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Die russische Literatur 1945-1982

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(1)

Arbeiten und Texte zu Slawistik ∙ Band 28

(eBook - Digi20-Retro)

Verlag Otto Sagner München ∙ Berlin ∙ Washington D.C.

Digitalisiert im Rahmen der Kooperation mit dem DFG-Projekt „Digi20“

der Bayerischen Staatsbibliothek, München. OCR-Bearbeitung und Erstellung des eBooks durch den Verlag Otto Sagner:

http://verlag.kubon-sagner.de

© bei Verlag Otto Sagner. Eine Verwertung oder Weitergabe der Texte und Abbildungen, insbesondere durch Vervielfältigung, ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlages unzulässig.

«Verlag Otto Sagner» ist ein Imprint der Kubon & Sagner GmbH.

Wolfgang Kasack

Die russische Literatur

1945-1982

(2)

A R B E I T E N U N D T E X T E Z U R S L A V I S T I K • 28 H E R A U S G E G E B E N V O N W O L F G A N G K A S A C K

W o l f g a n g K a s a c k

D ie russische Literatur 1945 - 1982

mit einem Verzeichnis der Übersetzungen ins Deutsche

1 9 8 3

M ü n c h e n • V e r l a g O t t o S a g n e r i n K o m m i s s i o n

(3)

T /fc.

Diese Darstellung der russischen Literatur von 1945 bis 1982 ist eine wesent- lieh erweiterte Neuauflage der Darstellung "Die russische Literatur 1945-1976"

(1980). Der Textteil für den Zeitraum 1945-1976 wurde dem "Neuen Handbuch der Literaturwissenschaft*1 Gesamthrsg. Klaus von See, Bd.21 1Literatur nach 1945 I Hrsg. Jost Herman, Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion 1979, in freundlichem Einvernehmen mit dem Verlag entnommen. Der Textteil für den Zeitraum 1977-1982, der hier erstmals erscheint, konnte etwas ausführlicher gehalten werden. Daher werden auch einige Autoren und Werke erstmals genannt, auf deren Einbeziehung im ersten Teil aus Raumgründen verzichtet werden mußte.

Das Verzeichnis der Übersetzungen (Seite 87-114) erfaßt in größtmöglicher Voll ständigkeit die in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz verlegte ins Deutsche übersetzte russische Literatur der Jahre 1945-1982. Ich danke Frau Marianne Wiebe, M.A., und weiteren Mitarbeitern und Studenten des Slavischen Instituts der Universität zu Köln für die sorgfältige Unterstützung Für Durchsicht des Textteiles, Lesen der Korrekturen und Betreuung der Publika tion danke ich Frau Dr. Irmgard Lorenz, für die Herstellung der Druckvorlage Frau Monika Glaser und Frau Gaby Schulze-Gahmen.

Ergänzende Informationen zu den Autoren, auch bibliographische Hinweise auf Se kundárliteratur, enthalten mein "Lexikon der russischen Literatur ab 1917”

(Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1976) und meine jährlichen Artikel zur russi- sehen Gegenwartsliteratur in deutschen Übersetzungen in der Zeitschrift "Ost- europa".

Köln, Januar 1983 W.K.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kasack, Wolfgang:

Die russische Literatur : mit einem Ver- zeichnis der Übersetzungen ins Deutsche/

Wolfgang Kasack. - München : Sagner .

1983

־ . 1982 - 1945

(Arbeiten und Texte zur Slavistik. 28) ISBN 3-87690-208-8

NE: GT

(c) S. 8-49 by Akademische Verlagsgesellschaft Achenaion Wiesbaden, das übrige by Wolfgang Kasack

Alle Rechte Vorbehalten ISSN 0173-2307 ISBN 3-87690-208-8

Gesamtherstellung Walter Kleikamp • Köln

Wolfgang Kasack - 9783954794324

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INHALT

VORBEMERKUNG 7

194S - 1953

Reideologisierung, Antikosmopolitismus,

Konfliktlosigkeit, Stalinkult 8

Nachkriegsaufbau 1 о

Krieg, Revolution und Vergangenheit 13

Zwischenmenschliche Beziehungen 17

1964

־ 1963

Freiheitlicher Aufbruch und konservative

Repression 18

Wahrheit über die Vergangenheit 21

Die Gegenwart in der Literatur 26

Allgemeinmenschliche Probleme 30

1964 - 1976

Zweiteilung der Literatur 32

Nähere und fernere Vergangenheit 37

)^Gegenwartsprobleme 42

Nichtrealistische und satirische Literatur 44

Allgemeinmenschliche Fragen 47

1982

־

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19

Fortgesetzte Zweiteilung mit neuen Akzenten 50

Nähere und fernere Vergangenheit 58

Gegenwartsprobleme 66

Nichtrealistische und satirische Literatur 72

К Allgemeinmenschliche Probleme 75

ANMERKUNGEN 8 2

LITERATURHINWEISE 84

VERZEICHNIS DER ÜBERSETZUNGEN 86

Russische Literatur 1945-1982 in der Bundes- republik Deutschland, Österreich und der Schweiz

NAMENREGISTER 114

(5)

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VORBEMERKUNG

Zur ersten Auflage (1945 - 1976)

Das Ende des Zw eiten W eltkrieges bedeutet in der E ntw icklung der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts einen wesentlichen Einschnitt. D ie Perioden dieser Literatur sind auch sonst durch politische Faktoren bedingt: 1917 durch die O ktoberrevolutio n, 1932 durch die von der Partei angeordnete Schaffung eines Einheits-Schriftstellerverbandes als eine der vielen Maßnahmen zur Zentralisierung der M acht, 1953/36 durch Stalins T od oder den 20. Parteitag, der die Entstalinisierung einleitcte, 1964 durch Chruščevs 1 Abset- zung. D ie E ntw icklung der russischen L iteratur von 1945-1976 soll im folgenden in drei Phasen - 1953 und 1964 als Einschnitte - betrachtet werden, wobei jeweils einem allge- meinen Ü berblick eine Darstellung nach Themenbereichen folgen wird.

D ie A bhängigkeit der russischen Literatur ab 1917 von der P o litik ist eine Folge des Anspruches der Kom m unistischen Partei der UdSSR, die Literatur zu leiten. D ie Ausw ir- kung dieses Anspruches war großen Schwankungen unterworfen. Sie reichte bis zur Her- abw ürdigung der W o rtk u n s t zum reinen Propagandainstrument, doch wurde in anderen Phasen ein eigener künstlerischer Ausdruck bis hin zur Z c itk r itik geduldet. D er zen*

trale B e g riff fü r diese Literatur, die das eigene gesellschaftliche System bestätigen muß, ist der 1932 geprägte des »Sozialistischen Realismus«. Er verbindet m it dem Prinzip der

»Parteilichkeit«, also Unterordnung unter die W eisungen der Kom m unistischen Partei, die Forderungen nach einer idealistischen Z ukunftsschilderung, einer leichten Verstand- liehkeit bei breiten Volksmassen und einer grundsätzlichen Einordnung in marxistisch*

materialistisches Denken. Die U nm öglichkeit einer einheitlichen geistigen A u srich tu n g aller Mcnschen einer Sprache oder eines Gesellschaftssystems findet einerseits Ausdruck in vielen W erken, die in der Sowjetunion veröffentlicht wurden, ohne den Prinzipien des soziali- stischcn Realismus vo ll zu entsprechen, und andererseits in dem vor allem seit 1959 zu- nehmenden Phänomen einer Verbreitung literarischer W erke außerhalb des sowjetischen, von einer Zensur kontrollierten Verlagswesens, teils in Abschriften (Samisdat), teils in wcstlichcn Verlagen. D ie Spaltung der russischen Literatur hat m it der R evolution 1917 begonnen. Seitdem schwankt auch das Selbstverständnis, was zur »Sowjetliteratur« gehört, weil je nach der politischen Generallinie einzelne A utoren oder W erke anerkannt, abge- lehnt, verurteilt oder rehabilitiert wurden. N u r das jeweils politisch Anerkannte gehört zur »Sowjetliteratur«, wobei der B e g riff die L iteratur vieler Sprachen, die auf dem T errito- rium der UdSSR gesprochen werden, umfaßt. D er B e g riff »russische Literatur« aber ist sprachlich bedingt, eindeutig und unveränderlich, er g re ift über politische Grenzen hin- weg und um faßt die literarischen W erke der nichtrussischen V ölker in der Sowjetunion nur dann, wenn sie von zweisprachigen A utoren stammen.

*

Zur zweiten Auflage (1945 - 1982)

Aus drucktechnischen Gründen blieb der erste Teil (1945-1976) unverändert• Die Ergänzung für die Jahre 1977-1982 wurde dem Aufbau angepaßt, aber wegen des Fehlens anderer Handbücher

für diesen Zeitraum ein wenig ausführlicher gehalten.

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1945 - 1953

Reideologisierung, A n tiko sm o p o litism u s, K o n flik tlo s ig k e it, S talinkult

U m den K a m p f gegen das nationalsozialistische Deutschland erfolgreich zu bestehen, hat- te die sowjetische Führung zwei grundlegende taktische Zugeständnisse machen müssen:

A ußenpolitisch hatte sie eine A llianz m it den ideologischen Gegnern, den »Kapitalisten«, schließen müssen, innenpolitisch war sic genötigt, auch nichtkom m unistischcn K räften, z. B. der orthodoxen K irche, einen Freiraum einzuräumen. So war im Kriege von man- chcn lange Z e it unterdrückten Schriftstellern wie Anna Achmatova, Boris Pasternak oder Andrej Platonov etwas publiziert worden. D ie Nachkriegszeit ist von der R ückkehr zu den ideologischen Prinzipien der Vorkriegszeit bestim m t. Stalin verkündete die neue Par- teilinie der R ückkehr zur alten bolschewistischen K o n fro n ta tio n zwischen Sozialismus und K apitalism us in einer Rede vom 9. 2. 1946 2. D ie Rückwendung im Bereich der Ideologie

____ « •

wurde durch den Parteierlaß vom 14. 8. 1946 0 zum alach >Zvezda< i >lJeningrad< (U ber die Z eitschriften »Zvezda« und »Leningrad«) eingeleiter. D er Erlaß und die begleitenden Reden des Leningrader Parteisekretärs und P olitbürom itgliedes Andrej Ždanov machten deutlich, daß n ich t nur diese beiden Leningrader Organe des Schriftstellerverbandes wegen V eröffentlichung »ideologisch schädlicher W erke« angegriffen wurden, sondern daß nun- mehr jede nichtpolitische L iteratur verboten werden sollte.

»(. . .) unsere Zeitschriften, ob sie wissenschaftlich oder literarisch sind, können nicht apoli- tisch sein. . . . Sie sind ein mächtiges M itte l des Sowjetstaates bei der Erziehung der So- wjctmenschen, insbesondere der Jugend. (. . .) D ie K ra ft der Sow jetliteratur, der fo rtsch ritt- lichsten Literatur der W e lt, besteht darin, daß sie eine Literatur ist, die keine anderen Interessen hat und keine anderen Interessen haben kann als die des Volkes, die des Staa- tes«3.

D ie beiden in dem Erlaß unflä tig beschimpften A utoren, Anna Achmatova und M ich a il Zoščcnko, waren sowohl als Personen als auch als Vertreter bestim m ter literarischer Hai*

tungen gem eint: Achmatova stand fü r die gesamte russische Lyrik, die nach geistigen,

auch metaphysischen W erten suchte, die Grundfragen menschlichen Seins wie Liebe, Leid

und T od darstellte und sich nicht in der Propagierung von Pravda-Parolen erschöpfte,

Zoščenko stand fü r jegliche satirische D arstellung und Ironie, ja fü r jede realistische Dar-

Stellung der sowjetischen W irk lic h k e it überhaupt. Ein weiterer Erlaß 0 repertuare dram ati-

leskich teatrov i merach po ego uluH eniju (U ber das Repertoire der Schauspielhäuser

und Maßnahmen zu seiner Verbesserung) vom 26. 8. 1948 betonte die antiwestliche Kom *

ponente der revidierten L ite ra tu rp o litik , indem er die Schädlichkeit ausländischer bourgeoi-

ser Theaterstücke anprangerte. D ie p rim itiv e V orstellung der Funktionäre von Literatur

w ird in dem Befehl deutlich, »in jedem Jahr mindestens zwei bis drei neue, ideologisch

und künstlerisch hochqualifizierte Stücke auffuhren zu lassen«, als ob wahre K u n s t durch

Anordnung entstünde. Analog erfolgte am 10. 2. 1948 eine V erurteilung der bedeutend-

sten russischen K om ponisten Sergej P ro ko fe v, D m itr ij Šostakovič und Aram Chacaturjan

wegen angeblicher Kakophonie, Dekadenz, Lösung vom V olkslied und volksfeindlichem

Formalismus. Neben dem B e g riff des »Formalismus«, der auf die literaturwissenschaftlich

sehr fruchtbare, nichtm arxistische »Formale Schule« der zwanziger Jahre m it Boris

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Èjchenbaum, V ik to r ŠkJovskij, J u rij Tynjanov zurückgeht und in d a negativen Abstempe- lung nun zur U nterdrückung jeglichen künstlerischen Experiments diente, wurde 1947 der B e g riff des »K osm opolitism us« als einer »reaktionären Ideologie« eingeführt, die es wag- te, geistige Leistungen des nichtkom m unistischen Westens anzuerkennen. U nter dem Schlagwort des »Kampfes gegen die wurzellosen K osm opoliten« wurden namhafte Litera- turwissenschaftler ebenso bekäm pft wie Schriftsteller, wobei sich die Aggression vor allem gegen Juden richtete.

D ie Partei forderte die D arstellung des heldenhaften Kampfes und Sieges der Sowjetar- mee im Kriege und des erfolgreichen Wiederaufbaus. D ie G rundvorstellung des sozialisti- sehen Realismus, daß Literatur dem Menschen einen anzustrebenden Idealzustand als päd- agogisches V o rb ild zu bieten habe, fü hrte dazu, daß alle wahren Probleme jener Jahre da- mals keinen literarischen Niederschlag fanden. Nachdem der H a u p tk o n flik t der frühen Sow jetliteratur zwischen dem »Alten« (V orrevolutionären) und dem »Neuen« (Nachre- volutionären) ebenso erschöpft war wie der K o n flik t der K rie g slite ra tu r zwischen Roter Armee und Feind, fü hrte die ideologische K o n s tru k tio n in der Nachkriegszeit zu der An- sicht, daß es in der sowjetischen Gesellschaft nur noch den K o n flik t zwischen dem »Gu- ten und dem Besseren« und später dem »Besseren m it dem Ausgezeichneten« geben kön*

ne. Erst als die U nhaltbarkeit dieser lebensfernen Forderungen bewußt wurde, erfand man

U m die Person v on lo s if Stalin cnrw ickclte sich ab 1937 ein K u lt, der zum 70. G e b u r ts ta g 1949 ei- nen H ö h e p u n k t erreichte. W ie der D ik ta to r in zahllosen S k u lp tu re n u n d G e m ä ld e n darg estellt wur*

de, so suchten sich viele S chriftsteller in im m e r w ieder neuen panegyrischen W e rk e n zu übertreffen.

D er 20. Parteitag 1956 leitete eine offene K ritik an seinem »Personenkult« ein, der aber ab 1965 eine G egenbew egung folgte. D iese F o to m o n ta g e v on Stalin u n d seinem S oh n s ta m m t aus der Sowjet•

union u nd w u rd e in M ichail š e m ja k in s »A pollon ’77« (P a ris) veröffentlicht.

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1952 den B e g riff der »Theorie der K o n fliktlo sig ke it« , die nun als schädlich galt, ohne daß eine D arstellung der wahren Probleme gestattet worden wäre.

D ie sowjetische Literatur erfuhr ab 1946 einen außerordentlichen Niedergang (vgl.

»Pravda« 7. 4. 1952). Namhafte Schriftsteller waren zum Schweigen verurteilt, charakter- lose und unbegabte Autoren produzierten massenweise schematische W erke, die der Be- stätigung des politischen Weges und der Verherrlichung des »Führers« (vožd*), lo s if Sta- lin , dienen sollten. D er »positive Held«, die Idealgestalt, die alle Probleme löst, alle H in- dernisse spielend n im m t, jede N o rm übererfüllt, kein Privatleben, sondern nur Dienst an der kom m unistischen Gesellschaft kennt und selbstverständlich nicht zu den einfachen Arbeitern, sondern zu den Parteifunktionären gehört, bestim m te die Literatur. D er Führer- k u lt im K leinen spiegelte den S talinkult im Großen.

In vielen Stalingedichten wurde Stalin als der alles Sehende, alles Hörende, alles Lenken- de, um jeden Besorgte, allmächtige »Führer« und »Herr« (chozjain) vergöttert. So schrieb Aleksandr ProkoPev von Stalin, dessen W o rt die ganze W e lt lauscht, der auf alle Fragen eine A n tw o rt weiß ( S talin prosto govorit s narodom - Stalin spricht einfach m it dem V o lk,

!949), so schrieb N ik o ła j Gribačev im G edicht V o id ju (D em Führer, 1945):

» . . . Genosse Stalin, unser lieber Vater N im m hin die Lieb״ vom großen V o lk!

W ie Brandung schlägt sie an des Krem ls W and, Verstum m et nie, ist im mer da.

О großer Führer! H ö r dein Land, W ie es d ir Dank sagt, fern und nah.«4

So tat sich Vsevolod Višnevskij 1949 rnit einer Geschichtsfálschung im Drama (und F ilm ) zu Stalins 70. Geburtstag hervor: Nezabyvaemyj 1919-j (Das unvergeßliche Jahr 1919), so bem ühten sich die Romanschriftsteller, ihren positiven Helden in einer Szene beim Gespräch m it dem genialen Führer zu zeigen. »Der Personenkult fesselte die Ent- w icklung des geistigen Lebens im Lande und die schöpferische A k tiv itä t der sowjetischen Menschen« 5.

N ach kr iegsau fbau

Zentrales, von der Partei verlangtes Thema der sowjetischen Literatur von 1945 bis 1953 war das Thema des Wiederaufbaus des Landes unter Führung der Kom m unistischen Par- tei. A ls Handlungsschema ergab sich folgendes: Von der Front kehrt ein bewährter, orden- geschmückter O ffiz ie r in die Heim at zurück (nach dem K rie g oder verwundet im K rieg, ins eigene D o r f oder wohin die Partei ihn befiehlt), sehnt sich nach w ohlverdienter Erho- lung oder neuem Einsatz an der Front, erkennt aber bald - nach innerer Ü berwindung - die N o tw e n d ig ke it der M ith ilfe beim Wiederaufbau. N ic h t alle begreifen den W e itb lic k des Helden, eine rückständige Person in führender Stellung leistet W iderstand, sucht indi- viduelle Wege. D er Held aber strebt unter Führung der Partei auf die einzig m ögliche Lö־

sung zu, die er gemeinsam m it dem K o lle k tiv , alle Zögerer und Z w e ifle r überzeugend, rasch erreicht. N u n w in k t ihm auch das G lü ck in der Liebe.

In dieses Schema lassen sich sogar die bekanntesten Romane jener Jahre einordnen, die,

m it Stalinpreisen ausgezeichnet, teilweise auch in späteren Jahren ihre Anerkennung nicht

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verloren. Peer Pavlenko, der während der R evolution als Politkommissar tätig war, läßt in Sfast'e (d. Das G lü ck, 19476) eine solche Handlung 1944—1946 auf der K rim spielen und be- zieht etwas Kriegsleid m it ein, beschreibt die Umsiedlung der Kubankosaken (ver- schweigt aber den G rund: Stalins Liquidierung der Krim tataren), schmäht die R olle der Engländer und Am erikaner im Kriege und läßt seinen ehemaligen Obersten Voropaev als Sekretär des Parteigebictskomitees u n ve rm itte lt Stalin persönlich begegnen. Das G lück, das der optim istische T ite l verkündet, entsteht unter Stalins Führung im D ienst am K o l-

le ktiv durch die Parteiführer.

Z u einem der meistgepriesenen Schriftsteller jener Periode wurde Semen Babaevskij m it seinem Roman K avaler zolotoj zvezdy (d. D er R itte r des Goldenen Sterns, 1947-48) und sei- ner zweiteiligen Fortsetzung Svet nad zemtéj (d. Licht auf Erden, 1949/1950). D ie Verfäl- schung der W irk lic h k e it hat hier das unvorstellbare Ausmaß des »geradezu blasphemi- sehen K itsches«7 erreicht. Statt der großen N o t in der Landwirtschaft angesichts der »ver- brannten Erde«, der fehlenden Männer, des Mangels an Saatgetreidc und Baumaterial, der törichten Einm ischung von N ichtfachlcuten der Partei bietet Babaevskij großes Pseudo-

СОЮЗ СОВЕТСКИХ СОЦИАЛИСТИЧЕСКИХ Р Е С П У Б Л И К

ЕСТЬ СОЦИАЛИСТИЧЕСКОЕ ГОСУДАРСТВО

Р А Б О Ч И Х И К Р Е С Т Ь Я Н .

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F.inc der H a u p tfo rd e ru n g e n des Sozialistischen R ealism us ist die D arste llu n g des »positiven Helden«. Idealgestalten o h n e Zweifel, o h n e M akel, die alle persönlichen W ü n s c h e u n d see- lischen R eg u n g e n in den D ienst des Staates stellen, w u rd e n der K u n s t oktro y iert. 1 946-1952

4

beherrschten sie L iteratur u nd K u n s t u n d b ed in g ten m it der U n g la u b w ü rd ig k e it ihres Han- dclns u nd ihrer C h arak tere ei- nen 1954/56 auch sowjetischer*

seits bedauerten T ie fp u n k t der Sow jetliteratur. A u f dem Plakat V iktor S. Ivanovs v on 1945 sind A rbeiter u nd B auer h ero en h aft idealisiert; in der L iteratur bi!•

deten n ic h t M enschen aus dem Volke die Idea !gestalten, so n ־ d em deren P arteifü h rer in Indu•

strie und Landw irtschaft.

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Wohlergehen und kleinere Pseudokonflikte. Als »Lackierung der W irk lic h k e it« wurden solche Machwerke des sozialistischen Realismus nach 1954 eine Zeitlang angeprangert.

Ä hnliche V erurteilung erfuhren in der Nachstalinperiode die ebenfalls stalinpreisgekrön- ten Verserzählungen N ik o ła j Gribaccvs Kolchoz B o lle iik (K olchos Bolschewik, 1947) und Vesna v >Pobede< (F rü h lin g im K olchos »Sieg«, 1948)8.

O ft dienten solche W erke zur Illu strie ru n g aktueller Parteibeschlüsse. So beschrieb Aleksej Koževnikov nach dem obigen Schema in dem Roman Ž ivaja voda (d. Belebendes Wasser, 1950), wie ein makelloser positiver Held durch Befolgung eines ZK-Beschlusses des Februar-Plenums 1947 »Über Maßnahmen zur Hebung der Landwirtschaft in der Nachkriegsperiode« ein neues Bewässerungssystem in der Steppe durchsetzt und blühende Obstgärten schafft.

Neben den illusionistischen W erken zum Landwirtschaftsaufbau standen die ähnlich schematischen W erke im Bereich der Industrie, die sogenannten »Produktionsromane«.

Aleksandr V ološin versuchte in Zem lja Kuzneckaja (Land um Kusnezk, 1949) darzustel*

len, wie der erste Nachkriegsfiinfjahresplan im Bergbau durch neue technische Methoden unter Führung der Partei e rfü llt w ird . D ie b illig e Idealisierung und konstruierte H andlung, die lebensfernen Dialoge und die gekünstelte Sprache blieben angesichts der parteigemäßen Aussage seinerzeit u n k ritis ie rt (Stalinpreis Z w e ite r Klasse fü r 1949). O l g a Berggol’c, die während des Krieges durch ihre Gedichte vom Leid und W ille n zum D urchhaltcn der be-

V ik to r S. Ivanov, ein w egen seiner K rieg splakate m it d em Stalinprcis ausgczcichnctcr K ü n s tle r der UdSSR, der bis in die G e g e n w a rt offizielle A n e rk e n n u n g g e n ie ß t, p ropagierte 1948 die Parteilo- s u n g : » D en Fünfjahrplan erfüllen w ir in vier Ja h re n « . In g leicher W eise w u rd e n die S chriftsteller als

»Ingenieure der m enschlichen Seelen« (Stalin) für die Parteipropaganda eingesetzt.

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lagerten Leningrader Bevölkerung bekannt geworden war, wählte wie viele andere das W olga-D on-B auprojekt als Thema fü r lyrische Gestaltung (N a stalingradskoj zemle - A u f Stalingradcr Boden, 1952), M arietta Šaginjan setzte ihre publizistische Industrieprosa fo rt, die m it einem Fünfjahresplanroman 1930 angefangen hatte, und behandelte den Bau neuer Hiscnbahnstrccken (Po dorogam p ja iile tk i - A u f den Strecken des Fünfjahrplans, 1947).

Besonders nachhaltig wurde V asilij Ažaevs Roman Daleko ot Moskvy (d. Fern von Mos- kau, 1948) propagiert, der vom Bau einer E rdölleitung im Fernen Osten zu Kriegsbeginn handelt, aber den zeitgemäßen Erziehungsauftrag der Partei e rfü llt: D ie berechnete Bau- zeit von drei Jahren w ird unter Leitung der Partei von den im K o lle k tiv vereinten fort- schrittlichcn Kräften in einem Jahr gegen die an ausländische A u to ritä te n glaubenden Geg- пег bew ältigt. Erst in der Nachkriegszeit wurde das W e rk wegen seiner künstlichen zwi- schenmenschlichen Beziehungen, dem Verkündigen von Parteilosungen statt Dialogen,

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dem Übermaß an Industrieterm inologie und dem unkünstlerischen Behelf, die D a rsa l- lung seelischer Vorgänge durch Berichte darüber zu ersetzen, scharf kritisie rt.

Z u den aktuellen ideologischen Fragen schrieb unter anderem Sergej M ichalkov b illig e Propagandastücke. In J a chocu domoj (d. Ich w ill nach Hause, 1949) agitiert er gegen die Engländer für eine R ückführu ng der im W esten befindlichen Russen9, in IV ja G olivin*

(d. Ilja G o lo vin und seine W andlung, 1949) liefert er seinen antiamerikanischen Beitrag im Geiste des A ntiko sm o p o litism u s.

D er schematische G ru n d k o n flik t zwischen dem positiven Helden, der, an das V o lk ge- bunden, im Glauben an die Partei, von dieser gelenkt und im K o lle k tiv stehend, sich all- mählich durchsetzt, und dem negativen, der, ich-bezogen, dem Russischen entw urzelt, a u f verlorenem Posten käm pft, liegt Leonid Leonovs Russkij les (d. Der russische W ald, 1953) zugrunde. Leonov folgte m it diesem Roman Stalins A u fr u f zum K a m p f gegen den Raub- bau am W a ld , schrieb daran von 1948 bis 1953, verlegte die H andlung aber in die erste Kriegszeit und g r if f bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück. D er Streit zwischen zwei Forstw issenschaften um die richtige W aldnutzung (Raubbau oder vor- ausschauendc rücksichtsvolle N u tzu n g ) b ild e t nur eine einzige Schicht des vcrschlungc- nen Werkes. Seine Spezifik erhalt es durch das Bestreben, den W a ld zum Symbol fü r Ruß- land und sein V o lk , ja fü r den ewigen K re isla u f des Lebens überhaupt zu erheben. D ie seltsame Verflechtung von M ythos und N aturalism us, von psychologisch unglaubhaften Szenen, p rim itiv e r Schwarz-W eiß-Zeichnung und Ansätzen zur Forderung ethisch lauterer M itte l hat kein gültiges K unstw erk entstehen lassen.

Krieg, R evolution und Vergangenheit

Der Zw eite W e ltk rie g blieb in der ersten Nachkriegsphase eines der zentralen Themen der russischen Literatur. In viele der W erke zum Thema des W iederaufbaus war cs cinbczo- gen, auch in Leonid Leonovs Russkij les.

Als eines der w ichtigsten Kriegsbücher dieser Z e it g ilt Aleksandr Fadeevs M obdaja gvardija (d. D ie junge Garde, 1945). In diesem seit 1943 entstandenen Roman schildert er den spontanen W iderstand einer Kom som olzengruppe in dem von deutschen Truppen be- setzten Krasnodon, veranschaulicht lebendig Erfolge und M ißerfolge der jungen Men- sehen. Fadeev war zu jener Z e it M itg lie d des Z K und wurde nach dem Parteierlaß von

1946 Generalsekretär des Schriftstellerverbandes. Dennoch tra f auch ihn 1947 die scharfe

K r itik der neuen Parteilinie, sein Roman unterstreiche nicht die führende Rolle der K o m -

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munisrischen Partei. 1951 kam das W e rk in angcpaßter Fassung heraus. In ähnlichem Sin- ne mußten auch V alentin Kataev Za vlast' Sovetov (Für die M acht der Sowjets, 1951 - d. In den Katakomben von Odessa) und V asilij Grossman Zapravoe delo (F ü r die gerechte Sa- che, 1952 - d. W ende an der W o lg a ) umarbeiten.

Sehr aufschlußreich fü r solche retrospektive Geschichtsschreibung in der Sowjetunion ist das Schicksal des ursprünglich dokumentarischen Berichts von Petr Veršigora, dem Kom m andeur der 1. Ukrainischen Partisanendivision, L ju d i s cistoj sovest'ju (Menschen m it reinem Gewissen, 1945/46 - d. Im Gcspcnsterwald) vom Entstehen der Partisanenver- bände im Sommer 1941 bis zur Vereinigung m it der regulären Armee 1944. In der Erstfas- sung veranschaulicht er das tatsächlich selbständige und nicht koordinierte, o ft w illk ü r- liehe Vorgehen von Partisanengruppen im von Deutschen besetzten Hinterland. Spätere, mehrfach veränderte Fassungen verfälschen dieses B ild zu einem von Anfang an von Stalin und der Partei planmäßig gelenkten m ilitärischen Vorgehen. W ährend der Entstalinisie- rung fielen fast alle Erwähnungen Stalins der Zensur zum Opfer. D er Roman wurde seiner zentralen Fragestellung, was der einzelne fü r den Sieg getan habe, beraubt 10.

Aus eigener Beobachtung stam m t das ebenfalls noch vor dem Parteierlaß von 1946 er- schicnene sehr menschliche Kriegsbuch von Vera Panova S putniki (d. W eggefährten, 1946), in dem sie vom A llta g in einem Lazarettzug berichtet. In dem durch eine symmc- trische S tru ktu r geschlossenen Roman erfaßt sie das Kriegsgeschehen von Anfang bis Schluß, verbindet das Leid der Gegenwart m it Exkursen in die Friedenszcit und versteht cs, ihre H auptfiguren lebenswahr im beruflichen Einsatz und persönlichen G efühl zu zeichnen.

D er A llta g an der Front war das Neue, was V ik to r Nekrasov in seinem Roman V oko - pach S talingradu (d. In den Schützengräben von Stalingrad, 1946) in die russische K ricg sli- teratur brachtc. D er üblichen abstrakten Heroisierung der sowjetischen Truppen und der parteigemäßen Einordnung in den »historischen Prozeß« stellte er eine Darstellungsform entgegen, die ab 1956 unter dem B e g riff der »Schützcngrabcnwahrhcit« zu einer neuen W elle der K rie g slitcra tu r fuhren sollte. Nekrasov schildert den K rie g aus der konkreten, realistischen Perspektive eines Pionieroffiziers, läßt Flucht und A n g riff, Erfolg und Nie- derlagc, Einsatz und Langeweile einander ablösen, meidet weder Schmerz noch Grauen des Krieges, ja schildert auch offen einen rücksichtslos gegen die eigenen Leute falsch han- dclnden sowjetischen O ffizie r. So tra f das Buch bald auf scharfe K r itik , und die nächste Buchausgabe nach 1947 durfte erst 1958 erscheinen. Dann aber blieb es eines der berühm- testen sowjetischen Kriegsbücher (120 Ausgaben in 30 Sprachen), bis Nekrasov Parteikri- tik auf sich zog und 1974 nach Paris ausreiste.

Typisch fü r die K rie g slitcra tu r nach 1946 sind die W erke von Boris Polcvoj und M i- chail Bubcnnov. Polevoj, Abgeordneter des Obersten Sowjets, versuchte in seiner Erzählung Povest' 0 nastojaÏÏem lebveke (d. Der wahre Mensch, 1946) ein B ild vom besonderen und überlegenen Sowjetmenschen zu entwerfen. Angelehnt an N ik o ła j O stro vskij, ste llt er ei- nen Piloten dar, der nach Verw undung und Beinamputation m it H ilfe von Parteifunktio- nären neuen Lebenswillen gew innt und schließlich wieder als P ilo t eingesetzt w ird . V o r keiner Schwierigkeit schreckt er zurück, jedem Zw eifel begegnet er m it dem H inw eis

»Aber ich bin ein Sowjetmensch«. Das b illig didaktische W e rk lag schon 1954 in 2,34 M illio n e n Exemplaren vor und w ird ständig neu aufgelegt.

Bubennov gestaltet in seinem Roman Belaja bereza (d. D ie weiße Birke, 1947) den

Rückzug 1941 bis zur W ende vor Moskau. Den Helden läßt er von einem Soldaten, der

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(verwerfliches) M itle id m it Gefangenen hat, unter E influß der Partei zu einem K äm pfer der Armee des Sozialismus reifen. Erstmals t r it t bei ihm auch ein Verräter aus den eigenen Reihen in einem Kriegsbuch auf. H öh e p u n kt bildet eine Begegnung des positiven Helden m it Stalin, die den Beginn des Gegenangriffs der Roten Armee unm ittelbar anzeigt. D ie T riv ia litä t ko m m t auch im Lächerlichmachen des Gegners zum Ausdruck, das die Lei- stung der eigenen Truppen im G runde schmälert. D e r zweite T e il des Romans wurde nach 1953 wegen K o n flik tlo s ig k e it und Personenkult kritisie rt.

Eines der zentralen Themen der sowjetischen V orkriegsliteratur, R evolution und Bür- gerkrieg, fand auch ab 1946 weitere Darstellungen. K onstantin Fedin, 1921 M itg lie d der Serapionsbrüder und ab 1959 Leiter des Schriftstellerverbandes, schrieb in dieser Z e it den zweiten T e il seiner T rilo g ie zu diesem Thema, Neobyknovennoe leto (d. Ein ungewöhnlicher Sommer, 1948). Das in Saratov spielende Geschehen des Jahres 1919 kreist um die Proble- me des Verhältnisses der Intelligenz zur R evolution und der Rolle der K unst. Es ist, in Anlehnung an T o ls to j, m it vielen Handlungssträngen und historischen Kom m entaren breit entw ickelt und in Abweichung von der historischen W a h rh e it parteigemäß a u f eine Überbetonung der Rolle Stalins und eine Leugnung der Existenz T ro ckijs abgestellt.

W ährend Fedin einen Stalinpreis Erster Klasse fü r 1948 erhielt, fand G eorgij Markovs Re- volutionsdarstellung von Sibirien Strogovy (d. D ie Strogows, 1946), ein typischer Familien- roman der Stalinzeit, m it einem Stalinpreis D ritte r Klasse für 1951 weniger Anklang.

Zahlreiche A utoren wandten sich angesichts der Themenbeschränkung durch die Zen- sur historischen Romanen zu. Als Stepan Z lo b in seine Ehrenrettung der ehemaligen russi- sehen Kriegsgefangenen 1946 nicht veröffentlichen konnte ( Propavlie bez vesti - D ie Ver- mißten, 1962), kehrte er zu seinen historischen Studien über die Bauernaufstände des 17. Jahrhunderts zurück und legte m it Stepan Razin (d. D er Adler vom D on, 1951) einen der besten russischen historischen Romane vor. Er g ib t ein B ild der Epoche, keine zeitgemäße Überzcichnung einer Führerpersönlichkeit. In jenen Jahren veröffentlichte O l’ga Forš ei- nen Dckabristenroman Pervency svobody (D ie ersten der Freiheit, 1950; d. »1825«), faßte Ivan N o viko v ältere Studien in P uïkin v izg n a n ii (d. Puschkin in der Verbannung, 1947) zusammen. Unter den Emigranten setzte Aldanov die Reihe seiner historisch-psychologi- sehen Romane unter anderem m it einer Balzac-Darstellung Povest* 0 sm erti (Erzählung vom Tode, 1953) fort. Auch im Bereich des Dramas kam es zu einer Belebung der historischen Themen (Aleksandr štejn, Boris Lavrenev, Vsevolod Ivanov, K onstantin Paustovskij und andere).

Aus dem betrachteten Zeitraum liegen auch einige w ichtige Lcbenserinncrungen älterer Schriftsteller vor, aber sic sind nicht zwischen 1946 und 1953 in der Sowjetunion crschie- ncn. Konstantin Paustovskij, der ab 1955 zu einem der bedeutendsten Schriftsteller in der Sowjetunion wurde, veröffentlichte 1945 den ersten Band seiner später sechsteiligen Povest'

0 zizn i (d. Erzählung vom Leben) D alekie gody (d. Ferne Jahre). Er ist von der fü r diesen A u to r typischen epischen Selbständigkeit der K apitel, der einfachen, abgewogenen und klaren russischen Sprache bestim m t. Schwerpunkte bilden menschliche Begegnungen, Li- teratur und N atur. Paustovskij gestaltet eigenes Erleben und Denken, versucht keine Interpretation einer Epoche. Das Dichterische überwiegt das Historische.

Ganz anderen Charakter hat der eine Band Vospominanija (Erinnerungen, 1950) von Ivan Bunin, der in Paris erschien. H ie r geht cs fast nur um U rteile über andere Schriftstel- 1er, kaum um persönliches Erleben, die m it einer ungewöhnlichen Schärfe gefällt werden.

Bunin, der sich zu Lev T o lsto j und A n to n Čcchov bekannte, wiederholte im A lte r seine

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kom prom ißlose Ablehnung aller experimentierenden und revolutionierenden D ic h te r sei- ner Jugend (von Aleksandr B lok bis V la d im ir M ajakovskij, K onstantin В а Г т о т bis Ser- gej Esenin) und seine V erurteilung des sowjetischen Systems und aller Anhänger wie M aksim G o r’k ij. Bei B unin stehen die Erinnerungen neben seinem dichterischen W erk, bei Paustovskij verkörpern sie das Eigentliche seines dichterischen und menschlichen Ta- lents.

Zwischenmenschliche Beziehungen

Es gehörte zum Erziehungsauftrag der Partei an die Literatur, daß bis 1953 der einzelne Mensch m it seinen individuellen Sorgen und Freuden aus der D ich tu n g verbannt werden mußte. N u r als Schräubchen im parteigelenkten Getriebe hatte der Mensch Platz im lite- rarischen W erk. Einige wenige Ausnahmen verdienen um so mehr Beachtung. Paustovskij hat in jenen Jahren einige seiner schönsten Erzählungen veröffentlicht, wie N 0 F v O ktjabre (d. Eine Nacht im O ktober, 1946), Telegramma (d. Das Telegramm, 1946) und Kordon

*273״ (d. Forsthaus »273«, 1948), die frei von jeglicher P o litik m it zartem Gespür zwischen- menschliche Beziehungen und N aturverbundenheit andeuten. Sie bilden einsame Licht- blicke in dem eintönigen Grau der gleichgeschalteten Literatur.

D ie Lyrik insgesamt war zwar beherrscht von Einheitsversen zum Lobe Stalins und zur Illustrie ru n g der P arteipolitik, w ie s« von den am meisten anerkannten Lyrikern M ich a il Isakovskij, K onstantin Simonov und Aleksandr Tvardovskij sowie minderbegabten wie Evgenij D olm atovskij, N ik o ła j Gribačēv oder V asilij Lebedev-Kumač verfaßt wurden. Es gab jedoch auch wenige Ausnahmen. Jaroslav Smeljakovs Kremlëvskie eit (D ie K rem lfich- ten, 1948) hoben sich »von dem H intergrund einer oberflächlichen und im Grunde ge- fiihlslosen Em otionalität« 11 ab, brachten ihm schärfste V erurteilung wegen »Blok-Stim - mung«, Pessimismus und Todesthematik. N ik o ła j Zabolockij konnte, 1946 aus Lagerhaft und Verbannung zuriiekgekehrt, einen Band Sticbotvorenija (Gedichte, 1948) veröffent- liehen, in dem er Fragen nach der Stellung der D ich tu n g in einer von der R atio gestalteten N a tu r, nach A u fric h tig k e it, nach dem Sinn des Todes a u fw irft. Das unter anderem von M ichail Lukonin vernichtend angegriffene W e rk war »vielleicht das bedeutendste dichtcri- sehe Ereignis der Jahre 1945-1948« 12, ein Beweis, daß auch die scharf kunstfeindliche Po- lit ik wahre D ich tu n g nicht ganz unterdrücken konnte, ja, daß sic in Ausnahmcfällcn sogar publiziert wurde.

Links:

H ier hat der em igrierte D ic h te r Aleksej R cm izov den G o r ’k ij-K u lt angeprangert, d e r seit dessen R ückkehr aus der E m ig ratio n unverändert an h ält (w obei G o r ’kijs kritische H a ltu n g zur gcw alt- samen M achtergreifung verschw iegen w ird). D ie S ch riftan o rd n u n g , die senkrecht gelesen an die nach G o r ’kij benannte S tad t u n d an die seinen N a m e n tragenden Plätze und Straßen erin n ert, m a h n t (oben quer) m it » G P U « an die g eh eim e Staatspolizei, die B eherrscherin aller Bcrciche des g e istig en Lebens.

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1964

־ 1953

Freiheitlicher A ufbruch und konservative Repression

Stalins T od am 5. 3. 1953 gab durch die zeitweilige Verunsicherung der Partei- und Regie- rungsspitzc den liberalen Kräften H o ffn u n g und gewisse M öglichkeiten zur Entfaltung.

Nach dem T ite l eines kurzen Romans von IPja Erenburg Ottepeï (d. Tauw etter, 1954) spricht man von der *Tauwctterperiodc«, deren einzelne Phasen und jeweiligen frostigen Reaktionen die kultu re lle E ntw icklung bis 1964, also bis zu Chruščēvs Sturz, bestimmten.

Das Bestreben, sich von der stalinschen G e w a ltp o litik zu lösen, verband verschiedenartige K räfte des Landes, letztlich blieb aber die A ngst der Staatsvertreter entscheidend, eine Z u- lassung kritischer und freier Meinungsäußerung in Literarur und K u n st würde zur K r itik an der Partei und dem politischen System selbst werden.

D rei A bschnitte kann man in diesem Jahrzehnt unterscheiden. Sie werden jeweils durch politische Ereignisse eingcleitet: Stalins T od 1953, 20. Parteikongreß im Februar 1956 und 22. Parteikongreß im O kto b e r 1961.

» A u frich tig ke it, das ist cs, was ( . . . ) fehlt«. M it dieser Feststellung leitete ein bis dahin wenig bekannter Schriftsteller und Ju rist, V la d im ir Pomerancev, einen theoretischen Bei- trag über die Lage in der L iteratur ein, den die Z eitsch rift »N ovyj mir« 1953 (H e ft 12) ab- druckte. Er hatte die M einung aller einer wahren Literatur verpflichteten K rä fte ausgc- sprachen, die von nun an Beiträge zur »A ufrichtigkeitslitcratur« leisteten. Zunächst riefen ältere Schriftsteller wie Paustovskij und Erenburg in Essays über Literatur die cigent- liehen, künstlerischen Prinzipien der W o rtk u n s t in Erinnerung und erteilten da m it den an*

tiliterarischcn, nur politischen Forderungen des sozialistischen Realismus eine A b fu h r 13.

Einzelne pseudoliterarische W erke der Stalinperiode, z. B. die stalinprcisgekrönten, vcrlo- genen W erke von Babaevskij, wurden von ihrem Ehrenpodest gerissen. Eine D arstellung der tatsächlichen gesellschaftlichen und persönlichen Probleme wurde ebenso verlangt wie eine Besinnung auf die nichtpolitischcn, rein menschlichen Themen der D ich tu n g . D ie

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Forderung nach A u fric h tig k e it lie f parallel zu dem Anspruch auf individuelle Äußerung des Dichters. A lle solche im Wesen der K u n st begründeten Forderungen wurden von konservativen Kräften m it großer Schärfe angegriffen.

D ie verwaltungsmäßigen Maßnahmen waren ebenfalls widersprüchlich. Fadcev wurde als stalinistischcr Generalsekretär des Schriftstellerverbandes abgclöst (er nahm sich 1956 das Leben), die Redaktion von »N ovyj m ir« aber wegen liberaler A rtik e l zerschlagen.

Nach zwanzig Jahren berief man 1954 wieder einen Schriftstellerkongreß ein, doch konn- ten nur wenige liberal eingestellte Schriftsteller dort sprechen. Am deutlichsten fo rm ulier- te Veniamin Kaverin, was man sich unter den gegebenen Verhältnissen als M indcstfrei- heiten der Literatur vorstellte:

» . . . m it einer selbständigen K r itik , die n ich t alle W erke nach einheitlichem Schema be- handelt, m it m utigen Redaktionen, die sich schützend vor ihre A utoren stellen, m it Schriftstellern, die in erster Linie schöpferisch tätig sein können, m it Bedingungen, unter denen auch >dic einflußreichste Äußerung einem W e rk den W eg nicht verschließt, w eil das Schicksal eines Buches das Schicksal eines Schriftstellers bedeutet, und gegenüber dem Schicksal eines Schriftstellers soll man sich behutsam und m it Liebe verhalten«« 14.

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Der 20. Parteirag gab durch eine unpublizierte Rede Chruščēvs über Stalins Verbrechen das Signal zur Bewältigung der Vergangenheit und legte die T erm inologie (Personenkult)

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fest. Der Parteierlaß vom 30. 6. 1956 »Uber die Ü berw indung des Personenkults und sei- ncr Folgen« bestätigte die Tendenz und deutete Grenzen der K r itik an: »ernsthafte Ver- Stöße gegen die sowjetischen Rechtsnormen und massenweise Repressionen«; »viele ehr- liehe K om m unisten und parteilose Sowjetmenschen haben unschuldig gelitten«. Für die Schriftsteller bedeutete diese Maßnahme die R ehabilitierung vieler in Gefängnissen und Lagern Umgekommener (z. B. Isaak Babel*, D a n iil Charms, Ivan Kataev, Boris K o rn ilo v , Aleksandr Vvedenskij) und die Rückkehr mancher aus Lager und Verbannung (z. В.

Naum Koržavin, Sergej Bondarin). Sie bedeutete auch W iederveröffentlichung oder Erst- druck jahrzehntelang verschwiegener W erke, etwa von Anna Achmatova, M ichail Bulga- kov, Sergej Esenin, J u rij О lesa, J u ri j Tynjanov und öffnete ein T o r zur literarischen Gestaltung erlittener Ungerechtigkeiten. Viele Schriftsteller erlebten jetzt einen ungeahnten A uf- schwung, der über die Grenzen der UdSSR hinaus der russischen Literatur wieder zu Gel- tung verhalf. Z u einer der w ichtigsten und von den Konservativen scharf angegriffenen Veröffentlichungen wurde der zweite Band des Almanachs L ite ra tu m a ja Moskva (1956).

Er verband alte unterdrückte und neue W erke, stellte auch Aleksandr Jašin als politisch gewandelten A u to r m it der Erzählung Rycagi (D ie H ebel) vor. Schonungslos prangert die- ser die mangelnde Zivilcourage der herabgewürdigten Menschen des sozialistischen Sy- stems an. M it einer W iedereinführung der Leninpreise (1 5 .8 . 1956) versuchte man, das durch viele Verleihungen an unw ürdige Parteipropagandisten diskreditierte System der Stalinpreise zu bereinigen.

Im Schriftstellerverband der UdSSR gewannen zeitw eilig liberale K räfte die Oberhand.

Jedoch am Schicksal von Boris Pasternak wurden 1957/58 die Grenzen der Liberalisierung deutlich. Nach 1954 waren zwar wieder einige G edichte des lange verschwiegenen A utors erschienen, doch wurde der D ru ck seines Romans D oktor Živago tro tz öffentlicher Ankün- digung (R adio Moskau, Mai 1956) verboten. D ie V eröffentlichung in Italien im Novem - ber 1957 machte den A u to r w eltberühm t, löste eine Besinnung auf seine Lyrik aus und brachte ihm den Nobelpreis ein (O k to b e r 1958). Sie führte aber auch zu einer Bcschimp- fung und Hetze gegen den D ichter durch sowjetische Funktionäre ohne jedes Maß, was an Ždanovs unflätige Ausfälle gegen Achmatova und ZoŠčenko erinnerte. Diesmal aber gab es russische Schriftsteller, die Pasternak verteidigten, und solchen M u t zum Einsatz für eine Freiheit, die nach Stalins T od erreichbar schien, haben seitdem im m er wieder russi- sehe Intellektuelle bewiesen. Pasternak blieb aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und verfemt, bis er nach seinem Tode 1961 als Lyriker wieder anerkannt w u rd e 15.

Die innersowjetische Auseinandersetzung fand besonderen Ausdruck in der B ildung eines Schriftstellcrverbandes der RSFSR ( [ = Russischen Sowjetischen Föderativen Soziali- stischen R e p u b lik], Dezember 1958), neben dem Unionsverband, der m it dem erzkonser- vativen Leonid Sobolev an der Spitze die dogmatischen K räfte gegen die Revisionisten stützte.

Die Enttäuschung der liberalen K räfte machte sich in der V erbreitung von literarischen

und literaturkritischen Schriften durch Abschriften und K opien Luft. Sie trat seit 1959/60

neben den zensurierten Buchdruck und wurde unter der russischen Bezeichnung »Samis-

dat« (Selbstverlag) eine bleibende spontane E inrichtung, von o ffizie lle r Seite bekämpft,

aber nie liq u id ie rt.

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Erstes P rinzip des totalitären geistigen Lebens in d e r U dSSR ist der G e h o rsa m g e g e n ü b e r der einen Partei. N ic h t Selbständig- keit des D en kens u n d U rteilens.

sondern b ed in g u n g slo ses Bcfol•

g e n der jeweiligen W e is u n g e n u nd A nsichten der K P d S U w ird gefordert, ln der L iteratur ist das Prinzip der *Parteilichkeit«

u nabdingbarer B estandteil des Sozialistischen R ealism us, w ar cs auch in der Phase der rela*

tiven Liberalität (1 9 5 4 -1 9 6 5 ).

dem »T auw etter«. S u r’janinovs Plakat von 1960 m a h n t: » W ir billigen die P o litik d e r Partei!«

D er 22. Parteikongreß, a u f dem m it Aleksandr Tvardovskij ein liberaler, m it Vsevolod K očctov ein engstirnig konservativer Schriftsteller sprachen, bestätigte letztmals die Poli- tik der Entstalinisicrung. U nter den weiteren Romanen, die wahrheitsgemäße In fo rm a tio n über die Stalinzeit brachten, fand im In- und Ausland allergrößte Anerkennung Aleksandr SoIženicyns Odin den' Ivana DenisoviÜa (d. Ein Tag im Leben des Iwan Dcnissowitsch, 1962). Das m it B illig u n g des Parceichefs Chruščev veröffentlichte W e rk , das zum ersten Mal aufrich tig über ein russisches Straflager, die dortige Sklavenarbeit und die W illk ü r bei den Verurteilungen berichtete, wurde auch wegen seines literarischen W ertes zum Lenin- preis 1964 vorgeschlagen. D er Erfolg der konservativen K räfte, diese W a h l zu hintertrei- ben, deutet das Ende einer Periode der trügerischen H o ffn u n g an.

In derselben Z e it wurde in Leningrad ein gerichtliches Verfahren gegen Io s if B rodskij,

einen jungen, apolitischen Lyriker durchgeführt, der sich sein Geld als Übersetzer verdien-

te. D ie V erurteilung zu fü n f Jahren Zwangsarbeit am 18. 2. 1964 wegen N ichtausübung

einer gesellschaftlich anerkannten A rb e it rie f massive Proteste namhafter russischer

Schriftsteller und auch der Weltpresse hervor. Solche Formen des Lebens der literarischen

Ö ffe n tlic h k e it wurden fü r die Phase ab 1964 typisch.

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W ahrheit über dic Vergangenheit

Die U m bruchzeit nach Stalins Tod gab den Schriftstellern die M ö g lic h k e it, Aussagen über jene Z e it nicderzuschreiben, die bis 1953 die Freiheit oder das Leben gekostet hätten, sie ließ sie daneben prüfen, ob Älteres, »für die Schublade« Geschriebenes, nun publizierbar war. Unübersehbar viele literarische Darstellungen dürften in den Jahren vor 1953 vernich- tet worden sein - o ft aus Angst durch den A u to r selbst. Erhalten blieb z. B. von Lidija Ču- kovskaja der kurze Roman Opustelyj dom (d. Ein leeres Haus), den sie 1939/40 bald nach den dargestellten Ereignissen verfaßt hatte. Eine Angestellte in einem Schreibbüro, treu im Glauben an das sowjetische Regime, w ird Zeuge der Verhaftungen von 1937, läßt keine Zw eifel in sich aufkom m en, solange cs andere tr ifft, und ahnt die ungeheuerliche W ahr- heit von W illk ü r , Verleum dung und Sippenhaftung erst, als ih r Sohn verhaftet und sie deshalb arbeitslos w ird. Dieses Buch e n th ie lt zu viel an W ahrheit. So sehr hatten sich die Verhältnisse in der Sowjetunion nicht geändert, daß es dort hätte erscheinen können. So wurde es Anfang der sechziger Jahre eines der ersten und weitverbreiteten Bücher des Sam- isdat. Auch Anna Achmatovas lyrischer Z yklu s um den verhafteten Sohn von 1935/40 Rekviem (d. Requiem ), eine himmelschreiende Klage »an der Kremlm auer« fü r so viele russische Frauen, erschien gedruckt nur in M ünchen (1963). U nglücklich er war das Schicksal des Buches von V asilij Grossman Vsë ieîëi (d. Alles flie ß t). Beflügelt von den li- beralen Anzeichen, begann er 1955 m it der N iederschrift dieses dichterisch-essayistischen Werkes, das wesentliche historische Ereignisse der nachrevolutionärcn Vergangenheit m it einem reflektorischen Durchdenken verbindet. D ie Geschichte eines aus neunundzwanzig- jähriger Lagerhaft Heimgekehrten, der viel Unverständnis a n trifft und das W eiterleben des überwunden erhofften Verbrechens erfährt, dient nur als Gerüst fü r selbständige erinnerte Szenen. H ier wurde auch die Z w angskollektivierung m it der V ernichtung von M illio n e n Menschen, der Vertreibung und Erm ordung einer vorher festgesetzten Z ahl von tüchtigen Bauern veranschaulicht. D ie Passage über den nachfolgenden H unger zeigt, was fü r Erleb- nissc und Anklagen in den Schriftstellern nach sprachlichem Ausdruck drängten:

»Köpfe, schwer wie K ugeln, Hälse dünn w ie bei Störchen . . . Das Gesicht der K in d e r alt, abgequält, als ob die K leinstkinder schon siebzig Jahre auf der W e lt lebten, zum Frühjahr aber waren sie schon nicht mehr menschengleich: hier ein Vogelköpfchen m it einem Schnabel, d o rt ein Froschmäulchen - schmalc breite Lippen, dann ein d ritte r wie ein G ründling - den M und offen. Keine menschlichen Gesichter. Und die Augen, mein G o tt!

Genosse Stalin, mein G o tt, hast du diese Augen gesehen?« 16

Das Buch wurde 1961 vom Sicherheitsdienst beschlagnahmt, vom A u to r, so g u t es ging, bis 1963 erneut geschrieben, kursierte im Samisdat und wurde 1965 im Westen veröffent- licht. Grossman hatte ein Maß an W a h rh e it zu Papier gebracht, das die geplante Dosis weit überschritt. Er hatte auch nicht nur Stalin angeklagt, sondern die Schuld im System - unabhängig vom jeweiligen Führer - erkannt.

V eröffentlicht, scharf k ritis ie rt, fast verboten und doch wieder gedruckt wurde Vladi-

m ir Dudinccvs Roman Nechlebom edirtym (d. D e r Mensch lebt nicht vom B ro t allein, 1956),

nach Ilja Ercnburgs Ottepel ' der erste ernsthafte Versuch einer Analyse der sowjetischen

Oberschicht und des F u n k tio n ie re n des Machtapparats. A m Beispiel eines Ingenieurs,

der eine Erfindung durchsetzen w ill und von minderbegabten Funktionären und N eidern be-

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hindert und verleumdet w ird , bis er zu Lagerhaft verurteilt ist, g r iff Dudincev den Typ des begabten Intelligenten heraus, der seinem Staat dienen w ill, aber durch sein Andersdenken nur die auf Bewahrung der M acht eingestellte führende Elite stört. N ie hat das Buch o ffi- zielle Anerkennung gefunden. Vsevolod K očetov, Verfasser eines stalinistischen Familien- romans ІигЬ гпу (d. D ie Shurbins, 1952) und späterer Chefredakteur der Z eitschrift »Ok- tjabr’« (O kto b e r), 1961 bis 1973, schrieb m it B ra t’ja Erlovy (D ie Brüder Jerschow, 1958) einen Roman, der vom Parteistandpunkt M o tive aus Erenburgs und Dudincevs Romanen aggressiv behandelte. Sein Erfinder legt Plagiate vor, ist ein widerlicher, vom Westen be- einflußter Mensch, ein Denunziant usw. Kočetovs Ausfälle wegen angeblich falscher Aus- legung der Beschlüsse des 20. Parteitags waren so grob, daß sich damals selbst die »Prav- da« (29- 9- 1958) distanzierte.

D ie Atmosphäre der A ngst, der Verhaftungen, der Rechtlosigkeit und der Macht der Denunzianten veranschaulicht J u rij Bondarev in seinem Roman T ilin a (D ie Stille, 1962 - d. Vergiß, wer du bist). Er gestaltet das Schicksal eines ehemaligen Frontoffiziers und sei- пег Familie im Nachkriegs-Moskau. D er Vater w ird als O p fer der W illk ü r verhaftet - eine vieldiskutierte, realistische Szene - , er selbst von einem Kriegskameraden und Parteifunk- tionär denunziert, was ihn - vom A u to r verharmlost - nur den Studienplatz kostet. Bon- darev läßt die positiv gezeichneten Figuren allein nach der Stimme des Gewissens ent- scheiden und g re ift dam it ein M o tiv auf, das auch in der Lyrik jener Jahre eine große Rolle spielte.

Einen der ersten Versuche der dramatischen D arstellung negativer Parteifunktionäre und zu Unrecht beschuldigter K om m unisten unternahm Aleksandr Štejn in Personatnoe deh (d. Eine persönliche Angelegenheit, 1954). Der 1948 durch ein peinliches antikosmo- politisches Stück aufgefallene D ram atiker entsprach nun zwar dem neuen Geist, verharm- loste aber die Problematik. W as in seinem Stück wie ein individuell gelagertes Zusam- mentreffen ungünstiger Umstände aussah, war im Grunde das Schicksal von Hunderttau- senden. Der Einsatz von Freunden für den Verfolgten, die treue Haltung der Familie und viele weitere Einzelheiten sind eine, auch in der Sowjetunion kritisierte, Idealisierung der viel schlimmeren Realität. Solche Verleumdungen pflegten fü r den Betroffenen und seine Familie schnell und grausam zu enden 17

D ie größten lyrischen Bewältigungen der Vergangenheit stammen von V la d im ir Lu- govskoj und Aleksandr Tvardovskij. Ein Jahr nach Lugovskojs Tod erschien m it Seredina veka (Jahrhundertm itte, 1958) ein aus fünfundzwanzig Verscpen bestehendes W e rk, das er 1942 begonnen, nun aber v ö llig überarbeitet hatte. Oktoberrevolution, NEP, Zweiter W elt*

krieg sind einige von den historischen Ereignissen, die er in Erinnerungen m it persönlich Erlebtem und Reflexionen vermischt. In Tvardovskijs Verserzählung Za d a iļu - d a l״ (Fcr- ne über Fernen, 1950/1960) sind auch sehr verschiedene Themen verbunden, das Erzählge- rüst einer Reise dient ihm unter anderem zur Auseinandersetzung m it der Anpassungsbe- reitschaft der Schriftsteller und der kunstzerstörenden U nifizierung durch Redakteure so- wie zu einer A rt Reuebekenntnis, wie alle dem S ta lin ku lt huldigten.

»Als jener Mann im K re m l lebte.

Dem Leben fern durch eine W and

Und wie ein böser G eist hoch schwebte, -

Da waren andere n ich t genannt.

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Davon stand nichts in den Gedichten, Daß rechtlos, unberechenbar.

Er konnte ganze V ö lke r richten, Wenn er von Z o rn getrieben war«.18

Bis 1962 war zwar der Tatbestand der Lager als eines Unrechts der Vergangenheit in man- che W erke als M o tiv eingeflossen, eine D arstellung des Lagerleids aber erfolgte erstmals durch Aleksandr Solzenicyns Odin den' Ivana Denisovita. Aus eigenem Erleben stellte der bis dahin unbekannte A u to r den Tagesablauf eines einfachen, nicht reflektierenden Gefan*

genen in Übereinstimmung m it der von M illio n e n durchlebten Realität dar und gab dam it der zentralen Leiderfahrung seines Volkes bleibenden Ausdruck. N u r noch wenige W erke anderer Autoren konnten zu diesem Thema in der Sowjetunion erscheinen, dann war es er- neut tabu. Solzenicyns kurzer Roman aber wurde durch seine menschliche Tiefe, sprach-

Boris Svcšnikov: Lagerzeichnung. Durch die von Michail Šemjakin in Paris herausgegebene Antho- logie »Apollon 77« wurden im Rahmen nonkonformistischer moderner russischer Kunst auch die Zeichnungen Svešnikovs bekannt, die er aus seiner Haft (1949-56) retten konnte. M it ungezählten Millionen wurde er in der Stalinzeit zu Zwangsarbeit hinter Stacheldraht verurteilt, mit vielen andc- ren unter Chruščev als Unschuldiger rehabilitiert, als Überlebender entlassen. Arbeitslager aber exi- stieren in der Sowjetunion weiter. SveSnikovs Bilder von Lagemot, Lagereinsamkeit und Lagertod bleiben gültig: »Keine Zeichnungen nach der Natur, sondern Traumgesichte der Ewigkeit, die über das Glas der Natur oder der Geschichte huschen« (Abram Terc). 1926 geboren lebt er jetzt in Mos- kau und fond durch Illustrationen von Goethes »Die Leiden des jungen Werthers« und E.T.A.

Hoffmanns Märchen Anerkennung.

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liche D ichte und A llg c m e in g íiltig k e it im D etail fü r die W e lt zur bleibenden Gestaltung der sowjetischen Lagerpraxis.

Besonders reichhaltig war nach 1956 die Kriegsliteratur. Viele junge Lyriker, wie Kon- stantin Vansenkin oder Evgenij V in o ku ro v, hatten nun Gelegenheit, ihre persönliche Er- fahrung in Sprache umzusetzen. V ik to r Rozov konnte sein erstes, schon im Kriege ge*

schriebenes, doch in der Schublade verbliebenes Drama Vebto iivye (d. Die ewig Leben- den) 1956 im neuen Moskauer Theater »Sovremcnnik« aufführen lassen. Lösung von Pa- thos und Klischee, D arstellung des persönlich Erlebten - das waren auch die Prinzipien der neuen, an V ik to r Nekrasov anknüpfenden W e lle der Kriegsprosa. Für sic ist zunächst die Schilderung des auf engem Raum selbst Erfahrenen typisch, wie sie beispielsweise Gri*

g o rij Baklanov in P jad' zernli (d. Ein Fußbreit Erde, 1959) vornim m t, wo er den K a m p f um einen Dnestrbrückenkopf detailliert wiedergibt. Im gleichen Sinne gestaltete auch Jurij Bondarev in Batal'ony prosjat ognja (D ie Bataillone bitten um Feuer, 1957) und in Poślednie zalpy (d. D ie letzten Salven, 1959) das wahre Erleben seiner Frontgeneration. Bulat Okudža- va, der ab 1960 als liedhafter, bildrcichcr Lyriker m it seiner Gitarre beliebt wurde, stellt den K rie g aus der Sicht eines ganz jungen Freiwilligen dar. Er hat den M u t, Angst und Ausgeliefertsein des Menschen einzubezichen und durch ironische Distanz die T ragik zu vertiefen. Sein Roman B ud' zdorov, ïk o lja r (M ach’ s gut, Schüler, 1961 - d. Mach’s g u t) er*

schien nur in Paustovskijs liberalem Sammelband Tarusskie stranicy und blieb von der K ri- tik als pazifistisch verfemt. Seine A u fric h tig k e it hatte die parteigemäße Grenze überschrit- ten. Genau hingegen stim m te diese in den zahlreichen Kriegsromanen Konstantin Simo- novs, der z. B. in Ź itye i merttye (d. D ie Lebenden und die Toten, 1959) die Darstel- lung des Rückzuges der Roten Armee von 1941 m it einer K r itik an Stalins falscher, den Gegner unterschätzenden P o litik verband. Aus der mannigfaltigen neuen K riegslitcratur heben sich noch Stepan Z lo b in s Propavïie bez vesti wegen der Einbeziehung des Verbre- chcns an den russischen Soldaten ab, die nach deutscher Gefangenschaft in sowjetischen Lagern verschwanden, und Vernosf (Treue, 1946-54) von OPga Berggol’c wegen der un- gewöhnlichen Form einer lyrisch-dramatischen Tragödie aus dem K a m p f um Sevastopol’, wie sic ihrem Talent zu parteigläubiger Gestaltung des Leids der einzelnen Frau entspricht.

Am alten Thema der russischen Literatur seit 1917 »Revolution und Bürgerkrieg«

schieden sich die Geister nach 1953 besonders kraß. A u frichtigkeitsliteratur durfte die Vergangenheit unter Stalin in Grenzen neu darstcllcn, fü r die Vor-Stalinzcit blieb das ver- fälschte Geschichtsbild w eiterhin Dogma. Jüngere begabte Schriftsteller drängte cs ohne-

* •

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hin n ich t, die R evolution zu behandeln, manche älteren kleideten das Übliche in neue Ge*

wander, z. B. G eorgij M arkov in Otec i syn (d. Vater und Sohn, 1963/64), wo er wieder

lang und breit eine Familiengeschichte in Sibirien als Beispiel des Klassenkampfcs im

Jahrzehnt nach 1921 parteigemäß entw ickelt. V o r diesem H intergrund ist die weltweite

Beachtung, die Boris Pasternaks D oktor Živago 1957 nach seiner Veröffentlichung im W c-

sten fand, begreiflich. H ie r wurde nach vierzig Jahren durchlittcner U nfreiheit von einem

großen unabhängigen D ic h te r die Frage nach Sinn und Folgen der Revolution neu ge-

stellt, die Verw üstung des Landes, das sinnlose Morden, das planmäßige Ausrotten der Ober-

Schicht wahrheitsgemäß geschildert und der Leidensweg veranschaulicht, den ein Mensch

durchschreiten mußte, der seine geistige Unabhängigkeit bewahrt hat. Pasternak g ib t in

einer verschlungenen, symbolreichen H andlung das Leben eines Arztes und Dichters vom

Beginn des Jahrhunderts bis 1929 wieder. D er Sinn der Zufälle als Fügungen des Lebens

erschließt sich vom Schluß, von Epilog und Gcdichtanhang 19. Živagos Tod aus Mangel

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D e r Schriftstellerverband besitzt in der N ä h e M oskaus, in Peredclkino, eine Siedlung, in der privile- gierte Schriftsteller leben. U nter anderem w o h n te n d o r t K o m e j Č u k o v sk ij, A leksandr Fadeev, K on- sta n tin Fedin und Boris Pasternak, dessen H a u s h ie r g ezeigt ist. D ies ist d e r O r t , an dem er einem italienischen Journ alisten das M anuskript des * D o k to r Ž ivago« ü b e rg ab u n d d a m it die neue Phase der A uslandspublikationen m oderner russischer L iteratur einleitete.

an L u ft ist letztlich eine Anklage gegen das geistige Ersticken» sein W eitcrlebcn im Gc*

dächtnis der Freunde und in seiner D ich tu n g Bekenntnis zum Prim at des Geistigen und Religiösen.

Innerhalb der in der Sowjetunion veröffentlichten Literatur gab die neue P o litik der G attung der M em oirenliteratur A uftrieb. H ie r konnten einzelne Geschichtsfalschungen korrigiert und bestimmte Personen rehabilitiert werden, ohne daß Folgerungen fü r das Sy- stem und seine gegenwärtige Ausprägung gezogen werden mußten. D ie M osaik-W ahrheit aber bedeutete schon einen großen Schritt voraus, wenn sich auch H offnungen um Erweite- rung des Stückwerks zerschlugen. K onstantin Paustovskij hatte 1946 seine A rb e it an der Povest' 0 iiz n i eingestellt, da nach dem ersten Band keine Aussicht auf P ublikation mehr bestand. N u n aber, da das jedem Schriftsteller notwendige Gespräch m it dem Leser mög- lieh schien, setzte er die A rbeit fo rt und schrieb fü n f weitere Bücher. Vielen verfolgten Schriftstellern konnte er dort ein Denkmal setzen, viele persönliche Erlebnisse in lyrisch- schöner Prosa gestalten. Paustovskij, der in jenen Jahren zu einem menschlichen V o rb ild der Sauberkeit, zu einem Gewissen seiner Z e it wurde, schuf in diesem lockeren Z yklu s vor allem ein dichterisches W erk.

Anders war das Anliegen von I l’ja Erenburg, dessen Memoiren L ju ä i, gody, iiz n ' (d.

Menschen, Jahre, Leben, 1960-65) ebenfalls als sein H auptw erk bezeichnet werden kön-

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