegium eingerichtet. Die Handfeste sicherte den Bürgern das Recht zu, sich jährlich selbst einen städtischen Richter zu wählen. In den Gerichten sollte nach Magdeburger Recht geurteilt werden. Der Grundbesitz war frei und ver- erblich. Die Kulmer Handfeste wurde Schritt für Schritt auch in den anderen preußi-

200 Wilhelm Weizsäcker, Quellenbuch zur Geschichte der Sudentenländer, Bd. I, München 1960, Nr. 12, c. 13.

201 Clausdieter Schott, Sachsenspiegel und Magdeburger Stadtrecht, Impuls und Fundament der Rechts- entwicklung in Europa, in: forum historiae juris, http//www.forhistiur.de/zitat/0707schott.htm, Rdnr. 34f.; Heiner Lück, Das Magdeburger Recht als europäisches Kulturphänomen, in: Gabriele Köster/Christina Link, (Hrsg.), Faszination Stadt, Die Urbanisierung Europas im Mittelalter und das Magdeburger Recht, Dresden 2019, S. 4659, 52.

202 Ein Abdruck der Kulmer Handfeste findet sich in: Lorenz Weinrich, (Hrsg.), Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 32), Darmstadt 1977, Nr. 115, S. 438453.

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schen Städten angewendet und galt schließlich generell als Landrecht im ganzen Terri- torium des Deutschen Ordens. Sogar in Danzig, das zunächst Lübecker Recht erhal- ten hatte, setzte der Orden 1343 die Anwendung des Kulmer Rechts durch, nachdem die Stadt im Jahr 1308 in den preußischen Ordensstaat eingegliedert worden war.

9 Das Erfolgsmodell des„ius teutonicum“führte schließlich dazu, dass der polnische Kö- nig Kasimir der Große (reg. 1333–1370) fast alle polnischen Städte mit Magdeburger Recht bewidmete. So verlieh er es etwa im Jahr 1356 an die Bewohner Lembergs (heute L’viv/Ukraine). Auch König Ottokar II. von Böhmen hatte schon in der Mitte des 13. Jahrhunderts den Sachsen, die er unterhalb der Burg auf der Prager Kleinseite hatte ansiedeln lassen, das Privileg erteilt, ihr eigenes Recht behalten zu dürfen. Es wird als Magdeburg-Leitmeritzer Recht bezeichnet, weil sich das Gericht der Prager Kleinseite noch bis 1387 bei Anfragen nach Magdeburg als Oberhof wandte, ehe Leit- meritz zum neuen Oberhof avancierte.

II. Der Rechtszug an einen Oberhof

10 Die Verleihung der Rechte Lübecks und Magdeburgs führte zur Entstehung großer Stadtrechtsfamilien,die ganz unabhängig von politischer Herrschaft kulturell und rechtlich miteinander verbunden blieben. Als sich beispielsweise die Vertreter einiger Ostseestädte im November 1358 in Greifswald trafen, bezeichneten sie ihre Her- kunftsorte als die Städte, welche auf lübischem Recht gegründet waren:„civitates quia cum jure Lubicensi fundati [sunt]“203. Da das Recht von einer Mutterstadt an die Tochterstädte weitergegeben worden war, galten der Rat oder der Schöffenstuhl der Mutterstadt weiterhin als besondere Autorität. Es bildete sich daher ein Rechtszug aus, weil der Rat von Lübeck, bzw. der Magdeburger Schöffenstuhl jeweils alsOber- hoffungierte. Wusste beispielsweise der Rat einer mit lübischem Recht bewidmeten Stadt in einem Prozess keine Entscheidung zu finden, wurde die Rechtsfrage dem Lü- becker Rat vorgelegt, der daraufhin das Urteil formulierte. Den Hintergrund mochten unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten im Rat der Tochterstadt bilden oder die Besorgnis der Befangenheit eines Ratsherrn, der vielleicht mit einer Partei verwandt war. Bisweilen leitete der Rat selbst die Anfrage in die Wege, manchmal waren es die Parteien. Anfangs sind die Parteien sogar persönlich mit ein oder zwei Ratsherren nach Lübeck gereist, um sichRechtsweisungvom Lübecker Rat zu holen. Nur aus Reval (Tallinn) durfte die Bitte um ein Urteil zur Lösung des Falls aufgrund der großen Ent- fernung schriftlich erfolgen. Die Entscheidung wurde sodann vom Lübecker Rat ge- troffen, an den Rat von Reval (Tallinn) gesandt und dort als Urteil verkündet. Der Rechtszug stellte also grundsätzlichkeinen Instanzenzugdar. Es wurde nicht an ein höherrangiges Gericht appelliert, weil noch gar kein Urteil gesprochen worden war, das hätte angefochten werden können. Es blieb vielmehr beim einstufigen Verfahren.

Erst im 15. Jahrhundert zeigten sich Veränderungen. Es ist daher eineÜbergangszeit anzunehmen, in der sich der Rechtszug zur Appellation an ein zweitinstanzliches Ge- richt fortentwickelte.

11 Auch der Magdeburger Schöffenstuhl hat Anfragen der Schöffen aus Halle, Helm- stedt, Liegnitz, Breslau oder Olmütz erhalten und beantwortet. Aufgrund der enor- men Ausbreitung des Magdeburger Rechts haben sich aberlokale Oberhöfeausgebil-

203 Hanserezesse, Bd. I, Leipzig 1870, Nr. 220, S. 146f.

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det, etwa Breslau für Schlesien und Leitmeritz für Böhmen. Auch Kulm sollte als Oberhof für Rechtsfragen der preußischen Städte dienen. Trotzdem wandten sich die Schöffen von Thorn unter Umgehung Kulms seit Anfang des 14. Jahrhunderts unmit- telbar an die Magdeburger Schöffen. Bis in das 16. Jahrhundert, teilweise bis in das 18. Jahrhundert hinein, prägten daher der Rat von Lübeck und die Schöffen von Mag- deburg das Recht im östlichen Mitteleuropa. Die Schöffenstühle verloren erst mit dem 16. Jahrhundert ihre Bedeutung. Die Territorialherren verboten ihren Städten vielfach die Anrufung auswärtiger Gerichte und richteten eigene Obergerichte ein, beispiels- weise in Leipzig für Kursachsen, in Prag für Böhmen und Schlesien, in Krakau für Polen.

12 Inhaltlich bezog sich der Rechtszug sowohl nach Lübeck als auch nach Magdeburg stets nur auf „das Recht“.Zum „Recht“gehörten beispielsweise in Magdeburg die Verfassung der Stadt mit dem Rat, der Schöffenbank und dem Vogt, die Gerichtsver- fassung und das Prozessrecht sowie die Regelungen von Eigen und Erbe, von Ehe und Vormundschaft sowie der Schuldverhältnisse. Es wird bereits von den Zeitgenossen auch als„sächsisches Weichbild“bezeichnet. Der Rechtszug war dagegen ausgeschlos- sen, wenn sich die Rechtsfrage auf eine städtische Satzung bezog. Die Satzungen (Will- küren) wurden in jeder Stadt selbstständig und autonom vom jeweiligen Rat erlassen und gehörten daher auch ausschließlich in die gerichtliche Kompetenz des Rats dieser Stadt. Die Magdeburger Schöffen haben es ausdrücklich abgelehnt, über Willküren einer Tochterstadt zu entscheiden, zumal der Magdeburger Schöffenstuhl auch in Magdeburg selbst keine Kompetenz hatte, über die Satzungen des Magdeburger Rats zu urteilen. Insofern war das Magdeburger Recht als das Recht der Magdeburger Schöffen nicht mit dem Magdeburger Stadtrecht identisch, zu dem eben auch die dor- tigen städtischen Satzungen gehörten. Im Zentrum der Rechtsweisungen standen daher das Privatrecht in heutiger Diktion, vor allem das Erbrecht, das eheliche Güter- recht, das Grundstücksrecht sowie das Handels- und Gesellschaftsrecht. In Magde- burg haben die Schöffen wohl im 14. Jahrhundert angefangen, ihre Sprüche aufzu- zeichnen und ein Archiv anzulegen. Es ist 1631 fast vollständig verbrannt. Aber teilweise wurden die Rechtsweisungen auch an den Empfängerorten bearbeitet und systematisiert. So sindRechtsbücherwie die sogenannten Magdeburger Fragen und das Breslauer Systematische Schöffenrecht entstanden. Nach Ansicht von Friedrich Ebel haben die Magdeburger Schöffen im 14. und 15. Jahrhundert eine„erstaunlich klare und feststehende Begrifflichkeit verwendet ..., die ein durchaus modernes und ratio- nales Rechtsverständnis erkennen“ließ204.

13 Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Recht und Satzung müssen für Lübeck das Lübecker Rechtunddas lübische Rechtunterschieden werden. Das Lübecker Recht war das Lübecker Stadtrecht inklusive der Satzungen, die der Lübecker Rat für die Stadt und deren Herrschaftsgebiet erlassen hatte. Entsprechend nahm der Rat in den Tochterstädten jeweils selbst die Satzungsgewalt für sich in Anspruch. Als lübi- sches Recht bezeichnet man dagegen die in allen Städten, die mit Lübecker Stadtrecht bewidmet worden waren, geltenden gemeinsamen Grundregeln zur Ratsverfassung, zur Gerichtsbarkeit sowie zum Privat- und Handelsrecht.

204 F. Ebel, Des spreke wy vor eyn recht, S. 447.

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§ 22. Die Anfänge der Gesetzgebung

Literatur:Sten Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, (Acta Universitatis Upsaliensis I), Uppsala 1960; Armin Wolf, Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten, in: Helmut Coing, (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. I, München 1973, S. 517800; ders., Gesetzgebung in Europa (11001500), Zur Entstehung der Territo- rialstaaten, München 1996; Hans Schlosser, Rechtsgewalt und Rechtsbildung im ausgehenden Mittelalter, in: ZRG GA 100, (1983), S. 952; Bernhard Diestelkamp, Einige Beobachtungen zur Geschichte des Ge- setzes in vorkonstitutioneller Zeit, in: ZHF 10, (1983), S. 385420; Wilhelm Janssen,... na gesetze un- ser lande .... Zur territorialen Gesetzgebung im späten Mittelalter, in: Der Staat, Beiheft 7, (1984), S. 740; Dietmar Willoweit, Rezeption und Staatsbildung im Mittelalter, in: Dieter Simon, (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, Jus Commune Sonderheft 30, Frankfurt am Main 1987, S. 1944 = ders., Staatsbildung und Jurisprudenz, Bd. I, Stockstadt 2009, S. 275300; ders., Gesetz- gebung und Recht im Übergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Okko Behrends/Christoph Link, (Hrsg.), Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff, Göttingen 1987, S. 123146; Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 2. Aufl. 1958, Ndr. Göttingen 1988; Kenneth Pennington, The Prince and the Law, 12001600: Sovereinity and Rights in the Western Legal Tradition, Berkeley/Los Angeles/London 1993; Steffen Schlinker, Fürstenamt und Rezeption, Reichsfürstenstand und gelehrte Literatur im späten Mittelalter, (Forschungen zur Deutschen Rechts- geschichte Bd. 18), Köln/Weimar/Wien 1999; Gisela Drossbach, (Hrsg.), Von der Ordnung zur Norm:

Statuten in Mittelalter und Früher Neuzeit, Paderborn/München/Wien/Zürich, 2010; Martin P. Schen- nach, Gesetz und HerrschaftDie Entstehung des Gesetzgebungsstaates am Beispiel Tirols, (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 28), Köln/Weimar/Wien 2010.

I. Die Gesetzgebung als Vorgang der Rechtsentstehung

1 Recht entsteht im modernen Staat kontinentaleuropäischer Prägung durch das Gesetz.

Das Recht wird heute sogar häufig mit dem Gesetz gleichgesetzt, obwohl zum Recht auch das Gewohnheitsrecht zählt. Art. 2 EGBGB bestimmt deshalb:„Gesetz im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs und dieses Gesetzes ist jede Rechtsnorm.“Dagegen war nach mittelalterlicher VorstellungRecht, was im Gericht geschah und im Konsens der Rechtsgenossen zur Lösung eines bestimmten Konflikts gefunden wurde205. Das Recht erhielt erst im gerichtlichen Verfahren seine konkrete Gestalt. DasGesetzist in- sofern eine späte Form rechtskultureller Entwicklung. DieGesetzgebung als Vorgang der Rechtsentstehung,wie sie sich in antiken Gesellschaften und in der römischen Kaiserzeit herausgebildet hatte, begegnet erst wieder seit dem hohen Mittelalter, an- gestoßen durch die Rezeption des römischen Rechts (oben§14).

II. Die geistesgeschichtlichen Grundlagen der Gesetzgebung

1. Das antike römische Recht und die gelehrte Jurisprudenz des Mittelalters 2 Die Gesetzgebung ist die Frucht eines geistesgeschichtlichen Wandels in der Zeit der

staufischen Renaissance. Im antiken römischen Recht und in der aristotelischen Philo- sophie entdeckten die mittelalterlichen Gelehrten zum einen, dass Recht bewusst ge- schaffen werden konnte, zum anderen lernten sie einneues Denkmodellfür das Ver- hältnis des Herrschers zum Recht kennen. Während das Recht im frühen Mittelalter vornehmlich relativ, als Beziehung zwischen einzelnen Personen gedacht wurde, stellte sich das wiederentdeckte römische Recht als objektive Ordnung dar. Für die Aus-

205 Alexander Maria Ignor, Über das Rechtsdenken Eikes von Repgow, Paderborn/München/Wien/Zü- rich 1984, S. 166.

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gestaltung dieser Ordnung wurde das Gesetz als allgemeine Norm bald zum Werkzeug des Herrschers. Damit ging ein Wandel im herrschaftlichen Selbstverständnis einher.

Der mittelalterliche Herrscher, der alsRichterunter dem Recht stand, wurde zumGe- setzgeber,der Recht setzen oder verändern durfte. Natürlich hatte das Recht im Mit- telalter auch bis dato Modifikationen erlebt, doch vollzogen sich diese Änderungen nur langsam und unmerklich in den traditionellen Formen des Gerichtsurteils, des Weistums, des Vertrages und des Privilegs. Auch die Kapitularien der fränkischen Kö- nige haben die weiten Bereiche des heutigen Privat- und Verfassungsrechts nahezu un- berührt gelassen (oben§5, Rdnr. 22ff.).

3 Die Grundlage für die Darlegungen der spätmittelalterlichen Juristen zum Gesetz- gebungsrecht des Herrschers waren einige Textstellen aus demCorpus Iuris Civilis des oströmischen Kaisers Justinian, die dem Willen des Fürsten Gesetzeskraft zu- schrieben(„Quod principi placuit, legis habet vigorem“)206und erklärten, der Fürst sei von den Gesetzen frei(„princeps legibus solutus est“)207. Ihrem Ursprung nach hatte die

„legibus solutus“-Formel gar keine verfassungsrechtliche Bedeutung, sondern war auf einen schmalen Bereich des Privatrechtes beschränkt. Derprinceps sollte persönlich den strengen Ehegesetzen des Augustus nicht unterworfen sein und außerdem An- sprüche aus formungültigen Testamenten geltend machen dürfen. Erst in der späten römischen Kaiserzeit diente der Satz zur Rechtfertigung absoluter kaiserlicher Macht.

An diese als autoritativ verstandenen Texte knüpften die wissenschaftlichen Über- legungen zur Gesetzgebungsmacht des Fürsten in den mittelalterlichen juristischen Schriften, in Fürstenspiegeln und in der politisch-staatsrechtlichen Literatur an. So wurde Kaiser Friedrich I. Barbarossa von denquattuor doctoresauf dem Reichstag von Roncaglia im Jahr 1158 als lebendes Gesetz(lex viva, lex animata)bezeichnet208und vom Mailänder Erzbischof über sein Gesetzgebungsrecht belehrt209. Mit den vier Ge- setzen des Reichstags von Roncaglia ist der Kaiser tatsächlich als Gesetzgeber tätig ge- worden (oben§14, Rdnr. 15ff.). Sein Enkel, Kaiser Friedrich II., hat als König von Sizilien mit demliber Augustalis(Konstitutionen von Melfi) im Jahr 1231 ein Gesetz- buch mit Regelungen für das Verwaltungs-, Prozess- und Strafrecht erlassen. So war seit der Stauferzeit die Idee vomGesetzgebungsrecht des Herrschersin der Welt. In größerem Umfang wurde die Gesetzgebung allerdings erst seit dem 16. Jahrhundert praktiziert.

206 Ulpian, D. 1, 4, 1, pr.:Quod principi placuit, legis habet vigorem: utpote cum lege regia quae de imperio eius lata est, populus ei et in eum omne suum imperium et potestatem conferat. Quodcumque igitur impera- tor per epistulam et subcriptionem statuit vel cognoscens decrevit vel de plano interlocutus est vel edicto prae- cepit, legem esse constat: haec sunt, quas vulgo constitutiones appellamus;Übersetzung von Behrends/

Knütel/Kupisch/Seiler:Was der Kaiser bestimmt, hat Gesetzeskraft, weil ka das Vok durch daskönigliche Gesetz, das über die Herrschaft des Kaisers ergangen ist, diesem und auf diesen seine gesamte Herrschafts- gewalt übertragen hat. Alles, was der Kaiser durch Brief oder Bescheid auf der Eingabe bestimmt, aufgrund streitiger Verhandlung entscheidet oder ohne streitige Verhandlung verfügt oder durch Edikt verordnet, ist daher anerkanntermaßen Gesetz. All dies bezeichnen wir gewöhnlich als Konstitutionen.Fast identisch Inst. 1, 2, 6.

207 Ulpian, D. 1, 3, 31.

208 Accursius, Corpus Iuris Civilis cum commentariis, Lugduni 1627, tom. I, col. 38, Glossa ad D. 1, 3, 22, v. cum lex:lex id est imperator, qui est lex animata in terris,Übersetzung: Das Gesetz, das ist der Kaiser, der das beseelte Gesetz auf Erden ist.

209 Rahewin, Gesta Friderici I. imperatoris, ed. Georg Waitz, MGH Scriptores rerum Germanicarum, 3. Aufl., Hannover/Leipzig 1912, liber IV, cap. 5, S. 237ff., 239, Z. 2ff.

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4 Theoretisch verankert war das Gesetzgebungsrecht für die gelehrten Juristen bei der

„iurisdictio“,der Gerichtsbarkeit, und dem„imperium merum“,einem Begriff, der zur Bezeichnung der Herrschaftsgewalt schlechthin verwendet wurde. So war die Gesetz- gebung zunächst noch ein bloßer Annex der richterlichen Gewalt und entwickelte erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts Eigenständigkeit.

5 Die Rechtsetzungstätigkeit blieb in den Schriften der gelehrten Juristennicht auf den Kaiser beschränkt. Schon Azo (1150–1220/30) erkannte den Freiraum der loka- len und regionalen Machtträger an, ohne damit die universale Gewalt des Kaisers in Frage zu stellen (oben§14, Rdnr. 17). Seitdem gestanden die Juristen lokalen Ge- meinschaften, wie etwa städtischen Gemeinden, Orden, Stiftungen, Gilden und Zünften, eine eigene Jurisdiktionsgewalt und damit eben auch eine eigene Rechtset- zungsgewalt zu. Diese erstreckte sich auf den Bereich, den die Herrschaftsrechte der Körperschaft umgreifen konnten. Für das Heilige Römische Reich sollte sich als fol- genreich erweisen, dass mit dem Terminus „princeps“nicht nur der Kaiser, sondern auch die Fürsten des Reichs angesprochen waren. Für dieStaatsbildung in den Terri- torien der Fürsten war dieser Umstand von wesentlicher Bedeutung. Als princeps konnte der Fürst legitimerweise als Gesetzgeber das Recht verändern und den Weg zum neuzeitlichen Gesetzgebungsstaat einschlagen. Neben den Fürsten, der in seine Umwelt und deren Rechtsgewohnheiten eingebunden war, trat der über dem Recht stehendeprinceps.Wenn man voraussetzt, dass im Bewusstsein der Zeitgenossen mit demprinceps-Titel die im römischen Recht umschriebene Machtfülle verbunden war, wird verständlich, welche Möglichkeiten sich den Reichsfürsten zunächst nur in der Theorie eröffneten. Tatsächlich aber übten sie in ihren Ländern de factokaiserliche Rechte aus und standen innerhalb ihres Territoriums an der Stelle des Kaisers. Dabei ging es den gelehrten Juristen in ihren Stellungnahmen gar nicht um die moderne Frage der Souveränität. Ausschlaggebend war vielmehr die Frage, wer in einem Terri- torium die maßgeblichen Herrschaftsrechte ausüben konnte.

6 Beispielsweise verlieh Kaiser Friedrich II. im Jahr 1226 dem Hochmeister des Deut- schen Ordens in der Goldenen Bulle von Rimini für das künftige preußischeOrdens- territorium die Befugnis, Gesetze zu machen („statuta facere“)210. An eine Rechts- schöpfung im modernen Sinne war dabei allerdings nicht gedacht. Vielmehr nutzte der Orden diese Berechtigung kurz darauf zur Übertragung des Magdeburger Stadt- rechts auf die Städte im Ordensland (Kulmer Handfeste von 1233)211. Etwa zeitgleich, im Jahr 1231, erging einReichsweistum,das die Einführung von Konstitutionen und neuen Rechten(constituciones vel nova iura)durch die Fürsten(principes)von der Zu- stimmung ihrer Großen(meliores et maiores)abhängig machte212. Und in der Mitte des 14. Jahrhunderts ließ Herzog Rudolfs IV. von Österreich wissen, er hätte das Recht

„als ein obristes Haupt und erblicher natürlicher Herr unserer Land, ... daß wir in unsern Landen, Herrschaften, und Städten, die wir nun haben und hienach gewinnen, alle Frei- heiten, Gnaden, Rechte und Gewohnheiten wegen billiger Sachen zu stiften ..., aufzuset-

210 Lorenz Weinrich, (Hrsg.), Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 32), Darmstadt 1977, Nr. 104, S. 404ff., 408.

211 Weinrich, (Hrsg.), Quellen, Nr. 115, S. 438ff.

212 Weinrich, (Hrsg.), Quellen, Nr. 108, S. 422f.:ut neque principes neque alii quilibet constituciones vel nova iura facere possint, nisi meliorum et maiorum terre consensus primitus habeatur.

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