ZUR ANALYSE VON MODALAUSSAGEN BEI AVICENNA
UND AVERROES
Von Carl Ehrig-Eggert, Mainz
1. Bekanntlich verhandelt Aristoteles - im wesentlichen in der Hermeneu¬
tik und in den Ersten Analytiken - nicht nur apodiktische Urteile, z.B. von
der Form „Allen A kommt B zu", sondern er erweitert diese Urteile und die
entsprechenden Syllogismen auch um Modalfunktoren. Diese Modalfunk¬
toren verändern den Sinn des ursprünglichen Urteils, denn dieses lautet
nun z.B. „Allen A kommt möglicherweise B zu". Solche um einen Modal¬
funktor erweiterten Urteile nenne ich Modalaussagen.
Es ist hier natürlich nicht möglich, auf alle Fragen einzugehen, die sich
bei Avicenna und Averroes fiir die Interpretation dieses schwierigen und
weitgehend noch unerforschten Teils der aristotelische Logik ergeben - vor
allem nicht auf die Syllogismen, deren Prämissen und conclusio von sol¬
chen Modalaussagen gebildet werden. Zur Diskussion stellen möchte ich
hier lediglich von Aristoteles abweichende Interpretationen der Modal¬
funktoren Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit, wie sie m. E. bei
Avicenna und Averroes vorliegen. Diese setzen zwar das von Aristoteles
gegebene Paradigma voraus, weichen aber doch im Einzelnen erheblich
von ihm ab.
Einschränkend sei bemerkt, daß ich nur auf eine schmale Textbasis
zurückgreife: Für Avicenna auf das Werk al-ISärät wa t-tanbihät^ und das
Kitäb al-Qiyäs aus dem Kitäb al-Sifä'^, für Averroes auf ein von Dunlop
publiziertes Quaesitum - eine mas'ala - über die Modalität von Aussagen".
2. Als Ausgangspunkt dient sinnvollerweise die Interpretation der Modal¬
funktoren durch Aristoteles selbst. Es kann heute als gesichert gelten, daß
bei ihm die sogenannte „statistische" Interpretation der Modalfunktoren
vorliegt. Diese Interpretation versteht Modalaussagen als Aussagen über
den Umfang des zeitlichen Vorliegens der einzelnen Urteile. Dies bedeutet
im Einzelnen: Als „notwendig" wird das bezeichnet, was immer der Fall ist,
als „möglich" das, was eintreten oder nicht eintreten kann, und als
„unmöglich" das, was nie der Fall ist. Auf diese Interpretation, die modale
Beziehungen als temporale deutet, ist vor allem von dem finnischen Philo¬
sophen HiNTiKKA hingewiesen worden".
Die hellenistischen Aristoteles-Kommentatoren kennen natürlich diese
Unterscheidungen. Eine hiervon abweichende Interpretation der Modal-
' Ibn Sinä: al-ISäräl wa t-tanbihät ma'a ^arh Na^ir al-Din al-Tüsi. 1. Ed. Sulai¬
män Dunyä. al-Qähira: Där-al-Ma'ärif bi-Mi§r 1971 (Dahä'ir al-'Arab. 22.).
' Ibn Sinä: al-Sifä\ al-Manliq 4: al-Qiyäs. Ed. IbrahIm Madkür, Sa'Id Zäyid.
al-Qähira 1384/1964.
^ Douglas Mobton Dunlop: Averroes on the Modality of Propositions. In: Isla¬
mic Studies 1 (1962), S. 23-34.
Vgl. z. B. Jaakko Hintikka: Time and Necessity. Studies in Aristotle's Theory oJ Modality. Oxford: Oxford University Press 1973, S. 103, 171 ff.
funktoren, die vermutlich auf Porphyrius zurückgeht, fmdet sich hier
gleichzeitig bei Ammonius' und Boethius': Während Aristoteles, um einen
modernen Begriff etwa unscharf zu gebrauchen, die Extension von Prädi¬
kat und Subjekt in Rechnung stellt, orientieren sich Ammonius und Boe-
thius auch an dem Inhalt der jeweihgen Aussage, d.h. sie fragen nach der
Intension von Prädikat und Subjekt. Als Beleg möge hier der Hermeneutik-
Kommentar von Ammonius dienen: Für Ammonius mt \ede protasis - also
jede Aussage - durch drei Elemente bestimmt, nämlich Subjekt, Prädikat
und deren Verhältnis zueinander, das mit den griechischen Begriffen oxeou;
oder öXr\, also „Verhältnis" oder „Materie", bezeichnet wird. Welche
Modalaussage dann im Einzelfalle vorliegt, ergibt sich aus einer Überprü¬
fung der jeweiligen Allsätze'.
Die hier entstehende Spannung zwischen beiden Interpretationsmustern
ist, soweit ich sehe, von beiden Kommentatoren nicht gesehen worden.
3. Da die Deutung der aristotelischen Hermeneutik bei al-Färäbi und
Yahyä b. 'Adi auf Material aus der Schule des Ammonius zurückgeht, fin¬
det sich diese Diskrepanz dann auch bei ihnen*. So zählt z. B. Yahyä b. 'Adi
ohne nähere Explikation in der gleichen Abhandlung mehrmals die drei
üÄai - arabisch mawädd - auf und definiert aufder anderen Seite die Modal¬
funktoren „statistisch". Um es in seinen eigenen Worten zu sagen: Das not¬
wendig Existierende ist das, was immer existiert, das Unmögliche das, was
nie existiert und das Mögliche das, was nicht immer existiert und nicht
immer nicht existiert'.
Die Sachlage ist jedoch noch komplizierter - zumindest bei al-Färäbi.
Bei ihm liegt nämlich eine Differenzierung des Begriffs „notwendig" vor,
die vermutlich auf Theophrast, den Schüler und Nachfolger Aristoteles'
zurückgeht'" und al-Färäbi wohl durch die Vermittlung Ammonius'
' Ammonius: In Aristotelis De Interpretatione Commentarius. Ed. Adolfus
Busse. Berlin: Georg Reimer 1897 (Commentaria in Aristotelem Graeca. Vol. IV,
Pars. V.).
' Anicii Marüü Severini Boethii Commentarii in librum Aristotelis Hepi eppTjveiag.
Pars Posterior: Secundam editionem et Indices continens. Rec. Carolus Meiser.
Leipzig: Teubner 1880.
' Vgl. Ammonius, op. cit., S. 88,7 ff.
* Vgl. für al-Färäbi: Sarh al-Färäbi li-kitäb Aristütälis fil-'Ibära = Alfarabi's Com¬
mentary on Aristotle's Hepi epfirjveiai;. Ed. Wilhelm Kutsch, Stanley Marrow.
Beyrouth: Dar al-machreq 1971^ (Recherches. 13.), S. 64, 11. Vgl. dazu: Fried¬
rich Wilhelm Zimmermann: Some Observations on Al-Farabi and Logieal Tradi¬
tion. In: Islamic Philosophy and the Classical Tradition. Essays presented by his friends and pupils to Richard Walzer on his seventieth birthday. Ed. Samuel Miklos Stern,
Albert Hourani, Vivian Brown. Oxford: Cassirer 1972, S. 520.
' Vgl. Yahyä b. 'Adi: Fi Itbät tabi'at al-mumkin, MS Tehrän, Kitäbhane-i Markazi Däniägäh 4901, Nr. 21, fol. 171a llff.
Vgl. Andreas Gräser (Hr^^.) : Die logischen Fragmente des Theophrast. Berlin - New York: de Gruyter 1973 (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen. 191.), S.
14, F 14.
bekanntgevi'orden ist". Sie lautet, hier zitiert nach al-Färäbi's Hermeneu¬
tik-Kompendium: „'Notwendig' hat . . . drei Bedeutungen: Die erste
(bezeichnet) das, was immer existiert - in der Vergangenheit und in der
Zukunft; die zweite das, was einem Subjekt zukonunt, solange dieses Sub¬
jekt existiert, wie z. B. das Blau-Sein des Auges oder die Plattheit der Nase.
Die dritte (Bedeutung) ist (die Bezeichnung dessen), was einem Subjekt
zukommt, solange es (seil, das Attribut) existiert. So z. B. das Stehen des
Zaid, denn dieses kommt ihm zu, solange er steht"".
4. Die recht komplizierte Theorie der Modalaussagen bei Avicenna ist nun
ein Versuch, die genannten Interpretationsansätze zu systematisieren. Das
Ergebnis ist ein System, dessen Begründung schon bei Avicenna nicht
mehr ganz klar ist. Dies gilt umso mehr für die an ihn anknüpfenden Kom¬
pendien, wie z.B. die Schrift al-Risäla al-samsiyya des al-Qazwini al-
Kätibi", die, wie die Handschriften-Kataloge zeigen, eine große Verbrei¬
tung gefunden hat.
Im einzelnen trifft Avicenna folgende Unterscheidungen '"*: Zunächst
nimmt er die Unterscheidung der drei mawädd auf, macht sie jedoch für
seine Systematik der Modalaussagen nicht weiter fruchtbar. Als Grund¬
schema für seine Überlegungen dient vielmehr die „statistische" Interpre¬
tation der Modalfunktoren; dabei gelangt er zu folgenden Differenzierun¬
gen:
Auf die Klasse der Notwendigkeitsaussagen bezieht er die von al-Färäbi
festgestellte Unterscheidung und erhält so drei Unterklassen von Notwen¬
digkeitsaussagen": Das, was immer ist (z.B. die Existenz Gottes), das,
was als Prädikat immer einem bestimmten Subjekt zukommt und das, was
als Subjekt einem bestimmten Prädikat zukommt.
Die nächsten Kategorien bezeichnet Avicenna mit den Termim dawäm
min gair (jkirüra (Dauer, aber ohne Notwendigkeit) und wu§üd min gair
dawäm aw darüra (Existenz ohne Dauer und Notwendigkeit)". Hier liegt
nun eine Neuerung vor, die wohl von Avicenna selbst stammt: Zwar ent¬
spricht die Kategorie „Dauer, aber ohne Notwendigkeit" der tradierten
Modalität der Notwendigkeit innerhalb der „statistischen Interpretation",
mit der Kategorie „Existenz ohne Dauer und Notwendigkeit" reiht Avi¬
cenna aber die assertorischen Aussagen in die Reihe der Modalitäten ein.
" Vgl. Amonius, op. cit, S. 153, 13ff.
al-Färäbi: Kitäb Bäri arminiyäs ay al-'ibära — Farabi'nin peri hermeneias mnh- tasan. Ed. trad. Mübahat Küyel. In: Ara^tirma 6 (1966), S. 82,5-11. Vgl. Fried¬
rich Wilhelm Zimmermann: Al-Farabi's Commentary and short Treatise on Ari¬
stotle's De Interpretatione. Translated with an Intoduction and Notes. London: Oxford
Umversity Press 1981, S. 247.
Vgl. Tam kayitli ^emsiye (Mantik). Istanbul: Salah Bilici Kitabevi 1971, pas¬
sim.
Vgl. Ibn Sinä, al-ISärät wa t-tanbihät, S. 260,1 ff.
•5 Vgl. ebda., S. 264, Iff.
Vgl. ebda., S. 268,1 flf.
Die systematische oder historische Begründung hierfür ist mir unbekannt -
ich verweise jedoch auf eine Parallele: Theophrast kennt ebenfalls die
Reihe „notwendig, faktisch, möglich", sie hat innerhalb seines Systems
jedoch eine andere Funktion: Da für ihn die conclusio eines Syllogismus
mit modal gemischten Prämissen immer die Modalität der „schwächeren"
Prämisse annimmt, muß er natürlich erst einmal eine solche Stufung von
stärkeren und schwächeren Modalitäten postulieren. Daher ist für ihn „not¬
wendig" die stärkste, „möglich" aber die schwächste Modalität".
Unter dem Oberbegriff „Möglichkeit", die ja bisher noch fehlt, führt Avi¬
cenna dann noch zwei weitere Modalitäten ein, deren Ursprung wiederum
an ganz anderer Stelle liegt: Aristoteles kennt zwei verschiedene Definitio¬
nen des Begriffs möglich, nämlich einerseits „möglich ist das, was nicht
notwendig nicht ist" und andererseits „möglich ist das, was nicht notwen¬
dig ist und nicht notwendig nicht ist"'*. Der Unterscheid beider Definitio¬
nen spielt dann eine Rolle in Theophrasts von Aristoteles abweichenden
Überlegungen zur Modallogik". Avicenna benutzt diese Unterscheidung
dagegen, um zwei verschiedene Bedeutungen des Modalfunktors „Möglich¬
keit" zu differenzieren^".
Im einzelnen schwankt die Zahl der von Avicenna genannten Zahl der
Modalitäten. Entscheidend ist jedoch, daß die verschiedenen Elemente, die
er in seiner Theorie zu vereinigen sucht, sehr unterschiedlicher Herkunft
sind, so daß sein Paradigma zwar historisch verständlich, systematisch
aber ohne inneren Zusammenhang ist.
5. Wie zu erwarten ist, liegt die Sache bei Averroes wesentlich anders. Als
Aristoteles-Interpret ist er bestrebt, aueh hier die Lehre des „Ersten Leh¬
rers" wiederzugeben. Obwohl er daher Avicenna explizit kritisiert, greift er
auf ihn jedoch auch zurück.
Averroes^' übernimmt zunächst die „statistische" Interpretation der
Modalfunktoren, d. h. er versteht modale Beziehungen als temporale. Da¬
her entfallen bei ihm auch die Distinktionen Avicennas innerhalb dessen,
was notwendig ist - er definiert es als das, was immer ist. Avicenna ver¬
pflichtet ist er jedoch in der Übernahme der assertorischen Aussagen in die
Reihe der Modalaussagen, womit sich vier Modalitäten bei Averroes
ergeben: notwendig, assertorisch {wu^üdi), möglich und urunöglich. Von
bsonderem Interesse sind natürlich die Kategorien assertorisch (bzw. fak¬
tisch) und möglich. Für sie trifft Averroes eine weitere Unterteilung in das,
was meistens oder selten geschieht oder was gleichermaßen geschehen
" Vgl. Wolfgang Wieland: Die aristotelisdie Theorie der Möglichkeitsschlüsse.
In: Phronesis 17 (1972), S. 124.
'* Vgl. Aristoteles: De Interpretatione. Ed. L. Minio-Paluello. London: Oxford
University Press 1966, 22bl4-16; Analytica Priora. Ed. W. D. Ross. London:
Oxford Umversity Press 1968, A 13, 32al8-21.
" Vgl. Joseph Maria Bochbäski: Notes historiques sur les propositions modales.
In: Revue des sciences philosophiques et thöologiques 26 (1937), S. 680ff.
Ibn Sinä, al-ISärät wa t-tanbihät, S. 272,4ff.
^' Vgl. zum Folgenden Dunlop, op. cit., S. 29,4ff.
kann und nicht geschehen kann. Diese Dreiteilung finden wir so zuerst bei
Ammonius^^; sie ist Averroes wohl durch al-Färäbi bekannt geworden.
Damit ergeben sich aber auch einige Verschiebungen: Der Platz, den
bisher innerhalb der „statistischen" Interpretation der Modalfiinktoren die
Modalität der Möglichkeit einnahm, kommt nun der der Faktizität zu - sie
wird ausgedrückt durch assertorische Urteile. Dies ist deshalb der Fall,
weil Averroes diese Modalität und die genanten Untergruppen rein tempo¬
ral definiert: Assertorische Urteile werden über Sachverhalte gefallt, die
nicht immer {gair dä'iman) existieren. Von diesen wiederum existieren
einige meistens, einige selten und einige können gleichermaßen sein und
lücht sein. Gerade Aussagen über das, was zwar rücht immer, aber doch
meistens eintritt, sind All-sätze, wie sie die Einzelwissenschafl^en kermen -
hier stimmt Averroes mit al-Färäbi und Aristoteles überein^d
Wie sind dann aber die Aussagen zu verstehen, deren Gegenstand
„mögliche" Sachverhalte sind? Die Tatsache, daß Averroes diese Aussagen
als solche über Zukünftiiges bezeichnet^'', liefert wohl den Schlüssel dafiir, wie er hier zu verstehen ist: Während nämlich die „statistische" Interpreta¬
tion der Modalfunktoren ja nur Urteile über aktuale Sachverhalte zuläßt,
geht es bei Urteilen über Zuküiüliges ja um Aussagen über potentielle
Sachverhalte. Averroes führt also bei Beibehaltung der „statistischen" In¬
terpretation eine neue Kategorie ein, um auch Aussagen über potentiellen
Sachverhalten einen Platz in seinem System einzuräumen. Er hat damit
übrigens ein Problem erkannt, das Aristoteles wohl noch nicht gesehen
hat".
6. Fazit: Wenn sich also bis Averroes der Grundtenor der aristotelischen
Theorie der Modalaussagen erhalten hat, so greift dieser nicht mehr direkt
auf Aristoteles zurück. Er verarbeitet und wird beeinfiußt von philophi-
schem „Material", das seit Ammonius die aristotelischen Überlegungen
interpretiert und modifiziert.
Dies sind natürlich nur Vorüberlegungen, die den Zugang zum Verständ¬
nis der Modalitäten in der arabischen Aristoteles-Interpretation erleich¬
tern sollen. Um hier einen genaueren Einblick in die Mikrostruktur von
Modalaussagen zu gewirmen, müßten z. B. auch die Konversionsmöglich¬
keiten von solchen Aussagen untersucht werden. Darüber hinaus stellt sich
natürlich auch die Frage, ob das gewandelte Verständiüs der Modalitäten
auch die Interpretation von Syllogismen mit modalen Prämissen beein¬
fiußt. Hier habe ich z. B. den Eindi-uck, daß sich Avicenna und Averroes
wesentlich enger an die aristotelischen Ergebnisse halten, als dies das
Gesagte vermuten läßt. Dies ist jedoch nur eine These, für deren Begrün¬
dung oder Widerlegung es des Studiums der logischen Schriften des Aver¬
roes bedarf, die arabisch bisher ja nur unvollständig vorliegen.
Vgl. Ammonius, op. cit., S. 143,13fi".
Vgl. Dunlop, op. cit., S. 30,6 ff.
Vgl. ebda., S. 29,7.
Vgl. HiNTiKKA, op. cit., S. 171 ff.
MODERNER ORIENT UND DIALEKTOLOGIE
Leitung: Stefan Wild, Bonn
PALÄSTINENSISCHE GESELLSCHAFT UNTER
ISRAELISCHER BESETZUNG.
ZU ZWEI ROMANEN VON SAHAR HALIFA
Von Hartmut Fähndrich, Bern
Vor allem möchte ich Ihnen kurz die Palä- stimnserfr&ge klarlegen, wie sie sich heute lur uns darstellt. Sie ist ein zwiefaches Pro¬
blem, ein Problem, das man vielleicht mit
dem einen Wort charakterisieren kann:
„die Heimatlosigkeit eines Volkes."
(Cr. Weizmann: Das jüdische Volk und
Palästina. Erklärung vor der Königlichen
Palästina-Kommission in Jerusalem am 25.
November 1936. Jerusalem 1937. S. 5
[Kursiv Gedrucktes geändert!])
Heimatlosigkeit, Fremdsein ist ftir die palästinensische Literatur und
Literaturbetrachtung ein wesentlicher Begriff; gurba, garäba und igtiräb
treten in Texten wie bei deren Interpretation immer wieder auf, auch im
Zusammenhang mit den Arbeiten von Sahar Halifa . . . Betont sei auch,
da sich die Handlung der zwei Romane Halifas, von denen hier die Rede
sein soll, innerhalb Palästinas abspielt, teils in Israel, teils im besetzten
Westjordanland, teils im annektierten Jerusalem. Fremdsein muß also hier
nicht heißen Außer-Landes-Sein. Fremder sein kann man und ist man in
Sahar Halifas Romanen auch im eigenen Lande, das eben nicht mehr das
eigene ist. Fremder sein kann man auch in der eigenen Familie, in der
Berufsgruppe, in der Gesellschaftsklasse. Fremd sein kann man ebenfalls
im Hinblick auf kulturelle Traditionen oder im Hinblick auf das, was man
sich vom Leben erhofft. Fremdsein hat unzählige Aspekte und der Vorgang
der Entfremdung unzählige Gründe.
Unter diesen Vorbemerkungen darf man wohl die beiden neuesten
Werke von Sahar Halifa, a^Subbär (Der Feigenkaktus; 1976) und 'Abbäd
dS-Sams (Die Sonnenblume; 1980) als Romane bezeichnen über das
Fremdsein, das Heimatlos-Werden und den Kampf dagegen, und zwar am
palästinensischen Beispiel.