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1st das Dasakumaracarita gleichzeitig mit dem
Kautiliya Arthaäästra?
Von Hermann Jaeobi.
In seinen „Kollektaneen zum KautUiya Arthaäästra" (oben
S. 345 £F.) bespricht J. Jolly unter Nr. 5 das Verhältnis des Dasa¬
kumäracarita zum Kautiliya. Er will „der oft angeführten Notiz im
D. K. C. (156, 12): adhisva tävad dandanitim | iyam tdänitn äcärya-
Visquguptena Mauryärthe älokasahasraih samksiptä | insofern noch 5
etwas abgewinnen, als das idänim bisher kaum genügend beachtet
erscheint. Wenn diese Partikel hier irgend eine Bedeutung hat,
so muß doch damit gesagt sein , daß das K. A. nicht lange vor
dem D. K. C. geschrieben ist" (S. 355, 1. 29—35). Ja, wenn dies
eine „Notiz" wäre und Dandin in eigenem Namen gesprochen hätte! lo
Dem ist aber nicht so. Sehen wir uns daher vorab den Zusammen¬
hang unserer Stelle an.
Der junge König Anantavarman von Vidarbha hatte auf Drängen
des alten Ministers Vasuraksita zugesagt, die von ihm bisher ver¬
nachlässigte Dandaniti zu studieren. Ein durchtriebener Höfling i5
Virabhadra, der nur bei einem lustigen Leben des Pürsten seine
Rechnung finden würde, will ihn daher von seinem Beschluß ab¬
spenstig machen. Er stellt ihm vor, daß zuerst religiöse Schwindler
einen wohlsituierten Herrn zu umgarnen suchen und , wenn dieser
klug genug ist , nicht in die Palle zn gehen , andere Glücksritter »o
sich an ihn heranmachen. Sie spiegeln ihm die Erlangung un¬
ermeßlicher Macht und Reichtümer vor, wenn er ihren Rat befolgen
wolle, der natürlich nur darauf abzielt, ihn auszuplündern und zu
verderben. Sie sagen: „studiere die Dandaniti, die ist neuerdings
von dem Meister Visnugupta für den Maurya in sechstausend Sloken »5
zusammengefaßt ".
Wenn in diesem Zusammenhang die Partikel idänim eine Zeit¬
bestimmung enthält*), so kann es logischerweise nur dies sein, daß
Da^^m die von ihm erzählten Ereignisse in die Nähe der Zeit
1) Absolut nötig wäre das gerade nicbt. Denn nacb Hemacandra Ane- Itärthas. VH, 56 kann tdänlm aucb väkyälamkära sein.
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g04 Jacohi, Ist da» Dasakumaracarita gleichzeitig mit dem K. A. t
Candragupta's und Cänakya's rückt. Indische Erzählungen nach
Art des D. K. C. spielen im allgemeinen in einer chronologisch nicht
näher bestimmten Vorzeit, die weit genug von der bekannten Gegen¬
wart abliegt , daß die fingierten Personen damals gelebt und die
5 erzählten Abenteuer erlebt haben könnten. Wenn also Da^^in hier
einmal gegen die allgemeine Gepflogenheit einen Vorgang in eine
historisch bekannte Periode verlegt, so hat das bei einem so berech¬
nenden Schriftsteller wie Da^cjm natürlich einen Grund, der nicht
schwer zu erraten ist. Der Verführer empfiehlt das Studium der
10 Staatskunst durch die geschickte Suggestion : ,du brauchst ja nicht
die dicken Bücher der alten Autoritäten ?u studieren , wir haben
jetzt den Auszug aus ihnen , den Cänakya für keinen Geringeren
als Candragupta gemacht hat.' Aber auf Anantavarman sollen die¬
selben Worte eine abschreckende Wirkung haben; er soll aus ihnen
16 heraushören: ,der neueste Auszug aus der Staatslehre der Alten hat
nicht weniger als sechstausend Sloken, und der gilt speziell für
den Kaiser von Indien; wozu soll ein kleiner Pürst wie ich sich
damit quälen!' — So erklärt sich in befriedigender Weise aus dem
Zusammenhang und dem Charakter von Dandin's Schriftstellerei die
20 Bedeutung von idänim in der fraglichen Stelle. Voraussetzung ist
natürlich, daß Dacidin die Geschichte von Candragupta und Cänakya
gekannt hat; und daran ist nicht zu zweifeln, wenn er auch kein
Historiker war. Denn die Kunde von den Nandas, den Mauryas
und Cänakya bewahrte das Kautiliya und das Puräna; sie lebte fort
25, in der Sage, aus der die Erzählungs- und Märchenliteratur ihren
Stofi" schöpfte. Dieser aber wird dem feinsten Erzählungskünstler
Indiens genau bekannt gewesen sein.
Wenn man nun, wie Jolly will, das idänim auf Dandin's Zeit
bezieht, so muß man entweder annehmen, daß Dandin seinen Boman
80 in der Gegenwart spielen läßt, was zu ungereimt ist um einer
Widerlegung zu bedürfen, oder daß er den objektiven Charakter
seiner Erzählung beiseite gesetzt habe, um eine literarische Notiz
über ein zeitgenössisches Werk anzubringen. Aber auch das ist
kaum glaublich ; selbst ein Pabulator niedrigen Schlages würde nicht 85 so aus der Rolle fallen, es wäre ganz unindisch ; und es wäre völlig
undenkbar bei einem so raffinierten Schriftsteller wie Dandin, der
die Kunst des Erzählens auf die höchste Höhe gebracht hat. Aber
setzen wir uns auch einmal über diese Bedenken hinweg, so konnte
Daijdin von dem Kautiliya nicht als einem ganz jungen Werke
40 reden. Denn da Vätsyäyana *) im Nyäya Bhäsya aus dem Kautiliya
als einer anerkannten Autorität zitiert, muß es schon für ihn als
ein altes Werk gegolten haben. Vätsyäyana ist aber sicher zwei
bis drei Jahrhunderte älter als Daijdin*); folglich kann letzterer
das Kautiliya unmöglich für ein ganz modernes Werk angesehen
1) Sitzungsberichte 1911, 7.3.4 f.
2) ZDMG. 64, 139, JAOS. 1910, Iff.
Jacohi, 1st das Daiakumäracarita gleichzeitig mit dem K. A.? '605
haben. Niemand würde heutzutage sagen: .lies die Bibel; die ist
neuerdings von Luther ins Deutsche übersetzt worden*.
JoUy glaubt, Dandin würde sich nicht an den Anachronismus
gestoßen haben, daß sein (angeblicher) Zeitgenosse Visnugupta für
einen König der Vorzeit geschrieben habe. Dem habe ich schon 5
oben widersprochen. Aber Jolly weiß noch einen Ausweg (S. 356,
1. 6): .Vielleicht hat er auch Maurya als , König' gefaßt, wie der
Kommentar erklärt (Mauryo räjä), Mauryärthe wäre dann synonym
mit narendrärthe K. A. 75, 9". Kein Kosa führt maurya unter
den Synonymen von räjan auf; darum bedeutet die Glosse mauryo 10
räjä : .Maurya, ein König*. Gerade wie zu Mauryadatta esa varo
(61, 3) die Glosse: Mauryo räjanitikartä nicht bedeutet, maurya
sei ein Synonym für , Staatslehrer', sondern: .Maurya, ein Staats¬
lehrer*. Übrigens sieht man aus diesen beiden Glossen, wie wenig
die Padacandrikä wert ist. 15
Endlich betont Jolly, daß Dangm .uuuü mancherlei Motive,
Ausdrücke und ganze Stellen in seinem unterhaltenden Boman (haupt¬
sächlich S. 156—162) aus dem K. A. geschöpft hat, was schwerlich
der Fall wäre, wenn dasselbe schon damals ein altersgraues, in einer
früheren Kulturepoche mit andem Anschauungen und Einrichtungen «o
entstandenes Werk gewesen wäre" (S. 356, 1. 12—17). Aber das
Kautiliya war die letzte der großen Autoritäten über Dandaniti zu
Dandin's Zeit und ist es auch fürder geblieben; daß er in einer
Geschichte, die im Zeichen der Dandaniti steht, sich genau an die
Vorschriften des maßgebenden Sästras, des K. A., hält, ist natürlich, 25
zumal er einen Kaläpariccheda (Kävyäd. III, 171) geschrieben und
dadurch seine gelehrte Neigung bewiesen hat. Wie hier Dandin
seine Abhängigkeit vom Arthaäästra geflissentlich zur Schau trägt,
so vom Kämaäästra im 2. Ucchväsa. Zu chronologischen Schlüssen
ist daraus kein Anhalt zu entnehmen. 30
Ich habe bisher keine Veranlassung geiunaen, meine Ansicht
zu ändem, die ich in dem Aufsatz : Üher die Echtheit des Kautiliya (Sitzungsber. 1912, 832 flF.) dargelegt habe. Ohne gewichtige Gründe
darf man die einstimmige Indische Überlieferung nicht beisei'.e
schieben; sonst übt man Skepsis statt Kritik. 85
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Anzeigen.
Das Steinbuch des Aristoteles mit literargeschichtlichen Unter¬
suchungen nach der arabischen Handschrift da- Biblio¬
theque Nationale herausgegeben und übersetzt von Dr. Julius
Ruska, Privatdozent an der Universität Heidelberg.
5 Heidelberg, Carl Winter's Universitätsbuchbandlung 1912
VII + 208 S. 8". M. 11.80 (ungebunden).
Ruska hat schon 1896 (als Beilage zum Jahresbericht 1895/96
der prov. Oberrealschule Heidelberg) „Das Steinbuch aus der Kosmo-
graphie des Zakarijä [sie] ibn Muhammad ibn Mahmüd al-KazwInl
10 übersetzt und mit Anmerkungen versehen" (arab. Text von Wüsten¬
feld I, 208—245) und in der Vorbemerkung angedeutet, daß die
auf Aristoteles bezogenen Anführungen dieses Autors mit der von
Valentin Rose in der Zeitschrift für Deutsches Altertum XVIII, 1875
veröffentlichten lateinischen Übersetzung des dem Aristoteles zu-
15 geschriebenen Steinbuchs in vielen Teilen vollständig überein¬
stimmen. Äußere Umstände verhinderten Ruska bis 1911 den
arabischen Text (II, S. 93—125) des pseudepigraphen ältesten
mittelalterlichen Steinbuchs der Araber, auf dem alle ihre späteren
fußen, jj^^JÜLLw«^^ jL^^l v-jLÄi', herauszugeben aus dem einzig
20 bekannten Pariser Kodex 2772 und zugleich zu übersetzen und mit
Anmerkungen zu versehen (III, S. 126—182) unter Beifügung des
lateinischen Textes des Codex Leodiensis der Handschrift von Lüttich
(L) nach V. Rose (IV, S. 183—208). Diesen drei letzten Teüen sind
(als I) S. 1—92 Untersuchungen (zugleich 1911 als Habiiitations- 26 Schrift eingereicht) vorausgeschickt, welche zu schönen, allgemeinen
Resultaten geführt haben, wonach sich das pseudaristotelische Lapidar als Seitentrieb zur Alexandersage erweist S. 7, dessen Ursprung nicht
direkt im Altertum oder in Byzanz zu suchen ist, sondern an den
syrischen und persischen Medizinschulen : ein mit griechischen und
30 persischen Quellen und Traditionen vertrauter Syrer wird vor der
Mitte des 9. Jahrhunderts wohl das Buch verfaßt haben. Daß dies
wohl doch der berühmte christliche Arzt und Philosoph und zu¬
gleich der bedeutendste Übersetzer griechischer Werke ins Arabische
Honein ibn Ishäk, f 260 = 873, gewesen sein wird, ist nach Rose
S5 und Ruska das Wahrscheinlichste , obwohl Immanuel Löw dies in
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