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DIALEKTISCHER MATERIALISMUS

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DIALEKTISCHER

MATERIALISMUS

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EINLEITUNG

Was ist Philosophie und warum beschäftigen wir uns damit?

In der vorliegenden Schulung befassen wir uns mit der marxistisch-leninis- tischen Philosophie, dem dialektischen Materialismus.

Dazu wollen wir zunächst die Frage klären, was „Philosophie“ eigentlich ist und warum wir uns damit beschäftigen.

Was verstehen wir unter Philosophie?

Die Philosophie vermittelt dem Menschen eine allgemeine Anschauung von der ihn umgebenden Welt. Sie antwortet beispielsweise auf die Fragen, ob die Welt ewig besteht, ob sie irgendwie entstanden ist, welchen Platz der Mensch in der Welt einnimmt, was das Bewusstsein des Menschen ist, wie es sich zur Welt verhält usw.

Die marxistisch-leninistische Philosophie ist eine wissenschaftliche Philo- sophie. Das heißt: Sie stützt sich bei der Beantwortung dieser Fragen nicht auf irgendwelche Spekulationen, sondern auf die Erkenntnisse der Wissen- schaften, und zwar sowohl der Natur- als auch der Geisteswissenschaften. Sie unterscheidet sich von den Einzelwissenschaften wie Physik, Biologie, Sozial- wissenschaft, Psychologie usw. dadurch, dass sie die allgemeinsten Gesetzmä- ßigkeiten herausarbeitet, die in allen Bereichen der Wissenschaften, in allen Bereichen des Seins und des Bewusstseins gelten. Die große Grundfrage der Philosophie ist das Verhältnis des Denkens zum Sein, des Bewusstseins zur Materie. Mit dieser Frage wollen wir uns im ersten Abschnitt dieser Schulung befassen.

Warum beschäftigen wir uns also mit Philosophie? Sind das alles nicht furchtbar komplizierte Fragen, die keinen direkten Bezug zu unserem täglichen Leben haben? Welche Rolle spielen diese Fragen im Kampf auf der Straße? Soll man ihre Beantwortung nicht lieber den Schlaumeier:innen überlassen?

Keineswegs! Schauen wir uns die oben gestellten Fragen nach dem Ursprung der Welt, nach dem Verhältnis des Bewusstseins zur Materie einmal genauer an, so finden wir, dass sich aus ihrer Beantwortung bestimmte gesellschaftli- che und politische Schlussfolgerungen ergeben: Ein bestimmtes Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit, bestimmte Auffassungen vom gesellschaftlichen Leben, den geschichtlichen Aufgaben, bestimmte Moralprinzipien usw. Diese

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Schlussfolgerungen und Prinzipien sind sehr unterschiedlich, weil eben auch die Antworten auf die Grundfragen der Philosophie sehr unterschiedlich sind.

Heute ist die herrschende Weltanschauung die bürgerliche Philosophie, die in ganz verschiedenen Varianten daherkommt. Die bürgerliche Philosophie gibt auf die Grundfragen der Philosophie falsche Antworten. Sie verfolgt den Zweck, zu praktischen Schlussfolgerungen zu kommen, die der Bourgeoisie nützen. Diese falschen, bürgerlichen Schlussfolgerungen werden dann als herrschende „öffentliche Meinung“ in der Gesellschaft verankert und haben großen Einfluss auf das Denken der Menschen. Ein Beispiel für eine verbreite- te, jedoch bürgerliche und falsche Auffassung ist die Aussage: „Der Mensch ist von Natur aus gierig und egoistisch!“ - Mit dieser Aussage soll der Kapitalis- mus, die Gesellschaft der Gier und des Egoismus, zum unüberwindlichen Na- turgesetz und der Sozialismus zur unrealistischen Träumerei erklärt werden.

Dabei sind selbstverständlich die philosophischen Grundlagen der bürgerli- chen Ideologie den allermeisten Menschen nicht bewusst.

Wollen wir die Bourgeoisie bekämpfen, so müssen wir uns von ihrem ideo- logischen Einfluss freimachen, der sich eben im Großen und Ganzen unbe- wusst durchsetzt. Deshalb ist es von großem Nutzen, sich die Grundfragen der Philosophie bewusst zu stellen und sich die wissenschaftlichen Antworten auf diese Fragen anzueignen. Dies ist eine scharfe Waffe gegen die bürgerliche Ideologie, die sich als gesellschaftlich herrschende Ideologie auf spontanem Weg in das Denken auch derjenigen Menschen einschleicht, die diese Gesell- schaft ablehnen und bekämpfen.

Wir sehen also: Die Beantwortung der philosophischen Grundfragen „den Schlaumeier:innen“ zu überlassen, bedeutet letztlich, dass man sich von ihnen an der Nase herumführen lässt. Um die Gesellschaft erfolgreich in unserem Sinne zu verändern, müssen wir schon selber unseren Kopf benutzen!

Die marxistisch-leninistische Philosophie, der dialektische Materialismus ist unser notwendiges Handwerkszeug dafür.

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Der Dialektische Materialismus

Aber was steckt hinter dem komplizierten Wortungetüm „dialektischer Ma- terialismus”? Ist das wieder eine besondere Heilslehre aus „10 Geboten“ oder

„114 Suren“, nur eben die der Kommunist:innen und ohne Gott? Das will uns die bürgerliche Ideologie ja immer weismachen.

Das genaue Gegenteil ist der Fall: Die marxistisch-leninistische Philosophie stellt keine konstruierten Prinzipien auf, die sie in die Welt hinein interpre- tiert. Sie stützt sich im Gegenteil – wie oben erwähnt – bei der Erforschung der allgemeinsten Gesetzmäßigkeiten der Welt auf die Erkenntnisse der Wissen- schaften und verallgemeinert diese. Sie heißt dialektischer Materialismus, weil ihr Herangehen an die Erscheinungen der Natur und der Gesellschaft, ihre Methode zu deren Erforschung und Erkenntnis die dialektische ist, und weil ihre Deutung dieser Erscheinungen, ihre Theorie materialistisch ist.

Der historische Materialismus ist die Ausdehnung der Leitsätze des di- alektischen Materialismus auf die Erforschung des gesellschaftlichen Lebens, z.B. der Geschichte der Gesellschaft.

Der dialektische Materialismus ist also kein Lehrsystem, das ein für alle Mal fertig ist und die absolute, allumfassende Wahrheit verkündet. Er ist ein Feind der Buchstabengelehrsamkeit und lehnt das schematische Anwenden von Lehrsätzen auf die Wirklichkeit ab. Das Leben ist ursprünglich und steht über aller Philosophie. Das erkennende Denken ist für das Leben da und nicht umgekehrt. Der dialektische Materialismus muss stets konkret auf die vielsei- tige und sich verändernde Wirklichkeit angewandt werden. Er ist, wie Engels formulierte, kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln. Die Philoso- phie muss mit der gesellschaftlichen Praxis und den wissenschaftlichen Fort- schritten mitgehend sich weiterentwickeln. Frühere Weltanschauungen hatten regelmäßig den Anspruch, ein abgeschlossenes und fertiges System darzustel- len. Im Gegensatz dazu enthält der dialektische Materialismus in sich die Vor- aussetzungen zu seiner eigenen konsequenten Weiterentwicklung.

Wir werden uns in diesem Kapitel mit den Grundzügen des Materialismus und der Dialektik beschäftigen, indem wir sie den falschen Auffassungen des Idealismus und den falschen Methoden der Metaphysik gegenüberstellen.

Indem wir dies tun, werden wir auch lernen, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist!

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DER MATERIALISMUS

Die Hauptströmungen in der Philosophie

Die große Grundfrage der Philosophie ist das Verhältnis von Denken und Sein, von Bewusstsein und Materie. Die großen Strömungen der Philosophie lassen sich danach unterscheiden, wie sie diese Grundfrage beantworten:

Der Materialismus hält die Materie, die Natur für das Ursprüngliche (Pri- märe) und das Denken als Produkt der Entwicklung der Natur für sekundär.

Der Idealismus hält den Geist, das Denken für das Ursprüngliche und die Materie für sekundär. Dabei unterscheidet man zwei Gruppen. Der objek- tive Idealismus (wie z.B. bei dem deutschen Philosophen Hegel) geht von einem geistigen Prinzip (“Weltgeist”) aus, das unabhängig vom menschlichen Bewusstsein besteht und die Welt erschaffen hat. Der subjektive Idealismus hält das menschliche Bewusstsein für ursprünglich und bestreitet entweder die Existenz der Außenwelt überhaupt oder behauptet, diese würde erst durch unser Bewusstsein erschaffen.

Daneben gibt es dualistische Philosophien, die versuchen, dieser Grund- frage auszuweichen, indem sie z.B. von einem gleichwertigen Nebeneinander von Sein und Bewusstsein ausgehen. Der Dualismus ist letztlich aber nur ein Ausdruck des nicht überwundenen Idealismus.

Schauen wir uns die Frage nach dem Verhältnis von Materie und Bewusst- sein also einmal etwas genauer an und sehen dabei, was es bedeutet, sich auf die Erkenntnisse der Wissenschaften zu stützen.

Materie und Bewusstsein

Zunächst klären wir, was wir meinen, wenn wir von den Begriffen „Materie“

und „Bewusstsein“ im Sinne der philosophischen Erkenntnistheorie sprechen:

Der physikalische Materie-Begriff umfasst alle Körper, die aus Masse beste- hen, die man also sozusagen „anfassen” kann. Wenn wir philosophisch von Materie sprechen, meinen wir mit dem Begriff Materie im Gegensatz dazu die gesamte Außenwelt mit allen ihren Erscheinungen (im folgenden auch als objektive Realität bezeichnet). Sie besteht unabhängig vom menschlichen Bewusstsein und wird durch dieses – Empfindungen, Vorstellungen und das Denken – abgebildet.

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Zum Bewusstsein gehören also: Die Empfindungen, die Vorstellungen und das Denken. Das Bewusstsein ist das Erzeugnis eines stofflichen, körperlichen Organs: des Gehirns. Bereits mit dieser Feststellung ist die Grundfrage der Phi- losophie beantwortet: Die Materie ist nicht ein Erzeugnis des Geistes, sondern umgekehrt ist der Geist das höchste Produkt der Materie.

Um das zu verdeutlichen, führen wir folgendes Zitat aus dem sowjetischen Lehrbuch „Grundlagen der marxistischen Philosophie” an: „Das psychische Le- ben ist untrennbar mit der materiellen Tätigkeit des Gehirns verbunden, ist ein Produkt dieser Tätigkeit. Dafür spricht vor allem die Tatsache, dass psychische Erscheinungen nur in normal funktionierenden lebenden Organismen auftreten, die über ein Nervensystem verfügen. Hierbei ist das logische abstrakte Denken als die höchste Form des Bewusstseins an ein besonders hochorganisiertes Nerven- system, das nur der Mensch besitzt, und seinen höchsten Abschnitt, das Gehirn gebunden. Je tiefer die Lebewesen auf der Stufe der Evolution stehen, je einfa- cher ihr Nervensystem organisiert ist, um so elementarer sind die psychischen Erscheinungen, die sich schließlich auf ihre einfachste Art reduzieren, auf die Empfindung. Bei den einfachsten Lebewesen, die über kein Zentralnervensystem verfügen, gibt es überhaupt keine Spur psychischer Erscheinungen.” 1

Es ist äußerst wichtig zu begreifen, dass jegliche psychische Tätigkeit nur durch bestimmte körperliche Organe, also aufgrund der Existenz der Materie, möglich ist. Daraus folgt, dass Bewusstsein, dass geistige Tätigkeit außerhalb der Materie nicht möglich ist. Dies zeigt sich auch daran, dass die geistige Tätigkeit des Menschen gestört wird, wenn die entsprechenden Organe des Körpers infolge von Krankheiten wie z.B. Schlaganfällen und Alzheimer, von Verletzungen oder durch Einwirkung bestimmter Substanzen wie z.B. Drogen nicht in normaler Weise funktionieren.

Die modernen Neurowissenschaften sind heute in der Lage, sehr genau nachzuweisen, welche stofflichen Organe durch welche Funktionsweisen ganz bestimmte Teilbereiche der psychischen Tätigkeit ermöglichen. Man weiß z.B.

heute, welcher Teil des Gehirns für die Sprachfunktionen, für das Sehen usw.

zuständig ist. Das ist ein schlagender, wissenschaftlicher Beweis für die mate- rialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie.

1 Autorenkollektiv, „Grundlagen der marxistischen Philosophie“, Dietz Verlag 1959, S. 173

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Die Außenwelt besteht unabhängig vom Bewusstsein

2 Für zahlreiche Beispiele vgl. Lenin, „Materialismus und Empiriokritizismus“, LW 14.

Wir haben bisher von der Bedeutung gesprochen, die das Gehirn bzw. das Nervensystem für die psychische Tätigkeit, für das Bewusstsein hat. Nerven- system und Gehirn können aber nur tätig werden, wenn ein Reiz von außen auf sie einwirkt. Die Reize von außen wirken auf die fünf Sinne (Sehen, Hören, Tastsinn, Riechen und Schmecken) und bewirken eine Empfindung. Das ist die erste und unabdingbare Voraussetzung jeglicher psychischer Tätigkeit. Diese Überlegung ist sehr einfach, aber die philosophische Schlussfolgerung daraus ist äußerst wichtig: Im Gegensatz zur Auffassung des Idealismus besteht die Außenwelt objektiv, d.h. unabhängig vom menschlichen Bewusstsein, unab- hängig von den Wahrnehmungen und vom Denken der Menschen.

Die objektive Realität und die Gesetzmäßigkeiten ihrer Bewegung sind auch nicht das Erzeugnis eines „Weltgeistes“. Die zahlreichen und unterschiedlichen Erscheinungen in der Welt bestehen materiell, sie stellen verschiedene Formen der sich bewegenden Materie dar. Mit der Bewegung der Materie werden wir uns im zweiten Abschnitt dieses Kapitels „Die dialektische Methode“ befassen.

Die Vorstellung eines „Weltgeistes“ diskutieren wir im Einschub über Religion.

Dass die Außenwelt objektiv besteht, scheint ganz selbstverständlich – und wird doch von den Idealist:innen bestritten. Dabei verhält sich so ziemlich jeder Mensch – inklusive der bürgerlichen Philosophieprofessor:innen2 – in seinem beruflichen und privaten Alltag so, als ob er davon ausgeht, dass die Außenwelt um ihn herum wirklich „real“ ist. Trotzdem hält das viele Profes- sor:innen nicht davon ab, die Welt als „Ansammlung von Empfindungen“

zu interpretieren und die materialistische Weltanschauung als „naiven Rea- lismus“ zu verspotten. Man kann sich die Frage stellen, warum und für wen sie eigentlich ihre Bücher schreiben, wenn sie tatsächlich konsequent davon ausgehen würden, die Außenwelt bestehe bloß in ihrem Bewusstsein? Wir werden später darauf zurückkommen, warum es in Wahrheit das – sehr ma- terielle – Klasseninteresse der Bourgeoisie ist, das hinter solch absurden The- orien steckt.

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Von den Empfindungen zum begrifflichen Denken

3 Siehe dazu Einschub „Beliebte Denkfehler im Umgang mit komplexen Prozessen“.

Durch die Sinnesorgane wirkt die Außenwelt auf die Psyche des Menschen:

Er nimmt die Außenwelt wahr, und zwar zunächst in Form von Empfindungen.

Das Bewusstsein des Menschen beschränkt sich jedoch nicht auf die Emp- findungen, die durch die Sinnesorgane vermittelt werden. Dies zeigt sich be- reits dadurch, dass sich das menschliche Denken auch mit vergangenen oder zukünftigen Erscheinungen befasst. Vergangene und zukünftige Dinge kön- nen aber nicht empfunden, nicht sinnlich wahrgenommen werden. Hierzu ist abstraktes Denken erforderlich3. Die Wissenschaft deckt Erscheinungen auf, die teilweise überhaupt nicht sinnlich wahrgenommen werden können. Man kann sich z.B. die Lichtgeschwindigkeit (ca. 300.000 km in der Sekunde) nicht vorstellen. Aber man kann die Lichtgeschwindigkeit verstehen, erkennen und wissenschaftlich beweisen. Moleküle und Atome kann man nicht sehen, die Wissenschaft kann ihre Existenz aber aufgrund theoretischer Schlussfolgerun- gen erkennen. Diese theoretischen Schlussfolgerungen bauen aber letztlich im- mer auf sinnlichen Wahrnehmungen auf. Die Stärke des Denkens liegt darin, dass es die Welt nicht in Form einer Fotografie widerspiegelt, sondern in Form von Begriffen. Diese Begriffe bringen allgemeine und wesentliche Merkma- le der zu erkennenden Gegenstände zum Ausdruck. Deshalb beschränkt sich das Bewusstsein des Menschen nicht darauf, einzelne Erscheinungen der Au- ßenwelt wahrzunehmen, ohne die Beziehungen zwischen diesen Erscheinun- gen zu erkennen, ohne das Wesen eines Gegenstandes per Begriffsbildung herauszuarbeiten. Die Fähigkeit des logischen, abstrakten Denkens gibt dem Menschen die Möglichkeit, Gesetzmäßigkeiten wie Naturgesetze zu erkennen.

Ein einfaches Beispiel: Ein Schäferhund, ein Pitbull-Terrier und ein Pudel weisen auf der Ebene der Erscheinung offensichtlich erhebliche Unterschie- de auf. Dem Wesen nach sind sie alle aber Exemplare der Spezies Hund. Um das festzustellen, muss man von ihren äußerlichen Unterschieden absehen und die Wesensmerkmale dieser Spezies herausarbeiten. Ein anderes Beispiel:

SPD, CDU, FDP, Grüne, Linke und AfD sind auf der Erscheinungsebene ver- schiedene Parteien mit unterschiedlichen Programmen, unterschiedlicher An- hängerschaft etc. Dem Wesen nach sind alle jedoch Parteien des deutschen Monopolkapitals. So groß aber die Bedeutung des Denkens, der theoretischen Erkenntnis, auch ist: Man darf nicht vergessen, dass jedes Denken letzten En- des stets auf den Daten der sinnlichen Wahrnehmung der Welt beruht.

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Einschub 1: Empfindung, Vorstellung und Begriff bei Pawlow

Ein genaueres Verständnis der materiellen Voraussetzungen des mensch- lichen Bewusstseins, der Unterschiedlichkeit zwischen menschlichem und tierischem „Bewusstsein“ sowie der verschiedenen Abstufungen Empfindung, Vorstellung und Begriff liefern die Arbeiten des sowjetischen Wissenschaftlers I. P. Pawlow. Sie ermöglichen auch ein vertieftes Verständnis davon, inwiefern wir vom Bewusstsein als dem „höchsten Produkt der Materie” sprechen kön- nen. Sie zeigen auf, warum die mechanische Vorstellung falsch ist, das Denken sei nur eine Illusion, eine „Sekretion des Gehirns”, bei der das Bewusstsein auf die ihm zugrunde liegenden elektrischen und chemischen Prozesse im Gehirn reduziert wird.

Pawlow hat einerseits die gemeinsamen Elemente und Eigenschaften der tierischen und menschlichen Nerventätigkeit erforscht, andererseits die Be- sonderheiten des menschlichen Nervensystems. Für die Idealist:innen unter- scheidet sich der Mensch vom Tier durch den Geist, durch das geheimnis- volle „Etwas“, das sich materialistisch nicht erklären lässt. Der mechanische Materialismus kennt keinen wesentlichen qualitativen Unterschied zwischen tierischem und menschlichem Bewusstsein. Dagegen stellt Pawlow einen sprunghaften qualitativen Unterschied in der Funktion des menschlichen Ner- vensystems im Vergleich zur tierischen Nerventätigkeit fest: „In der Entwick- lung der tierischen Welt bereicherte sich der Mechanismus der Nerventätigkeit, beim Menschen angelangt, durch einen außerordentlichen Zusatz. Für das Tier sind die Signalisierungsweisen der Wirklichkeit beinahe ausschließlich der Reflex und seine Spuren in den großen Hemisphären, die unmittelbar in den speziellen Seh- und Hörzellen und den übrigen Aufnahmeorganen (Rezeptoren) des Orga- nismus eintreffen. Das sind unsere Eindrücke, Empfindungen und Vorstellungen von der uns umgebenden äußeren Umwelt, ausgenommen das gehörte und gese- hene Wort. Hierin haben wir das erste Signalsystem der Wirklichkeit, das Men- schen und Tieren gemeinsam ist. Aber das Wort hat ein zweites Signalsystem der Wirklichkeit zustande gebracht, unser spezielles System, das die Signalisierung der ersten Signale ist.” 4

Nach Pawlow stehen die menschliche Arbeit, die Sprache und das Denken mit den speziellen Struktureigenschaften der menschlichen Gehirntätigkeit in Zusammenhang:

4 Pawlow, Sämtliche Werke; zitiert nach: B. Fogarasi: „Dialektische Logik mit einer Darstel- lung erkenntnistheoretischer Grundbegriffe“, Aufbau Verlag 1955, S. 118f.

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„Wenn unsere, auf die Umwelt sich beziehenden Empfindungen und Vorstellun- gen für uns die ersten Signale der Wirklichkeit, konkrete Signale sind, so sind die von den Sprechorganen ins Gehirn schreitenden kinästhetischen Reflexe Signale zweiten Grade, Signale von Signalen. Diese Signale bedeuten ein Abstrahieren von der Wirklichkeit, ermöglichen die Verallgemeinerung, dasjenige, was unser speziell menschliches, höheres Denken ausmacht, was erstens den allgemeinen Empirismus und schließlich die Wissenschaft zustande bringt, die das höchste Mittel des Menschen ist, um sich in der Umwelt und in sich selbst zu orientieren.

Wahrscheinlich ist die Gehirnrinde dieses rein menschliche Denkorgan, für das aber die allgemeinen Gesetze der Nerventätigkeit höheren Grades, wie wir glau- ben, gültig bleiben.” 5

Analyse und Synthese (Auflösen z.B. einer Wahrnehmung in Einzelelemente sowie Zusammensetzung von Elementen zu einem Ganzen) spielen laut Pa- wlow bereits auf der Stufe des ersten Signalsystems, also bei der Bildung von Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen eine Rolle (also bei Men- schen und bestimmten, höher entwickelten Tieren!). Das begriffliche Denken – die Verallgemeinerung, das Vordringen von der Erscheinung zum Wesen eines Gegenstandes – ist dagegen eine Tätigkeit, für die nur das menschli- che Gehirn die physiologischen Voraussetzungen ausgebildet hat: Nämlich im Zuge der Entwicklung der Lautsprache, die wiederum im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Arbeit des Menschen entstanden ist.

5 Ebd.

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Die objektive Wahrheit und die Praxis als ihr Kriterium

Die obigen Überlegungen führen zu einem weiteren, grundlegenden Kern- satz des dialektischen Materialismus: Das richtige Denken spiegelt die objek- tive Außenwelt korrekt wieder. Das heißt: Die Welt und ihre Gesetzmäßig- keiten sind erkennbar! Das ist gleichbedeutend mit der Aussage: Es gibt eine objektive Wahrheit, nämlich die richtige Widerspiegelung der Materie im Bewusstsein. Die objektive Wirklichkeit ist der Inhalt der Wahrheit. Es gibt

„richtig“ und „falsch“.

Auch das sehen die bürgerlichen Ideolog:innen anders, die in Bezug auf die Erkennbarkeit der Welt mit dem Fortschreiten des Imperialismus immer pes- simistischer werden. Soweit die Idealist:innen überhaupt das Bestehen einer objektiven, außerhalb des Bewusstseins vorhandenen Welt anerkennen, be- haupten sie, diese objektive Welt sei grundsätzlich nicht erkennbar. So bereits der berühmte Philosoph Immanuel Kant, der ein „Ding an sich”, also eine ob- jektive Welt zwar anerkannte, aber erklärte, dieses „Ding an sich” sei nicht erkennbar. Für Kant waren Wesen und Erscheinung von Gegenständen also durch eine unüberwindliche Mauer getrennt! Die Strömung in der Erkenntnis- theorie, die behauptet, eine (erschöpfende) Erkenntnis der Welt sei nicht mög- lich, wird auch als Agnostizismus bezeichnet. Auf ihr gründet auch die heu- te in der bürgerlichen Natur- und Gesellschaftswissenschaft weit verbreitete Irrlehre des sogenannten Positivismus. Er vertritt die Auffassung, es könne in der Wissenschaft nicht darum gehen, die Welt tatsächlich zu verstehen, sie korrekt abzubilden, sondern nur darum, die „Erfahrungstatsachen”, also Er- scheinungen zu beschreiben, zu sortieren und zu vereinfachen.

Ein Beispiel dafür ist die Klassenanalyse als Frage nach der inneren Struktur einer bestimmten Gesellschaft. Die bürgerliche Soziologie beantwortet sie mit dem Milieubegriff, indem sie bestimmte Großgruppen anhand äußerer Krite- rien (z.B. dem Einkommen) bestimmt. Maximal stellt sie noch deren zahlen- mäßige Entwicklung im Zeitablauf dar. Es ist klar, dass eine solche Auffassung zutiefst wissenschaftsfeindlich ist, da sie die Ausgangsfrage – welche Klassen gibt es und warum und wie entwickeln sie sich - unbeantwortet lässt. Die bür- gerliche Soziologie als eine konkrete Ausprägung des philosophischen Positi- vismus erklärt nichts, sondern beschreibt nur Erscheinungen („Es gibt Arme und Reiche“).

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Hält man die Welt für nicht erkennbar, so ist dies das Ende jeglicher ernst- haften Wissenschaft! Es ist auch klar, warum der Imperialismus solche ab- surden Theorien braucht und fördert: Eine wissenschaftliche Betrachtung der heutigen Probleme zeigt klar, dass der Imperialismus überholt ist und abtreten muss. Deshalb muss der Imperialismus erkenntnisfeindlich sein! Deshalb muss er bestrebt sein, jegliche Form von schwärmerischen Gedanken, Wunder- und Aberglauben zu fördern und der Wissenschaft entgegenzustellen6.

Wir haben oben vom „richtigen Denken“ gesprochen. Wer entscheidet aber nun wie darüber, was „richtiges“ und was „falsches Denken“ ist?

Die Antwort ist naheliegend und einleuchtend: Das Kriterium für die Wahr- heit ist die Praxis. In der Praxis wirkt das Bewusstsein auf die Materie zurück und verändert diese. Die Praxis bestätigt das, was wahr und wissenschaftlich ist und widerlegt alle unwissenschaftlichen Anschauungen. Sie widerlegt auch die Behauptung von der Unerkennbarkeit der Welt.

Hören wir dazu Engels in der Auseinandersetzung mit den Kantschen „Din- gen an sich”: „Die schlagendste Widerlegung dieser, wie aller andern philosophi- schen Schrullen ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie. Wenn wir die Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen können, in- dem wir ihn selbst machen, ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unsern Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem Kantschen unfassba- ren ‚Ding an sich‘ zu Ende. Die im pflanzlichen und tierischen Körper erzeugten chemischen Stoffe blieben solche ‚Dinge an sich‘, bis die organische Chemie sie einen nach dem andern darzustellen anfing; damit wurde das ‚Ding an sich‘ ein Ding für uns, wie z.B. der Farbstoff des Krapps, das Alizarin, das wir nicht mehr auf dem Felde in den Krappwurzeln wachsen lassen, sondern aus Kohlenteer weit wohlfeiler und einfacher herstellen. Das kopernikanische Sonnensystem war drei- hundert Jahre lang eine Hypothese, auf die hundert, tausend, zehntausend gegen eins zu wetten war, aber doch immer eine Hypothese; als aber Leverrier aus den durch dies System gegebenen Daten nicht nur die Notwendigkeit der Existenz ei- nes unbekannten Planeten, sondern auch den Ort berechnete, wo dieser Planet am Himmel stehn müsse, und als Galle dann diesen Planeten wirklich fand, da war das kopernikanische System bewiesen.” 7

Die Praxis ist die Grundlage der Erkenntnis, ihr Ausgangspunkt und Ziel.

Unter Praxis versteht der dialektische Materialismus vor allem die Arbeitstä- tigkeit der Menschen im materiellen Produktionsprozess, in welchem sie die

6 Siehe Einschub 2 über Religion.

7 Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, MEW 21, S. 276

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Natur ihren Bedürfnissen entsprechend verarbeiten bzw. anwenden. Das Be- wusstsein bleibt also nicht bei der passiven Widerspiegelung der Materie ste- hen! Alle Erkenntnis geht von der Praxis aus und mündet wieder in sie ein.

Die praktische gesellschaftliche Tätigkeit liegt der Bildung der Begriffe und der Denkformen, schließlich der Wissenschaften und aller Formen des gesell- schaftlichen Bewusstseins zugrunde. Und sie ist das Kriterium der Wahrheit.

Die Wahrheit einer Theorie ergibt sich also nicht z.B. daraus, dass die Mehr- heit an sie glaubt. Ein Beispiel hierzu: Auch wenn die Bourgeoisie bis heute vielen Menschen in vielen Ländern weismachen konnte, dass wir in einer “De- mokratie” leben, in der die gesamte Bevölkerung herrscht, ist diese Auffassung noch lange nicht wahr: Wir leben in einer Klassengesellschaft, in der die Bour- geoisie herrscht. Ein anderes Beispiel: Auch wenn in der politischen Wider- standsbewegung heute in Europa die reformistische Ideologie vorherrschend ist, die besagt, man könne den Kapitalismus ohne Revolution überwinden, man brauche keine kommunistische Partei und keine Diktatur des Proletariats – und überhaupt sei das alles nicht mehr zeitgemäß – so werden diese falschen Ansichten doch laufend von der Praxis widerlegt und die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution durch die Krise des kapitalistischen Systems immer stärker aufgezeigt.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass wir als Kommunist:innen uns in unserer Politik eben nicht danach richten dürfen, was gerade der Stan- dard oder der herrschende „Trend“ in der politischen Widerstandsbewegung ist oder was der Durchschnitt der Arbeiter:innenklasse zu einem gegebenen Zeitpunkt denkt. Wir müssen vielmehr objektiv an die Welt herangehen, uns von den Tatsachen leiten lassen und diese gründlich studieren, um auf dieser Grundlage unsere politische Linie zu entwickeln.

Auch wenn wir damit anfangs eine kleine, scheinbar „unbedeutende“ Min- derheit darstellen und andere politische Strömungen uns vehement und mit den unterschiedlichsten Mitteln bekämpfen, werden sich die unterdrückten Massen uns anschließen, wenn wir eine richtige, die objektive Realität korrekt widerspiegelnde Politik verfolgen und in die Praxis umsetzen.

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Das Denken entwickelt sich spiralförmig

8 Lenin, „Zur Frage der Dialektik“, LW 38, S. 344

Was ist jetzt aber mit dem „falschen Denken“? Wie läuft die Widerspiege- lung der Materie im Bewusstsein konkret ab?

Es ist für das Denken nicht leicht, die komplizierte Realität immer vollstän- dig richtig zu erfassen. Dies zeigt z.B. die Geschichte der verschiedenen wis- senschaftlichen Disziplinen: Die Wissenschaftler:innen arbeiten mit Hypothe- sen, die durch die weitere Forschung bestätigt oder verworfen werden. Meist ist es so, dass die Hypothesen modifiziert, also teilweise bestätigt, in anderer Hinsicht aber verworfen bzw. verändert werden. Das Denken entwickelt sich

„spiralförmig”, nähert sich der komplizierten Realität immer mehr an.

Hierzu schreibt Lenin: „Die menschliche Erkenntnis ist nicht (resp. beschreibt nicht) eine gerade Linie, sondern eine Kurve, die sich einer Reihe von Kreisen, einer Spirale unendlich nähert. Jedes Bruchstück, Teilchen, Stückchen dieser Kur- ve kann verwandelt werden in eine selbständige, ganze, gerade Linie, die (wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht) dann in den Sumpf, zum Pfaffen- tum führt (wo sie durch das Klasseninteresse der herrschenden Klasse verankert wird). Geradlinigkeit und Einseitigkeit, Erstarrung und Verknöcherung, Subjek- tivismus und subjektive Blindheit, voilà die erkenntnistheoretischen Wurzeln des Idealismus. Und das Pfaffentum (= philosophischer Idealismus) besitzt natürlich erkenntnistheoretische Wurzeln, ist noch ohne Boden, es ist zwar unstreitig eine taube Blüte, aber eine taube Blüte, die wächst am lebendigen Baum der leben- digen, fruchtbaren, wahren, machtvollen, allgewaltigen, objektiven, absoluten menschlichen Erkenntnis.” 8

Also: Fehler im Denken, Abweichungen des Bewusstseins vom Sein sind keineswegs einfach nur Blödsinn, Phantasterei, die mit dem Sein nichts zu tun hätten. Es liegt vielmehr in der Natur des Denkens, dass es immer wieder zu einseitigen Betrachtungsweisen, zu Abweichungen von der Spiralbewegung kommt. Es kommt nur darauf an, solche Fehler rechtzeitig zu korrigieren. Ge- schieht dies nicht, so entfernt sich das Denken immer mehr von der objektiven Realität, anstatt sich ihr anzunähern.

Die ganze geschichtliche Entwicklung zeigt, dass das Wissen der Mensch- heit immer mehr anwächst. Natürlich wird es immer Dinge geben, die noch nicht erforscht sind. Das Bewusstsein wird niemals vollständig identisch mit dem Sein werden. Aber: Es gibt keine Dinge, die grundsätzlich nicht erkennbar sind, es gibt keine generellen Schranken für den menschlichen Geist.

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Einschub 2: religion

Ein Beispiel für die „Abweichung von der Spiralbewegung” sowie ihre Ver- festigung im Denken der Massen durch die herrschende Klassen ist die Religi- on, die im Grunde eine primitive Form des objektiven Idealismus ist.

Der Marxismus geht an die Frage nach einem „Weltgeist”, einem Gott oder einer Seele so heran, dass er die Bedingungen untersucht, unter denen solche Vorstellungen entstehen.

Engels führt hierzu aus: „Seit der sehr frühen Zeit, wo die Menschen, noch in gänzlicher Unwissenheit über ihren eigenen Körperbau und angeregt durch Traumerscheinungen, auf die Vorstellung kamen, ihr Denken und Empfinden sei nicht eine Tätigkeit ihres Körpers, sondern einer besonderen, in diesem Körper wohnenden und ihn beim Tode verlassenden Seele – seit dieser Zeit mussten sie über das Verhältnis dieser Seele zur äußeren Welt sich Gedanken machen. Wenn sie im Tod sich vom Körper trennte, fortlebte, so lag kein Anlass vor, ihr noch einen besonderen Tod anzudichten; so entstand die Vorstellung von ihrer Unsterb- lichkeit.” 9

Die erkenntnistheoretischen Wurzeln der Religion, ihrer Entstehung wie ihrer Aufrechterhaltung liegen also zunächst im Unwissen. Da man Blitz und Donner nicht erklären konnte, erfand man den Blitz- und Donnergott und ana- log weitere Götter als „Personifikationen der Naturmächte” (Engels), „bis end- lich durch einen im Verlauf der geistigen Entwicklung sich naturgemäß einstel- lenden Abstraktions-, ich möchte fast sagen Destillationsprozess aus den vielen mehr oder minder beschränkten und sich gegenseitig beschränkenden Göttern die Vorstellung von dem einen ausschließlichen Gott der monotheistischen Religio- nen in den Köpfen der Menschen entstand.” 10

Der Hegelsche „Weltgeist” ist letztlich nichts als die etwas verfeinerte Ver- sion eines solchen Gottes.

Die Götter, unsterblichen Seelen und sonstigen Gespenster sind also nicht einfach Blödsinn, der mit der wirklichen Welt absolut nichts zu tun hätte. Sie sind vielmehr Widerspiegelung ganz bestimmter, mehr oder weniger primiti- ver gesellschaftlicher Zustände im Bewusstsein der Menschen. Und sie sind Ausdruck eines ganz bestimmten, wenig vorangeschrittenen Standes der Spi- ralbewegung, die das Denken beschreibt: Solange man nicht wusste, wie sich die verschiedenen Lebewesen auf der Erde aus den ersten Einzellern entwi-

9 Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, MEW 21, S. 274

10 Ebd.

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ckelt haben, ging man davon aus, ein Gott habe die fertigen Pflanzen, Tiere und den Menschen quasi auf dem Reißbrett entworfen. Solange man nicht wusste, dass und wie sich Erde, Sonne und alle anderen Himmelskörper über Zeiträume von Milliarden von Jahren aus heißen Gashaufen gebildet haben, war es die kirchliche Lehrmeinung, das Universum sei beim Akt der „Schöp- fung” fertiggestellt worden und habe seitdem stets so ausgesehen wie heute.

Jede neue wissenschaftliche Erkenntnis hat dagegen gerade das Verständnis der materiellen Zusammenhänge der Welt und ihrer Entwicklung befördert.

Die erste Quelle der Religion war die Unwissenheit. Mit der Entstehung von Ausbeuterklassen kam als wichtiges Element hinzu, dass diese sich die Religi- on für ihre Interessen zunutze machten, um z.B. den Unterdrückten Gehorsam zu predigen und ihnen die Vorstellung von einem besseren Jenseits vorzugau- keln. Schon deshalb waren die Priester:innen stets privilegiert, z.B. in der Feu- dalgesellschaft als Angehörige der herrschenden Klasse.

Diese Herrschaftsfunktion für die unterdrückende Klasse hat die Religion bis heute behalten. Im Kapitalismus kommt das Geschäft als treibende Kraft hin- zu. In einer Gesellschaft, die den ausgebeuteten Massen keinerlei Perspektive zu bieten hat, ist innerhalb und neben den etablierten Weltreligionen ein gan- zer Markt für Mystik-Kram, Heilslehren und Esoterik entstanden. Psycho-Sek- ten wie Scientology machen einen Milliardenumsatz mit dem Geschäftsmodell

„Kirche“ und entwickeln nebenher Methoden zur Manipulation ihrer Anhän- ger:innen, die von kapitalistischen Firmen direkt übernommen werden.11

Eine weitere, besondere Funktion der Religion im heutigen Imperialismus entspringt aus dem Herrschaftsinteresse des Finanzkapitals, sowohl im eige- nen Land als auch weltweit: Die Spaltung der Unterdrückten und ihre Mobi- lisierung für die Zwecke der Imperialist:innen entlang verfeindeter ideologi- scher Strömungen: „Das Wechselspiel von islamischem Fundamentalismus und

‚Verteidigung der christlich-abendländischen Kultur‘ ist keine Neuerscheinung des Jahres 2014 gewesen, sondern Ergebnis einer strategischen Neuausrichtung der westlichen Imperialist:innen nach der erfolgreichen Zerschlagung des Ost- blocks. Der Kampf um die imperialistische Neuaufteilung der Welt trat zu dieser Zeit – Anfang der 1990er Jahre – in eine neue Phase, in der einerseits die Wi- dersprüche innerhalb der NATO-Mächte an Bedeutung zunahmen, andererseits der chinesische Imperialismus als ihr aufstrebender Konkurrent verstärkt auf den Plan trat. Der Region Westasien kommt in dieser Phase – nach wie vor – eine

11 Ein Beispiel hierfür ist der Logistikkonzern UPS, wie es dokumentiert wurde im Kapitel:

„Der Fall UPS – Paketaustragen ließ die Scientology-Kasse klingeln“, in: Kleinmann, „Psy- chokonzern Scientology”, Bietigheim-Bissingen 2004, S. 115 ff.

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geostrategische Schlüsselrolle zu. Für die Strategie der imperialistischen Mächte war und ist es weiterhin entscheidend, 1. revolutionäre und antiimperialistische Bestrebungen ebenso zu unterminieren und unter Kontrolle zu bringen wie die unterschwelligen gesellschaftlichen Gärungsprozesse sowohl in den abhängigen Ländern als auch in den imperialistischen Zentren und 2. die eigenen und frem- de Bevölkerungen für ihre aggressiven Ziele im Krieg um die Neuaufteilung der Welt zu mobilisieren. Dazu organisieren sie eine – heute stärker als je zuvor in- ternational angelegte und vielfältige, d.h. auf teils entgegengesetzte reaktionä- re, faschistische Strömungen setzende – ideologische Arbeit unter den Massen zur Verinnerlichung dieser Ziele. Und sie schaffen die entsprechenden politischen und militärischen Organisationen bzw. versuchen sich solche unterzuordnen, die bereits bestehen. Eine ideologische Formulierung für diese neue strategische Ge- samtausrichtung der westlichen Imperialist:innen lieferte bereits 1993 der Berater des US-Außenministeriums Samuel Huntington mit seiner These vom ‚Clash of Civilizations‘: Ein grundsätzlicher Konflikt zwischen verschiedenen ‚Kulturräu- men‘, vor allem dem westlichen, chinesischen und islamischen, werde in Zukunft die politische Weltordnung bestimmen.“ 12

Der „Kulturkampf” wird als Vorstellung in den Massen verbreitet, um vom Klassenkampf abzulenken. Der Imperialismus hat idealistische Heilslehren und Esoterik nicht nur zu besonderer Blüte getrieben. Er hat sich auch mit der faschistischen Bewegung eine militante Anhängerschaft herangezogen, die mit verschiedensten solcher Ideologien für seine Zwecke in die Schlacht ziehen: Siehe die Praktiken germanischer Mystik und Rituale bei den Hitler- faschist:innen, den Steinzeit-Islamismus von faschistischen Söldnerbanden wie den Taliban, Al-Qaida und IS oder solche Geschöpfe wie den „Tempelrit- ter“-Orden des norwegischen Massenmörders Anders Breivik.

Das Fortleben der Religionen geschieht heute also aufgrund des Klassen- kampfs im Imperialismus: Mit dem Verschwinden der Klassen im Kommunis- mus und der allgemeinen Hebung der wissenschaftlichen Bildung der Massen wird auch die Religion nach der sozialistischen Revolution allmählich abster- ben.

12 Kommunistischer Aufbau, „Die Bewegungen PEGIDA/HoGeSa und die Perspektiven des proletarischen Antifaschismus“, http://komaufbau.org/die-bewegungen-pegidahoge- sa-und-die-perspektiven-des-proletarischen-antifaschismus/

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Objektive und subjektive Wahrheit

13 Autorenkollektiv, „Grundlagen der marxistischen Philosophie“, Dietz 1959, S. 333

Was ist nun aber von folgender Aussage zu halten: „Die Kommunist:innen gehen immer davon aus, sie seien im Besitz der Wahrheit. Das ist intolerant! Man muss doch anerkennen, dass jeder seine eigene Sicht der Dinge hat. Es gibt nicht nur eine einzige Wahrheit, sondern jeder hat seine subjektive Wahrheit, und es kommt doch nur darauf an, wie jeder einzelne damit leben kann.”

Wahrheit ist – wie oben beschrieben – die richtige Widerspiegelung der au- ßerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein bestehenden Materie durch das Bewusstsein. Zu bestreiten, dass es eine objektive Wahrheit gibt, ist gleichbedeutend damit, das Bestehen einer vom menschlichen Bewusstsein unabhängigen objektiven Realität überhaupt zu bestreiten. Und das Argument

„jeder sieht die Dinge eben aus seiner Sicht” vermag an dem Bestehen der ob- jektiven Realität nichts zu ändern. Das zeigt bereits eine ganz einfache Über- legung: Stehen mehrere Menschen in verschiedenen Positionen vor einem Tisch, so sieht jeder den Tisch „aus seiner Perspektive“, jeder sieht ihn also an- ders, hat aufgrund seiner jeweiligen Perspektive eine andere Sicht des Tisches.

Den Tisch stört das nicht. Er ist immer gleich, egal aus welcher Perspektive ihn jemand ansieht, egal ob ihn überhaupt jemand ansieht. Die oben skizzierte gegenteilige Position unterstellt in letzter Konsequenz, dass es objektiv gar keinen Tisch gibt, sondern nur subjektive Wahrnehmungen eines Tisches.

Das ist natürlich absurd. Aber es ist die Konsequenz aus der Ansicht, es gebe keine objektive Wahrheit, sondern jede:r habe seine eigene subjektive Wahr- heit – eine Ansicht, auf die man ja doch sehr häufig trifft. Und die idealistischen Philosoph:innen haben ganze Systeme ausgearbeitet, um derart absurdes Zeug zu begründen. Solcher Unsinn hält sich nicht nur, sondern er ist gerade heute – im Imperialismus – die dominierende Richtung der bürgerlichen Philosophie.

Was also sind die Klasseninteressen, die dahinter stecken? Betrachten wir dazu eine Richtung des subjektiven Idealismus, die heute eine sehr schädliche Rolle spielt, den sogenannten Pragmatismus. Er ersetzt den Begriff „wahr“

durch den Begriff „nützlich“. Ein Begründer des Pragmatismus, der Amerika- ner William James, hielt die religiöse „Erfahrung” für ebenso nützlich wie die wissenschaftliche. „Nach pragmatischen Grundsätzen”, schreibt James, „ist die Hypothese von Gott wahr, wenn sie im weitesten Sinne des Wortes befriedigend wirkt.” 13

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Nun ist das mit dem Nutzen so eine Sache: In einer Klassengesellschaft hat

„Nutzen“ für jede Klasse einen unterschiedlichen Sinn. Was für eine Klasse nützlich ist, ist für die andere schädlich. Aber nur die Ausbeuter:innenklassen haben ein Interesse daran, die objektive Wahrheit zu leugnen, die objektiven Gesetze zu verneinen, die der Entwicklung der Gesellschaft zugrunde liegen.

Es ist zum Beispiel klar, wem es „nützt“, dass der Pragmatismus die Religion hoffähig macht: den Ausbeuter:innen. Aber nicht nur die Religion. Der Prag- matismus rechtfertigt prinzipiell jedes Verbrechen, ist also ideal für den Impe- rialismus. Wie steht es nun aber mit der oben erwähnten „Toleranz“? Müssen Kommunist:innen tolerant sein? Gedanken, die falsch sind, die nämlich mit der objektiven Realität nicht übereinstimmen, akzeptieren wir nicht, sondern wir bekämpfen sie. In dieser Hinsicht sind wir keineswegs tolerant. Solche Be- griffe wie „Toleranz“, „Meinungsvielfalt“, „Pluralismus“ usw. sind nur Schlag- worte der bürgerlichen Ideologie. Sie beruhen in philosophischer Hinsicht auf subjektivem Idealismus, der nämlich die Existenz einer objektiven Wahrheit leugnet, an der sich subjektive Ideen messen lassen müssen.

Was aber die Menschen betrifft, die falsche Ansichten haben, so sind wir Kommunist:innen äußerst tolerant - wenn es sich nicht gerade um Klassen- feind:innen oder eingefleischte Reaktionär:innen handelt. Denn wir wissen ja, in welch komplizierten Spiralbewegungen sich das Denken entwickelt. Wir wissen, wie die Bourgeoisie alle Mittel anwendet, um die Menschen zu verdum- men. Wir kennen insbesondere die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen und wissen, wie schwer es für die Arbeiter:innen im Kapitalismus ist, sich Wissen anzueignen. Kommunist:innen müssen daher immer bereit sein, den Menschen geduldig zuzuhören, selbst wenn sie offenbar hauptsächlich falsche Ansichten äußern. Will man jemanden überzeugen, so muss man nämlich zu- erst ziemlich genau herausfinden, was er denkt, wie er zu dieser oder jener An- sicht kommt. An welcher Spiralbewegung sein Denken zu Einseitigkeit neigt, die sich zu falschen Ansichten verdichtet. Und nicht nur um das Überzeugen geht es: Denn wir wissen ja, dass falsches Denken nicht einfach nur Blödsinn ist, sondern in der Regel Einseitigkeiten, Überspitzungen von durchaus richti- gen Beobachtungen darstellt. Also: Selbst wenn jemand überwiegend falsche Ansichten äußert, kann etwas Richtiges dabei sein. Das nutzen wir, um unsere Erkenntnis weiter zu entwickeln. Denn wir wissen ja, dass auch die Überzeu- gungen und das kollektive Wissen jeder beliebigen Kommunistischen Partei zu jedem konkreten Zeitpunkt immer nur eine unvollständige Annäherung an die objektive Materie darstellt.

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Einschub 3: absolute und relative Wahrheit

Der dialektische Materialismus stellt also das Vorhandensein einer objekti- ven Wahrheit fest. Das heißt nicht, dass die objektive Wahrheit starr und un- veränderlich ist. Vielmehr müssen wir gerade das Relative, das Veränderliche an den Dingen untersuchen. Wie passt beides also zusammen?

Dazu Engels: „Die Wahrheit, die es in der Philosophie zu erkennen galt, war bei Hegel nicht mehr eine Sammlung fertiger dogmatischer Sätze, die, einmal gefun- den, nur auswendig gelernt sein wollen; die Wahrheit lag nun in dem Prozess des Erkennens selbst, in der langen geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft, die von niederen zu immer höheren Stufen der Erkenntnis aufsteigt, ohne aber je- mals durch Ausfindung einer sogenannten absoluten Wahrheit zu dem Punkt zu gelangen, wo sie nicht mehr weiter kann, wo ihr nichts mehr übrigbleibt, als die Hände in den Schoß zu legen und die gewonnene absolute Wahrheit anzustaunen.

Und wie auf dem Gebiet der philosophischen, so auf dem jeder andern Erkenntnis und auf dem des praktischen Handelns. Ebensowenig wie die Erkenntnis kann die Geschichte einen vollendeten Abschluss finden in einem vollkommenen Idealzu- stand der Menschheit; eine vollkommene Gesellschaft, ein vollkommener ‚Staat‘

sind Dinge, die nur in der Phantasie bestehen können; im Gegenteil sind alle nacheinander folgenden geschichtlichen Zustände nur vergängliche Stufen im endlosen Entwicklungsgang der menschlichen Gesellschaft vom Niedern zum Hö- hern. Jede Stufe ist notwendig, also berechtigt für die Zeit und die Bedingungen, denen sie ihren Ursprung verdankt; aber sie wird hinfällig und unberechtigt ge- genüber neuen, höheren Bedingungen, die sich allmählich in ihrem eignen Schoß entwickeln; sie muss einer höheren Stufe Platz machen, die ihrerseits wieder an die Reihe des Verfalls und des Untergangs kommt. Wie die Bourgeoisie durch die große Industrie, die Konkurrenz und den Weltmarkt alle stabilen, altehrwür- digen Institutionen praktisch auflöst, so löst diese dialektische Philosophie alle Vorstellungen von endgültiger absoluter Wahrheit und ihr entsprechenden abso- luten Menschheitszuständen auf. Vor ihr besteht nichts Endgültiges, Absolutes, Heiliges; sie weist von allem und an allem die Vergänglichkeit auf, und nichts besteht vor ihr als der ununterbrochene Prozess des Werdens und Vergehens, des Aufsteigens ohne Ende vom Niedern zum Höhern, dessen bloße Widerspiegelung im denkenden Hirn sie selbst ist. Sie hat allerdings auch eine konservative Seite:

Sie erkennt die Berechtigung bestimmter Erkenntnis- und Gesellschaftsstufen für deren Zeit und Umstände an; aber auch nur so weit.” 14

14 Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, MEW 21, S. 267 f.

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Auf die Bewegung, die Dialektik, wollen wir im zweiten Abschnitt dieses Kapitels eingehen. Hier wollen wir jedoch noch das Problem der absoluten Wahrheit behandeln. Man darf das zuletzt angeführte Zitat nämlich keines- falls so verstehen, dass der Marxismus lediglich relative Wahrheiten aner- kennt. Denn das würde letztlich dazu führen, dass man eben doch die objek- tive Wahrheit leugnet und bei der idealistischen Plattheit landet: „Es ist eben alles relativ.”

Nein, Engels will vielmehr folgendes sagen: Die objektiven Dinge selbst än- dern sich ständig. Das Denken einer Zeit entwickelt sich auch ständig, nähert sich der Erkenntnis der objektiven Welt immer mehr an. Das ist wieder die Sache mit der Spirallinie.

Aber: Zu einem bestimmten Zeitpunkt ist ein Ding in einem ganz bestimm- ten Bewegungszustand. Und was die Erkenntnis betrifft, so kann sie – wenn sie weit genug fortgeschritten ist – diesen Bewegungszustand durchaus richtig und vollständig widerspiegeln, ohne Wenn und Aber, ohne Rückzug auf den bedauernden Satz: „So oder so könnte es sein, aber letztlich ist alles relativ.”

Beispiele:

„Wasser verdampft bei 100 Grad Celsius.” Das ist eine objektive Wahrheit.

Aber es ist nur eine relative Wahrheit: Wenn man nämlich die Druckverhält- nisse ändert, stimmt die Aussage nicht mehr. Ist unser Denken so weit fort- geschritten, dass wir das erkannt haben, so können wir genauer formulieren:

„Wasser verdampft bei ganz bestimmten (im Einzelnen zu bezeichnenden) Druckverhältnissen bei 100 Grad Celsius.” Das ist dann eine absolute Wahr- heit, eine Wahrheit, die gesichert ist, die durch eine weitere Entwicklung der Wissenschaft nicht mehr umstoßbar ist.

Oder: „Die Winkelsumme im Dreieck beträgt 180 Grad.” Das ist eine relati- ve Wahrheit, denn bei Dreiecken, die z.B. auf einer Kugel aufgemalt werden, stimmt das nicht mehr. Wir können präzisieren: „Im Bereich von Flächen, die nicht im Raum gekrümmt sind, ist die Winkelsumme im Dreieck 180 Grad.”

Diese Beispiele zeigen uns auch, dass in der relativen Wahrheit stets einzel- ne Elemente oder Seiten des Absoluten enthalten sind.

Der Satz „Wasser verdampft bei 100 Grad Celsius” ist innerhalb bestimmter Grenzen die absolute Wahrheit. Spricht man diesen Satz ohne Einschränkung aus, so formuliert man ein Gesetz, das sich „nur annähernd” als Wahrheit er- weist, wobei diese Annäherung für die Druckverhältnisse, mit denen wir es im alltäglichen Leben zu tun haben, völlig ausreichend ist.

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Ein weiteres Beispiel: Es ist eine absolute Wahrheit, dass das Proletariat die Kommunistische Partei braucht, um den Imperialismus zu zerschlagen, um die Macht zu ergreifen und auszuüben. Anders ist ein gesellschaftlicher Fortschritt heute nicht möglich.

Aber widerspricht das nicht dem vorhin angeführten Engels-Zitat, wonach sich die Dialektik niemals damit begnügt, eine einmal gefundene absolute Wahrheit anzustaunen, sondern “vor allem und an allem die Vergänglichkeit”

nachweist?

Nein, hier besteht kein Widerspruch. Engels sagt ja sogar ausdrücklich, dass die Dialektik die Berechtigung bestimmter gesellschaftlicher Erscheinungen

„für deren Zeit und Umstände” anerkennt. Wenn wir von den Bedingungen des Imperialismus und den Bedingungen der Diktatur des Proletariats spre- chen, so haben wir präzise die „Umstände“ genannt, unter denen die Existenz der Kommunistischen Partei im Interesse des gesellschaftlichen Fortschritts absolut notwendig ist. Vom Standpunkt der gesamten Menschheitsgeschich- te aus ist die Notwendigkeit der Kommunistischen Partei selbstverständlich nur eine relative Wahrheit. Die Partei entsteht unter bestimmten Umständen, und sie stirbt unter bestimmten Umständen wieder ab: Nämlich dann, wenn die Klassen abgestorben sind, wenn das Proletariat und seine Kommunistische Partei ihre historische Mission erfüllt haben.

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Zusammenfassung

Fassen wir also die Grundzüge des philosophischen Materialismus in Abgrenzung zum Idealismus noch einmal zusammen:

Der Idealismus fasst die Welt als Verkörperung der „absoluten Idee“, des

„Weltgeistes“ oder des Bewusstseins auf. Der Materialismus geht im Gegen- satz dazu davon aus, dass die Welt ihrer Natur nach materiell ist, dass die zahlreichen und unterschiedlichen Erscheinungen in der Welt verschiedene Formen der sich bewegenden Materie darstellen, dass der wechselseitige Zu- sammenhang und die wechselseitige Bedingtheit der Erscheinungen Gesetz- mäßigkeiten der sich bewegenden Materie darstellen, dass die Welt sich nach den Bewegungsgesetzen der Materie entwickelt und keines „Weltgeistes” be- darf.

Der Idealismus behauptet, dass nur unser Bewusstsein wirklich bestehen würde und dass die Außenwelt nur in unserem Denken vorhanden sei. Der Materialismus geht im Gegensatz dazu davon aus, dass die Materie, die Na- tur, das Sein die objektive Realität darstellen, die außerhalb unseres Bewusst- seins und unabhängig von ihm bestehen; dass die Materie das Primäre, das Ursprüngliche ist, weil sie Quelle der Empfindungen, Vorstellungen, des Be- wusstseins ist, das Bewusstsein aber das Sekundäre, das Abgeleitete ist, weil es ein Abbild der Materie, ein Abbild des Seins ist; dass das Denken ein Pro- dukt der Materie ist, die in ihrer Entwicklung einen hohen Grad von Vollkom- menheit erreicht hat, und zwar ein Produkt des Gehirns, das Gehirn aber das Organ des Denkens ist; dass man darum das Denken nicht von der Materie trennen kann.

Der Idealismus bestreitet die Möglichkeit der Erkenntnis der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten, verneint die Zuverlässigkeit unseres Wissens, erkennt die objektive Wahrheit nicht an und ist der Ansicht, dass die Welt voll sei von

„Dingen an sich“, die niemals von der Wissenschaft erkannt werden können.

Der Materialismus geht im Gegensatz dazu davon aus, dass die Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten durchaus erkennbar sind; dass unser Wissen von den Na- turgesetzen durch die Erfahrung, durch die Praxis geprüft, zuverlässiges Wis- sen ist, dass die Bedeutung objektiver Wahrheit hat, dass es in der Welt keine unerkennbaren Dinge gibt, wohl aber Dinge, die noch nicht erkannt sind, und diese werden durch die Kräfte der Wissenschaft und der Praxis aufgedeckt und erkannt.

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DIE DIALEKTIK

Einleitung

Kommen wir zunächst noch einmal kurz auf unser obiges Beispiel mit dem Tisch und seinen verschiedenen Betrachter:innen zurück. Der Tisch besteht objektiv und weist verschiedene objektive Eigenschaften auf: Material, Größe, Farbe, etc. Die verschiedenen Betrachter:innen sehen ihn aus unterschiedli- chen Perspektiven. Im Bewusstsein jede:r Betrachter:in entsteht ein subjek- tives Abbild des Tisches. Je nach Perspektive können sich die Abbilder im Bewusstsein der verschiedenen Personen durchaus unterscheiden: Möglicher- weise steht jemand nahe am Tisch und jemand anderes weit entfernt, so dass beide unterschiedliche Eindrücke hinsichtlich der Größe des Tisches bekom- men. Vielleicht sieht jemand den Tisch durch eine getönte Scheibe und nimmt ihn daher in einer anderen Farbe wahr o.ä.

Was können die verschiedenen Betrachter:innen also tun, um von ihrem ersten, subjektiven Eindruck zu einem solchen Abbild des Tisches in ihrem Bewusstsein zu kommen, welches seine objektiven Eigenschaften möglichst genau widerspiegelt?

Jede:r Betrachter:in kann die Perspektive wechseln, näher an den Tisch her- angehen, um ihn herumgehen, ihn von allen Seiten betrachten. Noch besser ist es jedoch, wenn die verschiedenen Betrachter:innen darüber hinaus miteinan- der sprechen und ihre Ergebnisse austauschen.

Das letzte Kriterium der Wahrheit ist – wie oben ausgeführt – die Praxis:

Geraten die verschiedenen Betrachter:innen etwa in einen hitzigen Streit über das Material des Tisches, und schlägt einer der Diskutierenden im Verlauf die- ses Streits den Tisch mit einer Axt entzwei, wird er feststellen, ob der Tisch aus leichtem Pressspan oder schwerem Eichenholz besteht.

Allseitiges Herangehen und Diskussion sind aber nicht nur deshalb erfor- derlich, weil verschiedene Betrachter:innen eines Gegenstandes verschiedene Perspektiven haben, sondern darüber hinaus, weil sich sämtliche Materie und damit jeder Gegenstand ständig in Bewegung befindet.

Dabei ist unter Bewegung nicht nur die räumliche Fortbewegung zu verste- hen. Diese ist nur ein Spezialfall der Bewegung. Die Dialektik versteht unter Bewegung jede Veränderung im weitesten Sinn.

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Bewegung und Materie sind untrennbar verbunden. Ohne Materie könnte es keine Bewegung geben, denn es ist ja Materie, die sich bewegt. Natürlich bewegt sich auch das Bewusstsein, das Denken, aber hier handelt es sich nur um eine Widerspiegelung der Bewegung der Materie. Umgekehrt kann es auch keine Materie ohne Bewegung geben:

Alle Dinge verändern sich ständig. Etwa auch unser Tisch, der scheinbar regungslos dasteht? In Wirklichkeit ist er aus Atomen zusammengesetzt, die sich in ständiger Bewegung befinden. In jedem Atom wiederum bewegen sich Elektronen um den Atomkern. Ferner ist der Tisch Witterungsprozessen, che- mischen Veränderungen oder der Axt unseres hitzköpfigen Diskussionsteil- nehmers unterworfen. Auch bewegt er sich ständig mit der Erde um die Sonne.

Der Philosoph Hegel hat darauf hingewiesen, dass die Dinge sich auf ihr Ende zu bewegen. („Endlich“ bedeutet: Sich auf das Ende hin bewegen.) Aber auch das Ende ist nicht absolut, sondern Anfang von etwas Neuem, das den Keim des Alten in sich trägt.

Beispiele:

Aus dem Hühnerei kommt das Küken. Es liegt an der Bestimmtheit des Hüh- nereis, durch das Küken abgelöst zu werden, nicht etwa durch eine Gans. Aus der Schmetterlingsraupe wird der Schmetterling, nicht etwa eine Forelle. Der Kapitalismus geht unter und wird durch den Sozialismus abgelöst. Man könnte sagen: Die Bewegung des Kapitalismus, die ihm innewohnenden Gesetze füh- ren dazu, dass er durch den Sozialismus abgelöst wird.

Hegel sagt: „Das Neue hat die Bestimmtheit, aus der es herkommt, noch an sich.” Es herrscht also nicht blinder Zufall, sondern Gesetzmäßigkeiten. Es kommt darauf an, die inneren Gesetzmäßigkeiten zu analysieren, nach denen bestimmte Bewegungen erfolgen. Dies ist die Aufgabe der Dialektik.

Dialektik stammt von dem griechischen Wort „dialegesthai“, was: ein Ge- spräch führen, eine Polemik führen, heißt. Unter Dialektik verstand man im Altertum die Kunst, durch Aufdeckung der Widersprüche in den Urteilen des Gegners und durch Überwindung dieser Widersprüche zur Wahrheit zu ge- langen. Im Altertum gab es Philosophen, die der Meinung waren, dass die Aufdeckung der Widersprüche im Denken und der Zusammenstoß entge- gengesetzter Meinungen das beste Mittel zur Auffindung der Wahrheit seien.

Diese dialektische Denkweise, die in der Folge auf die Naturerscheinungen ausgedehnt wurde, verwandelte sich in die dialektische Methode der Natur- erkenntnis. Diese betrachtet die Naturerscheinungen als in ewiger Bewegung und Veränderung befindlich und die Entwicklung der Natur als Resultat der

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Entwicklung der Widersprüche in der Natur, als Resultat der Wechselwirkung entgegengesetzter Kräfte in der Natur.

Hegel war als Philosoph im Zeitalter der bürgerlichen Revolution zwar Ide- alist, aber er war ein genialer Dialektiker. Er hat die Dialektik so weit ausge- arbeitet, wie das unter idealistischen Vorzeichen nur möglich war. Marx und Engels haben alles Wertvolle an der Hegelschen Dialektik übernommen, ha- ben die Dialektik aber mit dem Materialismus verbunden. Dadurch war ein weiterer Fortschritt der Dialektik möglich, denn nun konnte sie sich bewusst darauf konzentrieren, die Bewegung der Materie zu untersuchen. Außerdem untersucht die materialistische Dialektik auch die Bewegung des Denkens, der Erkenntnis, als die Widerspiegelung der Bewegung der Materie. Dabei zeigt sich, dass in der Bewegung der Materie und in der Bewegung des Denkens die gleichen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten herrschen.

Der dialektischen Methode steht die metaphysische Denkweise gegen- über, welche die Gegenstände einseitig, starr und isoliert voneinander be- trachtet. Die metaphysische Denkweise15 bleibt an den Erscheinungen kleben, ohne zu ihrem Wesen vorzudringen. Sie entspricht dem bequemen Denken für den Hausgebrauch, das nur berücksichtigt, was augenfällig ist, ohne sich die Mühe zu machen, tiefer in einen Gegenstand einzudringen: Wenn z.B.

bürgerliche Ökonom:innen seit 2008/2009 von einer Immobilienkrise, einer Finanzkrise und einer Eurokrise sprechen, ohne den inneren Zusammenhang dieser Krisenerscheinungen aufzudecken – alle diese Krisen sind dem Wesen nach Ausdruck und Folgeerscheinungen einer Überproduktionskrise, wie sie gesetzmäßig im Kapitalismus auftritt – handelt es sich um ein metaphysisches Herangehen.

Es erfordert eine bewusste Anstrengung, dialektisch zu denken. Das meta- physische Denken schleicht sich auch bei Genoss:innen, die mit dem Marxis- mus-Leninismus einigermaßen vertraut sind, leicht spontan ein, wenn man sich nicht in Acht nimmt.

Wir wollen im folgenden die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Dialek- tik entwickeln und sie der Metaphysik gegenüberstellen. Dabei orientieren wir uns in der Darstellung an Stalins Schrift „Über dialektischen und historischen Materialismus”, in der die Grundzüge der Dialektik herausgearbeitet werden.

15 Von dem hier definierten marxistischen Inhalt des Begriffs ‚Metaphysik‘ gilt es die bür- gerliche Verwendung des Begriffs zu unterscheiden. Metaphysik wird von bürgerlichen Wissenschaftler:innen und Autor:innen in dem Sinne verwendet, dass damit die Bereiche

„jenseits der Physik“ bezeichnet werden, also jene Gebiete die angeblich nicht durch die exakten Wissenschaften erkannt werden können.

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Die Welt als allseitig Zusammenhängendes

16 Stalin: „Über dialektischen und historischen Materialismus”, in: „Geschichte der KPd- SU(B)“, Verlag Roter Morgen, S. 133

„Im Gegensatz zur Metaphysik betrachtet die Dialektik die Natur nicht als zufällige Anhäufung von Dingen, von Erscheinungen, die voneinander losge- löst, voneinander isoliert und voneinander nicht abhängig wären, sondern als zusammenhängendes einheitliches Ganzes, wobei die Dinge, die Erscheinungen miteinander organisch verbunden sind, voneinander abhängen und einander be- dingen. Darum geht die dialektische Methode davon aus, dass keine einzige Er- scheinung in der Natur begriffen werden kann, wenn sie isoliert, außerhalb des Zusammenhangs mit den sie umgebenden Erscheinungen genommen wird, denn jede beliebige Erscheinung auf jedem Naturgebiet kann in Widersinn verwandelt werden, wenn sie außerhalb des Zusammenhangs mit den sie umgebenden Er- scheinungen, losgelöst von ihnen, betrachtet wird, und, umgekehrt, jede beliebige Erscheinung kann verstanden und begründet werden, wenn sie in ihrem unlösba- ren Zusammenhang mit den sie umgebenden Erscheinungen, in ihrer Bedingtheit durch die sie umgebenden Erscheinungen, betrachtet wird.” 16

Also: Die Dialektik lehnt die isolierte Betrachtung einzelner Dinge ab, sie fordert Allseitigkeit im Denken, weil die Dinge in der Realität allseitig mitei- nander verknüpft sind. Das Denken kann diese allseitige Verknüpfung in der Wirklichkeit nur dann richtig widerspiegeln, wenn es selbst nach Allseitigkeit strebt.

Ein Beispiel: Lange Zeit hatte die Biologie rein beschreibenden Charakter.

Die Pflanzen und Tiere wurden beschrieben, eine Beschreibung wurde bezie- hungslos neben die andere gestellt, und damit fertig. Die Darwinsche Ent- wicklungstheorie (= Evolutionstheorie) machte damit Schluss. Sie untersuchte die Entwicklung des Lebens, die Verwandlung einer Form des Lebens in eine andere. Sie warf damit Licht auf die Beziehung der einzelnen Arten unterein- ander. Sie betrachtete die einzelnen Arten von Lebewesen nicht starr, sondern in ihrer Entwicklung, in ihrer Beziehung zueinander. Die Biologie stellt die Identität des Nicht-Identischen fest: Pudel, Pitbull und Schäferhund gehö- ren zur Spezies Hund. Der Hund stammt vom Wolf ab. Und sie arbeitet die Nicht-Identität des Identischen heraus, wenn sie z.B. Unterarten anhand neuer Unterscheidungsmerkmale klassifiziert.

Ein ganz anderes Beispiel: Kommunist:innen wollen die Banken verstaatli- chen. Und siehe da: In der Wirtschaftskrise 2008/2009 wurde die Commerzbank vorübergehend teilweise verstaatlicht – von der Merkel-Regierung! Heißt das

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jetzt, Deutschland hat sich mit dieser Maßnahme zeitweilig dem Kommunis- mus ein Stück angenähert? Das ist natürlich nicht so! Warum nicht? Man kann eine einzelne politische Maßnahme nicht verstehen, wenn man sie aus ihrem Zusammenhang reißt: Die zeitweise Verstaatlichung einer Bank durch den bürgerlichen Staat mit dem Ziel, dass „der Steuerzahler“, d.h. die Arbeiter:in- nenklasse ihre Verluste finanziert, ist eine Maßnahme, die voll und ganz im Interesse des deutschen Finanzkapitals liegt. Das ist etwas ganz anderes als die Verstaatlichung der “Kommandohöhen der Volkswirtschaft” (Banken, Indust- rie, Handel) durch den Staat der Arbeiter:innenklasse als eine der ersten Maß- nahmen auf dem Weg zur sozialistischen Umgestaltung der Volkswirtschaft.

Wie sehen die Beziehungen und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Erscheinungen nun aus? Sie bestehen zunächst einmal aus Kausalität, d.h. aus dem Verhältnis von Ursache und Wirkung. Eine Erscheinung ist Ursache, eine andere Wirkung. Die Kausalität ist ein allgemeines Gesetz, denn jede Erschei- nung in Natur und Gesellschaft wie auch im Denken hat ihre Ursachen.

Jedoch ist eine Wirkung, die von bestimmten Ursachen hervorgerufen ist, wieder Ursache von anderen Wirkungen, die wiederum selbst zu Ursachen werden, und so fort. Man spricht von „Kausalketten“, wobei diese „Ketten“ in Wahrheit unendlich große und unendlich verzweigte, miteinander verbunde- ne Komplexe sind.

Beispiele: Nehmen wir einen Stein, der ins Wasser fällt und Wellen verur- sacht. Der Stein ist die Ursache des Wellenschlags. Aber abgesehen davon hat der Stein eine ganze Reihe von Eigenschaften – etwa das Material, aus dem er beschaffen ist, seine Farbe, seine Form – die nicht unmittelbar den Wellen- schlag verursachen; er hat also Eigenschaften, die nicht in seine Eigenschaft, Ursache des Wellenschlags zu sein, eingehen. Andererseits gibt es neben der Bewegung des Steins noch andere Ursachen für den Wellenschlag; Ursache dafür, dass der Stein ins Wasser fällt, ist die Anziehungskraft der Erde; Ursache dafür, dass er ins Wasser eindringt, ist die flüssige Eigenschaft des Wassers.

Schon das einfache Beispiel mit dem Stein zeigt also, dass man allein mit dem Kausalverhältnis die komplexen Beziehungen zwischen den Dingen nicht er- fassen kann.

Engels dazu: „Um die einzelnen Erscheinungen zu verstehen, müssen wir sie aus dem allgemeinen Zusammenhang reißen, sie isoliert betrachten, und da er- scheinen die wechselnden Bewegungen, die eine als Ursache, die andre als Wir- kung.” 17

17 Engels, „Dialektik der Natur“, MEW 20, S. 499

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Wie aber soll sich das Denken in dieser Vielfalt von komplexen Kausalbe- ziehungen zurechtfinden? Indem es lernt, zwischen Zufall und Notwendig- keit zu unterscheiden, und das bedeutet, Gesetze zu erkennen, nach denen bestimmte Bewegungen verlaufen. Fällt eine Schneeflocke zu Boden, so macht sie die verschiedensten Bewegungen, Kreise, Spiralen, zeitweise wird sie vom Wind wieder nach oben getrieben usw. Alle diese Bewegungen haben zwar Ursachen, verlaufen aber zufällig. Gesetzmäßig aber ist, dass unbeschadet aller dieser Kapriolen die Schneeflocke letztlich nach unten, auf den Boden fällt, denn dafür sorgt das Gesetz der Schwerkraft.

Oder nehmen wir einen Kleinbürger, z.B. einen selbständigen Schuster in einem kapitalistischen Land, der wirtschaftlich ruiniert und Proletarier wird.

Der Schuster glaubt, das sei zufällig, das habe keine Beziehung zu einer Not- wendigkeit. Und in der Tat spielt der Zufall eine Rolle: Hätte z.B. dieser oder jener Kunde früher seine Schulden bezahlt, dann hätte er selbst seine Miete bezahlen können und hätte nicht Insolvenz anmelden müssen, sondern an sei- ner Stelle vielleicht ein anderer selbständiger Schuster. Und dennoch verbirgt sich hinter diesem Ereignis – wie hinter jedem Zufall – eine Notwendigkeit.

Der Ruin der Kleineigentümer:innen in einer kapitalistischen Gesellschaft mit entwickelter Industrie ist ein Gesetz, eine Notwendigkeit, denn sie können der Konkurrenz der großen Industrie nicht standhalten. Wie stets setzt sich diese Notwendigkeit durch eine Reihe von Zufälligkeiten durch; lässt sich eine große Schuhfabrik einer Stadt nieder, so ist es in der Tat vom Zufall abhängig, ob zunächst der Schuster Müller, Meier oder Schulze pleite geht. Sind Müller und Meier pleite gegangen, dann kann vielleicht Schulze bis zum Ende seines Lebens recht und schlecht durchhalten.

Kurz: Dialektiker:innen müssen imstande sein, von den Zufälligkeiten ab- zusehen, sie müssen durch die Zufälligkeiten hindurch die Notwendigkeit, das Gesetz sehen, nach dem eine bestimmte Bewegung erfolgt.

Wir haben oben gesagt, dass der menschliche Geist nirgends auf eine prin- zipielle Schranke der Erkenntnis stößt, wenn auch die Materie prinzipiell un- erschöpflich ist und niemals ein Zeitpunkt erreicht sein wird, zu dem das Be- wusstsein mit dem gesamten Sein vollständig identisch sein wird.

Dies gilt ebenso für jede:n Einzelne:n in Bezug auf die Erkenntnis eines ein- zelnen Gegenstandes: Man wird die allseitige Kenntnis eines Gegenstandes niemals vollständig erreichen. Die Praxis des Strebens nach Allseitigkeit be- wahrt uns aber davor, in Fehler zu verfallen. Dieses Herangehen ist für Kom- munist:innen sehr wichtig.

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Einschub 4: Die relativitätstheorie

Der Gedanke, dass alle Erscheinungen in der Welt zusammenhängen und sich auf bestimmte Art und Weise gegenseitig bedingen, ist zunächst einleuch- tend. Es gibt aber auch Beispiele, wo diese Erkenntnis der menschlichen An- schauung zunächst zu widersprechen scheint: Wie ist es z.B. mit Raum und Zeit?

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die allgemeine Annahme unter Na- turwissenschaftlern, dass Raum und Zeit absolute Größen seien, die ihrerseits nicht mehr durch andere Ursachen bedingt seien: Das Universum wäre dem- nach zwar vielleicht unendlich groß, ließe sich aber theoretisch in einem einzi- gen, unendlich großen Koordinatensystem abbilden. Hätte man zwei bauglei- che Uhren und lässt die eine auf der Erde, während man die andere mit einem Raumschiff zu einem weit entfernten Planeten schickt, gäbe es keinen Grund, anzunehmen, dass beide irgendwann unterschiedliche Zeiten anzeigen sollten – von technischen Defekten einmal abgesehen.

Die Frage ist aber: Was sind überhaupt „Zeit“ und „Raum“?

Der berühmte englische Physiker und Mathematiker Isaac Newton machte einmal folgendes Gedankenexperiment: Was bliebe übrig, wenn man sämtli- che Materie aus dem Universum entfernen würde? Seine Annahme: Der „leere Raum” und die „leere Zeit”.

Wo liegt der Fehler in dieser Annahme?

Vom materialistischen Standpunkt ist diese Gegenüberstellung von „Mate- rie“ einerseits und „Raum und Zeit“ andererseits völlig sinnlos.

Der ganze Begriff „Zeit“ basiert nämlich auf der Bewegung der Materie:

Eine Uhr ist nichts anderes als ein technischer Apparat, der auf bestimmten, sich periodisch mit derselben Geschwindigkeit wiederholenden Bewegungen basiert wie z.B. Pendelschlägen, und die Zahl dieser Bewegungen anzeigt. Die Zeiteinheit „Tag” ist bestimmt durch die Drehung der Erde um sich selbst, die Zeiteinheit „Jahr“ durch die Bewegung der Erde um die Sonne.

Mit dem „Raum” ist es genau so: Der Begriff des „Abstands“ zwischen zwei Punkten im Raum basiert stets auf der realen Ausdehnung realer Materie.

Raum und Zeit sind also materiell. Sie sind strukturelle Eigenschaften der sich bewegenden Materie und daher Teil des Weltzusammenhangs, also der Erscheinungen, die „voneinander abhängen und einander bedingen”: Man kann sich also die Frage stellen, ob und unter welchen Bedingungen alle Be- wegungen in einem Raumschiff – inklusive der Bewegungen innerhalb des

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