Berufliche Bildung zwischen politischem Reformdruck und
pädagogischem Diskurs
Festschrift zum 60. Geburtstag von Manfred Eckert
Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS)
URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-133255
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ISBN 978-3-940625-17-5
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© Eusl-Veriagsgesellschaft mbH, Paderbom 2011 Satz: Vorlage des Autors
Druck und Bindung: MVR-Druck GmbH, Brühl
Manfred Ecker!
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort der Herausgeber ... ... 8 Kapitell: Arbeit, Beruf und Bildung
Giinter Pätzold
Arbeit und Beruf als Lebensftihrungs- und Ausbildungsmodell
17
Bernhard Bonz
Technikdidaktik zwischen Qualifikation und Bildung
... ... 31
Franz Schapfel-Kaiser
Phänomenologie, Zeit und Berufsforschung ..... . . .......
.
... . 45Klaus H arney
Beruf als institutionelle F onn der Arbeit zwischen Akteur und System:
Mehrfachreferenzialität und doppelte Grenzziehung. Eine theoretische Skizze '.
61 Gerhard Drees
"Führer seiner selbst" sein � Berufliche Bildung, Kohärenz, Emanzipation ....
.
.. 74Ingrid Lisop
Das Transfer- und Durchlässigkeitsproblem bei Qualifikationsrahmen als
Profil-Bild der wissenschai1lichcn Bernfs- und Wirtsehaftspädagogik . . . ... 89 Kapitel 2: Übergänge in der beruflichen Bildung
Dietmar Reisler
Beruf und Berufswahl zwischen subjektiver Sinnstiftung und Beschäftigungsfahigkeit. Die Körperpflegeberufe: "Traumberuf" und
"prekäre Besehäftigung" ... ........... . ...... . ........... ... . .... . . .... . . ..... 105
Günter Kutscha
Berufseinstieg als Bildungsauftrag und Entwicklungsaufgabe - Theoretische Aspekte und empirische Befunde zur Eingangsphase der Berufsausbildung
im Einzelhandel ... . . . .. . . ... . . . ... . . . . .
... 121
Y. Bettina Siecke
Durchlässigkeit im Anschluss an die zweijährige Berufsausbildung
- Ansätze zur Erklärung von individueller Mobilität .. . . ...... ...... . . 136
Richard Huisinga
Berufliche Übergangsforschung und Inklusionspolitik: Anmerkungen zu
einem prekären Verhältnis ... ... . . . .. . . .. . . ... 150 Kapitel 3: Perspektiven der beruflichen Integrationsf6rderung
i Horst Biermann
Segmentierung des deutschen Berufsbildungssystems ......... ....... ............ ........ . . 169
Karin Büchter
Ausgrenzung durch (Berufs-)Bildung - wie ein sozialstrukturelles Phänomen pädagogisiert wird und (re-) politisiert werden könnte .. .............. . ......... . . 184 ./
Robert
W.Jahn. Ho/ger Reinisch
Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher: Vorbereitung auf ein Leben in Prekarität? ...................... ................. .. ... 199 1
Arnulf Bojanowski. Winter Ratschinski
Benachteiligte Jugendliche im Übergangsprozess - bildungswissenschaftliche Befunde und förderpädagogische Konkretisierungen . . . ... ...... ...... ...... 213
lvfarianne Friese
Refonnperspektivcn der beruf1ichen Integrationsforderung.
Ziclgruppenspezifische Förderansätze an interdisziplinären Schnittstellen
der Berufs- und Sozialpädagogik . .......... . . ..... . . ..... . ............ ........ . . 229
Ruth Enggruber
Kompetenzdiagnostik in der beruflichen Integrationsförderung - Z\Vischen
politischen Ansprüchen und pädagogischen Diskursen ...... . . ... . . .. . . ... 242 Kapitel 4: Lebenslanges Lernen und Kontexte der beruflichen Weiterbildung
Stefan lskan. Jörg Stender
E-Coaching in transnationalen Arbeitsgruppen .... . ....... . . ............. . . ... . 259
6
Rudolf Hl/Semann
Fortgeschrittene Elwerbstätigkeit und lebenslanges Lernen ...... . .... . . ....... 274
Matthias Vonken
Altem und berufliche Ent\vicklungslinien . . . ...... . . . .... ...... _
Rolf Dobischat. Robert Schurgatz
Nachhilfe in Deutschland. Kommerziell organisierte Parallclstmktur zum öffentlichen Bildungswesen und die Gefahr einer weiteren Zementicrung
.. 290
von Bildungsungleichheit . . ....... ...................... . .... _ _ ........... . ..... . . ...... ... ... 308
Beatrix Niemeyer
Berufspädagogische Professionalität in internationaler Perspektive
- ein Reisebericht ... , ........... ....... . .......... . . ....... . . .......... . . . ... 323 Kapitel 5: Historische Berufsbildungsforschullg
Martin Kipp
Kruzifix und Führerbild, Losungen und Flaggensprüche - Die gewerbliche Berufsschule Schramberg und der Wandel ihrer Lemprogramm- und
Lernumgebungsgestaltung in der Zeit des Nationalsozialismus ..... ......... .. 339
! Philipp Gonon
Zur Legitimität beruflicher Bildung - Pestalozzi und Kerschensteiner als
pädagogische Vordenker arbeitsbezogener Lem- und Integrationsprozesse . . . ... 354
Thomas Deißinger
Kerschensteiner und die deutsche Berufsschule im Lichte der
Berufserziehungsgeschichte des englischsprachigen Kulturraums ... 368 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .. . . .............. ....... ...... ....... . . 383
Thomas Deißinger
Kerschensteiner und die deutsche Berufsschule im Lichte der Be
rufserziehungsgeschichte des englischsprachigen Kulturraums
1. Einführende Bemerkungen: Die Frage nach der geschichtlichen Herkunft aktueller Berufsbildungsstrukturen
Dass ein Ordnungsmodell fUr die berufliche Erstausbildung, wie es typisch ist flir Deutschland mit seinem auf das "Berufsprinzip" gegrundeten "dualen System"
(Deißinger 1998), in England (ebenso wie in Frankreich)! nie entstehen konnte, hat historisch-kulturelle Ursachen und zeichnet bis auf den heutigen Tag - auch unter einer europäischen Perspektive - ftir Unterschiede zwischen dem "deutschen" und dem "angelsächsischen" Konzept beruflichen Lernens verantwortlich (Har
rislDeißinger 2003; Deißinger 2009a). Entscheidend dürfte nach einschlägiger his
torischer Erkenntnis sein, dass mit der Industriellen Revolution die überkommenen traditionalistischen Strukturen der Lehrlingserziehung, die wie in Deutschland auch in England mittelalterliche Wurzeln aufweisen, in jenem Land, das sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert anschickte, zur "Werkstatt der Welt" (ehambers 1961) zu werden, bereits im Vorfeld der Industrialisierung erodierten und dem li
beralistischen Zeitgeist des 19. JahrhundeIts geopfert wurden. Stellvertretend flir die ablehnende Geisteshaltung gegenüber der sozio-ökonomischen Stellung der Zünfte und entsprechenden rechtlichen Regelungen durch das Lehrlings- und Handwerkerstatut von 1563 (Deißinger 1992, S. 34 ff.), und damit auch gegen die Einmischung des Staates in die Berufsausbildung, äußert Adam Smith in seinem
"Wohlstand der Nationen": Die "ausschließenden Privilegien der Zünfte" (Smith 1983, S. 104) seien verantwortlich daflir, dass der freie Markt im Handwerk nach wie vor Behinderungen unterworfen sei und auf diese Weise die freie Entfaltung individueller Anstrengungen unterdrückt werde. Smith wendet sich u. a. gegen die Länge der handwerklichen Lehre, die damals durch das Lehrlingsstatut zwingend vorgeschrieben war, und plädiert statt dessen für die Aufuebung der Begrenzung der Lehrlingszahl in den einzelnen Gewerben sowie für die frühzeitige Möglichkeit der in ein Gewerbe eintretenden jungen Männer, als Gesellen arbeiten zu dürfen.
Smith's Ansichten prägen und erklären gleichermaßen das geistige Klima, in dem korporative, das "Berufsprinzip" (Deißinger 1998) zugunsten des "Funktionsprin
zips" stützende Strukturen letztlich nicht überleben konnten. Gleiches gilt rur den Aspekt der "pädagogischen Ergänzung" der Lehre, der die Geschichte der Fortbil
dungsschule bzw. Berufsschule bestimmt. Wie stark beide Aspekte in der Zusam-
! Zu Frankreich vgL aktuell OttiDeißinger (2010) (im Druck).
368
menschau in England nach wie vor wahrgenommen werden, zeigt das folgende Zitat anschaulich:
"A striking differencc from Gerrnany is thc absence of minimum training periods, such a:;;
a three�year programme for bakers. Similarly, apprentices need not take pan-time technica!
education, unicss they are MA participants fuoctioning under an NTO framework that rc
guifes it � and even thcn 00 general education is required. Indecd, "off-the-job" training in a company training centre or with an cxternal commcrcial provider is often enough to meel NTO requirements, despite concems abaut its quality and relevance ( ... ).Thc absence of process regulation ret1ects Britain's "competcncc-based" approach to skill certification.
What matters in principle tor NVQ certification is demonSt::ldtcd competencc in the per
formance of work tasks, and that alone. Educational attainmcnts should indeed fonn part or that assessment if they are needed for competence, but are otherwise to be discarded as su
pefftuous (. .. )" (Ryan 2001, S. 136 [).
Im Folgenden wollen wir die Dualität des deutschen Ausbildungsmodells in spie
gelbildlich-komparativer Absicht rekonstruieren. Dass in Deutschland die Renais
sance traditionaler Strukturen der Lehrlingserziehung und die Ennvicklllng der Be
rufsschule verschiedenen histOlischen Entwicklungen erwachsen, sie gteichwohl als geistig verwandt anzusehen sind, ist (auch) das Verdienst herausragender Per
sonen der deutschen Erziehllngs- und Bildungsgeschichte. Eine entscheidende Rol
le bei der konkreten politischen Durchsetzung und Herausbildung der dualen Aus
bildungsstmktur in Deutschland kommt Georg Kerschensteiner (1854-1932) zu,
der im allgemeinen als der politische wie auch geistige "Vater" der deutschen Fortbildungsschule bzw. Berufsschule bezeichnet wird (Müllges 1967, S. Il), auch wenn es wohl noch weitere "Väter" gegeben hat, die dem dualen Ausbildungskon
zept historisch den Weg gewiesen haben (Lipsmeier 2010)2
Auch in England finden sich Ansätze, zu Beginn des 20. Jahrhunderts Fonbil
dungsschulen einzurichten, ja sie sogar zu Ptlichtschulen zu machen_ Weshalb dies anders als in Deutschland nicht gelang und nach wie vor funktionale bzw. modula
re Qualifizierungsmuster dominieren (Deißinger 2009b), wollen wir im Folgenden rekonstruieren und dabei auch ein Schlaglicht auf das Wirken Kerschensteiners im angelsächsischen Kulturraum werfen.
2. Kerschensteiners Einfluss im angelsächsischen Ku!turraum Das englische Fortbildungsschlllwesen hinkt im 19. Jahrhundert in seiner histori
schen Entv-ricklung den deutschen Fortbildungsschulen um lUnd hundert Jahre hin
terher. In den deutschen Ländem kommt es bereits seit dem frühen 18. Jahrhunden zu Vecsuchen, die Fortbildungsschulpflicht einzufUhren, ohne dass vor dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Regelwerk zustande kommt, welches ihre Durchsetzbar-
Wie Lipsmeier auf diesen Aspekt hinweist, wende! sich auch Zabeck kritisch g.::gen t::iDC eindimen�iona!e Be
trachtung der "Klassischen Deutschen Bcrufsbildungslhcorie", vor allem was ihre Motivstruktur wie �uch die wissenschaftstheoretische Ausrichtung betrifft (Zabcck 2009, S. 442 ff.).
369
keit siehert3• Dennoch gelingt es in Deutschland seit der Jahrhundertwende - VOr allem in Bayern unter dem Einfluss Georg Kerschensteiners, der in München ab
1895
als Schulrat wirkt (Melz1971,
S.22
ff.; MüUges1967),
die Fortbildungs_schule didaktisch, rechtlich und schulorganisatorisch in eine "konsequent am Beruf des Schülers orientierte Institution umzuwandeln" (Greinert
1995,
S.501).
Eckert spricht davon, dass Kerschensteiner bei "seinem Modell der Individualisierung"das Berufskonzept "freudig aufgegriffen" habe (Eckert
2003,
S.47).
Ausgehend von seiner Erfurter Preisschrift (Kerschensteiner1901;
Zabeck2009,
S.491 C)
hatKerschensteiner diesen Weg erziehungspolitisch und später dann auch bildungs
theoretisch aufgewiesen: Die Jugend müsse nicht nur zum Beruf, sondern
durch
den Beruf, dem die Qualität einer "Pforte zur Menschenbildung" zukomme, ge
formt und gebildet werden (Kerschensteiner
1910,
S.30).
Gleichzeitig sei es Aufgabe des Staates, durch seine Schulen zu gewährleisten, dass die jungen Menschen sowohl zu gebildeten Persönlichkeiten als auch zu "brauchbaren Staatsbürgem"
würden. In der Interpretation von Blankertz markiert die Erfurter Preisschrift die
"Geburtsstunde der Berufsschule" (Blankertz
1969,
S.136).
Auch in England und Schottland gab es prominente Verfechter der Ideen des Münchner Stadtschulrats: Zu ihnen zählten Lord Haldane
(1856-1928)'
und Michael E. Sadler
(1861-1943).
Haldane velwies daraul; dass es in Deutschland ein in sich stimmiges, effizient strukturiertes Bildungssystem gebe, welches profilbezogene Qualifizierungsleistungen erbringe. In der Technischen Hochschule sah Hal
dane zudem den Beweis daflir, dass das "industrielle Leben" dort in einem engen Zusammenhang mit dem "akademischen Leben" stand (Haldane
1902,
S.16).
Sadler wiederum hatte sich auf Reisen nach Mitteldeutschland über die kaufmänni
schen und technischen Bildungsanstalten in Kenntnis gesetzt. Vorbildlich erschien ilun das allgemein dort vorherrschende "national interest in education" (Higginson
1990,
S.247).
Im "Münchner Modell" erkannte Sadler, dass sich hier Nutzenüberlegungen und sozialpolitische Motive durchgesetzt hätten, was die Beschulung der volksschul entlassenen Jugendlichen betraf. Vor diesem Hintergrund wurde er nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das Königreich aus den deutschen Erfahrungen
Vg.l. Me!z (1971, S. !9). Am fortschrittlichsten zeigte sich Bayern, wo bereits seit 1803 die Fortbildungsschul
pflIcht fur Jungen (bis zum 17. Lebensjahr) und Mädchen (bis zum 16. Lebensjahr) galt. In Waldeck war dies seit 1855 der .FaIL Im Jahre 1873 fuhrte Sachsen, ein Jahr später SaChsen-Weimar, SchwarLburg-Sondershauscn und Hessen, Im Jahre 1895 Württemberg Wld Sachsen-Meiningell, im Jahre 1905 Mecklenburg-Schwerill die Fortbildungsschulpflicht als Landesrecht ein. Die anderen Länder - so auch Preußen - legten Ortsstatuten zu
�nd.e, d.�. c� war S�che der Gemeinde, die Teilzeitschulpflicht einzufUhren (BJankertz 1969, S. 128 ff.). Die Moghchkell, die Fortbtldungsschulpflicht durch Ortsstatut zu implementieren, war 1869 in der Gewerbeordnun"
d�� Nordde�tschell B�ndes fixiert worden. Für .das Handwerk galt ab 1897 (Handwl.'rkerschutzgesetz), da:>s
de�
4 Lehrherr semen Lehrlmg zum Besuch der Fortbüdungsschule anzuhalten hatte (Winkter 1979, S . 83 ff.).
Haldane war Mi!begrilnder der "London Schoo! of EcOllomics", ein vielseitiger, auch philosophisch interessier
��;
Charakter, der zwischen 1905 und 1912 in das Amt des britischen Kriegsministers aufstieg (Hall 1982, S. 30Nutzen ziehen könnte, obwohl er sich darüber im klaren war, dass die divergenten
"Staatsverständnisse" eine Übcltragbarkeit deutscher Erfahrungen zwar \vün
sehenswert, jedoch schwierig machten:
:,The cru�ia! difference bet\veen thc histOry of German education and thüt of English dur
mg thc nmeteenth century lies in thc different use which the two countries have made of the power of the State. In England that power has been used reluctantly with detibcratc r-;
jection of any plan of national reorganisation. (. .. ). In Gennany thc power of lhc State bus been exercised unflinching!y with great forethought and precision of purpose. ( ... ). Ger
many has adopted without serious misgiving thc principle that national cGucation is a func
tion of the State: England has hesitated between two opposing theories, thc theory 01' Stare contra! and that ofprivatc enterprisc" (zit. in: Higginson 1990, S. 249).
Möglicherweise ist es der vorrangigen Position Englands als ,,\Verkstatt der \Velt"
zuzuschreiben, dass in Schottland, dessen Schulwesen eine von England unabhän
gige Entwicklung durchlaufen hatte, Kcrschensteiners Ideen zunächst aufgeschlos
sener begegnet wurde und der Münchner Stadtschulrat dorthin eingeladen wurde, um "der Annahme eines Gesetzesentwurfes die notwendige fachliche Untermaue
rung zu geben, der den Besuch der Fortbildungsschule obligatorisch werden lassen sollte" (Krebs
2004,
S.86).
Im Jahre1908
unternahm Kerschenstcincr eine Vortragsreise nach Edinburgh, Aberdeen, Glasgow und Dundcc. Schottland stand in jener Zcit unmittelbar vor der Verabschiedung des zu novellierenden Fortbildungs
schulpflichtgesetzes. Metz fUhrt aus, dass die Gedanken und Erülhrungen im Zu
sammenhang mit der Refonnbedürftigkeit der Fortbildungsschulen in Deutschland, die Kerschensteiner bei dieser Gelegenheit gegenüber den schulpolitisch Verant
wortlichen vortrug, auf ein sehr positives Echo in der schottischen Presse stießen (Metz
1971,
S.126 II.),
in der die Kopie des "Münchner Modells" thematisiert und teilweise sogar ausdlücklieh empfohlen wurde. ImAcland Reporl 1909
wird ex post diesbezüglich dargelegt, dass die Defizite des schottischen Schulgesetzes von1901,
um dessen Novellierung genmgen wurde, darin lagen, dass der angebotene Abendschulunterricht nur flir solche Jugendlichen vorgesehen war, die vom Besuch einer Elementarschule (Tagesschule) tatsächlich befreit waren. Alle anderen Jugendlichen, d. h. insbesondere die eigentlichen "Lehrlinge" wurden
de iure
nicht erfasst.Kerschensteiner, der zu einer Verankenmg der Fortbildungsschuipflicht geraten hatte, hatte offensichtlich einen nicht unerheblichen Anteil an der Verabschieduno
des schottischen Erziehungsgesetzes von
1908,
das den Besuch einercontinuatio �
schoo!
über das14.
Lebensjahr hinaus obligatorisch machte, d. h. unabhängig von der Inkraftsetzung eines Ortsstatuts, bei dem in der Regel die industriellen Interessen über die pädagogischen dominierten. Auch war es nun explizit die Pflicht der Schulbehörde, die Jugendlichen zum Besuch der Fortbildungsschule anzuhalten.
Das Statut regelte des \Veiteren die Freistellung der Jugendlichen von der Arbeit:
Diese hatte so zu erfolgen, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Maximalarbeits-
zeiten unter Einschluss der UntelTiehtszeiten nicht überschritten wurden (Metz
1971,
S.140
ff.). Von besonderer Bedeutung war jedoch die explizite Aufnahme eines "Berufsbezugs" (Public General Acts1908,
S.364).
3. Das "Erbe" der Industriellen Revolution: Warum in England die Lehre und die Fortbildungsschule keine Verbindung eingin
gen
3.1 Die englischen Fortbildungsschulen an der Wende vom 19. zum 20. Jahr- hundert
Die Lehrlingsausbildung
(apprenticeship),
die in England - ausgehend von der Abschaffung des Lehrlings- und Handwerkergesetzes(Statute of Artiflcers)
im Jahre1814
(Deißinger1992,
S.157
ff
; Pcrry1976)'
-auch um die Wende vom19.
zum20.
Jahrhundert weitgehend ordnungspolitisch wie reehtlich unberührte Strukturen aufweist, wurde nicht etwa in ihrem Kern, dem Ausbildungsverhältnis, sondern vielmehr indirekt über die schulische Entwicklung im letzten Drittel des19.
Jahrhunderts einer stärkeren staatlichen Einflussnahme unterworfen. Die Erweiterung von Bildungschancen betraf sowohl den eigentlichen elementaren Be
reich, die
elementary schools
des Staates und der freien Träger, als auch den Bereich der
high er education.
Die Erziehungsbehörden der einzelnen Kommunen(Schoo! Boards, Technica! Instruction Commiuees)
hatten es nun zunehmend in der Hand, allgemeinbildende Schulen, Gewerbeschulen bzw. technische Schulen(trade schools, technica! schoo!s)
und Abendklassen(evening continuation classes)
einzurichten (Bray1980,
S.59
f.). Zwei schulische Fonnen einer mehr oder weniger ausgeprägt berufsbezogenen Bildung kristallisierten sich hierbei heraus: Zum einen waren dies die höheren Elementarschulen
(higher e!ementary schoo!s, higher grade schoo!s),
zum zweiten die heterogenen Ausprägungen der Fortbildungsschulen(continuation schoo!s).
Bray charakterisiert hierbei diehigher elementcu-y schools
als ausdrücklich berufsorientierte schulische Einrichtungen:"Originally a schaol spccializing in science and of little value, it is tending to be
come, under the more recent regulations of the Board of Education, a school where a definite bias, either in the direction of commerce er industry, is given to thc cur
riculum" (ebd., S_
63
f.). Reeder charakterisielt diese Schulen als die wichtigsteDie Aufhebung der Lehrlingserziehungsbestimmungen des Handwerkerstaruts von 1563 im Jahre 1814 steht rur den Beginn der dritten Phase der englischen Berufsbildungsgeschichtc, die durch die äußerste Zurückhaltung des Staates. gegenüber dem Bereich der beruflichen Qualifizierung charakterisiert werden kann und die im wesentli�
che.n bIS 1964 (lnduslrial Training AcI) währte. Mit der Zäsur des Jahres 1814 v.urde die Basis flir die Rechtsla"
?c In: .19. und �O. Jahrhundert gelegt: Die Berufsausbildung war fortan auch de iure den Gepflogenheiten des JeweilIgen Betnebes anheimgestellt, d. h. aus dem gesamtgesellschaftlichen Ordnungsrahmen herausgelöst, in dem der Staat fonnalrechtlich die Bedingungen rur die Integration der nachwachsenden Generation in das Wirt
scha!1:s!eben fixiert halte.
Form der post-elementaren Bildung im Vorfeld der Verabschiedung des
Baljour
Education Act 1902
(Reeder1987,
S.142 f).
Jedoch galten sie -- obwohl von derBoard 0/ Education
. seit1900
als öffentliche Schulen anerkannt � o-coenüber den 0 0 etabllerten Sekundarschulen als .,minderwertig", da sie nur bis zum 14. Lebensjahr besucht wurden, auf industriell-manuelle Berufe ausgerichtet waren und damit lediglich eine eIWeiterte Form der Erziehung der
working cIasses
darstellten.Werfen wir nun einen Blick auf die eigentlichen englischen Abend- und Fortbil
dungssehulen, die im letzten Drittel des
19_
Jahrhunderts entstanden. Diese existierten neben den traditionellen Sekundarschulen
(grammar schaals, pub/ie schools)
sowie den in der Tradition derAfechanics' Institutes
(Deißinger1992,
S.329
ff.) stehendenscience classes
derevening technical schoo!s,
wobei sie jedoch nicht dentecJmical instruction committees
zugeteilt waren, die für die höhere technisch-berufliche Bildung zuständig waren, sondern den lokalen Schulbehörden, die seit dem ErLiehungsgesetz von
1870 (Foster Education ACl)
die staatlichen Elementarschulen betreuten. Ursprünglieh hatten Abendklassen und Fortbildungs
schulen die Funktion, die fehlende Elementarbildung in der Bevölkerung zu kom
pensieren. Sie konstituieren die "vorslaatliche" Entwicklung des englischen Fort
bildungsschulwesens im Hinblick auf drei Entstehungsphasen (Sadler
1908,
S. 4 ff.): Zwischen1780
und1833
sind es vOlwiegend Sonntagsschulen und Arn1cnschulen kirchlicher und privater Träger, die als Fortbildungseinrichtungen fimgie
ren. Zwischen
1833
und1848
werdencontinuation c!asses
vorwiegend in denMechanics' Institutes
eingerichtet. Zwischen1848
und1870
sTehen die Fortbildungssehulen unter dem Eint1uss der Arbeiterbildungsbewegung, die im
Peop!e:, College
(Sheffield) sowie imWorking Men's College
(Landon) ihren Niederschlag findet.In diese letzte Phase fallt auch die allmähliche Wandlung im Verhältnis des Staates zum Problemkreis der Arbeiterbildung. Seit dem Jahre
1851
zahlte die Regierung nämlich finanzielle Zuschüsse anevening elernentary schools,
wobei streng festgelegt war, dass die öffentlichen Zuwendungen die Summe der eingenommenen Schulgebühren nicht übersteigen durften (ebd., S.
11).
Mit dem Jahre1871,
ein Jahr nach dem ersten umfassenden englischen Erziehungsgesetz (Deißinger1992,
S.
295
ff.), gewährte der Staat für Schüler bis18
Jahren Zuschüsse, wenn sie allgemeinbildende Abendklassen besuchten_ Fünf Jahre später wurde die Grenze bis zum
21.
Lebensjahr ausgedehnt. Im Jahre1888
fordert derCross Report
eine deutlichere Ausrichtung der Abendschulen an den lokalen Bedürfnissen, d. h, den kaufmännischen und technisch-gewerblichen Beschäftigungsstrukturen in den In
dustriestädten.
Somit war die Fortbildungsschule (Bray
1980,
S.66 ff.)
eindeutig eine Schul form, dIe über den Rahmen, den das Erziehungsgesetz von1870
umrissen hatte, hinausreichte, und es kam ihr nicht zuletzt durch die Forcierung der naturwissenschaft_
lich-technischen Bildungsangebote verstärkte Bedeutung rur die Erziehung der Ar
beiterklasse wie auch die der "lower walks of commerce" zu (ebd., S.
69).
Für Jugendliche, die bereits eine Lehre oder eine Beschäftigung aufgenommen hatten, existierte die Möglichkeit, Bildungsangebote in den Fortbildungssehulen während des Tages oder am Abend nach der Arbeit wahrzunehmen. Fonnal kam dem in diesen Bildungseinrichtungen angebotenen Unterricht damit eine bemfs- bzw. aus
bildungsbegleitende Funktion zu, auch wenn es sich inhaltlich meist nur um ein einziges Fach neben dem Bereich ,,rekreativer Tätigkeiten" handelte6.
Nach
1870 (Foster Education Act)
kommt es zu einem stärker werdenden Zugriff der Schul verwaltung auf die Schulorganisation und die Frage der Schulpflieht, begleitet von der wachsenden Bedeutung der
Technical Education,
deren Strukturen sich teilweise mit denen der Abendschuleinrichtungen überlagerten bzw. diese einer Neuprägung unterzogen. Der Ausbau des Elementarschulwesens über die ei
gentliche Schulpflichtgrenze hinaus stand nun unverkennbar unter einem "bil
dungsökonomischen" Vorzeichen, wobei - wie Sadler es ausdrückt - der Aspekt einer "imitation of the educational poliey of Germany and the United States"
(Sadler
1908,
S.13)
die englische Schulpolitik zu beeinflussen begann. So hatte sich dieSamuelson Commission
nicht nur für einen "realistischen" Unterricht in den Elementarschulen des Landes ausgesprochen, sondern auch die Einrichtung vonevening schools
gefordert vor dem Hintergrund dessen, dass viele Jugendliche zu früh in eine Beschäftigung eintraten. Als vorbildlich und nachahmenswert lobte die Kommission die "Lehrlingsschulen" in Frankreich, Deutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien und Holland. Demgegenüber gebe es kaum vergleichbare Einrichtungen für den englisehen Lehrling oder Arbeiter (ebd., S. 22 ff.). Nicht zuletzt sei es notwendig, dass die englisehen Unternehmer Bereitschaft zeigten, ihre Beschäftigten zum Besuch einer solchen Einrichtung freizustellen. Montague(1887,
S.16)
bemerkt hierzu in seiner Zusammenfassung desSamuelson Report:
"In Gennany and Switzerland thcy order these things very differently. ( ... ) Thc period of
compulsory attendance at school begins later and lasts longer therc than here. In the city af Hamburg it cammences at thc agc of six and cantinues far seven years; in the kingdom of Saxony it is practically thc same. In Baden, Bavaria, Zurich, and e!sewhere, young persans
6 Die schulische Bildung jener Personen "likely 10 succeed in the higher brauches of industry and commerce"
(Bray 1980, S. 67) sicht Bray gegenüber den Fortbi!dung�schuien in den beruflich-technischen Sekundarschulen, denlechnical institutes mit Voilzeit- und Teilzeitbiidungsgängen, am besten aufgehoben. Der Besuch dieser Ein
riChtungen setzte zwischen dem elften und zwölften Lebensjahr eine Selektion der intelligenteren Kinder voraus.
Für jene "like!y later 10 fill the position offoremen or to bel-"Ome the bt."$t kind of artisan" (ebd., S. 68) gab es die Gewcrbeschuk:, die day Irade 3cho01, weiche von den Jugendlichen nach dem Besuch der Elementarschule im Alter von vierzehn oder fUnfzehn Jahren in Anspruch genommen wurde. Es handelte sich nach Bray bei dieser Einrichtung um ein Qualifizienmgskonzept im Sinne eines "all-mund training in the various skiHed operations the Irade requires" (ebd.), d. h. um eine sehr enge berufsbezogene Bildung.
374
leaving the elementary school ar the age oftwelve, thirteen or tourtecn years, are reqtlired by law to attend thc Fortbildung, 01' continuation 5chool5, for two 01' thn.:e years more".
Im Jahr
1894
öffnete die Regierung mit dem Erlass desAcland Code
dieevening schools
für die Erwachsenenbildung: Die von diesem Zeitpunkt an alsevening continuation schoo!::;
firmierenden Einrichtungen konnten fOltan von über 2ljährigen in Anspmch genommen werden. Seit1898
schließlich vcrwlt:s derEvening Cantinuation Sehaol Code
desEducation Department
auf die konkreten didaktischen Implikationen einer Erv.reiterung der Elementarbildung. Erstmals wurden nun berufsorientierte Fächer der kaufmännischen(commerce),
hauswirtschaftlichen
(domestie subjects)
und der landwirtschaftlichen Richtung(agriclIlture)
von der Regierung bezuschusst (Abbott1933,
S.38 f.)'.
Die Haup'aufgabe der Fortbildungsschule sollte es jedoch eigentlich sein, zum einen die Elementarbildung fortzuführen und zu vertiefen, zum anderen sollte sie eine mehr oder weniger berufsbezogene Bildung vorbereiten. Es gab in den Fortbildungs
schulen auch spezialisierte Kurse
(industrial courses, commerciai courses),
deren Ziel darin lag, sicherzustellen, "that every boy going into productive industry should be able to make workshop calculations, to read a drawing, and to express himself easily and accurately, ( .. ,)" (ebd., S.51).
Sadler benennt diese Ambivalenzen für die Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, indem er nicht weniger als sieben unterschiedliche Typen von
evening continuation schools
unterscheidet: elementarbildende, künstlerischhandwerkliche, kaufmännische, gewerblich-technische, naturwissenschaftlicllc, hauswirtschaftliche sov.rie solche Schulen, die vorwiegend sportlich-musische und
"rekreative" Angebote bereitstellten (Sadler
1908,
S.105-109).
Obwohl - so Sadler - die Arbeitgeber und Lehrherrn die Fortbildungsschule "respektierten", habe diecontinuation school
meist eine allgemeine, eher kulturelle Funktion: Ähnlich wie die
Mechanics' Institutes
werde sie als Möglichkeit der "Weiterbildung"genutzt (vgL auch Grothc
1882,
S.64).
Nach wie vor seien zudem die Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche arbeiteten, sowie deren früher Einrritt in ein Arbeitsverhältnis verantwortlich für den unzureichenden Stand der Elementar
bildung. Zudem würden die
continuation schools
oftmals ihre Cun'icula mit zu vielen Fächem und Wissensbereichen überfrachten. Der Autor verschweigt auch nicht, dass es nach wie vor keine geeigneten Lehrer gebe, dass viele Erziehungsbe
hörden sich apathisch verhielten mit Blick auf die Verbesserung der lokalen Schul
versorgung und ferner keinerlei
/inkage
zwischen den eigentlichen Elementarschulen und den
evening continuation schools
existiere. Der Zensus VOn1901
offcn-Um 190411905 war die Zahl der eingeschriebenen Abendschüler auf 719.000 <1ngel'.'3chscn, die in insgesiJr�,t 5.700 Einrichtungen unterrichtet wurden. Die lS-21jlihrigen stellten ungefähr die Hiiltte der Kur,acilnehmcr (Sadler 1908, S. 109 fT.).
bart, dass sich bei den 12-17jährigen Personen in England und Wales nur 17,7 % in öffentlichen Elementarschulen befanden, lediglich 6 % in Sekundarschulen
(grammar schools, publte schools)
und gerade mal 6,9 % eine Abendschule besuchten, Für das Gros der Jugendlichen gab es offenkundig keinen Platz im engli
schen Bildungswesen, oder es fehlte an den Möglichkeiten oder auch an der Be
reitschaft, sich neben einer Arbeit oder Ausbildung weiterzubilden (Sadler 1908, S, 115 ff,),
3,2 Gesetzliche Initiativen zur Einführung der Fortbildungsschulpflicht im England des frühen 20. Jahrhunderts
In England, das hier Schottland offenkundig nachhinkte, stand der Ausbau des Elementarschulwesens über die eigentliche Schulpflichtgrenze hinaus um die Jahr
hundertwende nicht unter einem primär sozialen oder gar pädagogischen, sondern unverkennbar unter einem "bildungsökonomischen" Vorzeichen, da - wie Sadler es ausdrückt - die Ullabdingbarkeit einer "imitation of the educational policy of Germany and the Uni ted States" (Sadler 1908, S, 13) die englische Schul politik zu beeinflussen begann. Wie wir gesehen haben, kam den Fortbildungsschulen
(con!inuation schools),
die im ausgehenden 19, Jahrhundert meist als Abendschulen eingerichtet \vurden, die Aufgabe zu, zum einen die Elementarbildung fortzu
führen und zu vertiefen, zum anderen sollten sie den Besuch einer Einrichtung der o-ehobenen technisch-naturwissenschaftlichen Bildung vorbereiten und auch Auf
:
aben der Erwachsenenbildung übernehmen. Unter diesen Bedingungen war es für�
ie Fortbildungsschule schwer, sich als eine eigenständige Schulform zu etablieren. Ähnlich wie die
Mechanics' Institutes
\VUrde die Fortbildungsschule entweder als "verspätete Elementarschule" oder als Möglichkeit der "Weiterbildung" genutzt. Ausdrücklich war hiervon die betriebliche Ausbildung separiert, bei der im Interesse der Betriebe auf die "Freiheit der Beschäftigung" und die Unabhängigkeit des einzelnen Berriebes geachtet wurde. Obwohl der
Acland Repor!
Bezug auf das"Münchner Modell" nahm - "No one has done more to develop a satisfactory sys
tem of Continuation Schools than the City Superintendent of Education in Munieh, DL Kerschensteiner" (zit. bei Metz 1971, S. 143
f)
-war die englische Politik offenkundig nicht bereit oder nicht in der Lage, eine Schul politik zu verfolgen, die sich am schottischen Vorbild orientiert und damit indirekt auf das deutsche Vor
bild zUlÜckgegriffen hätte. Es war deshalb nahe liegend, dass auch der legislative Versuch des Jahres 1918, die Fortbildungsschulpflicht in einem neuen Erziehungs
gesetz landesweit zu verankern, zum Scheitern verurteilt war.
Das im letzten Kriegsjahr verabschiedete
Fisher Education Ac!
war nicht mehr und nicht weniger als der unmittelbare Ausfluss der Kriegswirren. Zum Tenor des mittlerweile manifesten wirtschaftlich-technologischen Rückschritts trat nun als Ver-
stärker die militärische Auseinandersetzung mit dem stärksten europäischen Kon
kun-emcn im internationalen Wettbewerb, und von hierher erfuhren das innenpoli
tische Problembewusstsein und die Notwendigkeit von Reformmaßnahmen eine zusätzliche Legitimations. Der Gesetzesinitiative war die Veröffentlichung des Be
richts des
Lewis Committee
vorausgegangen, das sich mit dem Zusammenhang von Bildungswesen und Jugendarbeitslosigkeit befasst hatte. Die Kommission fordene,"to establish a unifonn Elementary School leaving age of 14, ( ... )", sowie "atten
dance (".), at Day Continuation Classes between the ages of 14 and 18" (zit in:
Maclure 1979, S, 169), Mit dem
Fisher Education Ac!
wurden die Befugnisse derloeal edueation authorities
ausgeweitet (Bamard 1957, S. 271ff.).
Damit \vurde dem traditionellen "englischen" Prinzip Rechnung getragen, mit einem Minimum an zentralstaatlicher Kontrolle ein Maximum örtlicher Zuständigkeiten und Gestaltungsbefugnisse zu verbinden (Metz 1971, S, 159). Die letzten Schulgebühren im Bereich der elementaren Bildung wurden beseitigt sowie die Möglichkeit, Kinder vor dem Erreichen des gesetzlich vorgeschriebenen Schulabgangsaltcrs von 14 Jahren in eine Lehre oder Beschäftigung aufzunehmen. Gleichzeitig wurde die Ausdehnung des allgemeinen Schulabgangsalters auf das vollendete 15, Lebens
jahr zu einem späteren Zeitpunkt in Aussicht gestellt. Ausdrücklich erwähnte das Gesetz die Notwendigkeit einer Einführung von Pflichtfortbildungsschuien, die von Lehrlingen und jungen Beschäftigten während des Tages besucht werden soll
ten
(day continuation schools),
deren organisatorische und curriculare Struktur sich am "Münchner Mode!l" orientieren (Kerschensteiner 1930, S, 31) und deren Unterricht in Pflichtfortbildungsschulen bis zum 16, Lebensjahr eine Unterrichtszeit von immerhin 320 Stunden jährlieh umfassen sollte,
Tatsächlich wurden in London im Jahre 1921 die ersten 22 der vom Gesetzgeber vorgesehenen Fortbildungsschulen eingerichtet. Jedoch zeigte sich, dass das
Fisher Education Act
außerhalb der Hauptstadt kaum wr Kenntnis genommen und seine Verfiigungen nicht realisiert wurden. Die einzigen Kommunen, die die "Empfehlungen" des Gesetzes beherzigten und in die Tat umsetzten, waren Birmingham, Swindon, Stratford-on-Avon und Rugby. Rugby sollte die einzige Stadt sein und bleiben, deren Erziehungsbehörde die Fortbildungsschulpflicht fur die vom Gesetz anvisierte Personengruppe der 14-16jährigen durch Ortsstatut tatsächlich in Kraft setzte (Simons 1966, S. 122). Die meisten der in den frühen 1920er Jahren gegrün
deten Fortbildungsschulen schlossen bereits nach ein bis zwei Jahren wieder, nicht
Herben A.L. Fisher (1865-1940), Präsident der BOO1rd 01' Education, unterstrich dies be� der Vorlage des Geset·
zes am W. August 1917 vor dem Unterh01us: "We are a comparatively small country, we have incurred the hos
tility of a nation Wilh a Iarger population and with a greater extent of concentrated terrilOry and wi�h 3 more po
werful organizatioll of its resources. We canna! flatter oUfsdves with the comfortab!e notion, I v.r1sh we could, that after lhis War the fieree rivulry oi Germany will disappear and hostilc feeling allOgether die down. That in itself constitutes a reuson for giving the youth of out country the best preparation which ingenuity can suggcSt"
{Fisher, Herben A. 1., Speech in rhe House ofCommons (August 10, 1917), zit. in: Maclun: 1979, S. 175).
377
zuletzt deshalb, weil sich die Unternehmer im allgemeinen gegen die Freistellung ihrer Lehrlinge und jungen Beschäftigten - bei insgesamt 320 Stunden im Jahr be
deutete dies verteilt auf 40 Unterrichtswochen einen achtstündigen Schultag pro Woche - sträubten. Auf dieses Problem verweist auch Tawney, der - im Einklang mit der erziehungspolitischen Programmatik der Labaur Party in den lnOer Jah
ren - beklagte, es könne nicht angehen, dass die Fortbildungsschule an die Stelle einer fehlenden "guten Allgemeinbildung" der unteren Bevölkerungsschichten tre
te und somit die Politik der Bildungsbegrenzung mit Blick auf die working elasses fortgeschrieben würde (Tawney 1988, S. 101-104).
Das Fisher Educatian Act blieb mit Blick auf die FOltbildungsschule folgenlos, ein dead leiter (Bamard 1957, S. 272 f.) und der Optimismus Sadler's, den er in einem Brief 1921 gegenüber Kerschensteiner äußerte (Krebs 2004, S. 91), erscheint ange
sichts der historischen Tatsachen überzogen. Die Nachkriegsrezession trug dazu bei, die umfassende Implementierung des Fortbildungsschulgedankens im Rahmen des nationalen Erziehungswesens zu unterbinden. Im Jahre 1921 sah sich die Re
gierung vor dem Hintergrund einer prekären Haushaltslage gezwungen, die IDeal edueation authorities anzuhalten, mit Blick auf eine Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben zur FOltbildungsschule zu optieren, ob sie diese als Pflichtschule oder schlicht als Bildungsangebot auf freiwilliger Basis einrichten wollten. Das im sel
ben Jahr berufene Committee on National Expenditure - nach seinem Vorsitzenden Geddes Axe genannt - empfahl den Erziehungsbehörden die Zuruckschraubung ihrer Zuschuss leistungen an die Schulen um ein Drittel der bisherigen Ausgaben, die Kürzung der Lehrergehälter sowie die Beitragsfinanzierung der Lehrerpensio
nen.
Die finanzpolitischen Restriktionen der 19200r Jahre führten dazu, dass die Idee der öffentlichen Fortbildungsschule, da sie keine "älteren Rechte" gegenüber den anderen Schulformen geltend machen konnte, im Keim erstickt wurde. Es darf des weiteren nicht vergessen werden, dass das Erziehungsgesetz von 1918 - so Maclure - nicht mehr und nicht weniger war als ein Kompromiss, der verhindern sollte, dass die örtlichen Erziehungsbehörden völlig weisungsabhängig von der Zentralregierung in Gestalt der Board of Education würden. Letztlich lag es in der Hand der einzelnen Kommune, die "Empfehlungen" des Statuts in die schulpoliti
sche und schulorganisatorische Praxis umzusetzen (Maclure 1979, S. 171). Georg Kerschensteiner sah hier wiederum den markanten Unterschied zu den deutschen Verhältnissen, wo die "so beliebte, ja angebetete Zentralisation" des Schulwesens und das Phänomen der "staatlichen Lehrplanuniformen" (Kerschensteincr 1930, S.
32) den pädagogischen Weg wiesen. Wir fügen hinzu: Vermutlich war es tatsäch
lich die preußisch-deutsche Tradition, welche in den Schulen "öffentliche Anstal
ten" sah, die dazu beitrug, ein vergleichbares Chaos im deutschen Bildungswesen
378zu unterbinden. In Eng!and stieß zudem der Versuch, die \Venigkeit jeglicher Form der Technical Education oder Vocational Education neu
zudefinieren, auf
die Resistenz einer Bildungstradition, die sich gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch einen "trend away from specialisation back to general edu
cation" (Reeder 1987, S. 149) kennzeichnen lässt.
Mit dem Bildungsrefonngesetz von 1944 (Butler Education Aet) erfolgte - erneut am Ende eines Weltkrieges
�ein erneuter Anlauf zur Durchsetzung einer landes
weiten Fortbildungsschulpt1icht: Die vorgesehenen County Colleges, die allerdings nie gegründet wurden (Aldrich 1992, S. 66), sollten gewährleisten, dass Jugendli
che zwischen 15 und 18 Jahren nicht völlig aus dem Schulsystem herausfielen. Der Crowther Report brachte den diesbezüglich ausgebliebenen Erfolg eines eindeuti
gen staatlichen Zugriffs auf den Bereich der post-elementaren Bildung und damit die Kontinuität der rur England typischen berufspädagogischen Problemlage fünf
zehn Jahre später wie folgt auf den Begriff: ,.This report is abollt the education cf
English boys and girls aged from 15 to 18. Most of them are not being educated"
(zit. bei Perry 1976, S. 139).
4. Schluss bemerkungen
Es ist unübersehbar das ökonomische Motiv, das im Kontext einer ungezügelt ver
laufenden, soziale Ervvägungen weitgehend ignorierenden industriell-technischen Entwicklung, die die "Werkstatt der Welt" hervorbrachte und die zum Movens der sog. "Industriellen Revolution" wurde, offenkundig kontraproduktiv zum pädago
gischen stand und ihm kaum Raum zur Entfaltung ließ. Eine der wesentlichen Er
kenntnisse einer BeSChäftigung mit der englischen Erziehungsgeschichte ist zudern die Einsicht, dass dort, wo - wie in Deutschland - der Staat hätte Erziehungsver
antwortung in einem umfassenden Sinne übernehmen müssen, kirchliche, karitati
ve und private Initiativen die nur schwach ausgeprägte sozialstaatliehe Erzie
hungsverantwortung zu kompensieren versuchten. Diesen Aspekt haben wir zwar im Vorangegangenen nicht explizit aufgegriffen, er gehört jedoch zentral zu den
"realen Antrieben"' der englischen Erziehungsgeschichte, mit markanten Implika
tionen für die Bemfserziehung des Landes bis in die Gegenv,!arr hinein: Sie ist weitgehend dem Markt anheimgesteUt und somit kaum reguliert (vgl. hierzu aus
fUhrlich Deißinger 1992).
Bis auf den heutigen Tag ist diese "Unterreglementiemng" der englischen Berufs
bildungslandschaft sicht- und spürbar und sie betrifft aueh die anderen Länder des angelsächsischen Kulturraums, insbesondere Australien, das mit seiner Politik ei
nes "open training market" (Harris 2001) auch terminologisch dem Staat als rah
mensetzende Instanz keine explizite Steuerungsfunktion zuweist, auch wenn dieser als Bildungsträger vielt1iltig in Erscheinung tritt. Auch dort ist das dual-
379
alternierende Prinzip nicht obligatorisch und vollzeitschulische Angebote und vor allem die Hochschulen sind die präferierteren Wege zu einem Berufsabschluss. In England wiederum kann beobachtet werden, dass die apprenticeship mittlerweile viel stärker eine Grundausrichtung an der Idee der "educational progression" auf
weist und somit eine inhaltlich-organisatorische Reformperspektive und die quali
fikatorische Neuausrichtung dieser Strukturform beruflicher Bildung faktisch auf der Strecke geblieben sind. Dies verwundert umso mehr, als die Stärkung "inter
mediärer" Qualifikationen seit den 1 970er Jahren in England zu den Dauerthemen der Berufsbildungswissensehaft wie auch der Berufsbildungspolitik zählt und die aktuellen Strukturen hiervon ihren Ausgang nehmen (Deißinger/Greuling 1994).
Ob jüngst eingeleitete gesetzliche Rahmensetzungen9 hier zu neuen Strukturen füh
ren, muss bezweifelt werden. In einem aktuellen Beitrag wird sogar darauf hinge
wiesen, dass die aktuellen Entwicklungen hinter die Ansätze des Erziehungsgeset
zes von 1944 (!) zunick fielen und die Vernachlässigung pädagogischer Elemente im Zeichen der "Kompetenzorientierung" gerade bei der Lehrlingsausbildung wei
terhin deren Bild bestimme (Brockmann/ClarkelWinch 2010, S. 1 17):
"In particular, the outcomes-bascd approach, with [unding attachcd to the achievement of key components of NVQ, functional skills und, where it exists, the Technical Certificate, means that Apprenticeships may be restricted to completing the assessment-led compo
nents, neglecting the educational development of the apprentice which is integral to conti
nental programmes. In fact, the Apprenticeship Bin largely ignores any educational com
ponent whether in thc technical sphere or in the arca of personal development and civic educatioll (. . . )".
Gegenwärtig erscheint das englische Bemfsbildungssystem damit als ein von den .,realen Antrieben" seiner Geschichte nach wie vor markant gezeichnetes Gebilde.
Hieran konnte auch der punktuelle Einfluss, den Kerschensteiner mit seinen päda
gogischen Ideen auf die englischen bzw. schottischen Verhältnisse ausübte, nichts ändern. Modernisierungsaspekte, wie die reliable Dualisierung der Lehre oder - selbst im Zeichen flächendeckender Modularisierung - wirksamere Mechanismen der Qualitätssicherung in der Berufsbildung, scheinen nach wie vor weit entfernt.
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Verzeichnis der Autorinnen uud Autoren Horst Biermann
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ro( f:D�:,�
ec�nische Univ�rsität DortJ!l.un�, Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Lehrstuhl e:u spada:=,og.lk und ?cruthche Reh�blhtat�on: Arbeits-/Forschungsschwcrpunkte: Rehabititatio.
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.n MethodIk berutllcnel Btldung und RehabIlitatIOn, Evaluation und Organisationsentwick_Bernhard Bonz
�rof. �r., Universi�ät �-1?�lenheirn, Institut tUr Bemfs- und Wil1schatlspädagogik bis zu seiner Ent��.lchtung (199) , seltner U. :J. Lehrbeauttragter für Didaktik der Berufsbildung an der Uf'i-
versltat Stuttgart. .
Arnulf Bojanowski
P�o( De, Leibniz Univ�rsität Hannover, Abteilung Sozialpädagogik, Institut für Berl'fspäda<1O
gl� u�d. Erw�;hsenenbJldung" (ItB.E). Arbeits-jFor.s�hungsschwerpunkte: Grundlage; der ße
na�hte:lI�tenfo.dcmng, ��mfsausbIldung BenachteIligter, Jugendsozialarbcir Didaktik der B '
rutsausbildung Benachtell!gter. , <.:;
Karin Büchtcr
Pro( Dr., Hclmut-Schmidt-UniversitätJUnivcrsität der Bundeswehr Hamburn Fakult;i fi' G ' tes und Sozial . - h ft I' t' , - :=" , , [ ur C1S-
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orschun�,ssch\\ erpull.k!e: .Ber�fsblidungs- und !Veiterbildt.!l1gspolitik, historische Berufsbil�ungsforschung, Qllallflkatwnsforschung, Berufsbildung im Übergangssystem.
Thomas Dcißinger
Pro( De, Universität Konstanz, Fachbereich Wil1sch'lftswiss"ns"haf'''n L 'h 't ' I fi' H ,.
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Rolf Dobischat
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